/«> K' «. «L H1 »>< - f» f. E- > l.4^ ' ^--»^ -V» M-W k>v V , ^> ->7 1 / _,L. ... VON l?<«!Li'uIis> im K>IN8> W-WL-?- HWSU MSe^lkL'! Die Klassischen Stellen der W« und deren Hauptorte m Origlnalansichten dargestellt, gezeichnet von Gust. Adolph Müller, auf Stahl gestochen von Henri) lVlNÜles und den besten englischen Künstlern. Mit Erläuterungen von Heinrich Zschokke. Karlsruhe und Leipzig, Kunstverlag. Wien, Carl Gerold. Bern, 2. 2. Gurgdorkrr. Prag, Gottlieb Haase Söhne. 1836. Klassische Stellen der Schwer^ Mit Erläuterungen von Heinrich Zschokke. Sr. Durchlaucht dem regierenden Fürsten von Hohenzollern - Hechingen Friedrich Hermann Otto. Durchlauchtigster Fürst und Herr! bu den Bildern aus dem schönen Vaterlande eine Art Cice» rone - Dienstes zu übernehmen, ließ ich mich leicht verführen. Wer spricht nicht gern von dem, was er liebt, mit dem, der es liebt, und den man selber liebt! Meine Gedanken also waren bei Ew. Durchlaucht; meine kleinen Commentare wurden zu Briefen. — Sollt' ich itzt die wahre Zuschrift zurückbehalten und nicht Jedem, dem es zu wissen beliebt, öffentlich sagen, mit welcher Verehrung ein Republikaner einem Fürsten Deutschlands ergeben ist? Schon der Seltenheit willen soll das in Tagen des politi» schen Fanatismus geschehn, selbst auf die Gefahr hm, von Ze, loten in Acht und Bann erklärt zu werden. Ich wollte, wir hätten aus den Zeiten der Religionskriege, die unsern Zellen nicht ganz unähnlich sind, Beispiele der Freundschaft zwischen einem protestantischen Fürsten und einem Priester des alten Glaubens, oder umgekehrt. Solche Beispiele wären ein schönes Zeugniß mehr, daß es nie an Gemüthern fehlte, zur Ehre der Menschheit sey es gesagt, die ein erhabneres Interesse, als das flüchtige Interesse des Jahrhunderts mit einander gemein hatten. Es sind die, welche inmitten des Lebens schon sind, was Andre erst im Tode werden; ungetäuscht durch Schurzfell, Chorrock und Purpur; voller Achtung gegen Staats - und Kirchenformen, ohne in den Krücken des gesellschaftlichen Lebens das Höchste, nämlich das Ziel der gesellschaftlichen Ordnungen, zu finden. Wer sich immer den engen, beklemmenden irdischen Schranken, dem Glück des Nächsten, des Niedrigsten, des Erhöhtesten, weiht, aber, über die Schranken binauö, in Gott, mit Gott, dem Vergänglichen fern, lebt, wie Sie, mein durchlauchtigster Fürst, der übt, unter Schmerzen und Seeligkeiten der Welt, ächte Weltentsagnng, — nicht Entsagung ihrer Freuden, sondern ihres blendenden Scheinwerthes. Wo Sie, mein Fürst stehn, dahin streb' ich, und darum zollt Ihnen seine unwandelbare Verehrung und Liebe Ero. Durchlaucht Kloster Muri S. April 1834. ergebenster Heinrich Ätchokke. Einleitendes Vorwort. Eern erfüll' ich den Wunsch, mit einigen Erläuterungen die schöne Reihenfolge der Bilder zu begleiten, welche unter dem Grab» stichel trefflicher Künstler entsprangen. Der Anblick derselben weckte in mir oft große Erinnerungen auf, und erneuerte jenen Wechsel erhabener oder trauriger Empfindungen, die mich einst inmitten der dargestellten Landschaften bewegt hatten. — Ich glaub es wohl, dem Leser mag wenig daran gelegen seyn und zuletzt, fürcht' ich, selbst an den erläuternden Glossen wenig. Aber auch der Verfasser derselben wagt dabei nicht viel. Die Bedeutungslosigkeit seiner Noten kann sich dießmal süglich hinter der Glorie ihres Textes verbergen , oder durch sie verklären. Und mehr noch, je welcher diese Bilder beschaut, wird sich durch Fantasie und Gefühl unendlich leichter und tiefer in sie hineinleben, als mit Hülfe eines Dritt- manns, der Ciccronedienst verrichtet. Wie für eigene Bewohner, behält die Schweiz aber auch für Fremdlinge ihr ewiges, hohes Interesse. Wer einmal die malerische Anmuth dieser Thalgelände, oder die erhabenen Einsam keiten ihrer Gebirgswelt sah, gibt die Erinnerung um Vieles nicht hin. Und wer sie nicht sah, bewundert gern noch das romantische Hochland und die Eigenthümlichkeit seiner Völkerschaften, in den von Künstlern, Dichtern und Reisenden gegebenen Abschottungen. Nicht bloß, daß hier eine andere Natur athmet, andere Sitten gelten, andere Staatengebilde bestehen, als im übrigen Welttheil, macht den engen Flächenraum von kaum 900 Geviertmeilen dem Lustwanderer, Maler, Naturforscher und Staatsmann anziehend, sondern die milde und wilde Pracht der Natur, die seltsame Paa- 8 rung dieser alterthümlichen und neuen Sitten, und der Odem der Freiheit, welcher durch die zwei und zwanzig Republiken weht, bringt den eigenthümlichen Reiz. Der Halbmond des Jura, vom Genfer- bis zum Boden- .see und die gegenüberstehende Riesenwand vergletscherter Alpen, welche fast das Ganze umspannen, haben wenig Achnliches mit der Nacktheit der öden Cevennen, mit der Unsicherheit der Apenninen oder mit den finstern Karpathen und unwirthlichen Pyrenäen. — Bis zur Linie des ewigen Schnees in frisches Grün und dunkle Waldung gehüllt, und mit Dörfern und Hütten überstreut, bilden die Schweizer-Alpen, unter strahlenden Eismeeren und flatternden Wasserfallen, das eigentlichste Prachtstück des ungeheuern Gartens, in welchem Liebliches und Grauenvolles aller europäischen Himmelsstriche vermählt wohnt. Drunten Italiens wollüstiger Hauch zwischen Weinbergen, Cypressen und Feigen- gebüsch; droben der starre Winter von Grönland, aber auch dieser noch mit Blumen umkränzt, wo die Massen des ewigen EiscS einen Raum von beinahe 50 geographischen Geviertmeilen bedecken, und den Ländern Europcns die größten Ströme und Flüsse zusenden. Die landschaftlichen Schönheiten allein haben aber wohl die Schweiz nicht zum Liebling der Europäer und Amerikaner gemacht; vielleicht mehr noch das bequeme und sicherheitsvolle Wandern darin und das freundliche Wesen des Volks. Man sucht in einem Garten Lebensgenuß, keine halsbrecheude Gefahren, oder Aben- theuer mit Räuberbanden, Schleichhändlern und Banditen. Gang- und fahrbare Straßen durchschlängeln die höchsten Gebirge, und in rauhen Einöden derselben, die keinen Strauch mehr erzeugen können, bieten Gasthäuser den Gaumseeligen dennoch die Leckerbissen der Unterwelt, die Weine Frankreichs und Italiens, an. Wo Berggipfel eine unermeßliche Aussicht üler die Länder gewähren , winken Lustörter, wie z. B. 5550 Fuß über dem Meere auf dem Rigi, oder 3966 Fuß hoch, auf dem Weißensiein von Solothurn, oder sogar 8I-tl) Fuß erhaben, auf dem Faul- horn des Berner Oberlandes; anderer nicht zu gedenken, die noch im Werke sind, oder der vielen fröhlichen Heilstätten auf hohen Bergen, mit Bädern, Gesundbrunnen und Molkcnkurcn. Uebrigens besitzt kaum ein europäisches Land bessere Sicherheitspolizei, mit geringern Kosten, als eben die Schweiz. Ueberall ländliche Wohnungen, vereinzelt, inmitten ihrer herumgelegenen Grundstücke; Dörfer, Weiler, einzelne Höfe fast überall nur eine 9 halbe oder viertel Stunde von einander entfernt; in täglichem Der- kehr verwandte Nachbarschaften, wo Jedermann, klein und groß, sich kennt und nennt; — wie würde da verdächtiges Gesinde! Gelegenheit finden, sich anzunisten? oder wie könnte da ein Unbekannter nur vorübergehen, dessen Signalment die männliche und weibliche Neugier nicht sogleich aufnähme? Schon, wer nicht in gleicher Ortschaft und Nachbarschaft wohnt, und wäre er auch Bürger des gleichen Landes, heißt ein Fremder. Allerdings, auch andere Länder Europens haben ihre eigenthümlichen Reize; ihre Seen, ihre Wasserfälle, Gebirge und üppigen Thalgelände. Aber nirgends ist Alles in dem Maaße zusammengedrängt, wie hier; so überraschend durch schnellen Wechsel und doch in so kolossalem Maaßstabe. Oder wo sieht man, England ausgenommen, das tiefe, erquickende Grün der Wiesen und Matten; die seladongrünen Wellen der Ströme, wenn sie gebadet aus den Seen hervortreten; oder der Seen weiten Spiegel, mit einem Kranz von Dörfern, Städten, prächtigen Villen und einsamen Wohnungen der Ufer umschlungen und zitternd das Bild der himmelhohen Alpen, wie aus einem durchsichtigen Abgrund, zurückgeben? Vielleicht nur tragen die Berge Thibets das Gepräge jener Größe und Majestät, mit welchen die helvetischen Alpen, bei ihrem ersten Anblick, das Gemüth bewegen. Denn selbst die Cor- dilleras der Anden erregen so großartige Wirkungen nicht. Obwohl der Chimborasso Südamerika's noch 5000 Fuß höher, als der Montblanc ist, erscheint er im Hochthal von Quito doch nur 9 bis 10,000 Fuß über demselben erhaben, während der Montblanc seinen Silbergipfel aus einer Höhe von 13,766 Fuß im Genfersee spiegelt und noch 11 bis 12,000 Fuß über das Thal von Chamouny hinwegschaut; oder das Finster-Aarhorn sich im Thunersee erblickt, das 11,454 Fuß tief unter ihm liegt. Selbst Alerande r vonHumbold, dieser Fürst unter den naturforschenden Reisenden, anerkennt dieß, und sagt: "der Chimborasso und Cvtopaxi, von den Hochebenen Licvm's und Mucalo's aus betrachtet, scheinen nicht so groß, wie der Col du Geant oder Col du Cramont, welche de Saus- sure gemessen.» So versteht man, was der unsterbliche Johannes Müller von der Gewalt des Eindrucks spricht, welchen die Erscheinung der schweizerischen Gebirgsmassen bewirkt. "Je näher man", sagt cr: "den hohen Alpen kömmt, um so mehr dringt in die Ge- i 10 müther ein ungewöhnliches Gefühl der Größe der Natur, der Gedanke ihres den Anfang des menschlichen Geschlechts weit überftei- genden Alters, und ein gewisser Eindruck von ihrer unbeweglichfesten Gründung, dringt uns das melancholische Nichts unserer körperlichen Form auf; zugleich aber erhebt sich die Seele, als wollte sie ihren hoher» Adel der todten Größe entgegensetzen«. So mannigfaltig, wie die Gestaltungen der Thaler und Gebirge, sind auch die Sitten von deren Bewohnern, und der Betrachtung eines denkenden Geistes nicht minder würdig, als jene. Kein Wort hier von den wunderlichen bunten, oft theatralischen, oft niedlichen Trachten des Volks. Man kennt sie aus unzähligen Abbildungen. Nichts von den berühmt gewordenen Kuhreihen der Hirten, die, wie fröhlich ihre Weife seyn möge, nur in der Stille der hohen Einöden, im begleitenden Geläute der Heerdenglocken und des Felsen - Wiederhalls, ihre wunderbare Bedeutung, und jene rührende Feierlichkeit empfangen, die, wie jeder Naturton, im reinen Einklang mit der ganzen Gebirgsnatur lebt. Nichts hier von den Spielen der athletischen Sennen, ihrem Ringen und Schwingen, und Weitschleudern zentnerschwerer Steine; oder von Winzerfesten am Leman, von Sonderbarkeiten althergebrachter Feiertage anderer Gegenden, von ungewöhnlichen Uebungen und Bräuchen bei Geburt, Ehe und Tod. Das Alles mag Neugier, Ohr und Auge der Reisenden im Vorbeigang ergötzen. Aber nicht diese Einzelheiten sind es, welche die Bewohnerschaft der helvetischen Hochlande, neben andern Nationen, auszeichnen. Denn auch die übrigen Länder haben ihre auffallenden Lebensweisen, seltsamen Gewohnheiten und Gebräuche. Sondern, daß, auf einem Flächenraum des Erdbodens von so mäßiger Ausdehnung, ein so greller Abstich der verschiedenartigsten Zustände alles gesellschaftlichen Daseyns neben einander besteht, wie sonst nur zwischen Nationen und Nationen gefunden wird, dieß erblickt man nicht leicht. Der Fremdling glaubt sich, schon von Kanton zu Kanton, nicht bloß in andre Staaten, mit andern Religionsübungen, Gesetzen, Münzen, Maaßen und Gewichten versetzt; nein, oft schon von Thal zu Thal, zu andern Völkern gekommen, deren Sprachen, drren Mundarten, deren Trachten, Wohnungen, Beschäftigungs- 11 weisen, Kulturstufen, Charakter, ja, deren Nationalphysiognomieen sogar, auffallend von einander abweichen. Er gibt sich vergebliche Mühe, zum wettern Fortkommen, ein schweizerdeutsches Wort aufzufassen und dem Gedächtniß einzuprägen; in der nächsten Nachbarschaft versteht man ihn schon nicht mehr. Gleichwie man hier in kurzer Frist alle Climate Europcns, beim Besteigen des Hoch- gebirgs, durchwandert, vom warmen Odem des südlichen Himmels bis zum tausendjährigen