9.6.2021   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 220/88


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen:

„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Stärkung des Beitrittsprozesses — Eine glaubwürdige EU-Perspektive für den westlichen Balkan“

(COM(2020) 57 final)

„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Ein Wirtschafts- und Investitionsplan für den Westbalkan“

(COM(2020) 641 final)

„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Mitteilung 2020 über die Erweiterungspolitik der EU“

(COM(2020) 660 final)

(2021/C 220/14)

Berichterstatter:

Andrej ZORKO

Mitberichterstatter:

Ionuţ SIBIAN

Befassung

Europäische Kommission, 11.11.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Außenbeziehungen

Annahme in der Fachgruppe

3.3.2021

Verabschiedung auf der Plenartagung

24.3.2021

Plenartagung Nr.

559

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

243/1/10

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die im Jahr 2020 im Zusammenhang mit der EU-Erweiterung um den westlichen Balkan (1) angenommenen Kommissionsmitteilungen und schließt sich der Auffassung an, dass die EU-Integration der Partner im Westbalkan eine geostrategische Investition in Frieden, Stabilität, Sicherheit und Wirtschaftswachstum des gesamten Kontinents darstellt.

1.2.

Der EWSA schließt sich zudem den Schlussfolgerungen des Gipfels von Zagreb (2) an, bei dem die Staats- und Regierungschefs der EU erneut die Entschlossenheit der Union bekräftigten, ihre Zusammenarbeit mit der Region zu stärken, und bei dem sie die Verpflichtung der Partner im Westbalkan begrüßten, die notwendigen Reformen umfassend und entschlossen umzusetzen. Der Westbalkan ist integraler Bestandteil Europas und daher von zentraler geostrategischer Bedeutung für die EU.

1.3.

Der EWSA ist überzeugt, dass die Sozialpartner sowie weitere zivilgesellschaftliche Organisationen (im Folgenden kurz „OZG“) (3) zur Bewältigung der gemeinsamen Herausforderungen und Probleme, die nicht nur politischer, sondern auch wirtschaftlicher und sozialer Natur sind, im gesamten Erweiterungsprozess eine größere Rolle einnehmen und aktiver beteiligt werden sollten. Die Kommission sollte den Begriff „wichtigste Interessenträger“ klarer definieren. Schließlich schlägt die organisierte Zivilgesellschaft die Brücke zwischen der Politik und den Menschen und trägt somit dazu bei, die tatsächliche praktische Umsetzung von Grundsätzen wie Redefreiheit, Rechtsstaatlichkeit, Unabhängigkeit der Medien, Gleichbehandlung und Korruptionsbekämpfung zu überwachen.

1.4.

Der EWSA begrüßt das im Jahr 2020 von der Kommission angenommene überarbeitete Erweiterungsverfahren (4). Da das Ziel der Überarbeitung darin bestand, das Verfahren glaubwürdiger, berechenbarer und politischer zu gestalten, sollte es von der Kommission für Albanien und Nordmazedonien angewandt werden, sobald der Rat seinen jeweiligen Verhandlungsrahmen angenommen hat. Zudem sollte rasch geklärt werden, wie das Verfahren auch für Montenegro und Serbien, die sich schon bereit erklärt haben, es anzunehmen, angepasst werden kann.

1.5.

Der EWSA begrüßt, dass die Verhandlungskapitel in thematischen Clustern zusammengefasst und die Verhandlungen über den jeweiligen Cluster als Ganzes aufgenommen werden. Durch vorgeschlagene konkrete Anwendung einer Reihe von strengen Bedingungen wird es den EU-Kandidatenländern leichter fallen, auf dem Reformpfad Fortschritte zu erzielen. Der EWSA ist insbesondere auch darüber erfreut, dass dem Cluster „Wesentliche Elemente“ große Bedeutung beigemessen wird und die in diesem Bereich erzielten Fortschritte das Tempo der Verhandlungen insgesamt bestimmen werden.

1.6.

Der EWSA begrüßt die Vorschläge der Kommission für eine Stärkung des Beitrittsprozesses sowie das „grüne Licht“ des Rates zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien (5), bedauert jedoch, dass der Prozess erneut blockiert wurde, und ruft die EU dazu auf, als glaubwürdiger Partner aufzutreten und die Hindernisse, die dem Beginn von Verhandlungen im Wege stehen, so schnell wie möglich zu beseitigen.

1.7.

Der EWSA befürwortet, dass die Kommission dem Aufbau von Vertrauen unter allen Interessenträgern große Bedeutung beimisst und sicherstellt, dass der Beitrittsprozess auf gegenseitigem Vertrauen und klaren gemeinsamen Verpflichtungen beruht, damit dieser für beide Seiten wieder an Glaubwürdigkeit gewinnt und sein gesamtes Potenzial ausgeschöpft werden kann.

1.8.

Angesichts der Schwierigkeit, unter den Mitgliedstaaten Einstimmigkeit in Hinblick auf die Erweiterung zu erzielen, ist der EWSA der Auffassung, dass der Rat zumindest für alle Zwischenstufen des EU-Beitrittsprozesses erneut die Möglichkeit einer Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit in Betracht ziehen sollte (6). Dadurch würde den Mitgliedstaaten entsprechend der Zielsetzung des neuen Verfahrens eine starke politische Rolle zugewiesen. Außerdem würden diese davon abgehalten, den laufenden Prozess zu behindern. Genau dies ist derzeit der Fall, wobei das Vertrauen in die Erweiterung und die transformative Kraft der Politik untergraben wird.

1.9.

Der EWSA ist davon überzeugt, dass es die EU den politischen Entscheidungsträgern und den Bürgerinnen und Bürgern aus dem Westbalkan ermöglichen sollte, in beratender Funktion an Aktivitäten und Diskussionen im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas teilzunehmen, um das Vertrauen in die Erweiterung wieder zu festigen und die aktiven Bemühungen der EU um ihre natürlichen Verbündeten in der Region zu stärken. Damit würde die EU auf dem Europäischen Konvent der frühen 2000er-Jahre aufbauen (7).

1.10.

