Ueber die Verbesserung der Thurgamschen Staatsverfassung. Von Thomas Wornhauser. Pfarrer^ Trogen. Druck und Verlag von Meyer und Zuberbühler. 1830. ^icde Verfassung ist gut, wenn sie gut verwaltet wird — so sprach einst ein englischer Dichter und viele Leute haben es ihm seitdem nachgesagt, weil sie es selber glauben oder weil sie es gerne sähen, wenn es Andere glaubten. Aber wenn irgend ein Satz nur eine glänzende Halbwahrheit, ein verderbliches Einschläferungsmittel enthalt für ein freies Volk, so ist es der Fall bei dem oben angeführten Satze. Von wem hängt die gute ! oder böse Verwaltung eines Staates ab? Von wem anders als von der Verfassung? Sie bestimmt, ob nur eine oder ob ! mehrere Familien, ob nur einer Kaste oder ob allen Klassen ^ des Volkes der Weg offen stehe zur Staatsverwaltung; sie bestimmt, ob Geburt und Reichthum oder Kenntniß und Bürger- tugend zu den ersten Stellen des Landes befähige, ob Gesetz und öffentliche Meinung oder Laune und Willkühr des Einzelnen den Ausschlag gebe auf der Waagschale allgemeiner Angelegenheiten. Ist daher die Staatsvcrfassung gut, so muß auch im Ganzen die Verwaltung gut sein und umgekehrt. Ich sage absichtlich im Ganzen; denn daß keine Regel ohne Ausnahme sei, ist eine bekannte Sache. Im Reiche des Despoten kann oft ein Antonin des Landes Vater, im Freistaate oft ein Robespierre des Volkes Henker sein. Aber das ist Ausnahme, Zufall. Als man i daher Rußland einst glücklich pries, daß der menschenfreundliche ^Alexander sein Beherrscher sei, erwiederte dieser: «Aber das ist Rußlands Unglück, daß ich selbst nur ein glücklicher Zufall bin.« Das heißt wohl nichts anderes, als: das Volk ist zu beklagen, bei welchem eine gute Verwaltung nur ein glücklicher Zufall, nicht aber ein nothwendiges Ergebniß seiner guten 4 Staatsverfassung ist. Gerne wollen wir auch despotischen Reichen diese flüchtigen Sonnenblicke gönnen, aber uns durch sie nicht irre führen lassen über den Werth einer vernünftigen, auf wahrer Volksvertretung beruhenden Verfassung. Wenn wir von ganzen Völkern und ihren Staatseinrichtungcn sprechen, dann dürfen wir nicht bei der Gegenwart und einer behaglichen Aussenseite stehen bleiben, dürfen wir uns nicht täuschen lassen durch die Dumpfheit einer noch nicht bürgerlich ! gebildeten Mitwelt; sondern wir sollen mit unserer Betrachtung die.künftigen Geschlechter und den Geist des Volkes umfassen; fragen, sollen wir vor Allem aus: welchen Einfluß wird diese oder jene: Staatsform mit der Zeit äußern auf den Geist des ! Volkes? Es betet vielleicht für den Augenblick einen Augustus an, der ihm die Ketten bringt, aber staatsklug sie mit Blumen umwindet, während ihm die freiern Formen aus der Hand eines strengen Lykurgs werthlos, nutzlos, ja sogar lästig sind. Die Zeit aber richtet, anders; sie zeigt, daß Knechtschaft, und sei sie auch noch: so glatt, den Geist des Volkes herabwürdigt, Freiheit hingegen, ihn erhebt. Wie die Form dem Metalle seine Gestalt, wieder Stab dem jungen Baume seine Richtung, wie der Ton im Haufe dem Geiste der Kinder sein Gepräge giebt, so auch die Verfassung Hern Geiste des ganzen Volkes. Für Jahrhunderte berechnet, wirkt sie auch in der Jahrhunderte Lauf allmächtig ein auf Ansichten, Sitten und Gebräuche eines Volkes.:. Die Verfassung ist nächst Klima und Religion die stärkste Bildnerin der Menschen. Das erkannten die Weisen des Alterthums, die daher auch keine Forschung, kein Opfer zu groß fanden, wo es sich handelte um die Einführung einer zweckmäßigen Verfassung. Das fühlen immer mehr die Völker Europa's und Amerika's, die schon seit mehr als fünfzig Jahren einen geistigen, leider durch blutige Zwischenakte oft getrübten, Kampf kämpfen zur Erringung veredelter Staatsformen. - Glücklich das Land, dem die Vorsehung schon frühe seinen! Moses, Solo« oder Lykurg verlieh. In weiser Hand wird die Verfassung ein wohlthätiges Erziehungsmittel, das auch dem Enkel des entarteten Sklaven Freisinn und Gcmeingeist einzuflößen vermag. Wehe hingegen dem Volke, wo blinder Zufall und Gewalt, wo kurzsichtige Laune und engherzige Selbstsucht die ersten Grundgesetze des Staates entwarf. Da wird die Verfassnngsurkunde zum sinnlosen Zauberspruch, der die geistige und sittliche Entwickelung der künftigen Geschlechter auf ewig lahmt; zum Fetisch, dem die herrschende Kaste von Zeit zu Zeit das Blut der edelsten Bürger opfert. Verachten wir daher groß und edel den Sophisten, der uns vorlügt: jede Verfassung sei gut, wenn nur die Verwaltung gut sei. Mag mit diesem Widersprüche der kurzsichtige Sklave sich trösten, dem keine Hoffnung auf Freiheit bleibt; mag hinter diese glänzende Lüge der Elende sich verkriechen, der ein biederes Volk um seine Rechte betrogen, wir halten diese Ansicht für einen Krebs, der das innerste Mark eines Freistaates zerfrißt, für ein Opium, das ein Volk dumpf und gedankenlos seine« Mitbürgern und eben so dumpf und gedankenlos jedem angreifenden Fürsten überliefert. Der Gedanke: mit unserer Verfassung steht und fällt unser Glück, wächst und verschwindet des Lebens Werth —nur dieser Gedanke, diese Ueberzeugung wird uns retten in den Tagen der Noth, wird unsre Söhne zu Helden machen in der Schlacht. Aber diese Ueberzeugung läßt sich nicht durch Proklamationen einflößen, nicht durch Gewalt erzwingen; auch hier offenbart sich das große Gesetz der Natur: was geliebt, was geehrt werden soll, muß wirklich auch Liebe und Ehrfurcht verdienen. Der Schweizer prüfe daher unsre Bundesakte und prüfe die Verfassung des eigenen Kantons. Findet er Würmer im Innern, die des Volkes Freiheit zernagen; findet er den Saamen der Knechtschaft und Zwietracht ausgestreut für künftige Geschlechter: so decke er auf, was er gefunden, ruhig, aber mit edler Freimüthigkeit. Was die 6 Verfassung nicht ist, das kann sie ja werden, und die Vorzüge, die man ihr giebt in den Tagen des Friedens, die besitzt sie in den Stunden der Noth! Von diesem Standpunkte ausgehend wage ich es, einen prüfenden Blick zu werfen auf die Staatsverfassung unsers Thurgaus. Ich bin Bürger dieses Kantons und liebe ihn innig und warm. Daß ich ein Geistlicher bin, das werdet ihr, theure Mitbürger! bei dieser Betrachtung mir nicht zum Vorwurf machen wollen. Ich schreibe hier nicht als Geistlicher, sondern als Bürger und übe dabei das gleiche Recht aus, wie der Arzt, der Kaufmann u. s. w., der in der gemeinnützigen Gesellschaft, im Gr. Rath u.s. w., über allgemeine Angelegenheiten auch nicht als Bcrufsmann spricht, sondern als Bürger. Die Zeiten sind vorüber, wo man des Menschen wissenschaftliches Streben nach seinem Stande abmaß. Die Scheidewand zwischen dem Weltlichen und Geistlichen ist gefallen. Darf der Nathsherr über Religion und Kirche schreiben, so wird dasselbe auch dem Pfarrer erlaubt sein über den Staat und seine Verfassung. Dem Geistlichen liegt es ja vorzüglich ob, im Volke den Sinn für Recht und gesetzliche Freiheit zu wecken, des Bürgers Gemüth zu entflammen für Gemeinsinn und hochherzige Selbstaufopferung und Vaterlandsliebe; ihm muß es daher wohl gar Pflicht sein, auf die starren Formen aufmerksam zu machen, die diesen heiligen Tugenden tödtcnd entgegentreten. Was denkt man sich nnter Staat und Staatsverfassung? Bleiben wir nur beim vorliegenden Beispiele stehen, so wird die Sache vielleicht desto erklärlicher. Was ist der Thur- gauische Freistaat? Eine Gesellschaft, eine große Gemeinde von 80,000 Bürgern, die sich vereinigt hat, ihre Rechte, die ihnen als vernünftigen Menschen zukommen, gegenseitig zu sichern und dadurch die allgemeine Wohlfahrt zu fördern. Wie eine Gesellschaft die Statuten oder Satzungen feststellen kann, an die sie sich 'bei Verfolgung ihres Zweckes halten will, so kann auch die große Gesellschaft, die man Staat nennt, allgemeine Grundgesetze aufstellen, nach denen sie behandelt werden will, damit nicht die Willkühr und Gewalt der Einzelnen, sondern das Recht walte zwischen Großen und Kleinen. Diese Grundgesetze, die, wenn sie Rechtskraft haben sollen, durchaus von der Mehrzahl der Staatsbürger gcbilligct sein müssen, geben gleichsam die große Hausordnung des Landes an und sind mit einem Worte die Verfassung. Wie Israel dem Könige Saul, so kann auch jedes andere Volk die Staatsverwaltung ! einem Einzelnen übertragen, wo dann eine Monarchie entsteht, i deren Gebrechen der alte Samuel mit so beredtem Munde schil- - derte. Oder die Bürger können die Leitung des Staates den i Reichsten des Landes überlassen; so entsteht dann, weil die j Reichen sich immer für die bessere Klasse halten, eine Aristo- ! kratie, wo man statt eines Herrn viele Herren hat, die Kraft ! ihres Reichthums