Eis der Pvlarländer; so kann man auch in wenigen Tagreisen alle Gesittungsstufen der europäischen Welt durchschreiten, vom feinen Ton großer Hauptstädte, bis zur Lebenseinfalt des gastfreundlichen Nomaden, welcher, ohne Kunde von der übrigen Welt, arm an Begriffen und Bedürfnissen, sich inmitten der Entbehrungen und Gefahren seiner vergessenen Hochthäler glücklich preißt. In der That ist die Bevölkerung der Schweiz nur aus Trümmern vieler Nationen zusammengesetzt, welche, in Stürmen längst- vergangener Zeitalter untergegangen, ihre Ueberbleibsel zwischen diesen Felsen liegen ließen. Hier wohnten gewiß schon Menschen, ehe sich ein halbes Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung, aus Italien hetruscische Flüchtlinge ins Gebirg retteten. Aber spätere Flüchtlinge siedelten sich neben den frühern an; ihre Enkel, ihre Sprachen leben beisammen noch in den rhätischen Hochthälern fort; in andern Gegenden Ueberbleibsel jener nordischen Cimbern und Teutonen, die Marius schlug, und deren Verwandtschaft mit den Völkern Seandinaviens heute noch durch Aehnlichkeit des Menschenschlags, der Namen, und alter- thümlichen Sagen in der Schweiz, wie in Schweden, beurkundet wird. Anderer Orten findet man wieder Spuren von Hunnen, die zum Untergang in den catalaunischen Feldern gezogen waren. Hier wurden die ansäßigen Römer, nach Erlöschung ihrer Weltherrschaft, Leibeigene der Allemannen, Burigunden und Gothen, bis auch diese hier wieder von der Eisenfaust der Franken gleiches Loos empfingen. Alle diese Völkertrümmer, mit ungleichen Sprachen, Sitten und Einrichtungen, lebten vereinzelt in dem weitläuftigen Labyrinth von tausend Thälern fort, oft ohne Gemeinschaft, fast ohne Kunde von einander, oft durch unübersteigliche Bergketten geschieden. Hier tönte in verschiedenen Mundarten die Sprache des alten Thus- ciens, dort Galliens, hier des italischen Lombarden, dort der alten Deutschen fort. Diese Sprachen werden auch heute noch, wenn schon nicht mehr in erster Ursprünglichkeit, geredet. Ich 12 selbst hörte, inmitten romantischer Ortschaften, Wörter und Redeweisen, die, längst verschollen, nur noch in dem hulbtausend- jährigen Sang der Nibelungen bewahrt sind. Mit allen Bergvölkern haben die Schweizer aber jene herben Gurgellaute gemein, welche vvm Einfluß des Klima's auf die Werkzeuge der menschlichen Stimme erzeugt worden zu seyn scheinen. Merkwürdig, doch in seinen Ursachen noch unerforscht, ist der Umstand, daß von Westen der Schweiz nach Osten hin, von Wallis durch die Alpcnkantone bis zum Bodensee, in den nämlichen deutschen Wörtern die Selbstlauter allmälig sich umwandeln; daß westwärts der J-Ton und Ü-Ton statt des A und O vorherrscht, allmälig durch Zürich und Appenzell zum vorherrschenden A wird, mit Verdrängung von jenem, und zuletzt gegen Schwaben und Bayern zum breiten oa und oä sich dehnt. Die ebenen Länder des Welttheils, welche, unter beständigen Kriegen, von Heeren fremder Völker durchfurcht, oder vom wachsenden Handelsverkehr mit immer neuen Bedürfnissen, Mitteln und Lebensweisen bereichert wurden, konnte sich keine herkömmliche Form alter Sitte dauernd erhalten. Anders war es im wald- und seereichen Hochland, in jenen der übrigen Welt lange unbekannten Thälern, woselbst die alterthümlichen Römerstraßcn längst von Tannenwäldern bewachsen waren und erst ein später Kunststeiß dem Waaren - Ourchzug neue Bahnen brach. Dahin wagte sich lange Zeit nur selten des Reisenden Neugier; und nur selten drangen, und nie mit Glück, fremde Kriegsschaaren dahin, wo Berge und Ströme selber für das Volk zu Streitern wurden. Kein Wunder, wenn sich Art und Weife der Vorwelt, un- vermischter mit Fremdartigen, daselbst auf die Enkelschaft fortpflanzte, und bei der einförmigen Beschäftigung mit Landbau und Viehzucht, selbst unter ewigen innern Fehden der einzelnen Häuptlinge, Grafen, Baronen und Aebte, treu bewahrte. Jede Thalschaft hielt mit angestammter Ehrfurcht die von den Alten überlieferten Stiftungen, Bräuche und Satzungen, und mit stolzer Eifersucht die ererbten Rechtsame fest. Sogar schon Verwandlung von Farbe und Schnitt des Kleides ward eine Verletzung gewohnter Zucht und Ehrbarkeit, und fiel, als Anzeichen eitler Leichtfertigkeit, dem verfolgenden Spott der Menge anheim. Inzwischen konnte doch ein Land, in der Mitte des Welttheils, in der Nahe der regsamsten Nationen gelegen, sich unmöglich dem Einfluß der Alles ändernden Zeit und der Weltbegebenheiten ganz entziehen. Leise und mittelbar wirkte, was auswärts ge- 13 schah, auch auf das innere Leben dieser kleinen Völkerschaften zurück, und so wurde die Entwickelungsgeschichte der europäischen Menschheit, unabhängig von den Schicksalen der übrigen Völker, ja fast unbeachtet von ihnen, auch auf diesem Boden durchgespielt. So bauten sich, hier wie anderswo, nach den ersten Jahrhunderten des jugendlichen Christenthums, fromme Verkünder des Evangeliums einsiedlerisch in den Wildnissen des Gebirgs an, wo sie, bei freiwilliger Armuth, bei Gebet und Arbeit, die ersten Saaten edlerer Gesittung auswarfen. Die Nachwelt erhob sie in den glänzenden Rang der Heiligen. Ihre hölzernen Bethütten verwandelten dann die Nachfolger, mit irdischer Prachtliebe, hier, wie überall in Europa, in Palläste, reich an Gütern und Herrenrechten. Noch zeugen davon die Abteien St. Gallen, Ein- siedeln, Oisentis, Muri und die große Fülle anderer Klöster. Nach dem Sturm der Kreuzzüge, in welchem Zürich, Basel und andere Städte, vermittelst Waarenzuges über die Alpen, die ersten Blüthen ihrer spätern Gewerbigkeit und Macht entfalteten , bildete sich auch in der Schweiz das mittelalterliche Rit- terthum innungsmäßig aus. Noch jetzt sind Geschlechter vorhanden, wie die Hertensteine oder Bonstetten, deren Ahnen an deutschen und welschen Thurnieren in Jahrhunderten prangen, zu denen empor nur die wenigsten Stammbäume Deutschlands ragen mögen. Aber mit den Fortschritten der Bildung, mit wachsendem Reichthum der Städte, erlosch auch hier die alte Herrlichkeit des Adels. Noch beurkunden tausend Burgen und Schlösser, deren Gemäuer und Thürme an Felsen und Klippen umherhangen, die verschwundene und rühmlose Größe der Ritterschaft helvetischer und rhätischer Lande. Sobald in den tiefern und höhern Thälern die Bevölkerung stieg, wuchsen die einsamen Bauerhöfe und Weiler zu ausgedehnten Ortschaften und stattlichen Flecken aus einander. Wo sonst wenige Familien gehauset hatten, breitete sich deren zahlreiche Nachkommenschaft auf dem unbenutzten Gut der Altvordern aus, und drängte die Waldungen zurück. Noch jetzt tritt man in Schweizerdörfer, deren sämmtliche Einwohner fast alle von gleichem Stamm, nur zwei oder drei Familiennamen unter sich haben. Um die Menge der Leute gleiches Namens zu unterscheiden, ist daher gewöhnlich, sie mit Benennungen zu bezeichnen, welche von ihren Wohnorten, Begangenschaften, körperlichen Zuständen, oft noch von wunderlichern Dingen entlehnt sind. 14 Das Bedürfniß der Freiheit, um ein Leben voller Entbehrungen, Gefahren und Arbeiten auf unwirthlichen Felsengründen erträglich zu finden, und der gesunde Natursinn eines abgehärteten Volks, welches des Himmels Unbill, aber nicht so leicht der Menschen Willkühr ertragen kann, erleichterte oder lösete früh die Banden mittelalterischer Knechtschaft. Dorf- und Thalschaften gestalteten sich allgemach, unter Schutz und Gunst der Städte und Abteien, von denen sie erobert, oder durch Kauf und Erbschaft erworben waren, zu besondern Gemeinwesen, mit eigenthümlichen Rechtsamen. Manche derselben begannen zuletzt Wettkampf des Gewerbfleißes mit kleinern Städten. Wohlstand, Reichthum, bessere Erziehung der Jugend, begleitet von schweren Schicksalen des Landes, brachten endlich die Umwandlung aller Verhältnisse, in denen wir jetzt den Landmann und Patricier in voller Gleichheit bürgerlicher Rechte erblicken. Enkel vormaliger Leibeigner stehn heut hochgeachtet, oft ruhmvoll an der Spitze des Staats, der Kirche, oder der Heerschaaren und Großgewerbe. Hinwieder ists nicht selten, Namen weiland hochgeborner Freiherren und Grafen oder andrer edeln Häuser des Schweizerlandes, von Nachkömmlingen getragen zu sehen, die der erlauchten Abstammung kaum bewußt, ihr väterliches Feld mit Pflug und Karst, im Schweiß des Angesicht's bauen. So herrschten in alter Zeit Grafen von Rore weit umher, längs den Strömen der Aare und Reuß. Noch um die Mitte des neunten Jahrhunderts saß Graf Landolin, nach Frankensitte, an seinem Thurm Rore bei Aarau, auf der Malstätte, das Volk zu richten. Die Macht aber auch dieses Hauses ging in den Jahrhunderten gesetzloser Fehden verloren. Mit abnehmendem Wohlstand des Geschlechts sank selbst endlich der Name in die Dunkelheit der tiefern Stände unter. Noch besteht jedoch im Kanton Solothurn ein alteS Fideicommis, von welchem, so lange ein Rudolf von Rore vorhanden ist, derselbe Genuß haben soll. Es ist schwer zu sagen, welchen Ursprung dieß Vermächtniß gehabt habe, aus dem sich noch heut der gebeugte Stolz zu verkünden scheint. Aber es fehlt nicht an zahlreichen Nutznießern unter den Landleuten, welche den edeln Namen tragen. Und nicht nur die Söhne, sondern sogar die Töchter werden "Rudolf von Rore" getauft, um vom vielzersplitterten Erbe ihren Jahrstheil zu empfangen. Diele alt- adeliche Geschlechter findet man solcher Art unter den Bauern; wie die von A rr, die Prevost oder de Präpositis in Bünden u. a. m. 15 Diese Andeutungen können zum Theil das Gewirr der »er« schiedensten Sprachen, Sitten, Trachten, Bauarten u. s. w., der schweizerischen Völkerschaften erklären. Das Gepräge ihrer Abstammung und des Alterthums hat sich aber am reinsten in jenen abgelegenen Thälern der höchsten Gebirge bewahrt. Dort, in der Nachbarschaft unvergänglicher Schneewüsten, wohnt der Mensch, im Schatten seiner Felsen und Tannenwälder, an Abgründen und stürzenden Strömen, einfach, roh und gutmüthig, kenntnißloS und unbeholfen, gleich denen, die da vor Jahrhunderten saßen. Er weiß nicht von den nützlichen Verbesserungen der Wirthschaft, nicht von den Lebensbequemlichkeiten, welche den Bewohnern milderer Gegenden Vortheil, oder Vergnügen, schaffen. Selbst die Geräthschaft seines Hauses und Feldes ist noch so kunstlos und schwerfällig, wie am ersten Tage ihrer Erfindung. Im schroffen Gegensatz stehen dazu die Gelände, welche sich vom Jura hinweg, wellenförmig, Hügel an Hügel, Berge an Berge, zum Alpengebirge hinanstufen. Sie sind mit hoher Sorgfalt gebaut, und, zur Belebung geselligen Verkehrs, mit einem Netz zahlreicher Landstraßen übersponnen. Hier regt sich Gewerbs- fleiß nebenbuhlerisch gegen den brittischen, und Wetteifer mit Deutschland und Frankreich in Pflege und Erhebung von Wissenschaft und Kunst. Hier führen kleine Städte berühmtere Namen, als viele der größer» in andern Reichen des Welttheils. Die rauhe Sprödigkeit herkömmlicher Lebensweise ist durch Anmuth späterer Sitten gemildert. Doch schimmert gern noch der ehrwürdige Rost alter Zeit durch den glänzenden Firniß der neuen. Das Kleinbild der Schweiz und ihrer innern Mannigfaltigkeiten zu vollenden, darf auch ihre politische Gestaltung nicht ganz übersehen werden. Ein Volk von zwei Millionen Seelen lebt in 22 unabhängigen Staaten, von ungleicher Größe, getrennt. Sie wurden bisher durch nichts, als einen lockern und zweideutigen Vertrag zusammengehalten. Hier kennt man keine gemeinsame Bundesregierung, sondern unter dem Namen „Vorort" führt eine der Regierungen, von Bern oder Zürich oder Luzern, zweijährigwechselnd, in allgemeinen Angelegenheiten den diplomatischen Briefverkehr mit dem Auslande und den höchsten Behörden der Kantone. Erst was die meisten von diesen letzter« bewilligen. 