Der EWSA ist davon überzeugt, dass die EU in die Entwicklung horizontaler zivilgesellschaftlicher Strukturen investieren sollte, indem sie Sozialpartnern und anderen OZG aus dem Westbalkan Fachwissen, technische Unterstützung und Gelegenheiten zum Networking auf regionaler und internationaler Ebene bietet — nicht zuletzt um dafür zu sorgen, dass diese eine aktivere Rolle im Erweiterungsprozess spielen. Um die Transparenz und Rechenschaftspflicht der politischen Eliten im Westbalkan im Auge zu behalten, sollte die EU bei OZG aus der Region regelmäßig die Erstellung von „Schattenberichten“ zur Lage der Demokratie in Auftrag geben (8).

1.11.

Der EWSA betont, dass der Aufbau der Kapazitäten der OZG in den einzelnen Ländern und die Förderung der Zusammenarbeit in der Region sowie der Austausch von Fachwissen weiterhin zu den Prioritäten der EU und bei der Mittelzuweisung auf einzelstaatlicher Ebene zählen sollten. Außerdem ist die gegenseitige Anerkennung und die Zusammenarbeit zwischen Sozialpartnern und anderen OZG wesentlich, um die Herausforderungen, die sich aus der Reformagenda in der Region und dem Fortschreiten des EU-Erweiterungsprozesses ergeben, erfolgreich bewältigen zu können.

1.12.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die EU großzügige — weit mehr als nur den Zugang zu EU-Programmen umfassende — Hilfe bereitstellen sollte, um die Partner im Westbalkan bei der Abfederung der Auswirkungen der Pandemie zu unterstützen und die wirtschaftliche und soziale Konvergenz mit der EU zu stärken. So sollten etwa eine stufenweise Öffnung der europäischen Struktur- und Investitionsfonds für die Partner im Westbalkan (etwa zur Unterstützung von Infrastrukturprojekten), die Ausweitung der Nutzung der Finanzstabilitätsmechanismen der EU sowie die Ermöglichung einer Teilnahme der Region an der Gemeinsamen Agrarpolitik und die Gewährleistung einer zirkulären Migration ernsthaft in Erwägung gezogen werden (9).

1.13.

Der EWSA begrüßt den europäischen Grünen Deal (10), der spezifische Ziele für den Westbalkan enthält, sowie die im Zusammenhang mit dem Wirtschafts- und Investitionsplan für den Westbalkan vorgelegten Leitlinien zur Umsetzung der Grünen Agenda für den Westbalkan (11). Er fordert die Partner aus der Region dazu auf, bis 2030 in Kooperation mit der EU Maßnahmen zur Ökologisierung zu ergreifen und bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen.

1.14.

Der EWSA erwartet, dass in den nächsten Länderberichten eine klar strukturierte Überwachung des Umgangs der Regierungen der Westbalkanländer mit der Zivilgesellschaft vorgesehen wird. Diese Kontrolle sollte die Grundlage für politische Maßnahmen — im Sinne von Konsequenzen bei Rückschritten und konkreten Vorteilen bei Fortschritten — sein. Dies wird schlussendlich die Glaubwürdigkeit stärken und die transformative Kraft der Erweiterungspolitik im Westbalkan erhöhen.

1.15.

Der EWSA fordert die EU-Organe und die Regierungen der Westbalkanländer erneut auf, unter vollständiger Wahrung ihrer Unabhängigkeit für die Stärkung der Gesamtkapazitäten der Sozialpartner zu sorgen. Ein funktionierender sozialer Dialog sollte ein wichtiges Element der EU-Beitrittsverhandlungen sein. Der EWSA betont, dass die Sozialpartner zu allen relevanten Legislativvorschlägen und in allen Phasen der Ausarbeitung strategischer Dokumente systematischer sowie rechtzeitig konsultiert werden sollten (12).

1.16.

Der EWSA fordert, dass vor oder begleitend zu den regelmäßigen Gipfeltreffen EU-Westbalkan hochrangige Konferenzen mit Vertretern der Zivilgesellschaft oder Foren organisiert werden, damit die Zivilgesellschaft zu den auf den Gipfeltreffen behandelten Themen gehört wird (13). Solche Konsultationen sind für eine objektive Bottom-up-Überwachung der Fortschritte im Verhandlungsprozess entscheidend. Der EWSA könnte einen Beitrag zu diesen Veranstaltungen leisten.

1.17.

Der EWSA bekräftigt die Empfehlungen, die seine Fachgruppe Außenbeziehungen (REX) als Beitrag zum Gipfeltreffen EU-Westbalkan vom 6. Mai 2020 (14) abgegeben hat und die in seinen am 18. September 2020 verabschiedeten Stellungnahmen „Beitrag der Zivilgesellschaft zur Grünen Agenda“ und „Nachhaltige Entwicklung des Westbalkans im Rahmen des EU-Beitrittsprozesses“ angeführt sind (15) (16).

1.18.

Der EWSA fordert den amtierenden portugiesischen Ratsvorsitz und insbesondere den kommenden slowenischen Vorsitz auf, der Erweiterungspolitik im Westbalkan auch 2021 höchste Priorität auf der EU-Agenda einzuräumen.

2.   Die EU-Erweiterung im Westbalkan ist wichtig

2.1.

Eine glaubwürdige Beitrittsperspektive ist der wichtigste Anreiz und Motor für den Wandel in der Region, die — umgeben von Mitgliedstaaten — paradoxerweise bereits eine geografische Enklave in der EU ist, und stärkt damit unsere kollektive Sicherheit und unseren gemeinsamen Wohlstand. Sie ist ein wichtiges Instrument zur Förderung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Grundrechte, die nicht nur die wichtigsten Triebkräfte für wirtschaftliche Integration, sondern auch die unverzichtbare Grundlage für die Förderung von Aussöhnung und Stabilität in der Region bilden.

2.2.