und ihres Adels zu den allgemeinen Angelegen- ! heitcn ihr großes Wort reden, den Mittelmann und Armen ! aber schweigen und bezahlen lassen. Die unbedingte monarchische und aristokratische Verfassung ist so unvollkommen, daß ein : vernünftiges Volk kaum eine derselben freiwillig annähme; sie > entstehen daher beide gewöhnlich durch Gewalt oder durch den ! Mißbrauch der Jahrhunderte. ! Anders verhält cS sich mit der demokratischen Verfassung, ! wo das Volk alljährlich in der Landsgemeinde sich versammelt, i um sich seine Gesetze und Landesbeamteten selber zu wählen. Ist , gleich auch diese Verfassung nicht ganz von Gebrechen frei, so l ist sie doch die einfachste, der menschlichen Würde angemessenste l und wird daher auch stets der Gegenstand geheimer Sehnsucht bleiben für alle Völker. Da aber die demokratische Verfassung nur für kleinere Völkerschaften anwendbar ist, so hat sich in neuern Zeiten eine neue Art von Verfassung entwickelt, die sogenannte repräsentative, bei welcher das Volk seine Repräsentanten oder Stellvertreter wählt nnd ihnen die Vollmacht ertheilt, an seiner Stelle und in seinem Namen Gesetze zu geben und die obersten Behörden des Landes zu ernennen. Nur der Staat, der eine demokratische oder repräsentative Verfassung hat, verdient den Namen eines Freistaates, weil nur hier die öffentliche Meinung auf die Gesetzgebung einwirken, nur hier eine Obrigkeit, die sich des Zutrauens der Bürger unwerth machte, auf gesetzlichem Wege entfernt werden kann. Freilich muß, wenn das Alles nicht auf ein bloßes Blendwerk hinaus laufen soll, das Wahlrecht des Volkes unverkümmcrt, die Verwaltung öffentlich, die Presse frei, das Petitionsrecht geordnet und die Gewalten gehörig getrennt sein. Da unsere Verfassung eigentlich eine repräsentative sein soll, so wollen wir nun sehen, wie Thurgau zu derselben gelangte und inwiefern sie den eben gesagten Forderungen entspreche. Wenn wir die thurgauische Verfassung beleuchten wollen, so müssen wir bis zum Jahr 1803 zurückgehen. Die frühere Zeit können wir hier füglich überschlagen, da unser Kanton bis 1798 unter dem Joche des Lehenwesens und der Leibeigenschaft schmachtete, von 1798 bis 1803 aber einen Theil der helvetischen Republick ausmachte und also keine selbststandige Staatsverfassung besaß. Mit dem Jahre 1803 begann für uns in dieser Beziehung eine neue Epoche. Am 19. Hornung dieses Jahres erhielten wir durch die sogenannte Vermittlungsakte aus der Hand Napoleons eine Verfassung, die aufdcm wichtigen Grundsatz beruhte: "Es giebt in der Schweiz weder Unterthanenländer, noch Vorrechte der Orte, Personen oder Familien." Die Eintheilung des Kantons in 8 Bezirke und 32 Kreise wurde, wie Pupikofer sagt, bestätigt. Frauenfeld als Hauptvrt bestimmt, allen nicht verarmten einheimischen Landeöbcwohnern die Ausübung ihrer Bürgerrechte in den Gcnicinde- und Kreisversammlungcu und den Fremden und Schweizerbürgern billiger Einkauf in die Bürgerrechte und ungehinderte Betreibung ihres Berufes zugesichert; als Vorsteher 9 für die Munizipalgemeindcn wurde ein Ammann mit 2 Zugeordneten und einem Gemeindrathe von 8 bis 16 Gliedern verordnet, welche alle aus denjenigen Bürgern, die wenigstens 30 Jahre alt und Besitzer von 500 Franken waren, durch die Gemeinden gewählt und mit der Polizei, Erhebung der Abgaben und Verwaltung der Gemeindegütcr und der Armenkasse beauftragt werden sollten. Die Friedensrichter, als Vorsteher der Kreise, vom Kl. Rathe gewählt, erhielten die Bestimmung, die Kreisvcrsammlungen zu leiten, die Voruntersuchung bürgerlicher Vergehungen vorzunehmen, durch Vermittelung die entstehenden Zwistigkeiten möglichst zu beseitigen und mit Hülfe einiger Beisitzer kleinere Vergehungen zu beurtheilen. Der Kreisversammlung wurden dreierlei Ernennungen für die Wahl eines Er. Rathes oder Kantonsrathes zugetheilt. Zuerst hatte sie aus der Zahl der Bürger, die über 30 Jahren waren, ein unmittelbares Mitglied, dann außer dem Kreise 2 Kandidaten von wenigstens 20 Jahren und 20,000 Fr. Vermögen, und endlich 2 Kandidaten von wenigstens 50 Jahren und 4000 Fr. Vermögen gleichfalls außerhalb dem Kreise zu wählen. Aus diesen Kandidaten sollten 68 durch das Loos ausgeschieden werden, um vereint mit den 32 unmittelbar Gewählten den Gr. Rath zu bilden und den Kl. Rath mit 9 Mitgliedern, das Obergcricht mit 13 Mitgliedern, zu wählen. Die höchste Würde fiel dem Gr. Rathe zu; er hatte die vom Kl. Rathe entworfenen Gesetze zu prüfen, die Besoldungen zu bestimmen, die Rechnungen des Staatshaushaltes zu untersuchen, den Abgeordneten an die eidgenössischen Tagsatzungen Verhaltungs- befehle zu geben und von dem Kl. Rathe über seine Geschäftsführung Rechenschaft zu fordern; dem Kl. Rathe aber stand die Vorberathung und Vollziehung der Gesetze und Verordnungen, die Verwendung der bewaffneten Macht und die Oberaufsicht über alle Vcrwaltungs-, Gerichts- und Polizeibehörden des Kantons zu ; dem Appellationsgerichte oder Obergerichte lag die Untersuchung niedergerichtlicher Urtheile und die Bestrafung todeswürdiger Verbrecher ob. Demselben untergeordnet waren die Distriktsgerichte. Sowohl die Stellen des Gr. und des Kl. Rathes als der Gerichte waren einer Erneuerungswahl in je 5 oder 6 Jahren unterworfen, doch mit der Ausnahme, daß Mitglieder des Gr. Rathes von der zweiten Ernennung, wenn sie von 15 Kreisen, und Mitglieder von der dritten Ernennung, wenn sie von 30 Kreisen als Kandidaten vorgeschlagen wurden, lebenslänglich in ihren Stellen blieben. Jeder Thurgauer ward zu lebenslänglichem Waffendienste verpflichtet, der katholischen und protestantischen Kirche volle und ungeschmälerte Freiheit des Gottesdienstes und den Grundcigcnthümern die Loskäuflichkeit der Zehentcn und Grundzinse zugesichert. Ich führe diese Stelle aus unserm thurgauischen Geschichtschreiber daruin in ihrem ganzen Umfange an, weil die Verfassung von 1803 vielen jünger« Bürgern unbekannt ist und weil viele die Verbesserung der 1814 erhaltenen Verfassung für etwas Gefährliches halten, ohne zu ahnden, daß das Werk von 1814 nur eine Verschlechterung der 11 Jahre bestandenen Mediatiousakte ist. Unstreitig hatte die Verfassung von 1803 viel Gutes. Die höchste Gewalt besaß der Gr. Rath. Die 32 Kreise wählten 32 Mitglieder geradezu in den Gr. Rath; die noch mangelnden 68 Mitglieder aber wurden durch das Loos aus den 128 Kandidaten genommen, die durch die Kreise gewählt worden waren. Folglich gicng der ganze Gr. Rath aus dem Herzen des Volkes hervor und kein Bürger konnte Kantonsrath oder Regicrungsrath werden, wenn er nicht entweder ein direktes Mitglied oder ein Kandidat war. Das Kandidatcnwescn und die Wahl durch das Loos war eine etwas seltsame Einrichtung, die indeß ihre guten Absichten hatte. Dadurch, daß 2 Drittheilc des Gr. Rathes außer dem Kreise, in dem sie wohnten, gewählt werden mußten, wollte man den Mitgliedern anschaulich machen, daß sie nicht Neprä- II sentanten einzelner Kreise, sondern Repräsentanten des ganzen Volkes seien, daß also der Vortheil des ganzen Landes ihnen höher stehen solle, als der Vortheil eines einzelnen Ortes. Ob aber diese Absicht erreicht worden sei, ist eine andere Frage. Der Dicssenhofer, der von Frauenfcld, der Frauenfelder, der von Steckborn gewählt ward u. s. w., wird dieser Wahl wegen seinen Ortsgeist noch nicht verlieren. Das kann allein das Ergebniß höherer bürgerlicher Bildung sein. Dadurch, daß man bei den Kandidaten das Loos eintreten ließ, wollte man herrsch- süchtige Berechnungen und aristokratische Plane unmöglich machen. Diese Absicht mußte allerdings eher erfüllt werden, als die früher genannte. Doch konnte das blinde Loos auch dem verdienstvollsten Manne zwei und drei Mal ungünstig sein. Indessen hatte die Verfassung von 1803 bei all ihrem Guten doch einige große Gebrechen. Das erste Gebrechen war, daß wir diese Verfassung nicht dem freien Willen des Volkes, sondern dem Machtwort des fränkischen Konsuls verdankten. Das zweite Gebrechen bestand darin, daß ein von 15 oder 30 Kreisen ans einmal gewählter Kandidat dadurch lebenslängliches Mitglied des Gr. Rathes wurde. Mag auch ein Bürger in einem gewissen Zeitpunkte sich des Zutrauens seiner Mitbürger in so hohem Grade erfreuen, daß er von 15 oder 30 Kreisen in den Gr. Rath gewählt wird, deßwegen folgt noch nicht, daß er sich ein ganzes Menschenleben hindurch dieses Zutrauens würdig zeigen werde. Lebenslängliche Stellen vertragen sich nicht mit dem Geiste eines Freistaates. Auch nach dieser Verfassung war die gesetzgebende- vollziehende und richterliche Gewalt nicht gehörig geschieden, so daß die Möglichkeit vorhanden war, eine große Menge abhängiger