16 darf der Vorort vollstrecken. Hier steht im Mittelpunkt Aller keine gesetzgebende Gewalt über dem eidgenössischen Staatskörper, oder über Interessen und Sclbstherrlichkeitsrechten sämmtlicher einzelnen Staaten erhaben. Sondern jeder Kanton sendet den Abgeordneten, mit bestimmter Vorschrift für jeden Gegenstand, zu einer,,Tagsatzung" oder Bundesversammlung ab, in welcher die Stimme des größten der Kantone mit dem kleinsten derselben, einerlei Gültigkeit trägt. Es wird da nur unterhandelt; ein neues Gesetz ist nur ein neuer Vertrag der Souveraine, deren Minderheit sich dem Willen der Mehrheit unterziehen soll. Einen festern Verband Aller zu einem kraftvollen, großen Ganzen zu knüpfen, zeigen die Wenigsten dieser kleinen Republiken Geneigtheit. Auch nur den geringsten Theil ihrer hoheitlichen Selbstständigkeit zu opfern, scheint ihnen zu viel. Daher Schwanken und Ohnmacht Aller, und immer unter ihnen genährter Unfriede. Vor dem schicksalschweren Jahre 1798 glichen mehr oder minder die sämmtlichen Kantone reichsstädtischen Aristokratien, worin pa- tpjzische Familien sich allmählig die oberste Gewalt über unter- thänige Gebiete und über städtische Mitbürger angeeignet hatten. Die staatsumwälzerische Waffenmacht Frankreichs drang aber >» jenem Jahre gegen die Schweiz vor. Mit Nachdruck den Welt- überwindern zu widerstehen, hoben die Regierungen damals selber dix Unterthanenschaft des Volkes auf, damit dasselbe, gleich an Rechten mit den Bürgern der Hauptorte, begeistert für sie kämpfe. Das angerüstete Land ward aber damals ein Raub des Feindes, welcher, ohne Rücksicht auf Geschichte, Sitte und Bedürfniß der kleinen Staaten, diese in eine einzige helvetische Republik verschmolz. Was der Natur des Volks widerstrebte, ging in Gesetzlosigkeit und bürgerlicher Verwirrung zu Grunde. Napoleon Bonaparte schlichtete endlich mit Weisheit den Hader der Kantone und ihrer Parteien in der Vermittlungsakte vom Jahre 1803. Durch Herstellung der Selbstständigkeit und glimpflich - beschränkten Souverainetät der Kantone führte er, ohne Mühe, zu deren freigesprochenen Bewohnern die Ruhe zurück. Da sah die Schweiz eilf Jahre lang die Wunder des Friedens und der staatsbürgerlichen Freiheit. Der Geist der Nation und ihr Wohlstand entwickelte sich in dem kurzen Zeitraum mächtiger, als zuvor im Laufe eines ganzen Jahrhunderts. Dieß Glück verschwand aber mit dem Jahre 1814 wieder, als die Könige Europens siegreich in Frankreich eindrangen, und die ihrer reichsstädtischen Hoheit verlustigen Patricierfamilien in 17 dcr Schweiz nach Wiedereroberung deS vormaligen Ansehns lüstern wurden. Begünstigt von einem Durchzug fremder Heerschaaren, vom Einfluß ausländischer Gesandten und von der Bestürzung des Volks, nahmen sie ihre alten Plätze ein, zerrissen die Vermittlungsakte, schlössen unter sich einen neuen Bundesvertrag, an Haltungslosigkeit dem ältesten ähnlich, und ließen dem Volk, mit dem Schein staatsbürgerlicher Freiheit, das Wesen der Unter- thänigkeitsverhältnisse. Wie aber von Jahr zu Jahr, mit übelberechneten Willkühren, Verfügungen und Gesetzen, in den meisten Kantonen die Aristokratie immer nackter aus den demokratischen Verschleierungen hervortrat, erhoben sich bei Anfang des Jahres 1830 eins ums andre die Völkerschaften, und forderten Wiedererstattung der ihnen schlau oder gewaltsam geraubten, stets theuer gebliebenen bürgerlichen Rechte. Die Hälfte aller Kantone, den weit aus größten Theil der schweizerischen Gesammtbevölkernng umfassend, änderte ihre Staatseinrichtungen, ohne Bürgerkrieg. Nur die Stadt Basel zerfiel mit ihrer Landschaft in blutigen Fehden; im Nenenburgischen erhob sich ein fruchtloser Aufstand gegen die bestehende Ordnung; das alte Land Schwyz ließ sich, im Zank mit seinen äußern Bezirken, späterhin wieder aussöhnen, nachdem es schon bereit stand, vereint mit Basel, allgemeinen Bürgerkrieg zu entzünden. Die Tagsatzung von 1833, freudig von der Nation unterstützt, stellte, über 20,000 Bajonette gebietend, durch Gerechtigkeit und Milde, den Landfrieden her. Allein die im hohen Alpcngebirg gelegenen Kantone, wie Ap- pcnzell, Bünden, Wallis, Uri, Unterwalden, Glarus, Zug, desgleichen im Jura Neuenburg, haben, auch nach jenem Reformjahre 1830, ihre herkömmlichen Staatsordnungen unverändert beibehalten. In allen diesen Hirtenländern bestehen die demokratischen Einrichtungen der Vorwelt fort, in welchen, neben der Macht der Geistlichkeit, einzelne vornehme Geschlechter herrschen; das Volk aber, in Landesgemeinden versammelt, sein selbstherrliches Recht üben darf. Nur Ncucnburg, wo der König von Preußen erbliche Fürstenrechte besitzt, behauptet sich in rein aristokratischer Gestalt. Alle Freistaaten der Eidgenossenschaft, die ihre Verfassungen verbesserten, die bildungsreichften, gewerbigsten, und bevolkertsten, gleichen sich jetzo mehr oder minder in ihren neuen Grundgesetzen, in lcr Rechtsgleichheit ihrer Bürger, in der Erwählung ihrer Gesetzgeber und Richter durchs Volk, in der Trennung der Staatsgewalten, in der Freiheit des Handels und Gewerbes, des Ge- 2 18 Wissens Und der Presse, in der Oeffentlichkeit der richterlichen und gesetzgeberischen Verhandlungen, in der Unteksagung fremder Kriegsdienste, oder fremder Orden und Gehalte für Personen in Staatsämtern. Die Verwandlungen des Innern dieser Republiken bringen unvermeidlich Verbesserung auch des mängelvollen Bundesvcrtrages der Schweiz; doch nur allmählig, wie vorauszusehen ist. Denn das Schöne und Gute hienieden steigt nur von Stufe zu Stufe, dem Vollendeter» entgegen; das Böse allein kömmt im Sturmschritt. So steht gegenwärtig die Schweiz da. Die Mannigfaltigkeit ihrer Staatsgebilde, wie sie aus Bedürfnissen des Volkslebens, oder aus Nachwirkungen früherer Zeitalter hervortraten; der Einfluß so verschiedener Gesetzgebungen auf Wohlstand, Geist und Denkart der Bevölkerungen, ist des Studiums von Weltweisen, Staatsmännern und Fürstensöhnen würdig. Diese Eidgenossenschaft der Freien, inmitten großer Monar- chieen; diese Felsenburg, welche seit Jahrhunderten eine Scheidemauer von zwei eifersüchtigen Mächten Europens war; dies Vaterland so vieler großen Männer, welche Europa dankbar ehrt, dies Vaterland der Zwingli's, der Le Forts, Haller, Eu- ler, Geßner, Johannes Müller, de Saussure, Rousseau, Pestalozzi— wer könnte sie alle nennen?— diese Zufluchtsstätte der Verfolgten, wo vertriebene Fürsten und Gelehrte, Priester und Laien, Edelleute und Republikaner, ohne Unterschied Schirm und Obdach fanden, — sie verdient das Kleinod des Welttheils zu heißen und zu bleiben. Selbst nicht Napoleons Ehrgeiz und Eroberungsgeist wagte ihre Vernichtung; seine Klugheit bewahrte sie, während er die ältesten Throne brach. I. Rhälien oder Graubünden. Aas die gesammte Schweiz in ihrem Umfang Schönes, oder Schreckliches, an Wundern der Natur, oder Seltsames an Schicksalen und Sitten der Völkerschaften zeigt, das steht wieder in einem einzigen ihrer Kantone mit den schrofsten Gegensätzen zusammengedrängt. Auf einem Flächenraum von kaum anderthalb hundert Geviertmeilen erblickt man, wie nirgends, ein verworrenes Labyrinth der Thäler, von den höchsten Bergen eingezäunt. Schon Dietrich von Verona, der große Gothenkönig, hieß dies Land ein Netz (rstia), aus Gebirgen gestrickt Ich rede vom Freistaat der drei Bünde im hohen Rhä- tien, oder dem eidgenössischen Kantone Graubünden. Er hat, wie wenige Länder unsers Welttheils, seine eigne Geschichte; eine Geschichte von beinah drittehalb tausend Jahren, reich an außerordentlichen Ereignissen, gewaltsamen Verwirrungen und großartigen Thaten, wie man allein nur in Republiken zu finden gewohnt ist. Hier ist, mögte ich sagen, eine eigne Schweiz in der Schweiz; ses es in Rücksicht der in einander verschlungenen Alpenverkettun- gen oder der mannigfaltigen Völkerschaften, die Thal um Thal, mt einander weder Herkunft, noch Sprache, noch Glauben, noch Grsittungsstand gemein haben. Die Berge strecken sich meistens jäh und kühn, in wildem Firmenwurf, vom Thalboden in die höchsten Lüfte. Ihre äußersten Gipfel glänzen unter ewigem Schnee, mehr denn 11,000 Fuß üler dem Spiegel des Meeres. In den Schluchten und Zwischen- räumen der Urfelspyramiden dehnen sich droben Schneefelder und Eswüsten aus. Man zählt da 241 Gletscher. Nur scheue Gemse» ziehen darüber; einsame Bären, Wölfe und Murmelthiere s* so kennen in benachbarten Felsen ihre Höhlen; Lämmergeier und Steinadler schweben über den stummen Einöden am Himmel» Unterhalb der Eismeere breitet sich dunkelgrün der Teppich der Alpenwiesen aus, nur im höchsten Sommer von Mehheerden besucht. Spannhohe Weidengesträuche Lappland's erheben sich in der Nähe des unvergänglichen Winters. Erst weiter abwärts beginnt kräftigeres Pflanzenleben, und Bäume erheben sich. Aber es sind nicht die Bäume der mildern Gegenden, sondern Lerch- tannen und Cedern Sibiriens, Arven, mit Zapfen voll eßbarer Zirbelnüsse. Die Thalgegenden hinwieder gleichen an Anmuth oft den lieblichsten der Schweiz; oft denen Tyrols an rauher Majestät. Zwar zeigen die Halden des Gebirgs breite und tiefe Narben, welche die Wuth der Bergströme seit Jahrtausenden hinterstes, aber nicht so oft, wie im Tyrol, weite Strecken kahler Felsen, alles Wiesenschmucks und aller Wälder beraubt, in schauerlicher Nacktheit. Manche jener Bergströme sind schon seit undenklicher Zeit versiegt, oder haben sich zwischen Klippen andre Bahnen gewählt. Doch verrathen noch ihren ehemaligen Ausfluß in's Thal viele gegen den Fuß des Gebirgs sanft anschwellende Hügel; kegelförmige Anhäufungen herabgeschwemmten Felsenschuttes, nun seit Jahrhunderten schon mit fruchtbarem Erdreich, Wiesen und Gebüschen bekleidet. Auch in der Mitte der Thäler werden zuweilen deren Ebnen plözlich von schroffen Hügeln unterbrochen. Ein Wäldchen, eine Burgruine, darauf ein Kreuz für die Andacht hingepflanzt, schmückt malerisch die plözliche Anhöhe. Es sind Reste uralter Bergstürze, als sich, von den Kämmen und Firsten der Alpen, Felsenmassen lvseten, in Tagen, von denen kein Sterblicher mehr weiß. Der Wechsel der Landschaftsgcbilde in den rhätischen Thälern stellt sich so reich dar, wie irgendwo in der Schweiz; aber oft weit überraschender, und großartiger. Ein Tag genügt, um von den Rebengeländen, Kornfeldern, Obsthainen uud Kastanienwäl- dern des wärmern Himmelsstrichs in die Eisgefilde Spitzbergens überzugehn; ein bloßes Wenden des Antlitzes genügt, sich von einer Gegend voller wollüstigen Behaglichkeit in die des Entsetzens zu verlieren. Das Schöne und Grausenhafte ist fantastisch zusammcngereiht. Stundenlange Wildnisse, auf Klippen - Wegen, zwischen Felsblöckcn, Tannenwäldern, donnernden Giesbächen, und schwindelerregenden Höhen uud Abgründen, versetzen in ein lachendes Thal voller Heerden, Hütten unh Dorfschaften. Die L1 Fluren weiter-, üppiger Gegenden, unter dem mildesten Himmel, sind von gewaltigen-Strömen zerrissen. Am Rande der Wolken schimmmern Kirchen und einsame Höfe im Himmelsglanz zwischen Saatfeldern und Wiesen. Im Thalgrund aber, bald links, bald rechts, bald am Fuß, bald an den Rippen der Berge, erheben Burgen romantisch ihre alten Gemäuer und zerfallenen Wartthürme. Man zählt solcher Denkmale längstvergangener Adelsherrlichkeit bei hundert und achtzig verschiedene. Nur noch einige derselben haben sich bewohnbar erhalten. Den Zauber des erstaunlichen Wechsels zu vergrößern, werden selbst Zeit und Witterung dienstbar. Die Physiognomie der Landschaft kann sich an einem Tage binnen wenigen Stunden verwandeln. Wir bewundern noch bei reinem Himmel das colossale Pracht bild der Gebkrgs-Landschaft mit ihren zahllosen Ortschaften, Höfen, Kirchen, und Ruinen. Alles schwebt da wie anf Luft mit Dustfarben gemalt. Das Auge verliert sich in der schönen Hügclwclt bis zu den veilchenblauen Fernen, zum Silberlicht der Schueebcrge. Plözlich aber verengert sich das unermeßliche Gemälde. Es beginnt trübes Wetter, die brennenden Farben verlöschen. Rechts und links rücken die Berge zusammen; von einer Felswand zur andern über das Thal spannt sich, wie graues Zelttuch, tiefes