Die Aufrechterhaltung und Stärkung dieser Politik ist daher unerlässlich für die Glaubwürdigkeit der EU‚ für ihren Erfolg und für ihren Einfluss in der Region und darüber hinaus‚ insbesondere in Zeiten eines verstärkten geopolitischen Wettbewerbs. Würde die EU die Erweiterung als Priorität herabstufen oder der Prozess verlangsamt werden, fiele es anderen Akteuren, die oftmals nicht die demokratischen Bestrebungen der EU teilen — vor allem Russland und China — möglicherweise leichter, sich im Balkan einzumischen und sich an Länder wie Serbien, Montenegro und Bosnien-Herzegowina anzunähern, wie sich das auch während der aktuellen Pandemie zeigt. Solche ausländischen Mächte können die Bemühungen der EU, die Sicherheit auf dem Kontinent zu garantieren, hintertreiben.

2.3.

Die Herausforderungen der heutigen Zeit wie Globalisierung, alternde Gesellschaften, Migration, Klimawandel, soziale Ungleichheit, Terrorismus, Radikalisierung, organisierte Kriminalität, Cyberangriffe und COVID-19 belegen, dass die EU und die Westbalkanregion nicht nur ähnliche Interessen haben, sondern auch genau dieselben Probleme. In strategischer, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht sitzen die EU und der Westbalkan also im selben Boot. Die gegenseitige Abhängigkeit verlangt nach gemeinsamem Handeln, wenn ein erfolgreicher Umgang mit der komplexen und unberechenbaren Welt von heute gewährleistet werden soll (17).

3.   Der Einfluss der EU beruht auf ihrer Glaubwürdigkeit

3.1.

Aus einer von Ipsos im Jahr 2020 durchgeführten Umfrage (18) geht hervor, dass die Öffentlichkeit in der Region einer EU-Mitgliedschaft mit überwältigender Mehrheit positiv gegenübersteht (im Durchschnitt 82,5 % Befürworter). Wahrscheinlich unterstützen die Menschen im Westbalkan eine EU-Integration deshalb, weil sie diese als Chance sehen, in ihren Ländern den dringend benötigten Wandel bei der Ordnungspolitik und der Wirtschaftsleistung herbeizuführen. Von der Bevölkerung positiv bewertet wird auch die Rolle der EU bei politischen (39,7 %) und wirtschaftlichen (40,3 %) Reformen. Außerdem ist es möglich, dass die Öffentlichkeit im Westbalkan die EU mit der Freiheit, überall zu arbeiten und überallhin zu reisen, aber auch mit Frieden und Sicherheit in Verbindung bringt.

3.2.

Der EWSA begrüßt die beispiellose Solidarität, die die EU während der COVID-19-Pandemie gegenüber den Ländern des westlichen Balkans unter Beweis gestellt hat, indem sie diesen u. a. den Zugang zu und die Beteiligung an ihren üblicherweise ausschließlich den EU-Mitgliedstaaten vorbehaltenen Instrumenten und Plattformen (wie dem Gesundheitssicherheitsausschuss, der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) und der Vereinbarung über die gemeinsame Beschaffung) ermöglicht hat. Er hofft, dass diese Einbeziehung in die EU-Strategien und -Instrumente auch in der Zeit nach der Pandemie fortgesetzt wird. Andererseits ist er aber auch besorgt darüber, dass sich die Verzögerungen bei der Bereitstellung der von den Westbalkanländern dringend benötigten COVID-19-Impfstoffe durch die EU negativ auf deren öffentliches Image in der Region auswirken könnte.

3.3.

Jedoch sind laut der Ipsos-Umfrage (2020) 52,1 % der Befragten aus der Region mit den Fortschritten ihres Landes in Richtung eines EU-Beitritts nicht zufrieden und von der Langsamkeit des Prozesses frustriert. Eine wachsende Zahl von Bürgerinnen und Bürgern im Westbalkan ist der Meinung, dass ihr Land niemals der EU beitreten wird, und darüber besorgt, dass „die EU sie nicht will“. Mehr als 44,9 % der Befragten in Bosnien und Herzegowina, 42 % in Serbien, 40,5 % in Nordmazedonien und 36,8 % in Albanien erwarten, dass ihr Land erst nach 2040 oder vielleicht niemals EU-Mitglied werden wird (19). Diese Ergebnisse legen nahe, dass die derzeit große Zustimmung zur EU unter der Bevölkerung in der Region nur solange anhalten wird, als die Beitrittsaussichten glaubwürdig sind. Die Zeiten, da sich die EU einer pro-europäischen Stimmung auf Seiten der Partner im Westbalkan sicher sein konnte, neigen sich also ihrem Ende zu.

3.4.

Der EWSA weist darauf hin, dass die vielen unterschiedlichen Standpunkte, die von den politischen Parteien im Europäischen Parlament (EP), von den Regierungen der EU-Mitgliedstaaten und von den EU-Organen vertreten werden, nicht immer aufeinander abgestimmt sind und in den Ländern der Region als inkohärente und verwirrende Signale aufgenommen werden können. Der EWSA ist überzeugt, dass die verschiedenen an der Formulierung der Erweiterungspolitik in den Mitgliedstaaten beteiligten Akteure besser zusammenarbeiten müssen, damit diese mit einer einheitlichen Stimme sprechen.

3.5.

Die EU-Organe wie die Kommission und das EP sollten besser kommunizieren und bei der Bewertung von Fortschritten und der Entwicklung von Strategien für die Unterstützung der Partner im Westbalkan sowie für den Umgang mit ihnen enger mit den Mitgliedstaaten zusammenarbeiten. Die Kommission sollte engere bilaterale Kontakte zu den Mitgliedstaaten aufbauen, etwa durch die Organisation von Treffen mit Außenministerien und nationalen Parlamenten zur Erörterung von Erweiterungsfragen, und sich besser mit anderen Akteuren auf EU- und regionaler Ebene (beispielsweise mit dem Europäischen Auswärtigen Dienst, dem Rat, dem EP, dem EWSA, dem Ausschuss der Regionen und dem Regionalen Kooperationsrat) sowie der Zivilgesellschaft abstimmen. Das EP sollte zu einer besseren Zusammenarbeit mit und zwischen den nationalen Parlamenten innerhalb der EU ermutigen, um die Europäisierung zu fördern (20).

3.6.