Beamteter in den Gr. Rath zu bringen. Es mangelte die Oeffentlichkeit. Bei den Sitzungen des Gr. Rathes waren die Thüren geschlossen, über die Stimmen und Anträge der einzelnen Mitglieder verlautete im Volke nichts, die Staatsrechnung wurde nicht bekannt gemacht. Der Gr. Rath fühlte L2 es also nicht, daß er dem Volke, welches er reprüsentirte, Rechenschaft schuldig sei über die Art, wie er es reprasentirt habe. Ja man hatte von der Preßfreiheit, für welche selbst monarchische Staaten mit dem feurigsten Eifer kämpfen, im Jahr 1803 noch so wenig einen klaren Begriff, daß man gerade von Anfang an die Censur einführte und sie, wenn ich nicht irre, der Polizei-Commission übertrug, als ob sich das von ^ selbst verstände, daß solches zu ihrem Amte gehöre. Dadurch gieng freilich ein großes Mittel, das Volk zu bilden, verloren, und das Mißtrauen, das sich aus frühern Jahrhunderten her- ! übergeerbt, wucherte fort. Daß es einem oder mehrern Bürgern, einer oder etlichen Gemeinden frei stehen müsse, Vorschläge und Bitten an den Gr. Rath gelangen zu lassen, daß also das Petitionsrecht gesichert sein müsse — auch davon hatte man in jenen Jahren noch keinen deutlichen Begriff. Es ließe sich vielleicht noch Einiges anführen; indessen müssen wir billig sein und nicht der Verfassung zur Last legen, was oft und viel nur Wirkung einer tausendjährigen Leibeigenschaft war. Wenn obere und niedere Behörden manchen Mißgriff machten, so muß man nicht vergessen, daß damals noch Alles neu und die bürgerliche Bildung unserer Bürger noch gering war. Wenn unser Volk viele untaugliche Repräsentanten wählte, so muß man es darüber nicht zu hart tadeln, es deßwegen der Freiheit nicht unwerth halten; denn für's erste hatte das Schulwesen vor der Revolution uns nur wenige taugliche Volksrepräsentanten gebildet und für's zweite erkannte unser Volk die Wichtigkeit dieses Wahlwesens anfänglich nicht. Hätte über unsere allgemeinen Angelegenheiten ! mehr Oeffentlichkeit geherrscht, hätte unser Schulwesen in gleichem Verhältnisse mit unserm Staatsvermögen sich verbessert, hätte die Vermittlungsakte länger bestanden: so wäre unser Volk, dem es gar nicht an Anlagen fehlt, gewiß nicht zurück- ! geblieben. Leider war aber gerade das Letztere nicht der Fall. Wie die 13 Mediationsakte von Aussen, gegeben worden, so wurde sie auch von Aussen gestürzt. Als Napoleon 18t3 unter der Uebermacht seiner Feinde erlag und die Verbündeten auf eine der Geschichte anheimgestellte Weise sich durch die Schweiz einen Weg bahnten nach Frankreich: da wünschten sie, daß die Mcdiationsakte, als Werk Napoleons, aufgehoben und durch i eine andere Verfassung ersetzt werden möchte. Einigen Oligarchen ! schien nun die Zeit gekommen, das wieder zu erringen, was ^ 1798 verloren worden, und es war ihnen ein Leichtes, die ! fremden Minister zu bereden, es liege im Interesse der hoben ! Mächte, daß die Aristokratie in den alten Kantonen wieder ! hergestellt und in die Verfassungen der neuen Kantone so viel i Aristokratisches als immer möglich hineingebracht werde. Denn, daß es sonst dem Kaiser von Oesterreich und Rußland ziemlich ! gleichgültig gewesen wäre, ob Thurgau und Aargau eine Aristo-- § kratie wie in Bern, oder eine Demokratie wie Appcnzell habe ! oder nicht — das fällt wohl Jedem von selbst in die Augen. - So aber kam es, daß unser Gr. Rath aufgefordert wurde, ! eine neue, mehr aristokratische Verfassung zu entwerfen. Wie i diese Zumuthung aufgenommen ward, können wir nicht bestimmt ! angeben, weil das damalige Großraths-Protokoll nach einer fehlerhaften Einrichtung nur die Beschlüsse enthält, hingegen die Motive der Gesetze, die Vorschläge einzelner Mitglieder, ^ sowie die Meinung der Minderheit übergeht. Wenn wir aber ! mündlichen Angaben trauen dürfen, so haben sich nichrere Kantonsräthe lebhaft gegen diesen Eingriff in die Rechte eines freien Volkes ausgesprochen. Furcht, durch Widerstand die Selbstständigkeit des Kantons zu gefährden, Hoffnung, vielleicht in ruhigern Zeiten die aristokratischen Bestandtheile wieder aus- i zuscheiden u. s. w., machten, daß man am Ende nachgab. So ! erhielten wir die gegenwärtige Verfassung, die im Grunde ^ betrachtet fehlerhafter ist, als die Verfassung aller anderer neuen Kantone. 14 Dom thurgauischen Volke kann man eigentlich nicht sagen, daß es die Verfassung von 1814 gebilligt oder angenommen habe. Man gebot ihm nur, die neuen Wahlen vorzunehmen, und das arme Volk that es, weil die Furcht vor österreichischen und russischen Bajonetten jede Weigerung als verderblich ansah. Wenn also nichts Anderes gegen unsere Verfassung sprechen würde, so müßte sie schon dieser erzwungenen, schmählichen Annahme wegen ein Gegenstand des bittersten Widerwillens sein. Dem Schweizer, der noch einen Funken Gefühl für Nationalehre besaß, war es krankend, daß uns die große Nation die Freiheit 1803 aufzwang; aber noch viel kränkender war es ihm, daß die allirten Mächte uns 1814 diese Freiheit gewaltsam beschränkten. Laßt uns sehen, worin diese Beschränkung bestehe. Die Eintheilung des Landes, die Verwaltungswcise desselben, das Paritäts-Verhältniß, die bürgerlichen Rechte, blieben die gleichen; die Civilgerichte änderten beinahe bloß den Namen; nur der Gr. Rath erlitt in seiner Wahlart einige Veränderungen, die freilich in ihren Folgen höchst wichtig sein müssen. Der Gr. Rath besteht noch aus 100 Mitgliedern und hat die höchste gesetzgebende Gewalt wie vorher. Aber er wird nicht mehr vom Volke gewählt wie vorher. Das Volk hat im Grunde nnr noch 32, das Wahlkollegium ebenfalls 32 und der Gr. Rath 36 Mitglieder zu wählen. Was ist aber dieses für ein Wahlkollegium? möchte hier ein j Fremder, vielleicht auch mancher Kantonsbürger fragen. Das thurgauische Wahlkollegium besteht aus 43 Männern, a) Aus 9 Regierungsräthen, 1,) aus 9 Kantonsräthen, o) aus 9 Ober- richtern, ä) aus 16 der reichsten weltlichen Güterbesitzer. Die 9 Regierungsräthe, also der Kl. Rath, gehören ohne weiters in das Wahlkollegium; die 9 Oberrichter werden vom Obergerichte selbst in das Wahlkollegium abgeordnet; die 9 Kantonsräthe werden aus einem vom Gr. Rathe gemachten Doppelvvrschlage durch das Loos ausgeschieden; die reichsten Güterbesitzer bezeichnet der Kl. Rath nach Anleitung des Steuer-Registers und Güter-Kadasters. Das ist also Thurgau's Wahlkollegium, das sind die 43 Männer, die 32 Kautonsräthe machen, ja 18 Mitglieder aus der eigenen Mitte zu dieser Würde erheben dürfen. Ruhig aber ernst fragen wir hier im Angeflehte der ganzen Schweiz, ob ein solches Wahlkvllegium in einem Freiftaate nicht eine wunderliche oder vielmehr eine traurige Erscheinung sei? Allervorderst muß es uns befremden, daß wir den Kl. Rath in diesem Kollegium obenan finden. Hier wählt also die vollziehende Behörde die gesetzgebende; der Rcchnungsgeber den Rechnungs- abnehmcr. Ist das republikanische Unpartheilichkeit? Von den Oberrichtern bemerken wir bloß, daß das Wahlwesen, mit der Heiligkeit ihres Amtes, die durch kein Partheinehmcn getrübt werden darf, unverträglich ist. Wenn Unordnungen bei den Wahlen vorfallen, Umtriebe gemacht, Leute gewählt werden sollten, denen die gesetzlichen Erfordernisse mangeln, wenn sich schwere Klagen erhöben über Wähler oder Gewählte: wer soll da die Aufsicht führen? wer soll Richter sein? Etwa das Obergericht? das ist selber Wahlbehörde! Etwa der Gr. Rath? der ist wieder selber Wahlbehördc. Da wird der erste Grundsatz jedes civilisirtcn Staates verletzt, der Grundsatz nämlich: daß die gesetzgebende, vollziehende und richterliche Gewalt geschieden sein soll. Wehe dem Lande, wo der Angeklagte oder der Kläger selber der Richter sein kann. Schuhmachers, Chcnaur, Masers, Sinters blutige Schatten, warnen den Schweizer vor jeder Ver- ! Mischung der Gewalten. Von den 9 Kantonsräthen bemerken ^ wir nur, daß das Volk keinem Repräsentanten Vollmacht giebt, ! wieder neue Repräsentanten zu schaffen. Ist einer ein wahrer Bolksrepräsentant, so genüge es ihm seinen Eid zu erfüllen; ist er aber selbst ein Volksrepräsentant, so kann er einen andern noch vielweniger dazu machen. Wir fassen uns über alles das nur kurz, weil wir von etwas noch weit Aergerein zu sprechen haben: wir meinen die 16 reichsten, weltlichen Güterbesitzer. Im Thurgau ist also der reiche Bauer ein bevorrechteter Wahlmann; viele Güter, viel Geld muß man haben, von Verstand und Rechtschaffenheit sagt die Verfassung kein sterbendes Wort- chen. Erbt der Sohn des Vaters Reichthum, so erbt er auch des Vaters Wahlrecht. Wird das große Gut etwa gar durch ein Fidei-Commis der Familie gesichert, so bleibt ihr auch das Vorrecht. Das ist also ein Adel