Wolkengchänge. Im Schatten desselben ruht eine kleine Welt. Das Thal ist zu einem niedrigen, langen Wundersaal geworden, Firsten, und Grathe, und Eisberge sind verschwunden. Alles ist enger, traulicher; und das Entfernteste, auf täuschende Weise, in die Nähe gezogen. Sollt' ich den Charakter der bündnischen Gebirgslandschaften mit wenigen Worten zeichnen: so mögt ich sagen, die Natur athme hier nur in prächtiger Wildheit, in feierlicher Anmuth, ihren wunderbarsten Launen hingegeben. Selbst im Lächeln wohnt noch eine Majestät, bei der die Seele dessen zittert, der es zum erstenmal erblickt. Ich nannte Rhatien vorhin eine Schweiz in der Schweiz. Die Schweiz ist ein Verein von 22 Freistaaten; Rhätien aber ein Bund von 26 Republiken. Völkerschaften wohnen neben Völkerschaften, die selten von einander erfahren, wenig mit einander verkehren, ge-, trennt durch Hochgebirge mit unübersteiglichen Felskämmen. Einige sprechen italienisch, andre deutsch; andre Uraltladinischcs, andre Aramaunisches, oder Romanisches, welches sich aus Jahrhunderten vor unsrer Zeitrechnung erhalten haben mag, da der rhätische Volksstamm der Hetrusken vor den Grausamkeiten der Galen aus Italien jn diese Wildnisse stoh» Inmitten der Gegenden, wo s2 die romanische Zunge herrscht, in deren rauhen Klangen und Wörtern auffallende Verwandtschaft mit der Sprache des pyrenäischen Basken hervorsticht, tritt man in ein Hochthal allemannischer Ansiedler. Aber deren alrerthümlichcs Deutsch mahnt an die Zeitalter der Minnesänger. Jede jener Sprachen spaltet sich, nach den Thälern, wieder in besondere, oft stark abweichende Mundarten. Doch beginnt sehr allmählig die deutsche Zunge allgemeiner zu werden; in vielen Ortschaften ist sie gebräuchlich, wo noch Namen vieler Dinge romanisch geblieben sind. Von allen Ländern der Schweiz ist, nach dem Wenigen schon, was hier ein flüchtiger Wink angedeutet hat, vielleicht keins der Aufmerksamkeit und Wißbegier, oder auch nur Ncugier des Reisenden, würdiger, als das Bündnerland. Für den Staatsmann breitet es eine bunte Mustcrkarte republikanischer Verfassungen und Gesetzgebungen aus; für den Sprachforscher und Liebhaber des Alterthums einen Schatz von unversehrten Ueberbleibseln vcrschwund- ner Nationen und ausgestorbner Redeweisen. Der Gcognvst und Bergmann wandelt da im Gebilde des Urgebirgs neuen Entdeckungen entgegen; die Berge verschließen Gänge edler und unedler Erze, davon die Wenigsten angebaut sind; kein Kanton, ausser dem von Bern, umfaßt so viele und verschiedene Heilquellen und Eesundheitsbrunnen. Dem Botaniker blüht in den wenig durchforschten Hochalpen eine seltne Flora; der Forstmann tritt in Wälder, die er nur dem Namen nach kennt und sieht sich von Gesträuchen umgeben, welche allenfalls noch am Polarkreis grünen. —> Aber keine Schweizer-Gegend war bisher weniger gekannt und besucht, als die rhätische Gebirgswelt mit ihren Wundern und Seltenheiten. Und doch verketten hier tausendjährige Verbindungs- ftraßen Italien mit dem Norden. Schon jene zwei räthselhaften Säulen auf dem höchsten Punkte der Straße, welche über den Julier-Berg führt, 7,260 Fuß über dem Meere, deuten auf einen Verkehr der Menschen in Tagen, die aller Geschichtskunde entzogen bleiben. Es wohnt in diesen Hochthälern ein gutmüthiges, gastfreundliches Volk, an Freiheitsliebe) Biedersinn und Tapferkeit keinem andern der Eidgenossenschaft weichend. Der Großtheil der Reisenden, welche durch Graubünden gehn, eilt aber nur auf gewohnten Poststraßen den Eeschäften/nach, über die Alpen her 23 und hin, lind die Uebrigen, welche des Vergnügens oder der Wissenschaft willen die Schweiz besuchen, wollen nur das von Frühern Gepriesene sehn; in kurzer Frist möglichst Vieles; und dabei nicht jene Genüsse und Bequemlichkeiten vermissen, an die sie gewohnt sind, welche die Industrie der Gasthöfe überall in der Schweiz, selbst in abgelegnen Erdwinkeln, gewährt. Bünden ist aber gegenwärtig von mehreren prächtigen Landstraßen in verschiedenen Richtungen durchschnitten; einige derselben gelten als Meisterwerke der Kunst. Aus den Ebenen von Maienfeld und Chur, von Deutschland und der Schweiz her, geht eine Hauptstraße durch das romantische Dombeschg, über die schauerlichschöne Via mala, und die folgenden Hochthäler, bis zur Nachbarschaft der Gletscher, deueu der Hintcrrhein entquillt; dort spaltet sie sich in eine Fahrstraße über den berühmten Splügnerberg nach Chiavenna, und in eine noch bequemere über den Bern- hardin zum Lago maggiore. Auf der Höhe des lctztern 6580 Fuß erhaben, quillt ein Sauerbrunnen. Die Behaglichkeiten der Gasthöfe mangeln nirgends mehr längs dem Wege. Selbst über den Julier in's hohe Engadin schlangelt sich eine mildansteigende, geräumige Fahrstraße. Jedes dieser Werke, deren Sicherheit und Kühnheit neben Wasserfällen, Abgründen und Laninen die Seele des Wandrers mit Erstaunen füllt, bricht der Aufklärung, dem Knnstfleiß und Wohlstand eben so viele neue Bahnen zu Völkerschaften, welche, seit Jahrhunderten, abgeschieden von der Welt, die Fortschritte der Zeitalter nicht kannten und selbst von der Freiheit nicht jene goldnen Früchte erndteten, die sie andern Nationen spendete. Der Mehrtheil des Volks lebt indessen freilich noch zwischen den Schätzen seines Vaterlandes, die er nicht sieht, in Dürftigkeit; aber in der Gewohnheit derselben zufrieden. Unwissend und abergläubig tritt der Sohn der Hochalpen in die Fnßtapfen seiner Vater, vor jeder Neuerung scheu. Nicht einmal die gemeinsten Handwerke werden für ihn hinreichend getrieben. Man kauft von umherstreichenden Schweizern, Italienern und Deutschen, was etwa für Haus und Familie unentbehrlich seyn mag. Hier fehlt noch meistens jene Sauberkeit der Wohnungen und Kleider, die im größten Theil der Schweiz so gefällig anspricht. Diese Selbst- vernachläßignng des Aeußern, diese Unreinlichkeit der Gebäude und Wohnzimmer, dieser Mangel der Ordnung und des Geschmacks ist aber nicht immer die Wirkung der Noth und Armuth, sondern jener trägen Gleichgültigkeit gegen das Anständige und Schöne, 24 welche denen eigen zu seyn pflegt, die, in roher Genügsamkeit mit sich und ihrem Thun, um das Wohlgefallen Andrer wenig bekümmert sind. Doch wachsender Verkehr mit Fremden, Beispiel einzelner Familien von besserer Bildung, haben auch hierin schon bedeutende Umwandlungen gewirkt. Die Einverleibung des vormals selbstständigen Bündens, als Kanton, in die Eidsgenossenschaft, weckte andern Geist auf in vielen Thälern. Das Gemeinleben mit den Schweizern konnte nicht ohne Einfluß bleiben. Eine Menge Verbesserungen drangen in den kleinen Staat ein. Die Hauptstadt des Ländchcns führte ihre Verschönerung aus; wissenschaftliche Anstalten und Verbindungen erhoben sich; elende Berg- wege wurden zu breiten Chausseen; Gcmeinsinn rief zur Schöpfung bessern Jugendnnterrichts an, der in manchen Gegenden fast ganz gefehlt, in den meisten den traurigsten Zustand hatte; öffentliche Blätter erweiterten den Jdeenkreis des Volks. Aber alle diese Vortheile wuchsen doch vorzüglich nur der deutschen Bevölkerung des Landes zu. Die romanischen und ladinischcn Gegenden, so wie selbst die Deutschen in abgelegnen Thälern des Gebirgs, verharren noch steif in herkömmlichen Verhältnissen, Sitten und Entbehrungen. Sie werden es lange noch. Jener Mangel der Schulbildung und Geistesentwickelung im Volk, neben dem natürlichen Mutterwiz desselben, ist um so auffallender, da vielleicht im ganzen Lande kein Thal, ja kaum eine größere Ortschaft vorhanden ist, in welcher nicht irgend eine Familie von edlerer Erziehung wohnt. In den Häusern derselben findet man städtische Sitte, Weltton, Bücher, Alles was das Leben veranmuthigen kann. Bei der unbedingten Rechtsgleichheit aller Einwohner genießen die Mitglieder solcher Familien durchaus kein bürgerliches Vorrecht. Ja, sie können manchem Nachbar sogar an Größe des Vermögens nachsteht,. Und doch wirkte ihr Beispiel selten zur Nachahmung des Bessern, und, was auch nicht verschwiegen werden darf, sie selbst wollten dazu wohl nicht immer wirken. Gewöhnlich sind es Geschlechter, deren Söhne in frühern Zeiten durch auswärtigen Kriegsdienst in Frankreich, Piemont, Spanien u. s. w. mehr Wohlstand und Kenntniß erwarben, als ihre übrigen Landslcute. Kamen sie zurück, wählte man sie, dieser Ueberlegcnheit willen, in Staatsämter, wo sie der Gelegenheiten genug fanden, besonders in den ehemaligen Unterthanenlan- den Vcltlin, Clären und Worms, ihre Reichthümer zu mehren. !LkK MrK 85 Ihre Kmder ließet sie von Hauslehrern kn- oder ausländischer Anstalten erziehen, auch Universitäten besuchen und Reisen machen. Dadurch sicherten sie der eignen Nachkommenschaft den politischen Einfluß im Lande, gleichsam erblich, zu. Sie hüteten sich daher,- eine Stiftung höherer Lehranstalten im Lande selbst zu begünstigen, wo jeder ohne große Kosten wissenschaftliche Bildung hätte gewinnen können. .' Allein, seit Vereinigung mit der Schweiz, hat sich auch dies anders gestaltet. Die Unterthanenlande der Republik sind verlöten gegangen, und der Söldnerverdienst in den Heeren det Fremden hat aufgehört. In der Stadt Chur blüht nun eine höhere Kantonalschule für alle Jünglinge des Landes. Wirklich hat Bünden aber nie Mangel an gewandten Geschäftsmännern, an Gelehrten und Schriftstellern gehabt; kein altdemokratischer Kanton der Schweiz besaß deren so viele. Die Sprecher, Guter, Juvalta, Campell der ältern Zeiten; die beiden Salis-Marschlins, die Tscharner der neuern, genießen in der Schweiz einer dauernden Achtung. Nur der Dichter Hans Gaudenz Salis-Seewis hat vor allen andern einen europäischen Namen erworben. Er starb, als Greis von 71 Jahren, am 29 Jänner 1834 zu Malans im Zehngerichtenbunde. So bietet dies Land, welches an Contrasten so reich ist, auch «loch den schneidendsten Gegensatz in der geistigen Lebensentfaltüng seiner Bewohner zur Schau: die Blüten der edelsten Gesittung neben hep Rohheit, Unkunde und Gedankenarmuth des Halbwilden. 1 . Drr Ursprung des Innsiroms im Lugm - Lee am Maloxa-öerg, Steht der Wandrer in der chmaligett Unterthanenprovinz der Bündner, Chiavenna, die izt unter Oesterreichs Scepter dem lombardischen Königreich einverleibt ist: so sagen ihm Himmel und Erde, Pflanzen, Sprache, Bauart Und Sitte des Volks, er wand/e in Italien. Feigen drängen sich aus den Gemäuern hervor. Ueppige Weinreben umranken die Geländer und Ulmen, odep flechten malerische Kaubgewinde zwischen Maulbeer- und Wandelbäumen; während Citronen und Pomeranzen die Lüste 26 durchwürzen und wildes Lorbeergebüsch Mische» Felsen hervorquillt. Ein Dorfthurm hebt neugierig hinter dem Kastanienwald sein Haupt hervor. Eine weiße Kapelle schimmert halbversteckt aus den Gesträuchen des Hügels. Und fragt man nach der Ferne des nächsten Ortes, tönt es melodisch: „Hu orettsl" aus schönem Munde. Aber nur eine Tagreise bergauf, längs den Ufern der Maira, zur Höhe des Bergpasses, welcher über die Maloya in's Thal vom Engadin führt, und man steht schon am Rande der bewohnten Welt. Das Leben der Natur ist erloschen. Todte Eismassen decken ihr Grab. Rechts steigt eine silberbleiche Pyramide über das Gewölk empor. Es ist der 1l,210 Schuh hohe Mu- retto. Links dehnt der Septimer die Zacken seines Felsenkammes zwischen großen Schneelagern aus einander. Dort nun, oberhalb der Maloya noch, zwischen den Trümmern verwitterter Serpertinfelsen und zerstörter Gletscher, erscheint ein dunkles, kleines, stilles Gewässer, Lago di Lugni genannt. Es ist ein Bergsee; klar und kalt; Urne eines Flußgottes. Der Jnnstrom, oder Oen entspringt daraus. Ohmveit von hier sind auch die Quellen des Hinterrheius, in schauerlicher Gegend, die mit dem Namen des Paradieses geschmückt wird, vermuthlich des verlernen. Auch die Maira rinnt in der Nachbarschaft aus den Eisgewölben vor. Von hier macht der Jnn seinen Lauf 70 Meilen weit, bis er, bei Passau, seinen