Der EWSA stimmt mit der Schlussfolgerung der Kommission (21) überein, dass der Schwerpunkt mehr auf den politischen Charakter des Prozesses gelegt werden muss und eine stärkere Steuerung und Zusammenarbeit auf hochrangiger Ebene seitens der Mitgliedstaaten erforderlich sind. Der EWSA betont außerdem, dass eine solche stärkere politische Steuerung und Zusammenarbeit konstruktiv und gewinnbringend sein muss und eine wirkungsvolle Unterstützung äußerst wichtig ist.

3.7.

Der EWSA ist überzeugt davon, dass die Unterstützung und das Engagement der EU für den Erweiterungsprozess im Westbalkan stark und sichtbar sein müssen. Vor allem muss sichergestellt werden, dass die Ergebnisse umgesetzter Reformen angemessen präsentiert werden und sich diese Reformen in einer Verbesserung der Lebensqualität der Menschen niederschlagen.

3.8.

Die Kommission sollte ihre erweiterungsbezogenen Kommunikationsbemühungen vor Ort in den Mitgliedstaaten und in der Region über ihre örtlichen Vertretungen und Delegationen, aber auch durch Initiativen, in die lokale Interessenträger und Sozialpartner eingebunden sind, verstärken und diversifizieren. Die Verbreitung zuverlässiger Informationen über die massive Unterstützung, die die EU den Partnern im Westbalkan bietet, sowie über die Kosten und Vorteile der europäischen Integration in einem allgemeineren Sinne hängt auch von der Existenz freier und lebensfähiger Medien in der Region ab. Aus diesem Grund sollte die Kommission auf der Wahrung der Medienfreiheit auf Seiten der Partner im Westbalkan bestehen und in die Entwicklung und Nachhaltigkeit dieser Branche investieren.

4.   Die Festigung der Demokratie in der Region ist nicht verhandelbar

4.1.

Die Ipsos-Umfrage aus dem Jahr 2020 zeigt, dass die nationalen Politikverantwortlichen und Institutionen der Hauptgrund für die Unzufriedenheit der Menschen sind. Umfrageteilnehmer aus der gesamten Region zweifeln daran, dass sich ihre Staats- und Regierungschefs der EU-Integrationsagenda tatsächlich verpflichtet fühlen, und beklagen sich über die korrupten und dysfunktionalen staatlichen Institutionen in ihren Ländern (22).

4.2.

Es scheint, dass weder die Annahme demokratischer Verfassungen noch die strenge Konditionalität in Bezug auf die Demokratisierung die informellen Machtstrukturen, die Vereinnahmung des Staates und den Klientelismus zurückdrängen konnten, sondern diese Zustände eher gefestigt haben (23). Schwache demokratische Institutionen und der Aufstieg autokratischer Führungspersönlichkeiten im Westbalkan könnten zu einer Schwächung der rechtsstaatlichen Normen, der Unabhängigkeit der Justiz und der Medienfreiheit in diesen Ländern führen.

4.3.

Die EU sollte politischen Entscheidungsträgern aus der Region, die sich offensichtlich um ein Bekenntnis zur Demokratie herumdrücken, keine Unterstützung zuteilwerden lassen. Die unmissverständliche Anprangerung der Vereinnahmung des Staates in der Kommissionsstrategie aus dem Jahr 2018 für die Region (24) oder eine kritische Bewertung der verschiedenen Länder in den Jahresberichten verliert erheblich an Wirksamkeit, wenn diese Botschaft nicht ebenso durch EU-Amtsträger sowie die Politikerinnen und Politiker aus den Mitgliedstaaten vertreten werden, die den Westbalkan besuchen (25). Ohne einen demokratischen Besitzstand, der in Bezug auf Machtmonopole, Parteienorganisation und -pluralismus oder informelle Praktiken angewendet werden kann, ist es unwahrscheinlich, dass die politischen Entscheidungsträger im Westbalkan demokratische Anforderungen der EU beherzigen, wenn eine Missachtung derselben sie an der Macht hält.

4.4.

Die Bemühungen der EU-Organe, die Qualität der Demokratie im Westbalkan durch den Beitrittsprozess zu verbessern, würden wesentlich gestärkt werden, wenn demokratische Reformen in den bestehenden Mitgliedstaaten gemeinsam mit den EU-Beitrittskandidaten diskutiert und angegangen würden. In den vielen Jahren, in denen die Beitrittswerber im Westbalkan bereits einer strengen Konditionalität in Bezug auf die Demokratisierung unterworfen sind, wurde jede Menge Wissen und praktische Erfahrung im Hinblick darauf gesammelt, was bei der Einleitung von Governance-Reformen in den Kandidatenländern hilfreich ist und was nicht. Die Partner im Westbalkan könnten daher — etwa im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas — einen Beitrag zur Debatte über den Schutz des Rechtsstaates, der Medienfreiheit und der Zivilgesellschaft innerhalb der EU leisten (26).

4.5.

Außerdem sollte sich die EU eingestehen, dass die im Rat um sich greifende Praxis, versprochene Gegenleistungen trotz der in der Region erzielten konkreten Fortschritte vorzuenthalten, die Motivation der dortigen politischen Entscheidungsträger zur Umsetzung der EU-Reformagenda verringert. Dadurch läuft die EU Gefahr, in den Westbalkanländern sogar diejenigen Politikerinnen und Politiker zu verlieren, die am stärksten reform- und konsensorientiert sind.

5.   Eine instabile sozioökonomische Lage

5.1.

Der EWSA begrüßt die Annahme des Wirtschafts- und Investitionsplans (27), der darauf abzielt, die langfristige Erholung voranzutreiben, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln und die Reformen zu unterstützen, die für Fortschritte auf dem Weg zum EU-Beitritt erforderlich sind, einschließlich der Annäherung des westlichen Balkans an den EU-Binnenmarkt. Der Plan zielt darauf ab, das ungenutzte Wirtschaftspotenzial der Region und den erheblichen Spielraum für eine Verstärkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und des Handels innerhalb der Region auszuschöpfen.

5.2.