im vollsten Sinne des Wortes. Denn nicht das Welchen "von« macht den Adel aus, sondern der mit bürgerlichen Vorrechten verbundene Güterbesitz. Kein neuer Kauton räumt dem blinden Reichthum so große Vorrechte ein, wie der Kanton Thurgau. Man hat da versucht, die ehemaligen Gerichtsherren mit dem neuen Zustande der Dinge zu versöhnen; aber es paßt nicht mehr in unsere Zeit. Bevorrechtete Güterbesitzer stehen zum freien Thurgau, wie ein alter Fetzen zu einem neuen Kleide. Man könnte mir hier vielleicht einwenden, die Sache sei nicht so schlimm als man auf den ersten Anschein meine; der Kl. Rath bezeichne ja die Güterbesitzer, die nach dem Kadaster und Steuer- Register die Reichsten seien, und könne daher, wenn sich untaugliche Subjecte darunter befinden, dieselben in aller Stille übergehen. Nur Geduld! darauf wollte ich eben kommen. Die Abhängigkeit des Wahlkollegiums von dem Kl. Rathe ist eine andere bedenkliche Seite. Für's erste sitzt die Regierung ganz im Wahl- kollegium, für's zweite werden die 9 Kantonsräthe unter dem Einflüsse und der Mitwirkung des Kl. Rathes genamset, für's dritte kann dieser die reichsten Güterbesitzer selber bezeichnen, die in das Wahlkollegium kommen sollen. Auf diesem Wege hält es nun freilich nicht schwer ein Wahlkollegium zusammen zu setzen, dessen Mehrzahl aus Leute» besteht, die dem Interesse des Kl. Rathes ergeben sind, oder doch seinen Absichten keinen langen Widerstand entgegensetzen können. Und dieses abhängige Wahlkollegium wählt nun 32 Kantonsräthc oder Volks-Repräsentanten; also 17 gerade so viel, als die 32 Kreise, oder eine Bevölkerung von 80,000 Seelen. Doch nein! das sind keine Repräsentanten des Volkes, das müssen eigentlich und in der Regel nur Repräsentanten der Regierung sein. Wir haben an unserm Wahlkollegium schon Vieles gerügt, das mit dem Geiste eines Freistaates im grellsten Widersprüche steht; aber von dem Aergsten haben wir immer noch kein Wort gesprochen. Das Aergste ist, daß das Wahlkolleginm unter die 32 Kantonsräthe, die es wählen soll, 16 Männer aus dem Wahlkolleginm selbst nehmen darf, daß also die 43 Wahlkollegen zu 16 Kollegen sprechen können r Gehet hin, ihr seid Kantonsräthe ! Hiemit ist dem Kl. Rathe das Recht gegeben, sich selbst in den Gr. Rath hinein zu wählen. Verscherze ein Regierungsrath immerhin das Zutrauen des Volkes, das hat wenig zu sagen; wir haben ein Wahlkolleginm, das ist eine Thüre, durch welche er immer nieder in den Gr. Rath und durch diesen an seine Stelle gelangen kann. Das mahnt mich unwillkührlich an jenen Heiligen, dem eine italienische Republik die Wahl ihres Landammanns übertrug und der, als die Bürger ihm geschworen, seine Wahl zu ehren, zum Erstaunen Aller sich selbst wählte. Doch ich will nicht scherzen, die Sache ist zu wichtig. Aber das muß man mir doch zugeben, daß die fremden Minister bei unserer Verfassung die aristokratischen Zuthaten nicht gespart haben. Man witzelte in den alten Kantonen schon oft über das seltsame Kunststück, daß ein Gr. Rath sich selber gebären könne. Auch unser Gr. Rath versteht dieses seltsame Kunststück. Die 32 vom Volke gewählten direkten Mitglieder des Gr. Rathes und die 32 von dem Wahlkollegium ernannten Kantonsräthe sitzen nämlich zusammen und bilden nun wieder ein zweites Wahlkollegium, das die noch mangelnden 36 Kantonsräthe erwählt. Mit andern Worten: der theils von den Kreisen, theils vom Wahlkollegium ernannte 64 Glieder starke Gr. Rath wählt nun selber noch das, was 2 18 zur Zahl 100 mangelt. Bei dieser Wahl ist er aber sehr gebunden. Jeder Kreis hatte nämlich 3 Kandidaten, das ganze Volk also 96 Kandidaten ernennen muffen. Aus der Liste dieser 96 Kandidaten wählt nun der 64glicdrige Gr. Rath 24 neue Mitglieder. Das macht 88 Kantonsräthe und es fehlen nur noch 12 zur Zahl 100. Diese noch mangelnden 12 Mitglieder muß der Gr. Rath aus 24 Männern nehmen, die ihm eine aus 3 Regierungsräthen und 6 Kantonsräthcn gebildete sogenannte Vorschlags-Kommiffion vorlegt. So kommen die 36 Kantonsrathe heraus, die der Gr. Rath selber zu wählen hat. Aber die Wahl dieser 36 Kantonsräthe steht so sehr unter dem Einfluß der Regierung, daß sie eben so wenig als die vom Wahlkollegium für wahre Repräsentanten des Volkes angesehen werden können. Dieser Einfluß fällt bei dem Vorschlag der Kommission auch dem kurzsichtigen Auge auf. Etwas verdeckter ist er bei den Mitgliedern, die aus der Kandidatenliste genommen werden müssen. Da die Kandidaten ursprünglich von dem Volke gewählt werden, so möchte sich vielleicht Mancher versucht fühlen, diese Mitglieder in gleiche Reihe zu stellen mit den direkten Mitgliedern. Allein er würde einen großen Irrthum begehen. Man erwäge, daß die ganze Regierung und alle vom Wahlkollegium ernannten Kantonsräthe bei ihrer Wahl mitzusprechen haben; man bedenke, wie viele Verwandte und abhängige Beamtete sich unter den Kandidaten befinden: und man wird es begreifen, daß es nicht schwer halten muß, unter 96 Kandidaten 24 auszuwählen, die dem Interesse des Kl. Rathes ergeben sind. Man verstehe uns wohl, wir greifen nicht die Persönlichkeit dieser 24 Mitglieder an, es hat darunter gegenwärtig sehr wackere Männer. Wir haben es nur mit der Wahlart zu thun. Es könnte einer ein ganz wackerer Rathsherr sein, wenn er auch durch das Fenster in den Saal hinein gestiegen wäre; aber es wäre doch nicht der rechte Eingang des Hauses. Dieses nur ^ wollen wir sagen. Von Persönlichkeiten sind wir himmelweit 19 entfernt. Unsere Persönlichkeiten, unsere Fehler und Tugenden sind nach 50 Jahren vergessen; die Verfassung aber wird bleiben, sie wird nach Jahrhunderten noch dem Urenkel Glück oder Verderben bringen. Faßt man nun das netzartige Gewebe unsers Wahlwescns in wenige Worte zusammen, so lautet es folgender Maßen: Die höchste gesetzgebende Gewalt des Kantons Thurgau steht bei einem Gr. Rathe von 100 Mitgliedern. In diesen Gr. Rath wählt das ganze Volk 32 direkte Mitglieder und 96 Kandidaten, von welch' letzten: aber nur 24 an den Ort ihrer Bestimmung gelangen müssen; 2) wählt das Wahlkollcgium ebenfalls 32 Mitglieder nnd zwar zur Hälfte aus der eigenen Mitte; 3) wählt der Gr. Rath 36 Mitglieder, nämlich 24 aus der Kandidatenliste und 12 aus dem Doppelvorschlag der Kommission. Nach dem bereits Gesagten wird kein vernünftiger Bürger daran zweifeln, daß unser Wahlwescn höchst fehlerhaft sei und daher einer Verbesserung bedürfe. Allein die Verfassung von 1814 enthält noch einige andere Gebrechen, auf die ich meine lieben Mitbürger aufmerksam machen möchte. Dahin gehört I allcrvorderst der Z. 12 unserer Verfassung, der dem Kl. Rathe ! ausschließend das Vorschlagsrecht der Gesetze ertheilt, hingegen dem Gr. Rathe nur die Befugnis! laßt, die vom Kl. Rathe vorgeschlagenen Gesetze zu bestätigen oder zu verwerfen. Man wollte durch diese Einrichtung verhüten, daß keine unbesonnenen Gesetze gegeben würden. Allein dafür hat man em besseres Mittel. Man theile den Mitgliedern des Gr. Rathes die Gesetzes- entwürfe mit ihren Beweggründen zu rechter Zeit mit; man übergebe sie, wie im Kanton Bern, demDrucke und sondire darüber die öffentliche Meinung. Wenn man hingegen, wie es bisher geschah, die Initiative der Gesetze zum Vorrechte des Kl. Rathes macht und den Gr. Rath nur noch Ja oder Nein sagen läßt: so legt man dadurch dem letztem einen Maulkorb an, der seiner Stellung unwürdig ist und seine Wirksamkeit hemmt. Was hilft 20 dem Gr. Rath sein Ja und Nein, wenn man ihm keinen Gesetzesvorschlag bringt, wo er sein Ja oder Nein anwenden kann? Zwar kann er den Kl. Rath einladen, einen Vorschlag einzureichen; aber dem Kl. Rath steht es zu, der Einladung zu entsprechen oder nicht. Gesetzt auch, er entspreche der Einladung, so darf er nur ein Gesetz, das er wünscht, mit einem Gesetze, das der Gr. Rath wünscht, in Verbindung bringen: so muß der Große Rath entweder das verhaßte Gesetz mit dem erwünschten annehmen, oder beide verwerfen. Abändern darf er ja den Entwurf nicht, er muß ihn in Bausch und Bogen annehmen oder verwerfen. Auf diesem Wege kann es oft kommen, daß das einzelne Mitglied gegen seine Ueberzeugung stimmen muß, und doch hat es einen Eid gethan, immer nach bestem Wissen und Gewissen zu stimmen. Alles dieses hat sich beim Ehehaftengesetz auffallend bewahrt. Hatte der Gr. Rath 1830 das Abanderungsrecht der Gesetzesentwürfe besessen, so hätten wir vermuthlich keine Ehehaften mehr. Wenn daher Thurgau seine Verfassung verbessert, so muß der Gr. Rath durchaus das Recht erhalten, vorgeschlagene Gesetze abzuändern, und Gesetze, die der Kl. Rath beharrlich verweigern, der Gr. Rath beharrlich fordern sollte, nach einer gesetzlich