Wafferschatz in die Donau stürzt. Dort rauscht er aus dem Gebirg, als großer Strom daher, genährt von hundert Gletschern, deren Sohn er ist. Neben ihm erscheint die Donau als geringer Seitenfluß. Sie hat, bis zur Vereinigung mit ihm eine mindere Länge. Und doch raubt sie ihm dort den Namen, den er, bis zum Gestade des schwarzen Meers zu tragen, mehr verdiente, als sie den ihrigen. Wohl mancher Vergessene hat die große That vollbracht, mit deren Lorbeern bekränzt ein Dritter zur Nachwelt geht. Um den Lugni-See waltet Todesstille. Dann und wann wird sie vom Wiederhall fernen Lauinen-Donners, oder von einem schneidenden Windzug gestört, der zwischen dem Geklüft der Felsen seufzt. Je höher man in die breiten Schneegefilde hinaufsteigt, die kein Sommer hinwegthaut, je ernster wird das Gemüth dessen, der hier allein noch in der unermeßlichen Einsamkeit zu athmen wagt. Man ist rings von den Schrecken einer ungeheuern Zerstörung belagert. Da scheint nie Leben gelächelt zu ha- 27 ben. Man steht auf den Ruinen einkr Welt. Der stumme Tod hat da seinen ewigen Thron. Unter ihm breitet sich das weiße Leichentuch der Natur über Alles aus. Wo es der Sturm aber stellenweis zerrissen hat, liegt das Gerippe und schwarze Felsen« gebein des Erdballs entblöst. Die starren Gipfel, Firsten und Zinken des Gebirgs, welche in seltsamen Gebilden umherstehn, gleichen riesigen Grabmalen. Nirgends Bewegung über dem Weltleichnam. Nur eine fahle Wolke schleicht am Himmel und zieht über die Eiswüsten einen bläulichen Schatten nach. Kein andres Schauspiel erzeugt in solchem Maaße das Gefühl grauenvoller Erhabenheit; etwa noch das Weltmeer >m Kriege mit dem. Orkan. Dieß spiegelt uns noch Leben, aber das Entsetzliche des Lebens, ab. Doch in den Einöden des ewigen Eises über den Wolken, wo kein Halm vom Felsen nickt, wo nichts laut ist, als der eigne Pulsschlag, wo im Anblick allgemeiner Vernichtung uns das Gefühl eigner Vernichtung überwältigt, da tritt uns der Wel- tentod in entsetzlicher Majestät entgegen. Streift man aber die ersten Wirkungen der furchtsamen Einbildungskraft ab, und betrachtet das Reich der Gletscher mit dem Forscherblick eines de Saussure von Genf, eines Hugi von Solothurn, so offenbart sich die schöpferische Herrlichkeit Gottes auch inmitten der hocherhabnen Wildniß. Dem Scheintode der Natur entblüht ein andres Leben. Dem Eise entsprossen unbekannte Pflanzen. Die Gletscher athmen. Die Firnen bewegen sich. Man steht in einer Welt neuer Wunder. Jene leuchtenden Eishüllen der höchsten Alpengipfel heißen Firnen. Ihre Massen haben eine Dicke oft von mehreren hundert Schuh Tiefek Ihr Schnee, von dem sie bedeckt liegen, ist graupenartig, körnigt; die Körner sind erbsengros, unzusammenhängend. Das abschmelzende Wasser derselben sickert durch die untern Körnerlagen und vermehrt das Firneneis drunten. Die Linie dieser Firnen beginnt erst in einer absoluten Höhe von 7 bis 8000 Fuß. Verschieden von den Firnen sind die Gletscher, die zwischen Bergschluchten (bis zu .3200 Schuh Meereshöhe) in die Thäler nic- dergehn können. Der auf ihnen ruhende Schnee ist leichter und lockrer, ohne Aehnlichkeit mit dem der Firnen; eben so ihr Eis. Es ist dieß, zumal am Rande der-Gletscher, ein Gefüge fest in einandergreifender Krystalle. Sind diese durch den Herabsturz der Eisblöcke aus den Höhen, oder vom Sonnenstrahl etwas gelöst, fallen sie, unter dem Schlage des Hammers, wie zerbröckelndes Mauerwerk, von einander. Risse und Spalten des Gletschereises S8 schimmern himmelblau und blaßgrüu, Je mächtiger die Eismasscn, je tiefer die Bläue derselben. Der Sonnenstrahl des Sommers schmelzt die Oberfläche der Firnen und Gletscher nur leicht ab. Desto stärker wirkt die natürliche Wärme des Erdballs gegen die untere Seite der gewaltigen Eiskrusten. Da bilden sich weite, höhere und niedrige Eisgcwölbe, bis sie von der Schwere ihrer eignen Lasten zusammenbrechen. Das. verkündet ein Donnergeräusch, welches dumpf durch das Gebirg dröhnt. Die zerrissenen Eismassen, von ihrem Gewicht gezogen, senken sich an den Halden abwärts nieder und kriechen gegen das Thalgelände vor. Dann zeigen sich an den Oberflächen jene langen, tiefen Ouerspalten und Eisschlünde, in welchen, wann sie trügerischer Schnee verschleierte, schon mancher Gemsjäger sein unerwartetes Grab gefunden hat. So wandeln, im leisen und steten Wechsel, die Firnen von den unersteigbaren Höhen herunter; werden Gletscher der untern Regionen, und zerfließen und verdünsten im wärmer» LuftkreiS zwischen Blumen und Kräutern. Wieviel alljährlich die Firnen der Höhe an Mächtigkeit zunehmen, soviel verliert in der Tiefe das abschmelzende Gletschergehänge. Bekanntlich speien Flüsse und Seen die Leichname der Unglücklichen wieder aus, die in deren Wellen den Tod fanden. Eben so das Gletschereis. Es wirft jedesmal nach einigen Jahren die Gebeine der Menschen und Thiere, welche in seinen Rissen und Spalten Serschwunden waren, wieder auf seiner Oberfläche an das Tageslicht. Doch nur das Knochenwerk uud Gerippe; das Fleisch daran hat der Gletscher gänzlich verzehrt. Noch eine andre Seltenheit. Todtes Laub, oder Insekten, welche ein Wirbelwind mit sich aus der bewohnten Welt emporgerissen und über den Schnee der Firnen und Gletscher verstreut hat, sinken all- mählig darin unter. Aber wenn von den schroffen Wänden und Spitzen des verwitternden Gebirgs ungeheure Steinblöcke und Felsplatten auf eben diesen Schnee herabfallen, sinken sie nicht hinunter in ihm. Sie wehren nur den Sonnenstrahl ab, daß er, so weit sie reichen, den Schnee nicht schmelzen mag, während derselbe ringsum vergeht. So steigen dann wachsende Eissäulen, von breitem Gestein bedeckt, da und hier seltsam empor. Krystallene Thürme, 40 bis 80 Schuh hoch, von einem Felsen gekrönt, unterbrechen die Einförmigkeit der bleichen Ebnen, und stürzen wieder prasselnd zusammen, das Schauspiel der allgemeinen Zerstörung zu vergrößern. Mancherlei andre außerordentliche Erscheinungen begegnen dem Wanderer in diesen erhabnen Wüsten, wo seine verwegne Kraft oft 29 schnell in der dünnen, reinen Lust verlischt und er schon nach wenigen Schritten der Erholung bedarf; wo der vom Schneespiegel zurückgeworfne Sonnenstrahl sein Auge mit Blindheit schlagen, und die entblößte Haut seines Körpers in kurzer Zeit verbrennen kann; wo jeder Schall schnell erstirbt und ein Pistolenschuß kaum stärker, als das Knallen einer Peitsche vernommen wird. Am räthselhastestcn ist das sogenannte Guren in dieser wunderbaren Eiswclt. Zuweilen senken sich vom Himmel jählings die Wolke» herab. Dann erhebt sich eben so plötzlich ein verworrenes Getöse. Ringsum wildes Gebrüll eines Sturms. Aber dieser hat keine bestimmte Richtung. Die Winde aller zwei und dreißig Weltgegenden scheinen wirbelnd und tobend in einem einzigen zusammen- zukochen. Der Tag verfinstert sich. Man athmet dichten Schneestaub, der von Höhen und Tiefen herunter und hinaufgefegt wird. Das Rasen der Lust dauert einige Stunden. Dann Friede. Während aber die ganze Atmosphäre über dem Gletscher in diesem Aufruhr steht, waltet auf allen Seiten in der Nachbarschaft st^es Wetter. Niemand ahnet im ganzen Umkreise das Mindeste von dem furchtbaren, örtlichen Orkan. In den Thälern und Ebnen der tiefern Schweiz kennt man dies Euren der Gletscher-Regionen nicht, wohl aber eine Lustbegebenheit andrer Art, das sogenannte Wetterschießen. Es ist dies ein dumpfes, stoßweises Schallen in der Lust, wie von entfernten Kanonenschüssen. Oft glaubt man wirklich nur diese zu hören, wie aus einer Schlacht. Anfangs fallen deren in einer Minute lebhaft mehrere hintereinander; dann wiederholen sie sich seltner und seltner. Nie im Winter, sondern immer nur im hohen Sommer und Herbst vernimmt man dieß Wetterschießen, und gewöhnlich Nachmittags oft bis nach Mitternacht, nie bei einem Gewitter, sondern immer nur bei heiterm Himmel. Jedesmal trübt sich nachdem die Luft und es erfolgt Regen. Die Flora des ewigen Schnees ist freilich arm; doch bewegt sich auch hier noch das stille Leben der Crypogamen. Flechten verbreiten ihre Farben über das Getrümmer des Urgebirgs. Da erscheint noch die Lycanora (mimuta) und Sphäria (eonstuen8); oder auch in den Felsenrissen eine Orytropis, 10,000 Schuh über dem Meeresspiegel, welche man bisher nur in Norwegen kannte. Nicht selten sieht man weite Strecken des Firncnschnees rosenfarben glänzen; in andern Gegenden wieder im lichten Goldgelb. Lange glaubte man, er sey vom abgeflogn?« Staube gewisser Stein- flechten geröthet oder vergoldet. Erst Hugi von Solothurn, der 60 kühne Erforscher der Eiswelt, entdeckte, daß das Rosenlicht von, blühenden Leben der Päonie lla nivaljs ausgehe. Es ist dies ein gallertartiges Pflänzchen, welches etwa anderthalb Linsen tief sich zwischen dem gekörnten Schnee der Firnen einsenkt, und oberhalb an der Luft sich gabelförmig in zwei zarte Fäden spaltet, die nur einem bewaffneten Auge sichtbar sind. Zuerst ist der Schnee davon nur mit mattem Karmin durchschimmert. Sind aber die Palmellen im höchsten Blüthestand, so glühn von ihnen die Firnen hochroth. Doch nur wenige Tage dauert die Farbenpracht. Dann vergeht Alles in einer trüben, schwärzlichen Auflösung. Eine andre Art von solchen Mollusken des Eismeers scheinen diejenigen sonderbaren Gewächse zu seyn, welche ebenfalls weite Räume des ewigen Eises vergolden. Es sind blasenartige Pflanzengebilde der Gletscher. Zuweilen liegen sie einen halben Zoll dick, den Tremellen ähnlich, aus dem Eise hervorgetrieben. Vergebens bemühte sich Hugi, sie näher zu untersuchen. Bei der leisesten Berührung zerfließen sie zu Wasser. Dann trübt sich ihr Hochgelb und nach wenigen Stunden findet man nur einen feinen, schwarzen Staub übrig. 2 . Madulrin und die Ruine von Gardovall. Nur kaum sechs Wegstunden abwärts vorn Lugni-See, liegt, am Fuß des Berges Albula im obern Engadin, das Dörflern Madulein, von etwa hundert Seelen bewohnt. Der junge Jnnstrom schmiegt sich ihm mit seinen Wellen dicht an. Eine hölzerne Brücke führt darüber in die geräumige, baumlose Thal- ebne. Links, neben den Hütten, blickt von dem Felshügel zwischen Gebüschen der viereckte Thurm und das verfallene Gemäuer der alten Burg Gardovall düster über das Thal weg. Ein Bischof, Volkhard von Chur, hatte das Schloß schon in der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts gebaut. Lange Zeit saßen darin die Burgvögte des Gotteshauses, das obere Engadin zn verwalten und zu richten. Es lebt noch eine Sage im Volk von der Zerstörung dieser Aelsenburg. Der früheste Geschichtschreiber seines Landes, Ulrich 31 Campell, hat sie schon vor drittehalbhundert Jahren aufgezeichnet. Sie ists werth, wieder erzählt zu werden; denn sie ist nicht minder schön, als die Geschichte des Römers Virginius, der die Ehre seiner Tochter vor der Gewalt eines wollüstigen De- cemvirs zu retten, den Dolch in Virginiens Herz stieß. Gegenüber von Gardovall wohnte das schönste Mädchen des Thals, in Camogasco. Dies Dorf liegt 400 Schritt von Ma- dulein, am jenseitigen Gebirg, im Schatten seiner Arvcnwälder. Das Mädchen war dem ganzen Dorfe lieb; denn es war mehr, als nur schön; auch gut und fromm und wußte nichts von seiner Schönheit. Es blühte stillverborgen in der Hütte seines Vaters Adamo, eines hochgeachteten Landmanns, der auf dem Erbgut seiner Altvordern unabhängig saß, und immer da der Erste war, wo Hülfe in der Noth, Rath in Verlegenheit, Hcrzhaftigkeit in Gefahren verlangt wurde. Daß die Augen aller jungen Engadiner mit stummer Zärtlichkeit an seiner Tochter hingen, fand er sehr natürlich; denn er liebte diese Tochter nicht weniger, als Alle. Kaum in das Alter der Jungfräulichkeit eingegangen, wußte sie in ihrem kindlich-reinen Gemüthe von keiner andern Liebe, als der Liebe des Vaters. Da trat ein böser Geist ins Paradies der Hütte. Es war der Edelherr vom Schlosse, der Bnrgvogt des Gotteshauses, ein