Der EWSA ist überzeugt, dass all diese von der Kommission unternommenen Schritte sehr positiv sind und der Politik wesentliche Impulse verleihen, wobei allerdings die reale Situation nach wie vor eine Herausforderung darstellt (die neueste Mitteilung der Kommission über die Erweiterungspolitik und ihre jährlichen Länderberichte spiegeln diese anhaltenden Probleme gut wider (28)).

5.3.

Die COVID-19-Pandemie hat natürlich zu großen Angebots- und Nachfragschocks bei Gütern und Dienstleistungen, einem Rückgang der Produktion, steigender Arbeitslosigkeit und sozialen Notlagen geführt. Die Region war jedoch schon vor der COVID-19-Krise von wirtschaftlichen Problemen gekennzeichnet. Seit der Finanz-, Wirtschafts- und Sozialkrise im Jahr 2008 verlief der Prozess der wirtschaftlichen und sozialen Konvergenz mit der EU im Hinblick auf das BIP pro Kopf äußerst langsam bzw. wurden diesbezüglich überhaupt keine Fortschritte erzielt. Angesichts des Unvermögens, die wirtschaftliche Entwicklung durch die Behebung struktureller Probleme wie mangelnde öffentliche und private Investitionen und eine rapide alternde Bevölkerung zu beschleunigen, blicken die Bürgerinnen und Bürger im Westbalkan hilflos in eine Zukunft voller Entbehrungen. Die Pandemie hat diese sozioökonomischen Probleme nur noch verschlimmert, was die Gefahr birgt, dass im Herzen Europas eine De-facto-Enklave der Unterentwicklung entsteht (29).

5.4.

Der EWSA betont, dass angemessene, sichere und hochwertige Arbeitsplätze in der Region geschaffen werden müssen und die soziale Ungleichheit verringert werden muss. Dies muss durch eine Intensivierung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und des Handels in der Region erfolgen — und nicht durch unfairen Wettbewerb und Sozialdumping. Zu diesem Zweck sollte die EU mehr finanzielle und technische Unterstützung für den regionalen Wirtschaftsraum und die Konnektivitätsagenda für den Westbalkan bereitstellen, um die Liberalisierung und Integration des Handels in der Region zu fördern und zu verhindern, dass diese in die Abhängigkeit von Mächten außerhalb der EU gerät (30).

5.5.

Der Westbalkan verfügt über ein bedeutendes ungenutztes Wirtschaftspotential und erheblichen Spielraum für eine Verstärkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und des Handels innerhalb der Region. Trotz einer gewissen Beschleunigung des Wachstums, der Schaffung neuer Arbeitsplätze und steigender Einkommen in den letzten Jahren sind die Länder bei der Reform ihrer wirtschaftlichen Strukturen und bei der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit noch immer im Rückstand. Sie haben nach wie vor mit hoher Arbeitslosigkeit, insbesondere bei jungen Menschen, beträchtlichen Diskrepanzen zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage, einer umfangreichen informellen Wirtschaft, einer Abwanderung von hoch qualifizierten Arbeitskräften, einer niedrigen Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt und einem niedrigen Innovationsniveau zu kämpfen (31). Der EWSA regt an, die Möglichkeit zu erwägen, bei der Beurteilung der Erfüllung der Bedingungen für die EU-Mitgliedschaft die Grundsätze der europäischen Säule sozialer Rechte anzuwenden (32).

5.6.

Nach Auffassung des EWSA ist es sehr wichtig, die Qualität und Relevanz der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung in der Region zu verbessern und Verbindungen zwischen Arbeitgebern und Bildungseinrichtungen zu stärken.

5.7.

Im Westbalkan ist das Investitionsklima weitgehend unverändert geblieben und durch eine unzureichende Rechtssicherheit, eine mangelhafte Durchsetzung der Regeln für staatliche Beihilfen, eine tief verwurzelte Schattenwirtschaft, einen unzulänglichen Zugang der Unternehmen zu Finanzierungen und ein geringes Maß an regionaler Integration und Konnektivität gekennzeichnet. Die staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft dauern an. Es ist dringend erforderlich, die Infrastruktur zu modernisieren und die entsprechenden Investitionen sollten im Rahmen einzelner Projekt-Pipelines erfolgen und mit den mit der EU vereinbarten Prioritäten im Einklang stehen.

5.8.

Der EWSA weist darauf hin, dass der Westbalkan äußerst anfällig für die Auswirkungen des Klimawandels ist, die die allgemeine Gesundheit und die Wirtschaft beeinträchtigen. Daher müssen dringend Maßnahmen ergriffen werden, um die Lebensqualität der Bevölkerung, insbesondere von Kindern und Jugendlichen, durch einen gerechten Übergang zu einem ökologischeren Modell zu verbessern, wobei niemand zurückgelassen werden darf (33). In Bezug auf den Klimawandel gibt es im Westbalkan zahlreiche besorgniserregende Trends, etwa die starke Abhängigkeit von festen fossilen Energieträgern. Jedoch birgt die Region auch viele Chancen, wie das Potenzial im Bereich erneuerbarer Energie und eine große Biodiversität. Die Einbeziehung des Westbalkans in den Grünen Deal ist nicht nur deshalb wichtig und notwendig, weil der Klimawandel keine nationalen oder physischen Grenzen kennt, sondern auch, weil er für das Wohlbefinden und die Gesundheit der Menschen wichtig ist und die EU diesbezüglich einen konkreten Nutzen für die Bevölkerung im Westbalkan erbringen kann (34).

5.9.

Die EU sollte die für das Wirtschaftswachstum der Partner im Westbalkan wichtigen Schlüsselsektoren ermitteln und in diese investieren, unter anderem auch in KMU und den Agrar- und Lebensmittelsektor. Die EU sollte zudem sicherstellen, dass die Entwicklung dieser Wirtschaftszweige wegen der Standards, die der Region abverlangt werden, und der für den Westbalkan aktuell noch zu restriktiven Maßnahmen gehemmt wird. Vielmehr darf die Latte für diese Länder nur so hoch gelegt werden, wie es den jeweils erzielten Fortschritten angemessen ist und somit Wachstum ermöglicht wird.

5.10.