bestimmten Frist durch eine Kommission aus der Mitte des Gr. Rathes zu entwerfen. Eine Hauptklagc die unser Volk fuhrt, ist: es habe im Gr. Rathe zu viele von der Regierung abhängige Beamtete, die daher auch keine unabhängige Stimme besitzen. Wer den Regierungs-Etat zur Hand nimmt, und sieht, daß die Regierung und die von ihr in Wahl und Besoldung abhängigen Beamteten etwas mehr als die Hälfte des Gr. Rathes ausmachen: der wird allerdings gestehen müssen, daß die Sache nicht ganz aus dem Leeren sei. Allerdings giebt es manchen Beamteten der nur für das spricht und stimmt, was Ueberzeugung und Pflicht ihm gebiethen. Aber in der Regel muß man doch annehmen, daß der Unterbeamtete sich scheue, seinem Wahl- 21 Herrn zu widersprechen. Entweder sollte daher die Aufnahme solcher Beamteten in den Gr. Rath beschränkt werden, oder man sollte, damit diese meistens sehr brauchbaren Männer für die Gesetzgebung nicht verloren gehen, ihre Amtswahl theils in die Hände der Kreise, theils in die des Gr. Rathes legen. Da wir später auf diesen Punckt zurückkommen werden, so gehen wir letzt zum Mangel an Oeffentlichkeit über, der dem gebildeten Bürger unsers Kantons von Jahr zu Jahr drückender wird. Man giebt Gesetze, ohne vorher die öffentliche Meinung darüber zu sondiren; der Gr. Rath schließt bei seinen Verhandlungen die Thüre, kein Zeitungsblatt meldetuns etwas über das Einzelne dieser Verhandlungen, der Eid der Kantonsräthe gebiethet sogar über gefallene einzelne Meinungen das strengste Stillschweigen und über die öffentlichen Güter haben wir immer noch keine öffentliche Rechnung erhalten können. Das sind Dinge, die in Monarchien wie England und Frankreich befremden würden. Wir Bürger haben uns daher schon oft darüber gewundert. An unsrer Statt und in unserm Namen sitzb der Gr. Rath da; daher sollten wir wohl hören und sehen dürfen, was der Einzelne, was der ganze Rath in unterm Namen spricht und thut, damit wir wüßten, wie unser Zutrauen angebracht ward. Unser Eigenthum sind die Staatsgüter, denn unser Schweiß hat sie gesammelt und zu unserem Wohl sollen sie verwendet werden; daher dürfen wir auch wissen, wie die Rechnung ausfällt, die unsere Stellvertreter alljährlich in unsem Namen dem Kl. Rathe abnimmt. Nur den unmündigen Waisen, nur den Verschwender bevogtet man so, daß man in seinem Namen die Jahresrcchnung abnehmen, ohne ihm etwas davon zu sagen. Das thurgauische Volk ist weder unmündig noch verschwenderisch, darum soll es auch nicht bevogtet sein. Allein dieser Mißgriff kommt daher, daß sich unser Gr. Rath mehr für den Souverain, als für den Repräsentanten des Volkes ansieht. Friedrich der Große sprach: ich bin nur meines Volkes erster Diener. Dieses Wort gilt noch in weit strengerm Sinne vom Gr. Rathe eines repräsentativen Schweizer-Kantons. Der Gr. Rath soll also nur solche Gesetze geben, von denen er glaubt, sie werden durch den Gcsammtwillen und vom Gcsammtglücke des Volkes gefordert. Und wie nun der Kl. Rath dem Gr., so ist dieser wieder dem ganzen Volke für seine Verwaltungen Rechenschaft schuldig. Diese Rechenschaft aber wird abgelegt, wenn die unbedingteste Oeffcntlichkeit herrscht über alle Verhandlungen deS Gr. Rathes, über alle Zweige der Staatsverwaltung. Oeffcntlichkeit ist also nicht blos eine Vergünstigung, die man uns in hvherm oder geringerm Grade ertheilen kann, sondern ein Recht, das wir im umfassendsten Maße ansprechen. Mit der Oeffentlichkcit hängt die Preßfreiheit genau zusammen. Bei uns hat sich von 1803 an eine Art von Censur bis auf unsere Zeit fortgeerbt, die aber so wenig fühlbar war, daß nur wenige Bürger von ihrem Dasein etwas wissen. Wenn aber schon bei unsrer gegenwärtigen Redaction der thurgaucr Zeitung wahrscheinlich auch nicht ein Gedanke unterdrückt wird, so ist doch zu erwarten, daß das wissenschaftliche Leben unsers Volkes in den nächsten 20 Jahren an Regsamkeit gewinnen werde, wo dann eine Censur in andern Händen eine gefährliche Fessel werden müßte. Freiheit in Wort und Schrift ist die Forderung des Jahrhunderts, ist das Lebenslicht eines Freistaates. Soll das bürgerliche Leben nicht erstarren, so muß der Bürger das Recht haben, seine Ansichten, Bitten und Klagen zu den Ohren des Gr. Rathes gelangen zu lassen, sei es im eigenen Namen oder im Namen Mehrerer, sei es gedruckt oder geschrieben. Mit der Preßfreiheit sollte auch das freie Petitionsrecht verbunden sein. Vom letzter» hat unser Volk noch keine Ahndung, was wir vielleicht gerade bei einer allfälligen Verfassungs-Verbesserung zu unserm Nachtheile fühlen. Das sind nun die Grundzügc einer Verfassung, welche uns das Machtwort der durch die Einflüsterungen schweizerischer Oligar- chen befangener Minister anfzwang, das sind die Gebrechen, die wir an ihr beklagen. Laßt uns nun, theure Mitbürger, fragen - welche Folgen müßte eine solche Verfassung bei längerer Fortdauer haben für die Regierung, für den Gr. Rath und für das Volk? Unstreitig scheint die Regierung durch die Verfassung von 1814 Vieles gewonnen zu haben; sie wurde, wie man 1814 zu sagen pflegte, gegen die Launen des Volkes sicher gestellt. Indeß ist es nur ein trüglichcr Schein. Vor den Launen der Völker ist sie allerdings sicher gestellt, aber wer sichert sie jetzt gegen die eigenen? Man verzeihe mir diese Frage. Der Mensch bleibt sich gleich im Pallaste wie in der Strohhütte, im Rathsaal wie in der Werkstätte. Wo kein Zaun ist, da schreitet man über den Weg hinaus und zertritt die keimende Saat. Möglichkeit die Gewalt zu mißbrauchen, lockt zum wirklichen Mißbrauch. Daher legte die Vermittlungsakte 1803 die Wahl der Regierung zwar nicht in die Hand des großen Haufens, aber sie bedingte doch dieselbe durch das Volk und stellte sie somit unter den Einfluß der öffentlichen Meinung, damit ihr solches ein Sporn sei, die Liebe und das Zutrauen des Volkes zu erwerben. Eine ähnliche Schranke ist in Frankreich und England die sogenannte Opposition oder Gegenpartei; gleichsam ein immcrrcges Staats- gcwisscii, das die Schritte der Regierung bewacht, sie vor Ueber- cilung warnt, schädliche Mißbrauche aufdeckt, begangene Fehler rügt. Beides mangelt uns jetzt. Unsere Regierung muß weder die Volkswahl noch die Opposition scheuen. Diese Sicherheit muß nachtheilig, muß verschlimmernd zurück wirken auf die Regierung selbst. Mau verstehe mich wohl, ich rede hier nicht von den Männern, die jetzt am Staatsrudcr sitzen. Diese sind aus dem Volke hervorgegangen, sind Söhne der Revolution, sie wissen, welche Opfer wir innert 30 Jahren für Freiheit und Unabhängigkeit brachten; sie kennen die Macht der öffentlichen 24 Meinung, die vor unsern Augen selbst Könige zermalmte. Aber wie? wenn einst Männer das Ruder ergreifen, die ihre Stelle nicht dem Zutrauen des Volkes, sondern der Verwandschaft und den Verhältnissen danken; Männer, denen die belehrende Geschichte der Revolution ein lächerliches Mährchen scheint — wie dann? Ich zweifle nicht, sie werden es bequem finden, daß das Volk zu ihrer Erwählung nichts zu sagen hat, daß keine Opposition ihre Handlungen tadelt; aber das Bequeme ist nicht immer das wahrhaft Nützliche. Ist kein Wachter im Dorfe, so stört uns freilich seine Stimme nicht aus dem Schlafe; aber sie warnt uns auch nicht, wenn der verwahrloste Funke uns mit Feuersgefahr bedroht. Indem die Regierung dann des Volkes Stimme weder hört noch befolgt, wird sie auch unvermerkt die Herzen desselben sich entfremden und ehe sie es vermuthet, einsam und verlassen dastehen, vom Bürger weder gefürchtet noch geliebt. Des Bürgers Liebe aber ist die einzige sichere Stütze einer Regierung in jedem Lande , namentlich in einem Freistaate. Wer einer Regierung diese Stütze entziehen und sie durch Wahlkollegien und Vorschlags-Kommissionen ersetzen will, der meint es mit ihr nicht redlich oder nicht klug. Noch verderblicher wirkt unsere gegenwärtige Verfassung auf den Gr. Rath. Dadurch, daß die Wahl von zwei Drittheilen des Gr. Rathes unter dem Einflüsse des Kl. Rathes steht, verliert derselbe durchaus die freie, würdige Haltung, die ihm als Repräsentanten des Volkes gegenüber dem Kl. Rathe gebührt. Furcht und kleinliche Rücksicht nimmt immer mehr überhand. Der Einzelne kommt in den Gr. Rath hinein, ohne recht zu wissen wie oder warum; und das macht, daß er auch die begeisterte Liebe zum Volke nicht mitbringt, die ihn beseelen müßte, wenn er seine Erhebung ganz allein dem Zutrauen seiner Mitbürger verdanken würde. Gesetzt aber auch, der Wille der Einzelnen sei noch so gut, so legt doch der Mangel an Öffentlichkeit und die beschränkte Initiative der Gesetze dem Er. Rathe so viele Hinder- nissc in den Weg, daß seine