gewaltthätiger Mann, den Weibern gefährlich. Wenn er befahl, galt kein Widerspruch. Wen er haßte, konnt' er verderben, durch Zins und Steuer, oder Richtcrsprnch, oder willkührliches Einkerkern. Schon mancher Mann hatte ihm die junge Gattin, als Magd, aufs Schloß zuführen müssen. Die Lieblichkeit der Camogaskcrin erfüllte ihn mit dem Wahnsinn einer Leidenschaft, wie er sie nie vorher gekannt. Aber wenn er ihr nahte, wagte er nicht mehr, was er sonst wohl gewagt. Wenn sie in der Engclshoheit ihrer Unschuld vor ihm stand, war es, als durchdränge sein ganzes Wesen das Wesen ihrer Heiligkeit. Aber lange ertrug er's nicht so. Was er selber nicht den Muth hatte ausznsprechen, ließ er durch Andre verrichten. Er sandte seine Knechte gen Camogasco, die Tochter Adamo's zu ihm auf Gardovall zu bringen; dort woll' er ihr, wie einer Fürstin dienen. Adamo vernahm die Botschaft mit Entsetzen. Aber er verbarg sein Inneres. Er bat um Frist bis zum folgenden Morgen; er müsse das Kind vorbereiten auf sein Glück; er wolle die Tochter selber dem Kastellan zuführen. Die Diener des Thalgebieters 3S brachten ihrem Herrn die Verheißung des Vaters. Dieser aber war die ganze Nacht mit Werken andrer Art beschäftigt. In Heller Morgenfrühe schritt Adamo, festlich gekleidet, durchs Thal gen Madulein; neben ihm, geschmückt, wie eine Braut, die schone Tochter, das zitternde Schlachtopfer; ein ^Gefolge von Freunden, allesammt in Feierkleidern, trat ihnen paarweis nach. So erstieg der Zug den Schloßberg. Der Burgvogt hatte die Kommenden schon von fern gesehen. Er eilte ihnen ungeduldig aus den Pforten des Schlosses entgegen. Kaum erwiederte sein gewaltherrlicher Stolz den ehrerbietigen Gruß der Männer. Er trat zu der bebenden Jungfrau, die leichenblaß am Arm des Vaters hielt, umfaßte sie und nahte mit den Lippen ihrer keuschen Wange. Da glühte der Vater auf. Er schwang den Dolch; er bohrte ihn in die Brust des Tyrannen, dem nicht Gottes Gesetz, nicht des Menschen ewiges Recht heilig galt. Das war daS Zeichen der Landeserlösung. Die Männer seines Gefolges zuckten das Schwerdt und stürzten in die Thore des furchtbaren Hauses hinein. Andre, die rings im Dickicht der Gebüsche verborgen lauerten, sprangen hervor. Knechte und Söldner des Burgherrn wurden erschlagen. Flammen stiegen über die Zinnen von Garbo, vall auf. Seit jenem Tage ward das Land unter den Jnnquellen vo»y Druck der Zwingherrn frei. Es kaufte sich um 900 Gulden im Jahre 1494 von den Hoheitsrechten des Gotteshauses Chur los. Ich kenne unter allen Hochthälern der Schweiz kein schöneres, als dieß obere Engadin, welches in seinem grünen Schooße, bei 6000 Fuß über dem Meere, zwischen seinen Arven - und Lerchen- wäldern und anmuthigen Seen, eine Menge freundlicher Dörfer trägt, viele von städtischer Bauart, die an Italiens Nachbarschaft mahnt. Es ist ein wunderliebliches, ungewöhnliches Landschaftsgebilde, von den Firnen und Gletschern des Bernina, Maloya, Septimer, Julier, Albula, Scalctta und vieler andern, wie von einem ungeheuren Silberrahmen umfaßt. Der Jnn rinnt leise und durchsichtig, wie Luft, durch die Thalebne. Im saftigen Grün der Wiesen heben sich fremde Blumen mit brennenden Farben hervor, Farben, wie sie nur der reine Himmel der Hochalpen, oder der Tropenländer geben kann. Die Blumen des Klee's gleichen in Fülle und Pracht halb aufgeschlossenen Rosen. Die Cedern des Gebirgs reichen hinauf bis zum Saum des ewigen Schnees, Die Bevölkerung ist dabei bilduugsreicher, als man vün ihrer Abgeschiedenheit in einem Hochthal erwarten sollte, wo ein acht- UM »r -'- 33 monatlicher Winter die drei übrigen, schönern Jahreszeiten in den engen Raum von 20 Wochen zusammengedrängt; oder von einer Sprache erwarten sollte, die sonst in der Welt nirgends, als in diesem Thale gehört wird. Es ist die ladinische, ähnlich der, welche Livius, als das Latein im Munde des Volks, bezeichnet hat. Denn hier ists, wo die Enkel der italischen Flüchtlinge wohnen, die, sey es vor den Galen oder vor Hanibals Schaaren, aus Latium und Umbrien hergeflohn waren. Hier hatten sie sich wieder ein neues Ardea (Ardez), ein neues Lavinium (Lavin), Tritium (Zutz), Scamptia (Scamfs) Cernetium (Zernetz), Vocta- neum (Fettan) u. s. w. erbaut. Aber eben diese Sprache erleichtert den Männern das Erlernen der dem Lateinischen verwandten. Als Seidcnhändler, Krämer, Zuckerbäcker, Banquiers u. s. w. leben sie Jahre lang in fremden Ländern, und kehren dann mit eingesammelten Schätzen wieder in die geliebte, wenn auch rauhe Heimath, zurück. 3. tsirnnigung der drei Etucllen des llorderrheins. An der östlichen Seite vom Gcbirgskuoten des St. Gotthards- berges steigen die letzten Dörfer des Tawetscher- Thales im Grauenbund bis zu einer Höhe von 5000 Fuß auf. Da liegt, in stiller Alpenwilde, die kleine Ortschaft Selv a; dahinter das noch kleinere Chiamunt, dessen Einwohner zur Kirche von Selva gehn. An den Berghalden, in den hüglichten Wiesen, erblickt man ärmliche Sennhütten, einzelne Heuställe und die lciterformigen Gestelle der Rescanen, welche zum leichtern Trocknen des geschnittenen Grases dienen, wenn Regen, Nebel und früher Schnee in diesen Höhen den Boden nässen. In grauenhafter Majestät reihen sich am Hintergründe Gebirge zusammen, deren Gipfel, bei ) 0,000 Schuh hoch, vom Himmel über die Länder der Menschen hinwegschaun. Von daher rauschen drei Bäche her. Es sind die Quellen des Vor- derrheins, welche sich hier vereinen. Links bricht die erste aus einem halbvergletscherten Thale, zwischen dem Berg Corners und dem noch erhabner» Cavradi hervor; rechts die andre von den Firnen des Crispalt; und von der Mitte her die dritte aus den krystallenen Gewölben des ewigen Eises, welches den ungeheuern 3 3L Sirmadun und seine Granitfclscn verhüllt. Aber diese Duellen des Vorderrheins sind nicht die einzigen von dem prächtigsten aller Flüsse unsers Weltthcils. Ein Mittelrhein gesellt sich später noch zu diesem aus dem Medelserthal, vom Cadelrhi »-Gletscher her, im Lukmaincr -Gebirg. Ein Hinterrhein strömt von den Eismeeren hinter dem Mnschelhorn herab. Dreizehn hohe, stäubende Wasserfalle umringen dort dessen Wiege. Unter den Felsen des romantisch im Gebirgskranz gelegnen Schloßgartens von Reichen«», zwei Stunden oberhalb Chur, vereiniget sich das Wasser aller Rhcine. Auch der heiterste Sonnentag des Sommers raubt der Gegend von Selva nicht den ihr eigenthümlichen düstern Ernst. Alles bleibt still, groß und furchtbar; Nebel schleichen geisterartig um die Berge und durch die finstern Klüfte. In den Schatten des Abgrundes leuchten Schneegefilde. Gewaltige Granitblöcke, vom verwitternden Gebirg durch Waldwasser oder Lauiuen herabgcschleu- dert, lagern sich in den Feldern und zwischen den Hütten. Jeder derselben ist das Denkmal einer gefährlichen Stunde des Thals. Fast in jeder Jahrszeit vernimmt man das Donnern vom Einsturz ungeheurer Schnccmassen, die von den Bergen bald, wie lockrer Staub, als „Windlauinen", niedcrfahren, die Luft verdunkeln und Alles weit umher verschütten; bald, als „Schlag - und Grund- lauinen ", mit entsetzlicher Wucht von steilen Berghängen und schroffen Felswänden im Thauwetter herabglciten und was sie erreichen, zerschmettern. Fast den ganzen Sommer sieht man bei Selva und in der wilden Umgegend Ueberreste dieser Lauinen. Zuweilen bilden sich hohe Wölbungen über den Rheinstrom, und dienen dem Aclplcrvolk zu sichern Brücken. Als im Jahr 1808, vom jähen Ruenatsch herab, eine der Lauinen fuhr, zermalmte sie in einem Augenblick Hütten und Ställe; 42 Einwohner Selva's und 237 Stück Vieh ihrer Heerden lagen, als Leichen, unter dem Schutt. Fünfzehn Jahr später begrub eine andre 37 Menschen daselbst. Entsetzlicher war das Unglück von Rueras, einem Alpcndorf in Selva's Nachbarschaft. Da kam im Jahr 1749 eine Lauine vom Malamusa, einem Abhang des zwei Stunden weit entfernten Crispalt. Fast das ganze Dorf ward begraben unter einem Schneeberg; die cntferntern Hütten wurden von ihren Stellen verschoben durch Gewalt der erschütterten Luft; Bergwäldcr sah man entwurzelt, oder wie dürre Halmen zerknickt. Von mehr denn 100 Menschen konnten kaum 60 wieder lebendig aus dem hochgethürmten Schnee hervorgescharrt werden. 35 Alljährlich richten im Gebirg die Lauinen ihre Verheerungen an. Sie überfallen den Wandrer. Sie dämmen und schwellen Strome. Sie verschütten ganze Ortschaften. Sie reissen Häuser, Gärten, Wälder, Menschen und Vieh mit sich in Abgründe. Sie zerschmettern, was sie berühren. So schrecklich, wie die Gewalt der Schneesturze, so wunderbar ist zuweilen die Rettung der Menschen dabei. Einer meiner Freunde, Herr Landammann Hitz, erzählte mir folgende, als ich ihn im Schmelzboden, einem Hüttenwerk im Zehngerichtenbunde besuchte. Er wohnte da in einem schmalen Thalgrund zwischen steilen himmelhohen Bergen, der Raum zwischen denselben war von dem Wohngebäude, einem Garten davor, und einem breiten Waldstrom hinter demselben ausgefüllt. Vom Strom erhebt sich eine jähe hocherhabne Felswand, von der ein Bach stäubend zur Tiefe niedcrschwebt. Droben geht an der Wand ein 5 Fuß breiter Weg, ins Gestein eingehauen, von einem Dorfe zu einem andern; über den Bach aber eine Brücke von zusammengelegten rohen Baumstämmen, die, von unten gesehn, dort in schwindlichter Hohe, Strohhalmen gleichen. Diesen Weg am Berge, der von den da herrschenden Lauinen- zügen den Namen der Züga trägt, wanderte zur Winterszeit ein armes Botenweib, den Lastkorb aus dem Rücken. Plötzlich ward die Unglückliche droben von dichtem Schneegestöber und Sturmwind überfallen. Sie blieb stehn; sie sah nichts mehr vor sich; sie konnte kaum athmen; sie fühlte den Boden nicht mehr unter ihren Füßen. Als der Windstoß vorüber war, fand sie sich vom feinen Schneestaub bedeckt. Sie arbeitete sich daraus an die Luft hervor und sah sich mit Erstaunen und Verdruß neben dem Garten des Schmelzbodens. Mit einer Lauine hatte sie die entsetzliche Luftfahrt von der Höhe ins Thal gemacht, ohne im mindesten beschädigt zu seyn. Sie schüttelte murrend den Schnee aus ihren Röcken; kehrte beim Landammann ein und forderte ein Glas Branntewein zu ihrer Stärkung, indem sie .nur ihr Mißgeschick beklagte, den gleichen, weiten Weg noch einmal machen zu sollen. Das ist die Allmacht der Gewohnheit. Furchtlos baut der Aelpler, hat er im Unglück nur das Leben gerettet, die zerstörte Hütte wieder an dieselbe Stätte hin, wo sie vorher von der Lauine vernichtet war; wie der Sicilianer, wenn Aschenregen und Lavagluten sein kleines Besitzthnm am Fuße des Aetna zerstören. z 36 4. Die Kapelle bei Trans. Van Selva nieder in das erweiterte Thalgelände gelangt man, nach 4 bis 5 Wegstunden, zum Dorfe Trons. Im Schatten eines mehrhundertjährigcn Ahvrnbaumes ruht, vor dem Dorfe, eine Kapelle , der heil. Anna geweiht. Rings umher prangt die landschaftliche Natur in so mildem Liebreiz und so feierlicher Größe, wie in wenigen andern Schweizergegenden. Das Thal, welches sich in grünen Absätzen links und rechts zu den Bergen aufftufet, ist ein malerischer Wechsel von kleinen Gebüschen, Wiesen, Dörfern, Ruinen, verstreuten Hütten und einzelnen Hirscfeldern zwischen Kirschbäumen. Der junge Rhein schmiegt sich freundlich um den Fuß des Gcbirgs, welches ihm kleine Bäche sendet, seinen Wasserschatz zu mehren. Die Gipfel der Alpen vcrschweben in den Lüften des Himmels; aber die Berghänge sind mit dunkeln Waldgruppen besprengt, zwischen welchen sich der hellgrüne Sammet der Wiesen ausdehnt. Nur durch die benachbarten Alpenhöhen strahlen aus hohen Fernen noch die Silbcrpyramiden der Gletscher hervor, oder aus dem erhabnen Hintergrund des weiten Gemäldes. Und doch sind jene Kapelle und jener Ahorn dem Wanderer das Bedeutsamste. Hier ist das Grütli der Granbünducr! Im Schatten des Ahorns, dessen alter Stamm nun hohl, dessen Zweige meistens verdorrt sind, schworen die Männer des grauen Bundes vor vierhundert