Der EWSA begrüßt das von der EU zum Nutzen der Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen im Westbalkan mobilisierte Finanzpaket in Höhe von 3,3 Mrd. EUR, erachtet es jedoch als notwendig, sicherzustellen, dass diese Gelder ordnungsgemäß vergeben werden und die Investitionen gemäß dem ihnen zugrunde liegenden Zweck tatsächlich den Menschen zugutekommen. Der EWSA ist der Auffassung, dass zur Erholung von der COVID-19-Krise auf Maßnahmen zur Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts der Region sowie zur Ökologisierung gesetzt werden sollte und der grüne Wandel wesentlicher Bestandteil eines umfassenden und zukunftsorientierten Aufbauplans für den Westbalkan sein muss.

5.11.

Der EWSA ist ferner der Auffassung, dass eine aktive Teilnahme der Sozialpartner — auch durch die Förderung von Tarifverhandlungen — sowie weiterer OZG an der Planung und Umsetzung wirtschaftlicher, sozialer und anderer Reformen insbesondere nach der COVID-19-Pandemie wesentlich dazu beitragen kann, die wirtschaftliche und soziale Konvergenz zu steigern.

5.12.

Die Forderung der Kommission nach mehr Transparenz bei der Mittelverwendung und der Umsetzung von Reformen ist zu begrüßen, jedoch ist nicht klar, ob die Kommission die Zivilgesellschaft zu den „wichtigsten Interessenträgern“ zählt. In der Tat wird die Zivilgesellschaft in der Mitteilung der Kommission zum Westbalkan aus dem Jahr 2020 leider kaum erwähnt.

6.   Regionale Zusammenarbeit

6.1.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die regionale Zusammenarbeit ein Schlüsselfaktor für die Anhebung des Lebensstandards im Westbalkan ist.

6.2.

Sowohl der Westbalkan-Gipfel in Posen im Jahr 2019 als auch das Gipfeltreffen EU-Westbalkan im Mai 2020 in Zagreb boten den Staats- und Regierungschefs der Region die Gelegenheit, sich auf einen ehrgeizigen ökologischen und digitalen Wandel und einen weiteren Ausbau der Konnektivität in all ihren Dimensionen (Verkehr, Energie, Digitales und direkte Kontakte zwischen den Menschen) zu einigen.

6.3.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass die Grüne Agenda, der Wirtschafts- und Investitionsplan, Anstrengungen zur Umstrukturierung der Wirtschaft, Investitionen in den Tourismus- und Energiesektor sowie der digitale Wandel äußerst wichtig für die Entwicklung und die Stabilität der Region sind. Er merkt jedoch an, dass hochwertige und angemessene Arbeitsplätze geschaffen werden müssen, die den Arbeitnehmern ein Arbeiten in einem sicheren Umfeld ermöglichen, für ihre wirtschaftliche und soziale Absicherung sorgen und den Menschen Vorteile bringen.

6.4.

Der EWSA ist der Auffassung, dass der Wettbewerbsfähigkeit, dem inklusiven Wachstum, dem Lebensstandard, der nachhaltigen Entwicklung, der Konnektivität und dem digitalen Wandel im Westbalkan besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte. Auch die Leistungsfähigkeit und die Innovationskraft von Unternehmen sind für die Erholung der Region und der lokalen Wirtschaft von großer Bedeutung. Aus diesem Grund empfiehlt der EWSA, die Mittel aus der Heranführungshilfe stärker für die Unterstützung von Start-ups, zur Förderung von Schulungen im Bereich der unternehmerischen Initiative, zur Stärkung intelligenter Wirtschaftsstrategien in der Region sowie für Investitionen in die erforderliche Infrastruktur zu verwenden.

6.5.

Im Bereich der Umweltpolitik liegt der Schwerpunkt der EU auf dem Ausstieg aus fossilen Energieträgern zugunsten erneuerbarer Energieträger. Im Gegensatz dazu haben die Partner im Westbalkan — insbesondere Serbien — Darlehen Chinas für neue Wärmekraftwerke angenommen. Diese werden ohne Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung errichtet und sollen mit billiger Kohle mit geringem Heizwert betrieben werden (35). So machen sich Belgrad, Skopje und Sarajevo während der kalten Wintermonate, in denen der Energieverbrauch steigt, immer wieder gegenseitig den Titel der Stadt mit der weltweit höchsten Luftverschmutzung streitig (36). Sollte die Region in die Bemühungen der EU zur Gestaltung des grünen Wandels, auch im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas, mit einbezogen werden, ist davon auszugehen, dass derartige Projekte dann undenkbar sind (37).

6.6.

Der EWSA begrüßt die auf dem Gipfeltreffen EU-Westbalkan in Posen erfolgte Annahme der Erklärung zur Anerkennung von Hochschulqualifikationen, in der ein Modell für die automatische Anerkennung von Hochschulqualifikationen und im Ausland verbrachten Studienzeiten vorgesehen ist, ist jedoch der Meinung, dass intensivere Anstrengungen nötig sind, um Fortschritte bei der gegenseitigen Anerkennung von Berufsqualifikationen zu erzielen und so einen stärker integrierten Arbeitsmarkt zu schaffen und der Jugend in der Region die dringend benötigten Möglichkeiten zu bieten.

6.7.

Der EWSA betont, wie wichtig es ist, eine stärkere Zusammenarbeit sowie grenzüberschreitende Partnerschaften zwischen den Mitgliedstaaten der EU und den Partnern im Westbalkan zu fördern, und zwar nicht nur auf Ebene der Regierungen, sondern auch auf regionaler und lokaler Ebene und auf jener der organisierten Zivilgesellschaft (38).

7.   Die Zivilgesellschaft spielt im Beitritts- und im Gesetzgebungsprozess eine Schlüsselrolle

7.1.