Gewalt häufig nur eine Schatten- gewalt wird. Ich will die Spöttereien unsers Volkes über diesen Gegenstand nicht wiederholen; es hat jeder Kankonsrarh Anlaß genug sie zu hören, mehr als ihm lieb ist. Aber eins behaupte ich. Hätte der Gr. Rath 1822 die öffentliche Meinung über das Ehehaftengesetz befragt, so hätte er wahrlich den Mißgriff nicht begangen, den jetzt vielleicht nur eine Veränderung der' Verfassung wieder gut machen kann. Doch genug! Wer aber muß, um auf die Hauptsache zu komme», wer muß die Fehler unserer Verfassung am Ende büßen? Es ist das Volk, das arme, unschuldige Volk. Wahrlich, wer dieses ins Auge faßt und dann einen Blick wirft auf Vergangenheit und Zukunft, der kann sich eines schmerzlichen Gefühls nicht erwehren. Welche schönen Hoffnungen blühten unserm Volke auf Mit dem Beginnen des gegen'' wärtigen Jahrhunderts. Welche großen Opfer legte jeder Hausvater auf den Altar des Vaterlandes im freundlich schönen Glauben, die Freiheit und das Glück seiner Kinder und Kindeskinder werde ihn im Grabe noch dafür schadlos halten. Gott im Himmel! — und jetzt war das alles nur ein kurzer Wahn, nur eine leere Täuschung. Was vor 24 Jahren Niemand gcahnet. Niemand gewagt hätte ausznsprcchen, das ist nun geschehen; die Grundlagen zu einer Aristokratie sind gelegt, die sich einst mit der bernerischen wird messen können. Wahr ist es allerdings, wir haben keine große Hauptstadt, wie Bern und Zürich ist; und viele wollen sich deshalb bereden, es könne eine Aristokratie bei uns niemals gedeihen. Armseliger Trost! Wo solche Wurzeln sind, wird der Baum nicht klein bleiben. Ich habe es schon oft gesagt und wiederhole es noch einmal: Man muß nicht die gegenwärtige Regierung zum Maßstab nehmen. Aus der Revolution hervorgegangen, wird diese die Grundsätze derselben nicht zu stark verläugnen; ohne große Verwandtschaft, wie die meisten Mitglieder sind, wird sich diese im Lande nicht zu gefährlich verzweigen. Aber das kann, das wird, das 36 muß sich ändern, ehe 30 Jahre vorüber sind. Wenn Glieder vielvermögender Familien am Staatsrnder sitzen, wenn jeder Regierungsrath eine bedeutende Haushaltung hat, wenn die reichsten Güterbesitzer ihre Nachkommen durch Fidei-Commisse sichern, wenn Vater, Söhne, Bruder, Schwager, Tochtermänner u. s. w. im Kl. und Gr. Rathe, im Wahlkollegium, im Obrrgerichte, im Ehegerichte, aufOberamteien und Amtschreiberstellen sitzen; dann ist das Netz geworfen; die unsichere Herrschaft des veränderlichen Reichthums hat sich durch unmerkliche Schritte in die sichere Herrschaft der Geschlechter verwandelt. Einige Familien werden dann den Staat zu ihrem Pachtgute, die wichtigsten Behörden zu Versorgungsstellen machen für Verwandte und Günstlinge; die direkten Abgaben werden sie vermindern und die indirekten erhöhen, das heißt, die Staatslasten alle werden sie von sich abwälzen auf die erwerbende und arbeitende Volksklasse; sich selber werden sie nur die Ehre und den Gewinn der Herrschaft vorbehalten. Den öffentlichen Unterricht wird man gehörig einzuschränken, das Volk noch mehr in dumpfe Gleichgültigkeit und knechtische Ehrfurcht einzuschläfern wissen. Wenn es aber dennoch Einer wagen wird, mit den bevorrechteten Familien um den Kranz zu buhlen, oder eine ihrer Gewaltthaten zu rügen: wehe dann dem Armen! Er wird in ein Wespennest greifen und ein Opfer der dienstbaren Justiz werden. Ja wohl! So mancher sieht jetzt den Schmälerungcn der Volksrechte dumpf und gleichgültig zu; so mancher freut sich derselben wohl gar flüchtigen Gewinns, kleinlicher Ehrsucht willen, und wer weiß? — vielleicht flucht einst sein Nachkomme im Kerker über die Ketten, die der Ahnherr schmieden half; vielleicht blutet einst der edle Sohn, der hochherzige Enkel auf dem Schaffotc für die Rechte, für die Freiheit des Volkes, die der Vater so leichtsinnig Preis gab. Wir jubeln jetzt über den guten Zustand unsrer Finanzen und mit stolzem Selbstgefühle zahlen wir die Hundcrttausende her, welche durch die Anstrengung des Volkes und durch die 37 Sparsamkeit der Verwaltung vorgeschlagen worden; aber wie müßte es unsere Freude vergällen, wenn wir bedächten, daß vielleicht einst einige bevorrechtete Familien aus diesem angehäuften Staatsschätze schmausen und die Soldaten bezahlen werden, die sie herbeigerufen zur Unterdrückung des murrenden Volkes. Ach! oft will es in trüben Augenblicken mir ahnen, als hätten wir mit unsern Opfern allen vielleicht gethan, was die gutmüthigen Indianer bei der Ankunft des Kolumbus — freiwillig Steine zusammengetragen zu unserm künftigen Zwinger. — Verwahret euch daher, wackere Thurgauer, vor diesem schrecklichen Zustande, so lange es noch in euerer Macht steht; umgebet, theure Mitbürger, eure Freiheit mit schützenden Bürgschaften, so lange es Zeit ist. Jetzt ist es Zeit. Sechszehn Jahre lang war der Augenblick nie so günstig; er wird vielleicht hundert Jahre laug nie mehr so günstig werden. Auch andere Kantone, alte und neue, betrachten seit 1814 nur mit tiefer Entrüstung die aristokratischen Bestandtheile, die man unter dem Verwände, als liege das im Willen der allirten Mächte, in ihre Verfassungen gebracht hatte. Die Freiheit hat einen himmlischen Zauber, daß ein Volk, welches sie einmal besessen, nur nach Jahrhunderten sie wieder vergißt. Ucberall zeigte sich daher das Bestreben, diese krebsartigen aristokratischen Bestandtheile auszuscheiden. Den Kantonen Appenzell J.RH., Luzern, Waadt, Dessin ist es mit mehr und minder Glück gelungen. Andere >verden nachfolgen. Der von Vernunft und Geschichte gelehrte Grundsatz: es habe jedes freie Volk das Recht, die Verfassung anzunehmen, die ihm am zuträglichsten ist—dieser Grundsatz wird wieder allgemein anerkannt, und wer ihn bestreitet, ist entweder ein Schwachkopf oder ein Hochverräther am Schweizcrvolke. Als der Landammann Quadri die Wünsche der nach Freiheit verlangenden Tessincr zu hintergehen, den fremden Ministern einen Vcrfassungscntwurf zuschickte, mit der Bitte, daß sie ihn für den Wunsch der allirten Mächte ausgeben möchten, so erklärten diese, sie mischen sich 28 nicht in die innern Angelegenheiten der Schweiz. Der heilige Bund, der das 19. Jahrhundert so lange mit dem Medusenhaupt der Legitimität schreckte, ist wie ein Nebelbild verschwunden. Karl X., der, durch Priester und Aristokraten bcthört, die Wahlrechte des Volkes und die Freiheit der Presse antastete, stürzte, wie von Geisterhand ergriffen, vom Throne seiner Väter, und gab allen Regenten die warnende Lehre, daß man sich den Forderungen der Zeit und den Fortschritten der Menschheit nicht ungestraft entgegensetzt. Mitternacht ist vorbei, wie ein öffentliches Blatt sagt , und ein neuer Tag bricht an für ganz Europa. Von außen steht also der Verbesserung unserer Verfassung kein Hinderniß entgegen, und eben so wenig von innen. In manchen andern Kantonen ist schon eine geschlossene Ari- stokratie vorhanden, oder es haben doch einzelne neu aufgekom- ! mene Geschlechter die Saat dazu ausgestreut. Da wird es wehe thun, die herrschsüchtigcn Plane aus einmal aufzugeben, die oft. sich an die theuersten, häuslichen Bande knüpfen. .' Das ist bei uns der Fall nicht. Unsere Negierung.kann kein Interesse haben, die aristokratischen Formen fest zu halten- Die meisten Mitglieder derselben sind ohne alle, oder doch ohne männliche Nachkommenschaft; ihr Name, und das Andenken an ihr Wirken, wird das Einzige sein, was sie unserm Volke zurücklassen. Das Einzige, was sie wünschen können muß daher § auch sein, daß sie im Leben das Zutrauen ihrer Mitbürger ge- ! nießen und im Tode ein gesegnetes Andenken hinterlassen möchten. Beides aber liegt jetzt in ihrer Hqnd. Kommt unsere hohe Rc-- gierung dem Volke entgegen, hört sie die Stimmen des Volkes, opfert sie die Wahlkollegien, bahnt sie mit einem Worte durch den Gr. Rath beim Volke eine Verfassungs-Verbefferung an, die von der Mehrheit der Kreise angenommen wird: so wird auch des Bürgers Herz ihr dankbar entgegen schlagen, und sie hat weder Wahlkollegium, noch Vorschlags-Kommission mehr nöthig. Ein doppeltes Leben wird der Zeitgenosse solchen Männern wünschen. 