Jahren den ersten Schwur des ewigen Bundes und der ewigen Freiheit. Heilige Sinnsprüche aus Gottes Worte, mit Goldschrist, in der Vorhalle der Capclle, an der gestirnten Decke geschrieben, erinnern den Vorübcrwandelnden daran: In libertu- isin vooati vstis. — II ki 8piritu8 Domini, iki Istbortus. — In te spornverunt Uutro8. — 8peruverunt ot Iit»6ra8ti eo8." — (Wo der Geist des Herrn, da ist Freiheit. — Auf dich hofften die Vater. — Sie hofften und du hast sie befreit.) Kann man das Wahre in erhabnere Einfalt verkünden? Man hat vom Ursprung der Schweizcrfreiheit oft sehr irrige Vorstellungen. Viele bilden sich ein, wenn sie die Geschichten vom Wilhelm Tell, von den Männern im Grütli, oder den drei Ur- kantonen hören, diesen hätte das ganze Schwcizerland die Freiheit zu danken. Die Einwohner von Uri, Schwyz und Unterwalden waren längst schon vor Wilhelm Tell unabhängige, freie Leute, mit eigenen 37 Verfassungen und Gesetzen gewesen. Sie gehörten mir zum allgemeinen Verband des damaligen deutschen Reichs und stellten ein uraltes Recht gegen rohe Gewaltthätigkeiten der ihnen gesetzten Reichsvögte wieder her. Sie dachten dabei durchaus nicht an die übrigen Gauen Helveticas; wußten kaum viel von ihnen. Andre Landschaften, andre Städte, kauften sich einzeln und nach und nach von den Rechten ihrer Grafen und Herren los. Der größte Theil der schweizerischen Bevölkerung, blieb aber freiheitloses, dienstbares Volk dieser einzelnen Städte und kleinen gebietenden Landschaften; büßte wohl sogar noch durch die wachsende Macht der Städte von althergebrachten Rechtsamcn ein. Der Zustand dauerte bis Ende des vorigen Jahrhunderts fort. Unterthanen Oesterreichs und Preußens waren von jeher weit freier und bencidenswürdigcr, als Unterthanen oder »Angehörige" der herrschenden Schweizerstädte; wie denn überhaupt jede Aristokratie feindseliger gegen bürgerliche Freiheit des übrigen Volks ist, als eine Monarchie. Wie in Uri, Schwyz und Untcrwalden, entfesselten sich auch die übrigen demokratischen Kantone der Schweiz, um die Andern wenig bekümmert, nach und nach, von den Oberherrlichkeiten der Grafen, Freiherren und Aebtc. So geschah auch in Bünden. Hier nistete vor einem halben Jahrtausend, in dem weitläufti- gcn Irrgarten der Gebirgsthäler eine Menge Baronen, Grafen und Edle, neben unabhängigen Gemeinden; alle durch einander, allein ewigen Fehden. Der Bischof von Chur war der Mächtigste, der Reichste an Nechtsamen, der Papst des rhätischen Hochlandes. Unsicherheit Aller bewirkte endlich, durch Nothzwang, den Verein oder Bund sämmtlicher Herrschaften und Thäler, von den Gebirgen des Engadins und Domleschgs herab, bis Chur. Die Herren gelobten den Gemeinden, sie bei ihren hergebrachten Rechten zu ehren, und diese ihrerseits versprachen, die Oberherren nicht in den ihrigen zu kränken. So entstand dort der sogenannte Gotteshausbund der freien Thäler und Herrschaften, am Ende des vierzehnten Jahrhunderts. Er trug den Namen vom Gotteshaus Chur. Erst später bildete sich wieder ein ähnliches Bündniß unter den Herrschaften und Gemeinden im sogenannten Oberlande, von den Quellen des Vorder-, Mittel- und Hinterrheins hinweg bis zum Zusammenfluß dieser Ströme bei Reichenau. Die Gotteshäuser Chur und Disentis hatten auch hier sehr »«göttliches Spiel getrieben; nicht minder die Grafen von Werdenberg, Sax, die Freiherren von Rhäzüns u. a. m. Das Volk duldete es nicht länger. Im Scham ser-Thale hatte man schon angefangen die Werden- berger Vogte zu erschlagen und ihre Burgen zu verbrennen. Entschlossene Männer des weiten Gebirgs versammelten sich endlich zu gemeinsamer Berathung nächtlicher Weile im Walde bei Trons. Glücklicherweise war der damalige Abt von Disentis, Peter von Pultinga, ein ebenso kluger, als redlicher Mann. Er half mit Rath und Ansehn dem Volk. Boten aller Thäler gingen darauf an die Herrschaften im Lande, welche mit Furcht die unruhige Bewegung im Gebirg bemerkten. Man unterhandelte endlich; und in der Mitte des Märzmondes 1424 traten der Abt von Disentis, die Grafen von Werdenberg und Sax, die Freiherren von Nhäzüns mit den Vorstehern und Aeltestcn des Volks zu Trons unter dem Ahorn zusammen. Hier schworen sie ihren Bund ewigen Friedens, gegenseitigen Beistandes in der Noth und gegenseitiger Ehrfurcht für Eigenthum und Rechte, und Übungen der Hohen und Niedern. So entstand der obere Bund des rhätischen Landes, oder der graue (vielleicht Graven- oder Grafen-) Bund. Erst später fügte sich der übrige, gegen Schwaben und Tyrol gelegne Theil Hohenrhätiens in einen dritten, ähnlichen Bund zusammen, genannt der der Zehngerichte. Und erst im Jahr 1471 verbanden sich jene drei wieder zu einem einzigen, allgemeinen und ewigen Verein der drei Bünde im Hohenrhätien. So formte sich, ohne Rücksicht auf die schweizerische Eidsgenos- senschaft, eine zweite Eidsgenossenschaft im rhätischen Hochlande. Und weil damals jedes Dorf, jedes Thal, jede Herrschaft durch freiwilligen Eintritt in die Conföderation gar nichts anders beab- sichtete, als nur eigne hergebrachte Freiheiten und Rechte für alle Zukunft sicher zu stellen, erstarrten in der ewigen Bundcsform zuletzt alle jene Verhältnisse des gesellschaftlichen Zustandes, und blieben sie bis zu unsern Tagen, wie sie im fünfzehnten Jahrhundert beschaffen gewesen waren. Aber von einer solchen Staaten-Ollapotrida ein klares Bild zur Schau zu geben, ist keine ganz leichte Aufgabe. Selbst der Schweizerbund, in den Zeiten seiner verworrensten Mengung von Kantonen, zugewandten Orten und gemeineidsgenössischen Vogteien oder unterthänigen Gebieten, hatte mehr Einfachheit. Als Grundlage des ganzen politischen Labyrinths war wohl die Wahrheit: Ein Mensch ist von Natur, und vor Gott, soviel als der Andre, oder: vollkommene staatsbürgerliche Rechtsgleichheit. Adlich oder unadlich, arm oder reich, jeder gilt im Staat als Staatsbürger. Unterschied von Naturgabcn und Glücksgütern, kann nur Verschiedenheit in der Größe des Eigenthums und Wirkungs- 39 krciscs, aber keine Ungleichheit in den Rechten hervorbringen, die der Mensch, als Mensch und Staatsmitglied, hat. Talent, Einsicht, Vermögen, sind Privat-Eigenthum; der Staat ist Gemein- Eigenthum Aller. Die erste Wirkung von diesem Grundsatz des einfachen Menschenverstandes ward die Freiheit jedes Einzelnen, seine Kräfte und Besitzungen nach eignem Gutdünken zu gebrauchen, nur nicht zum Nachtheil des Nächsten, weil Jeder dasselbe Recht, wie der Andere, hat. Der Hausvater mit seiner Familie steht, auf eigner Scholle Landes, eigenmächtig, als Freiherr; hat keines Andern Befehlen zu gehorchen, als dessen, den er selber zum Vorsteher oder Richter wählt und seiner Zeit wieder absetzen kann; er hat keine andern Gesetze zu erfüllen, keine Abgaben zu zahlen, als zu denen er selbst seine Stimme gab, oder welche den Beifall der Mehrheit seiner Mitbürger haben. Selbst den Lehrer der Schule, selbst den Pfarrer seines Orts zu wählen, oder des Amts zu entlassen, steht dem freien Mann, in Gemeinschaft der übrigen Ortsbürgcr, zu. Mehrere, in patriarchalischer Selbstständigkeit lebende Familien des Landes, wohnen nun entweder in einem Dorfe, oder in zerstreuten Hütten der Thäler und Berge, als Nachbarschaft, beisammen. Sie besitzen, noch von den Vätern her, viel unge- theiltes Gemeingut von Wiesen, Wäldern und Alpen, daran jeder Genoß der Gemeinde Genuß hat. Alle Genossen sind Gesetzgeber in ihrem Gemeinwesen; niemand sonst hat sich darin zu mischen. Sie ernennen ihre Vorsteher, Verwalter und Geschwornen oder "Girau's" und deren Haupt, welches sie Dorfmeister, Werkmeister oder (romanisch) Cuvig heißen. Selbstherrlich auf dem heimathlichen Gebiete schaltend, kann die Gemeinde mit hergebrachten Rechtsamcn dem ganzen Bundesstaat widersprechen und widersteh». Oft bildet solch ein einzelnes Dorf, oder eine einzelne Thalschaft, oder Nachbarschaft, eine sogenannte Gemeinde, oder ein Gericht, das heißt, schon einen eignen Freistaat. Oester noch sind mehrere Ortschaften zu solchen verbunden. Dieser kleine Staat hält seine eigne Landsgemeinde; sendet seinen eignen Abgeordneten, oder Stellvertreter zur Bundesversammlung ab, in allgemeinen Staatsangelegenheiten mit zu sprechen; besitzt seine eigne Regierung von mehrern Rathsherren, und mit einem Ammann oder "Maftrol" an der Spitze; eben so sein eignes Civil-Gericht, von welchem, im Zehngerichtenbundx, nicht 40 einmal Appellation an eine höhere Behörde statt findet. Die Landsgemeinde ist der Souverän der kleinen Republik; jeder Bürger, der das vierzehnte oder sechzehnte Jahr zurückgelegt hat, ist stimmfähig. Sein Recht stammt aus der Pflicht, in Tagen des Kriegs, das Vaterland vertheidigen zu helfen. Der Knabe lernt da die öffentlichen Geschäfte kennen, welche so großen Einfluß auf die Verhältnisse jedes Hauses haben. Und wirklich pflanzt nichts tiefere Liebe des Vaterlandes, als diese Vertrautheit mit dem Leben desselben. Das Hans gehört zur Republik, und darum die Republik zum Hause. Vier, fünf, oft weniger dieser Republiken, zu einem kleinen Bundesstaat verknüpft, heissen ein Hochgericht, ohne Zweifel vpm Hoheitsrecht ihrer gemeinsamen richterlichen Behörde, nicht nur bei bürgerlichen Rechtshändeln, als erste Instanz, zu entscheiden, (wie im Gotteshaus - und grauem Bund) sondern auch in Criminalfällen über Leben, Ehre, Freiheit und Gut des strafbaren Bürgers, oder Fremdlings, Urtheil zu fällen. Das Hochgericht ist ein in sich abgeschlossener Staat; mit andern Hochgerichten des Bundes nur durch den ursprünglichen Bundesvertrag, oder Bundesbrief, im Zusammenhang; hat, unabhängig und von den übrigen verschieden, Verfassung, Gesetzgebung und Regierung für sich. Das Haupt der Republik ist ein Land- ammann; der Souverän aber die Landcsgemeinde von sämmtlichen Bürgern der Gemeinden. Der Landammann oder Landvogt, oder Podesta, ist der Repräsentant des Staats an Bundestagen; gewöhnlich Vorsteher der meisten obern Behörden, und zugleich Rathgeber, Friedensstifter, Vermittler in allen zwi- stigen Haushaltungen, die sich an ihn wenden wollen. Er ist also kein unwichtiger Mann; führt auch amtlich den vielsagenden Titel "Zhro Weisheit", ein Mittel, ihn beiläufig an das zu mahnen, was man von ihm erwartet. Graubünden besteht noch gegenwärtig aus nicht weniger, als sechs und zwanzig solcher selbstherrlichen Freistaaten, die jedoch in allgemeinen Bundesgeschäften, wie in Angelegenheiten schweizerischer Eidsgenossenschaft, ungleiches Stimmenrecht besitzen. Manche haben nur eine, manche drei und vier Stimmen. Auch sind nicht Alle mit Allen wieder durch gleiches Band verknüpft; sondern sieben derselben, oder acht, oder eilf haben sich zu einem eignen Bund zusammengeflochten. Jeder Bund hat wieder seinen besondern Bundestag mit besondern, grundgesetzlich bestimmten Befugnissen; ein eignes Bundes Haupt, (im Gotteshausbund 41 wird er Dundespräsidcnt, im Oberbund Landrichter, im Zehn- gcrichtenbund Bundeslandammann geheißen). Vormals stand jeder einzelne dieser Bünde nicht nur für sich in Verträgen mit auswärtigen Staaten, oder schweizerischen Kantonen, sondern konnte für sich selber Kriege anheben und Frieden schließen. Erst im Jahr 1471 verbanden sich, auf einem Tag zu Va- zerol, diese drei größer» Bundesstaatcn Rhätiens zu dem allgemeinen Staatsvercin »gemeiner Bünde», doch mit Vorbehalt der eigenthümlichen Verfassungen, Ordnungen und Rcchtsamcn in allen Hochgerichten und Gemeinden. Ihr gemeinsamer Verband beruhte ohngefähr anf denselben Grundsätzen, wie derjenige, der schweizerischen Eidsgenossenschaft gegen das Ausland, als Eins, zu stehen; innere Zerwürfnisse aber unter den Bünden friedlich zu schlichten. Aus den drei Bundeshäuptcrn ward die Gesammt- regierung, aus den Boten der Hochgerichte und Gemeinden, die Bundesversammlung des GesammtstaateS zusammengesetzt. Die Regierung saß aber nicht immer beisammen; zuweilen hielt sie, mit