Der EWSA fordert, dass die Rolle der organisierten Zivilgesellschaft im Rahmen des überarbeiteten Erweiterungsverfahrens besser anerkannt wird. Der EWSA begrüßt zwar, dass die Mittel für OZG im Falle mangelnder Fortschritte in einem bestimmten Land nicht gekürzt werden, stellt jedoch mit Bedauern fest, dass die Rolle der Zivilgesellschaft in der Mitteilung (39) nur unzureichend anerkannt wird, insbesondere angesichts des spezifischen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umfelds im Westbalkan, in dem die Rolle von OZG bei demokratischen Reformen gestärkt werden muss.

7.2.

Der EWSA unterstützt insbesondere den Cluster-Ansatz im Rahmen des neuen Verfahrens und betont die entscheidende Bedeutung der Rolle der OZG in allen Clustern, wobei speziell die Cluster „Wesentliche Elemente“ sowie „Grüne Agenda und nachhaltige Konnektivität“ hervorzuheben sind.

7.3.

Die Zivilgesellschaft wird im Rahmen der politischen Kriterien als eine der vier Säulen der Demokratie nach wie vor separat bewertet. Wie schon in vorangegangenen Berichten variiert die Gründlichkeit der Bewertung zwischen den Ländern und es wird nicht konsequent und systematisch auf die Leitlinien für die Unterstützung der Zivilgesellschaft durch die EU in Erweiterungsländern 2014–2020 (40) Bezug genommen, obwohl es sich dabei um ein detailliertes Überwachungsinstrument handelt. Ohne strategische Kohärenz, einen klaren Überwachungsrahmen und den politischen Willen zur weiteren Unterstützung der organisierten Zivilgesellschaft in den Erweiterungsländern ist die EU nicht in der Lage, den OZG die von ihnen so dringend benötigte Unterstützung zu bieten, geschweige denn den nationalen Regierungen klare Leitlinien vorzugeben (41).

7.4.

Der EWSA ist der Ansicht, dass sich die im Rahmen eines leistungsorientierten Ansatzes tatsächlich erbrachte Leistung nicht ohne eine stärkere Einbindung der OZG, die die spezifischen politischen Zusammenhänge, in denen die einzelnen Partner aus der Region agieren, objektiv überwachen, bestimmen lässt bzw. als vollständig erachtet werden kann.

7.5.

Der EWSA befürwortet den Vorschlag der Kommission, dass die Durchführungsmechanismen für die Bereitstellung von EU-Mitteln eine eindeutige Grundlage für die Verteidigung des zivilgesellschaftlichen Raumes und für die Reaktion auf eine Gefährdung desselben darstellen sollten. Um dies zu erreichen, wären Investitionen in politische Bildung, in günstigere Rahmenbedingungen, in die zivilgesellschaftliche Infrastruktur und in gemeinsame Maßnahmen äußerst wichtig. Eine Möglichkeit, wirkungsvoll auf das Schrumpfen des zivilgesellschaftlichen Raumes zu reagieren, wäre die Anwendung des neu eingeführten Leistungsgrundsatzes zur Unterstützung zivilgesellschaftlicher Tätigkeiten. Statt Ländern, die sich in demokratischer Hinsicht zurückentwickeln, einfach Mittel zu entziehen, könnten diese Mittel umgeschichtet und als Unterstützung für die Zivilgesellschaft zur Bekämpfung der Rückschritte bei der Demokratie in dem betreffenden Land zugewiesen werden (42).

7.6.

Die EU-Organe können auf zivilgesellschaftliche Ressourcen vor Ort zurückgreifen und die Hilfe von EU-Delegationen in der Region nutzen, um die Bevölkerung im Westbalkan zu mobilisieren und ihr die Möglichkeit zu bieten, an den Plattformen teilzunehmen, auf denen sich die Unionsbürgerinnen und -bürger während der Konferenz zur Zukunft Europas austauschen werden. Jungen Menschen und/oder einfachen Bürgerinnen und Bürgern aus dem Westbalkan die Möglichkeit zur Teilnahme an der Konferenz zur Zukunft Europas zu bieten und sie besser über EU-Angelegenheiten und deren Relevanz für ihr Land aufzuklären und zu sensibilisieren, wäre eine bedeutende Investition in das Sozialkapital der Region. So könnten auch direkte Kontakte zwischen Menschen aus der EU und der Region geknüpft werden, und diese umfassender informierten Bürgerinnen und Bürger wären besser in der Lage, ihre jeweiligen politischen Eliten in Bezug auf Angelegenheiten im Zusammenhang mit dem Integrationsprozess zu kontrollieren (43).

Brüssel, den 24. März 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  COM(2020) 57 final (5.2.2020) Stärkung des Beitrittsprozesses — Eine glaubwürdige EU-Perspektive für den westlichen Balkan; COM(2020) 641 final (6.10.2020) Ein Wirtschafts- und Investitionsplan für den Westbalkan; COM(2020) 660 final {SWD(2020) 350 final — {SWD(2020) 351 final} — {SWD(2020) 352 final} — {SWD(2020) 353 final} — {SWD(2020) 354 final} — {SWD(2020) 355 final} — {SWD(2020) 356 final} (6.10.2020) Mitteilung 2020 über die Erweiterungspolitik der EU.

(2)  Erklärung von Zagreb, 6. Mai 2020.

(3)  Entsprechend der etablierten Terminologie des EWSA umfassen die in dieser Stellungnahme verwendeten Begriffe „Zivilgesellschaft“ und „zivilgesellschaftliche Organisationen“ Sozialpartner (d. h. Arbeitgeber und Gewerkschaften) und alle anderen nichtstaatlichen Akteure (siehe Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt und europäische Integration auf dem Westbalkan — Herausforderungen und Prioritäten“ (ABl. C 262 vom 25.7.2018, S. 15).

(4)  COM(2020) 57 final (5.2.2020).

(5)  Schlussfolgerungen des Rates zur Erweiterung sowie zum Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess — Republik Nordmazedonien und Republik Albanien, 25.3.2020.

(6)  Cvijic, Srdjan, Kirchner, Marie Jelenka, Kirova, Iskra und Nechev, Zoran (2019), „From enlargement to the unification of Europe: Why the European Union needs a Directorate General Europe for future Members and Association Countries“, Open Society Foundations.

(7)  Stratulat, Corina und Lazarevic, Milena (2020), „The Conference on the Future of Europe: Is the EU still serious about the Balkans?“, EPC Discussion Paper, European Policy Centre, Brüssel.