29 damit das Staatsrnder ja recht lange in so uneigennützigen Händen liege; mit Ehrfurcht wird der Enkel ihre Namen aus- sprechen, und eine Thräne des Dankes weinen auf ihr heiliges Grab. In diesem Geiste handelte ein Timoleon, ein Aristides, ein Washington. Es ist nicht nur der Geist wahrer Freiheitsliebe, es ist auch der Geist des edelsten Ehrgeizes und der besten Staatsklugheit. Die weise Regierung giebt, was der Geist der Zeit fordert, freiwillig, und fesselt damit des Volkes Herz; die kurzsichtige giebt nur gezwungen, mit widerstrebender Hand, und erndtet des Volkes Haß. Wie sollen wir aber die Sache beginnen? Was soll das Volk fordern und was soll der Gr. Rath geben? — Das sind die wichtigen Fragen, die sich hier erheben. Wer die gegenwärtige Stimmung unsers Volkes kennt, wer es weiß, wie wichtig es ist, daß ein zur Freiheit neu aufwachendes Volk gerade von Anfang an den rechten Weg treffe: der muß es wünschen, daß diese Fragen besonnen und freimüthig erörtert werden, damit die Ansichten allmählig sich läutern und die Wahrheit sich scheide vom Wahn. Jedes ruhige und vernünftige Wort, das in dieser Angelegenheit öffentlich gesprochen wird, muß daher ein Gewinn sein für die gute Sache; denn aus den Ansichten der Einzelnen bildet sich die Ansicht der Gesammtheit. Es sei also auch mir erlaubt, einige Andeutungen darüber zu geben. Wenn ich manches dabei unberührt lasse, was einem Andern wichtig sein mag, so bedenke man, daß ich hier einen vollständigen Verfassungsentwurf weder schreiben kann noch schreiben will. Soll unsere Verfassung wirklich verbessert werden, so muß jede Abänderung derselben vom Volke ausgehen; das muß der erste Grundstein sein, auf welcher der ganze Bau ruht. Ein Verfassungsgesetz ist nicht wie ein anderes Gesetz; es ist der Grundvertrag zwischen dem Volke und der Regierung, es enthält die große gesellige Ordnung, nach welcher ein Volk sein Gemeinwesen verwalten lassen will. So wenig also ein Sachwalter 3V sein Verhältniß zu dem, dessen Sache er führt, eigenmächtig aufheben kann: eben so wenig kann der Gr. Rath eine Verfassung abändern, ohne Vermissen, ohne Auftrag und Genehmigung des Volkes. Das war der Punkt, in welchem man 1814 fehlte. Begeht man diesen Fehler wieder, so können wir wohl abändern, aber nicht verbessern. Wären die einzelnen Bestimmungen einer solchen Verfassung noch so gut, so müßte doch das immer ein Vorwurf derselben sein, daß sie nicht aus dem Volkswillen hervorgegangen, sondern ein Werk des Gr. Rathes wäre, und also auch wieder von demselben müßte gestürzt werden können. Ob aber ein Gr. Rath, der durch Wahlkollcgien zusammen gewählt worden, einen unparthciischen Entwurf bringen werde zur Verbesserung der Verfassung — das ist eine andere Frage. Im Aargau bezweifelt man das, und schlägt daher eine konstituircnde Versammlung vor, d. h. jeder Kreis soll zwei oder drei Männer wählen , denen er das größte Zutrauen schenkt, und dann sollen diese Abgeordneten von allen Kreisen sich versammeln, die Wünsche des Volkes vernehmen, daraus einen Entwurf bilden, der dem Druck übergeben und den Kreisen zur Genehmigung vorgelegt wird. Es scheint ein glücklicher Gedanke zu sein, der auch unsere Vcherzigung verdient. Kurz, was auch geschehen mag, das Volk muß von Allem in Kenntniß gesetzt, seine Wünsche müssen beachtet und die Genehmigung der Kreise am Ende eingeholt werden. Ohne dieses wäre jede Veränderung keine gesetzliche Handlung, sondern ein Gewaltstreich. Es heißt zwar, der Gr. Rath sei der Souvcrain des Landes. Aber, obgleich dieser Satz in die Mediationsakte sich eingeschlichen und in den Köpfen vieler Kantonsräthe bis heute erhalten hat, so ist er doch durchaus unrichtig. Wenn der Gr. Rath der Sou- vcrain oder der Herr des Landes ist, was sind denn die 80,000 Ein- - wohner? Etwa Unterthanen? Und wenn das ist, wie steht es mit der Freiheit, die wir seit 1798 besitzen sollen? DerGr.Rath ist des Volkes Repräsentant oder Stellvertreter, weder mehr noch 31 weniger. Wenn er sich für mehr hält, so läuft er Gefahr, seine Stellung zu verrücken und feine Pflichten zu verletzen. Daher sollte eine künftige Verfassung durchaus folgende Bestimmung enthalten: Die Souverainität beruht wesentlich auf der Gesammtheit der Bürger, und wird ausgeübt durch den Gr. Rath, als den Repräsentanten des Volkes. Da der Gr. Rath seiner Bestimmung nach nur der Stellvertreter des Volkes ist, so folgt daraus, daß er auch vom Volke müsse gewählt werden. Nur dem Unmündigen, dem Blödsinnigen und dem Verschwender giebt man einen Stellvertreter ohne sein Zuthun. Da aber unser Volk von allem dem nichts weiß, so soll es auch nicht bevogtet sein, sondern seine Kantons- Räthe selber wählen dürfen. Weil ferner das Kandidatenwesen zu gekünstelt ist, und eher den Gcmcingeist lahmt als hebt, so würde ich lauter direkte Volkswahlen vorschlagen, theils in, theils außer dem Kreise. Ich weiß allerdings, was man gegen diese Volkswahlen einwendet. Man sagt: unser Volk sei noch zu ungebildet, es wähle bei Äreisversammlungen nur den reichen Dorfmaguaten, dem die Mehrzahl schuldig sei. Aus diesem Grunde empfiehlt man Bezirks-Wahlkollcgien, wo das. Volk nur die Wahlmänner zu ernennen hätte, welche die Kantonsräthe wählen sollten. Ich muß gestehen, daß mir dieses nicht einleuchten würde; jedes Wahlkollegium, wie es immer heiße, muß am Ende damit aufhören, daß es zur Aristokratie hinführt. Das ewige Gängelband taugt nichts, man überlasse dem Volke die Wahl, und somit auch sein eigenes Schicksal. Wählt das Volk gut, so kommt es ihm zu gut; wählt es schlecht, so muß es auch den Fehler selber büßen. Und am Ende tragen wir einen Fehler, den wir selber begangen, immer noch viel leichter, als die Thorheit, die ein Anderer in unserm Namen und auf unsere 32 Rechnung hin anrichtete; ja wir werden vielleicht gerade durch Schaden klug. Unser Volk hat wahrend der Mediationsakte bewiesen, daß es seine wackern Mitbürger auch findet, und wenn es einmal sieht, daß die Wahlen kein bloßes Gaukelspiel mehr sind, so wird es auch um so vorsichtiger und gewissenhafter werden, da doch die bürgerliche Bildung desselben mit jedem Jahre zunimmt. Freilich wäre es besser, man würde, statt die Volkswahlen zu beschränken, alle Mittel benutzen, diese bürgerliche Bildung zu erhöhen. Man verbessere das Schulwesen, man öffne den Rath- saal, man mache dem Volke bekannt, welchen Antrag jeder Repräsentant gemacht, wofür jeder gestimmt habe: so lernt das Volk seine Leute kennen und es entsteht unter den Kreisen selbst ein edler Wetteifer, die einsichtsvollsten und weisesten Bürger in den Gr. Rath zu wählen. Es werden die Geistlichen be- z auftragt, vor jeder Urversammlung eine Predigt zu halten über den Wahleid, über die Erfordernisse und Pflichten eines Volks- Nepräsentanten. Ist aber das Alles noch nicht genug, so führe man bei den Urversammlungen das geheime Stimmenmehr ein, die Oeffentlichkeit macht dann den Kopf und das geheime Stimmenmehr des Bürgers Gewissen frei. Rousseau bemerkt zwar, beim geheimen Stimmenmehr könne eher Betrug stattfinden , indessen läßt sich doch dem vorbeugen und am Ende wollte ich lieber alles Andere als wieder ein neues Wahlkollegium. Damit nun dieser vom Volke gewählte Gr. Rath auf der einen Seite an Selbstständigkeit gewinne, auf der andern Seite ! aber nicht zu viele brauchbare Männer verliere: würde ich ! vorschlagen, daß in Zukunft die Kreisammänner von den ! Kreisen und die Oberamtmänner von dem Gr. Rathe gewählt ^ werden sollten. Auf diesem Wege könnte man zugleich verhüten, daß nicht derselbe Mann Gesetzgeber, Richter und Vollziehungs- beamteter in einer Person sein könnte. Eine ähnliche Rücksicht nähme ich auf die Bürger, welche 33 wählen sollen. Jetzt ist vielleicht der sechste Theil unserer Kantonsbürger seines Wahlrechtes beraubt, weil er nur in dem Kreise stimmen darf, wo er Bürger ist. Und doch ist der Arboner, der in Steckborn sitzt, immer noch ein Thurgauer, und der Kantonsrath, der in Steckborn gewählt wird, ist nicht blos ein Repräsentant dieses Kreises, sondern ein Repräsentant des ganzen Kantons. Folglich soll auch der Kantonsbürger in den Urversammlungen da zugelassen werden, wo er ansäßig ist. Wie wir oben gesehen, besitzt der Kl. Rath das Recht der Gesetzcsvorschläge, der Er. Rath hingegen kann sie bestätigen oder verwerfen, nur darf er nichts an denselben abändern. Daß diese Einrichtung die Wirksamkeit des Gr. Rathes lähmcn müsse, fällt wohl von selbst Jedem in die Augen. Im Kanton Zürich hat man im letzten Jahre diese Beschränkung abgeschafft und dem Gr. Rathe das Abänderungsrecht ertheilt. Auch unser Gr. Rath sollte dieses Recht erhalten. Die Verhandlungen des Gr. Raths sollten bei offenen Thüren geführt, die Vorschläge und Stimmen der einzelnen Mitglieder dem Volke bekannt gemacht, die Staatsrechnung alljährlich in die Zeitung eingerückt werden. Die Behauptung, man müsse nichts aus der Staatshaushaltung ausschwatzen, ist hier nicht , anwendbar; denn unser Volk bildet nicht eine unmündige Haushaltung, sondern eine Gesellschaft mündiger Bürger. Eine nothwendige Folge der obigen Maßregel müßte dann i im Gr. Rathe die Einführung des Namensaufrufes sein. Diese ^ Einführung hätte aber wirklich viel Gutes. Es ist schon mehrere l'Male bei wichtigen Gesetzen von der Minderheit behauptet -worden, man habe die Stimmen nicht recht gezählt. Beim tAbmehrcn durch Aufstehen ist allerdings bald ein Uebersehen gemacht, besonders wenn einzelne Stimmende selber noch unschlüssig sind, ob sie aufstehen oder sitzen bleiben sollen. Daher Sichre man beim Abstimmen über Gesetze den Namensaufruf ein, und es ist jedem Mißverstände abgeholfen. 3 34 Freilich erfordern dann die Berathungen mehr Zeit. Auch das ist kein Fehler. Wo es sich um das Wohl oder Weh von achtzigtausend Menschen handelt, da ist es besser, man berathe die Gesetze zu viel als zu wenig. Vielleicht sind aber die Kantonsrathe nicht zufrieden, wenn sie noch länger in Frauenfeld bleiben sollen, da sie vom Lande für ihre Unkosten gar keine Entschädigung erhalten. Wohlan! so gebe man jedem Kantonsrathe jährlich eine Entschädigung von fünfzig Gulden. Die fünftausend Gulden Ausgaben, die dadurch der Staatskasse verursacht werden, erhält das Volk mit Wucher zurück an der Weisheit der Gesetze. Aber dann gebe man auch den Kreisen das Recht, jeden Kantonsrath, der dreimal ohne gültige Entschuldigung wegbleibt, zurück rufen und durch einen andern ersetzen zu dürfen. ^ Damit nun der Gr. Rath Anlaß habe, die Wünsche und j Bedürfnisse des Volkes kennen zu lernen und sich selber über die wichtigsten Angelegenheiten des Vaterlandes zu belehren, so werde auch bei uns die Preßfreiheit eingeführt. Um Mißbrauchen vorzubeugen stelle man einfach den Grundsatz auf, was einer ungestraft reden darf das soll er auch ungestraft drucken dürfen; jede Aeußerung aber die schon im mündlichen Gespräche Verantwortung zur Folge hätte, soll auch verantwortet werden müssen , wenn sie gedruckt wird. Indessen ist das Druckenlassen nicht Jedermanns Sache. Mancher hat nicht Talent oder Muth genug seine Gedanken in einem öffentlichen Blatte auszusprechen; und doch trägt er vielleicht Ansichten und Wünsche auf dem Herzen, die er gerne zur Kunde des Gr. Rathes bringen möchte. Wie soll er nun das anfangen? Darf er an den Gr. Rath schreiben? Wird dieser die Bittschrift lesen? Hängt das vom Kl. Rathe ab? Muß der Bittsteller wohl gar fürchten gestraft zn werden? So gar in monarchischen Staaten herrscht darüber gar kein Zweifel, daß einzelne oder mehrere Bürger ihre Bittschriften der obersten 35 Landesbehörde einreichen dürfen. Bei uns ist dieser Punkt noch nicht bestimmt; daher sollte bei einer allfälligen Verbesserung das Petitionsrecht der Bürger an den Gr. Rath durchaus sicher gestellt werden. Man hört bei uns so häufig darüber klagen, daß die richterliche Gewalt von der vollziehenden Gewalt nicht gehörig geschieden sei. Dem Verfasser dieses Aufsatzes ist unser Gerichtswesen zu wenig bekannt, um hierüber ein gültiges Urtheil fällen zu können, aber Unabhängigkeit des Richters ist auf jeden Fall die Forderung auf welcher wir bei einer neuen Verfassung felsenfest beharren müßten. Ein anderes Gebrechen und die Hanptklage unserer Bürger ist die drückende und ungerechte Vertheilung der Abgaben. Wenn unser Volk sich glücklich fühlen und das Land lieben soll, in dem es lebt, so muß ein anderer Steuerfuß eingeführt werden, der den Reichen anhält, sein Vermögen auch gewissenhaft zu versteuern. Dieser Gegenstand ist so wichtig, daß wir fürchten müssen, unser Volk wende beinahe alle andere Rücksichten über denselben vergessen. Was kümmert mich das Wahlwesen und die Oeffentlichkeit, was frag' ich nach Preßfreiheit und Petitionsrecht? macht nur daß ich weniger zahlen muß, und ich bin schon zufrieden, so wird wohl mancher sprechen. Aber eben da liegt der Knoten. Wenn die Bürger die oberste Landesbehörde nicht selber wählen können, wenn also lauter reiche Männer in den Gr. Rath gelangen, so werden diese keine gerechte Be- steurung wünschen, weil gerade sie am meisten darunter leiden würden. Wenn keine Oeffentlichkeit herrscht über den Gr. Rath, so wissen wir auch nicht wer für oder gegen das Volk ist; wenn wir kein Petitionsrecht und keine Preßfreiheit haben, so können wir auch unsere Wünsche und Klagen auf keinem gesetzlichen Wege laut werden lassen. Das Ehehaftengesetz hat unserm Volke bewiesen, daß die Oeffentlichkeit mit dem Beutel des Bürgers in näherer Beziehung steht, als vorher mancher glaubte, und 36 daß der Streit über staatswirthschastliche Grundsätze den auch was angehe, der zu viel bezahlen muß, wenn Andere zu wenig bezahlen. Uebrigens wird die leidige Angelegenheit der Ehehaften am besten dadurch beseitiget werden, daß man bei einer Ver- faffungsverbefserurg die Freiheit des Handels und Erwerbes feierlich sichert und den Käufern der Ehehaften ihre Auslagen erstattet. Es ließe sich noch Manches anführen, was wir bei einer Verfassungsverbesserung zu berücksichtigen haben dürften. Doch genug!— Das sollten nur einige abgerissene, unmaßgebliche X Andeutungen sein. Ich bin weit entfernt, mich für einen Gesetzgeber zu halten; nur mein Scherslcin wollte ich beitragen, nur die dumpfe Stimmung, die jetzt im Volke herrscht, durch ein wohlgemeintes, freimüthiges Wort unterbrechen. Ergänzet, theure Mitbürger, meine Ansichten, berichtiget sie. Sprechet euch aus, aber mischt euere Leidenschaften nicht ins Spiel. Die Zeit ist groß, Thurgauer! seid nicht klein. Die Frage über die Verfassung wird der Prüfstein sein, an welchem sich der Werth des einzelnen Bürgers und der Werth des ganzen Volkes offenbaren wird. Wehe dem Manne, der durch engherzige Selbstsucht und niedrige Schmeichelei sich entehrt; ein ganzes Leben voll Reue wird die Schwäche dieses Augenblickes nicht wieder gut machen. Heil hingegen dem Manne, der auch die Freiheit des Volkes nicht bloß zum Deckmantel eigennütziger Absichten macht; Heil jedem, der vaterländische Begeisterung mit ruhiger Besonnenheit, Schwärmers Ernst mit Weltmanns Blick vereinigt. Die Aufgabe ist schwer; aber sie muß gelöst werden. Große Hoffnung setze ich in die nüchterne Besonnenheit, die ja ein Hauptzug des thurgauischen Volkes ist; große Hoffnung in seinen Freisinn, der sich Jahrhunderte lang gegen den Druck österreichischer und eidgenössischer Vögte sträubte. Fordertsshr Bürger, aber fordert mit Ruhe und Anstand. Wachet auf, aber übereilet euch nicht. Verbessert euere Staatseinrichtungen, 37 aber verbessert nicht bloß halb. Laßt euch warnen durch das Beispiel von Luzern und Waadt. Erwäget wohl, waß ihr thut; die Zeit, eine Verfassung zu verbessern, ist nicht alle zwanzig Jahre günstig. Denket an's Jahr 1830, aber denket auch an's Jahr 1930. Mit einem Worte, zeiget euch der Freiheit werth, und ihr werdet sie finden. Die Gerechtigkeit mit ihrer ewig gleichen Waagschale in der Hand, mit ihrer rücksichtloscn Binde um's Auge, ist ja abgebildet im Versammlungssaale des Gr. Rathes; es ist als ob das sinnvolle Bild aus der Mitte beider Standeshäupter ernst und feierlich rufe: Wer Gerechtigkeit verlangt, der erscheine in diesem Saal. Dringt also der Wunsch des Volkes an diesen Ort, bittet der Bürger mit ruhiger Würde, mit bescheidener Freimüthigkeit um Verbesserung der Verfassung: wahrlich, so werden die Vater des Landes ihn nicht ungchört abweisen, es wird die Gerechtigkeit uns nicht versagt werden, von denen, die wir selber zu Priestern der Gerechtigkeit, zu Hütern unsrer jungen Freiheit erkohrcn. So ende ich denn meine Rede, thcur.e Mitbürger! Ruhig trete ich vor euch hin und erwarte mein Urtheil. Beifall hab' ich nicht gesucht, sondern das Glück unsers Volkes; auf Tadel bin ich gefaßt, auch wenn ich ihn nicht verdient habe. Wenn ihr aber einem Manne, der euch auf diesen Blattern sein Herz redlich öffnete, eine Bitte nicht versagen wolltet, so möcht' ich euch darum ersuchen, daß ihr meinen Antheil am allgemeinen Vatcrlandc nicht an meinem Stande abmesset. Ich bin Bürger wie ihr. Unter dem Jubel des entfesselten Volkes ward ich > geboren. Freiheit, Gleichheit waren die ersten Zauberlaute, die mein staunendes Ohr begrüßten. Sie wurden zum Wahlspruch meines Lebens, zum Grundton meines Wesens. All mein Denken, ! all mein Empfinden ist nur ein vielfacher Wiederhabt dieser Worte. Freiheit ist das Lebeusblut meines Herzens, der Himmel meiner Seele. Darum war aber auch die gegenwärtige Verfassung seit sechszehn Jahren für mich ein Gegenstand des Schmerzend; 38 darum verfolgte ich auch seit sechszehn Jahre» jedes Ereigm'ß im In-- und Auslande mit aufmerksamen» Blicke, ob ich kein Zeichen sehe, das den nahen Tag der Freiheit uns verkünde. Der Hahn hat gekräht, die Morgenröthe bricht an, Thurgauer wachet auf, gedenkt euerer Enkel und verbessert euere Verfassung!