(8)  Stratulat u. a. (2019), a.a.O., S. 113.

(9)  Stratulat und Lazarević (2019), a.a.O.

(10)  COM(2019) 640 final (11.12.2019) Der europäische Grüne Deal.

(11)  SWD(2020) 223 final {COM(2020) 641 final} (06.10.2020) Guidelines for the Implementation of the Green Agenda for the Western Balkans accompanying the Economic and Investment Plan for the Western Balkans.

(12)  Abschlusserklärung des 7. Forums der Zivilgesellschaft des Westbalkans — 16./17.4.2019, Tirana, Albanien.

(13)  Schlussfolgerungen der Hochrangigen Konferenz über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt auf dem Westbalkan, 15. Mai 2018, Sofia, Bulgarien.

(14)  Beitrag des EWSA zum Gipfeltreffen EU-Westbalkan am 6. Mai 2020 (veröffentlicht am 28.4.2020).

(15)  ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 114.

(16)  Siehe auch die Stellungnahmen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses „Wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt und europäische Integration auf dem Westbalkan — Herausforderungen und Prioritäten“ (ABl. C 262 vom 25.7.2018, S. 15) und „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung des Instruments für Heranführungshilfe (IPA III)“ (ABl. C 110 vom 22.3.2019, S. 156).

(17)  Stratulat u. a. (2019), a.a.O.

(18)  Vom Europäischen Fonds für den Balkan im Oktober 2020 in Auftrag gegebene Umfrage zur Unterstützung der Arbeiten der Beratenden Gruppe zum Thema Balkanländer in Europa (BiEPAG), die in allen sechs Ländern der Region durchgeführt wurde und auf einer für das jeweilige Land repräsentativen Stichprobe von mindestens 1 000 Teilnehmern über 18 Jahren basiert, die mittels befragt wurden.

(19)  Stratulat, Corina, Kmezić, Marko, Tzifakis, Nikolaos, Bonomi, Matteo, und Nechev, Zoran (2020), „Between a rock and a hard place: Public opinion on integration in the Western Balkans“, Balkans in Europe Policy Advisory Group (BiEPAG).

(20)  Balfour, Rosa und Stratulat, Corina (2015) (Hg.), „EU member states and enlargement towards the Balkans“, EPC Issue Paper Nr. 79, European Policy Centre, Brüssel, S. 234.

(21)  COM(2018) 65 final (6.2.2018) Eine glaubwürdige Erweiterungsperspektive für und ein verstärktes Engagement der EU gegenüber dem westlichen Balkan.

(22)  Stratulat u. a. (2020), a.a.O., S. 5.

(23)  Richter, Solveig und Wunsch, Natasha (2020), „Money, power, glory: the linkages between EU conditionality and state capture in the Western Balkans“, Journal of European Public Policy 27(1), S. 41-62.

(24)  COM(2018) 65 final (6.2.2018).

(25)  Stratulat u. a. (2020), a.a.O., S. 7.

(26)  Stratulat und Lazarević (2019), a.a.O.

(27)  COM(2020) 641 final (6.10.2020) Ein Wirtschafts- und Investitionsplan für den Westbalkan.

(28)  COM(2020) 660 final {SWD(2020) 350 final} — {SWD(2020) 351 final} — {SWD(2020) 352 final} — {SWD(2020) 353 final} — {SWD(2020) 354 final} — {SWD(2020) 355 final} — {SWD(2020) 356 final} (6.10.2020) Mitteilung 2020 über die Erweiterungspolitik der EU.

(29)  Bonomi, Matteo und Reljić, Dušan (2017), „The EU and the Western Balkans: so near and yet so far“, Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), SWP Comment.

(30)  Stratulat u. a. (2019), a.a.O., S. 113 sowie Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Beitrag der Zivilgesellschaft zur Grünen Agenda und zur nachhaltigen Entwicklung des Westbalkans im Rahmen des EU-Beitrittsprozesses“ (Initiativstellungnahme) (ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 114).

(31)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt und europäische Integration auf dem Westbalkan — Herausforderungen und Prioritäten“ (ABl. C 262 vom 25.7.2018, S. 15).

(32)  Ebenda.

(33)  ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 114.

(34)  Ebenda.

(35)  Vlatka Matkovic Puljic, Dave Jones, Charles Moore, Lauri Myllyvirta, Rosa Gierens, Igor Kalaba, Ioana Ciuta, Pippa Gallop und Sonja Risteska (2019), „Chronic coal pollution EU action on the Western Balkans will improve health and economies across Europe“, Health and Environment Alliance, Brüssel, S. 18.

(36)  Siehe zum Beispiel „European Western Balkans“, „Sarajevo and Belgrade among the most polluted world capitals“, 13. Januar 2020, Jessica Bateman, „The young people fighting the worst smog in Europe“, BBC, 2. Juli 2020.

(37)  Stratulat und Lazarević (2019), a.a.O.

(38)  Von den vielen guten Beispiele für eine solche Zusammenarbeit sind die EU-Strategie für die Region Adria-Ionisches Meer (EUSAIR), die EU-Strategie für den Donauraum (EUSDR), CIVINET Slo-Cro-SEE, das Netzwerk für die Entwicklung des ländlichen Raums auf dem Balkan (BRDN), das Investitionsforum der Westlichen Balkan-Kammer 6 (WB6 CIF) und der Regionale Gewerkschaftsrat Solidarnost zu nennen.

(39)  COM(2020) 57 final (5.2.2020) Stärkung des Beitrittsprozesses — Eine glaubwürdige EU-Perspektive für den westlichen Balkan.

(40)  Guidelines for EU Support to Civil Society in Enlargement Countries (2014-2020).

(41)  BCSDN „Background Analysis of the Enlargement Package 2020: Should Civil Society Be Satisfied with Just Being Acknowledged?“, Oktober 2020.

(42)  BCSDN „Feedback on the Consultation of CSOs in the Preparation of IPA III“, 22. April 2020.

(43)  Stratulat und Lazarević (2020), a.a.O., S. 7.