Zuzug einiger Deputirten aus jedem Bund, Congreffe. Die Bundesversammlungen wurden jährlich abwechselnd in einem der drei Bünde gehalten; in dringenden Fällen noch sogenannte Beitage; unter außerordentlichen Umständen auch sogenannte Stau. desversammlungen. Doch weder Bundestage, noch Bundes - und Standesversammlungen konnten vollmächtig aus sich über Staatsangelegenheiten entscheiden, oder Gesetze geben: das Ergebniß ihrer Berathungen mußte jedesmal dem Landesfürsten, das ist den Gemeinden und Hochgerichten zur Genehmigung oder Verwerfung vorgelegt werden. Die Mehrheit der Stimmen, (das Mehren) entschied dann. Dies vielverstrickte Flechtwcrk einer Menge von kleinen, unter sich sehr verschiedenartigen Republiken, mußte, wie mau sich leicht vorstellen kann, den Gang der öffentlichen Geschäfte nicht nur schwerfällig und schleppend, sondern auch hin und her schwankend machen. In blinder Vorliebe für persönliche und Ortsfreiheit, ward diese durch sich selbst auf den engen Raum einer Gemeinde beschränkt. Die Kraft des GesammtstaateS lag versplittert, und jedes dem Ganzen erspriesliche Unternehmen mußte am Interesse einzelner Personen und Gemeinden scheitern. DerBünd- ner war in Bünden selbst ein Fremder, sobald er in einer andern, als seiner heimathlichen Gemeinde, erschien. Die Regierung hatte weder Kräfte noch Mittel, wirksam zu seyn. Über die weisesten Anträge der Bundesversammlungen entschied Eigennutz und Un- 42 wissenheit der Landsgemeinden, oder vielmehr das Interesse einflußreicher Volksführer. Nichts befand sich daher immer in diesem politischen Wirrwarr behaglicher, als die Intrigue. Sie fand überall krumme Wege zu ihrem Ziel, und wenn ihr Spiel verunglückte, Schlupfwinkel zum gefahrlosen Rückzug. An Partheien und Factionen der ehrgeizigen oder habsüchtigen Volksmänner fehlte es auch nie; besonders in jenen Zeiten, da Italien der Schauplatz ewiger Händel und Kriege zwischen Oesterreich, Spanien, Frankreich, Venedig und dem Pabst, — Graubünden aber, wegen seiner Gebirgspässe, bestechlichen Beamten und tapfern Sölduerschaarcn, ein Gegenstand von hoher Wichtigkeit für die nebenbuhlerischcn Mächte war. Dies Unwesen, Jahrhunderte lang getrieben, vernichtete zulezt nothwendig die politische Sittlichkeit der Gebirgsbewohner. Das Volk in den Gemeinden verkaufte die öffentlichen Aemter dem, der das meiste dafür bot; und der Käufer entschädigte sich in seinem Amt wieder in den Unterthanen - Provinzen durch Erpressungen und Schlechtigkeiten aller Art, oder indem er sich dem Meistbietenden der auswärtigen Höfe, als Werkzeug, verkaufte. Die Geschichte Graubündens ist, vom Anfang des sechszehn- ten bis Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts, eine fast ununterbrochene Kette von Partheikämpfen, Verschwörungen, Volksaufständen und bürgerlichen Unruhen. Es spielen darin eben so glänzende Tugenden, als furchtbare Verbrechen ihre Rolle. Eben darum scheuten sich viele Kantone der Schweiz, mit diesem Hochlande in engere Verbindung zu treten. Noch im Jahr 1701 baten die Bündner um fester» Verein mit der Schweiz; aber diese lehnten es ab, und begnügten sich, sie als "zugewandten Ort" zu behalten. Charakterisch ist das Doppelgemälde, welches in der Vorhalle der St. Annenkapelle unter dem Ahorn von Trons, vom ersten Bundesschwur daselbst, und von der prunkvollen Erneuerung desselben im Jahr 1778, angebracht ist. Andre Zeiten, andre Sitten. Neben der Mannhaftigkeit und Erssalt der Altvordern die geckenhafte Ziererei und Verfranzöselung der Spätlinge. Im ältern Bilde erblickt man mit zum Himmel erhabner Reckte, unter dem Ahorn, schwörend den Abt von Disentis im Or- deuskleide; — den Grafen von Sar, mit weißem Barte, der zum Gürtel reicht, und rundgeschnittnem grauen Haupthaar; er stämmt sich, in edler, kräftiger Haltung, auf seinen Knotenstab; an der Hüfte links hängt sein treues Schlachtschwerdt, rechts » 43 sein Ranze! mit Lebensmitteln. Auf der andern Seite des Abts steht der Herr von Rhäzüns, schlicht und einfach wie der Graf. Bewaffnete Männer zeigen sich hinter diesen dreien. Damals trugen noch die Abgeordneten zum Bundestage, ihren Mundvorrath in Ränzeln mit sich. Noch rinnt, vhnweit der Kapelle, in der Wiese von Tavanosa der Quell, an welchem sich die Bundesboten im Grase zu lagern pflegten, um ihr Mahl zu halten; und noch zeigt man, inmitten des grünen Rasens, den Fels daneben, in dessen Spalte lange Nägel geschlagen sind, an welchen sie ihre Vorrathssäcke aufzuhängen pflegten. Im neuern Bilde schwören zierliche Herren des vorigen Jahrhunderts, steif frisirt und gepudert; —alle in den besten Bratenrocken, mit Manschetten, gestickten Westen, Uhrberlocken, kurzen Hosen, seidnen Strümpfen, ein Spazicrstöckchen in der Hand. Die Ränzel fehlen. Die Herren speiseten zu Trons im Hause des Abtes, und in einem Saal, geschmückt von dem Wappenschilde aller Gemeinden und Herren Landrichter. Das Kloster Disentis. Stolz und großartig steigt am Abhang seines Hügels das älteste Kloster der rhätischen Hochalpen auf. Demüthig lagern sich zu seinen Füßen die niedern Hütten des Dörfleins Disentis, oder Mustär, wie es romanisch (von Monasterium) heißt. Ein kleiner Bach, Magriel, fließt am Dorfe vorüber, der Tiefe des schönen Thales zu, wo der Rhein sich zwischen jähen Ufern ein Bett eingewühlt hat. In den stillen Gefilden sieht man einzelne Heuställe mit ihren Rescanen oder Trocken - Leitern. Die Ansicht der Landschaft ist vom Standpunkt eines Kirchleins beim alten Schlosse Castelberg genommen, den Blick thalaufwärts gerichtet. Ich erinnere mich kaum eines prachtvollern Schauspiels, als jenes Scmmertages, da links und rechts vor mir bis zu den Firnen , die majestätischen Bergcolossen in Reih und Glied, gleich zwei Heeren, einander gegenüberstanden; droben aber, zwischen ihren Helmen von Eis und Fels, Sonnenstrahlen in neblichten Dünsten breite Lichtstreifen zum Thal niedergossen. Alles prangte in wunderbarer Verklarung. Es schien, als wären ätherische Glanzstraßen 4! durch die Lüste, von der Tiefe der Erdcuwelt zum Himmel gezogen, und an die hohen Gebirge gelehnt. Wie winzig stellte sich in dieser Glorie der Natur, unter diesen Umgebungen, die alle das Gepräge der Uncrmeßlichkcit trugen, jener Mönchspallast hin! Nürnberger Tandz Schnitzwerk menschlicher Eitelkeit! Inmitten so erhabner Gebilde müssen selbst Aegyptens Pyramiden kleinlich verschwinden. Pharaonen - Werk ist nur in einer Wüste des Sandmeers groß. Weit harmonischer mit den riesigen Gestaltungen der Berge, mit diesen Streiflichtern und Abgründen, dünkten mich die armen, ländlichen Hütten im Thal und am Gcbirg da zu liegen, wie Bilder menschlicher Demuth im Schooße göttlicher Größe und Macht. An der Stelle der Benediktiner-Abtei Disentis befand sich vor Jahrhunderten nur eine Bethütte frommer Einsiedler. Alte Urkunden bezeichneten sie, als eine Zelle bei einer Höhle (vella udi «peluncs äst). Abergläubige Gottesfurcht der folgenden Zeitalter, oder vielmehr Politik der Mönche, welche die andächtige Unwissenheit des Volks wohl auszubeuten verstand, verwandelte die Bethütte zum Pallast, den Einsiedler zum fürstlichen Abt. Er spielte in den alten Fehden und Kriegen des Hochlandes eine Hauptrolle, wie nachmals in den blutigen Religionshändeln und bürgerlichen Unruhen der Bündner. Doch gewann das Kloster wenig dabei. Bei übler Haushaltung und unter allseitigen Feindseligkeiten, verarmte das Gotteshaus wieder. Es verkaufte die meisten seiner Rechtsame den Gemeinden. Mit den Reichthümern verlor der Abt Einfluß und Bedeutsamkeit. Das jetzige Gebäude der Abtei ist erst im Laufe dieses Jahrhunderts neu aufgeführt worden, denn im Jahre 1799 war es durch blinde Rache des französischen Kriegsvolks den Flammen geopfert. Damals, wie bekannt, hatte sich Frankreich völkerrechtsmörderisch der ganzen Schweiz bemächtigt, welche, bei aller Tapferkeit ihres Volks, durch Unfähigkeit, Eifersucht uud Zusammenhangslvsigkeit ihrer kleinen, aristokratischen Regierungen, zerfallen in sich, und wehrlos, dalag. Auch Graubünden war zu jener Zeit durch politische Partheien zerrissen. Eingeladen, sich mit der helvetischen Republik zu vereinigen, erklärte eine Parthei dazu Geneigtheit, doch nur bedingt und daß kein französisches Heer den Bündner Boden betreten solle; die Gegenparthei hinwieder verwarf den Antrag uud wollte den Freistaat unter Oesterreichs Schutz stellen. Die Letztere gewann Oberhand ; aber ohne Vermissen und Willen des souveränen Volks > der Hochgerichte und Gemeinden, wurden österreichische Trupven, unter 45 Anführung des Generals Auffenberg, am 19 Oktober 1798,aus dem Vorarlberger Lande, durch den Engpaß des Luziensteiges, nach Bünden gezogen. Als, vier Monate spater, Frankreich und Oesterreich den Krieg von neuem eröffneten, und Auffenbergs Truppen von den französischen Feldherren aus Bünden vertrieben wurden, besetzten diese das Hochland, vom Fuß des Gotthard und Crispalt bis zu den Gränzen Deutschlands. Das Volk der rauhen Bergthäler sah mit Entsetzen und stolzem Grimm die kriegerischen Fremdlinge in seinen Hütten. Unbekannt mit deren Sprache, Sitte, Kriegskunst und Macht, schien es ein Leichtes, dieselben wieder zu vertreiben. Man gedachte nur der Tapferkeit und Freiheitsliebe der Altvordern. Todesfurcht kannte Keiner. Mühsam hielt man die Wuth der Bergbewohner zurück, bis von Seiten der österreichischen Heerhaufen ein allgemeiner Angriff gegen die Franzosen erfolgen würde. St. Julien, Oberst des österreichischen Regiments Neuge- bauer, ließ endlich seine Vertrauten in Bünden benachrichtigen, der Angriff werde am 1 May 17b9 gethan werden. Er selber leitete wirklich denselben am genannten Tage, von Balzers gegen den St. Luziensteig; wurde aber zurückgeschlagen. Zu spät vernahm man in den Winkeln des Gebirgs sein Unglück. Dort war schon zum Aufbruch, vom Lukmaincr, Sixmadaun und Crispalt her, der Landsturm mit Ungeduld gerüstet. Jn Ciamut, dem letzten und höchsten Dorflein des Tawet- scherthals gegen Uri, trat zuerst die Mannschaft hervor, buntbewaffnet ; Kreuz und Fahne voran. Wie ein Waldstrom riß sie, von Dorf zu Dorf, Alles mit sich, was eine Waffe führen konnte. So gelangte sie nach Sedrun, dem Hauptort des wilden Hochthals, welches mit seinen Viehweiden, Flachsfeldern und kleinen Haberund Gemüse-Aeckern noch fünftehalb tausend Fuß über dem Mittelmeer erhaben liegt. Hier befand sich, als äußerster Posten auf dem Gebirg, ein französischer Offizier mit einer kleinen Abtheilung seiner Compagnie. Die letztere lag, zwei Stunden davon entfernt, in Disentis. Ersaß sorglos mit den Seinen am Mittagsmahl, als plötzlich das Haus umringt und er von der bewaffneten Menge aufgefordert ward, sich gefangen zu geben. Widerstand ward unmöglich und nicht versucht. Die übermannten Krieger gaben ihre Waffen ab und wurden gegen Disentis mitgeführt, wohin der lärmende Zug ging. Ihres Lebens ward geschont, indem mau noch glücklich genug die Mordlust einzelner Männer von Rueras abwehrte, eines einsamen Dörfleins in der hohen Wilde des Gebirgs. Als Nachmittags der Zug des Landsturms Disentis erreicht hatte, stand hier der französische Hauptmann schlagfertig. Die Unterhandlungen dauerten nicht lange. Einzelne Flintenschüsse und das furchtbare Gebrüll der Volkshaufen unterbrachen die Reden der Anführer. Von beiden Seiten wurden im Kampfe mehrere gelobtet und verwundet. Unter dem Geheul der Sturmglocken sammelte sich von allen Bergen her des Volks immer mehr, bis die kleine französische Schaar, beim Anblick des unvermeidlichen Untergangs, allem Widerstand entsagte. Sie ward gefangen, entwaffnet und über Nacht im Rathhaus bewacht. Andern Morgens sollten die wehrlosen Kn'egsleute weiter geführt werden, in der Richtung des Landsturms gegen Ch u r. Kaum aber waren sie aus dem Rathhause hervorgetreten auf den freien Platz, erhob sich ein wildes Geschrei. Man wollte von keinem gegebenen Ehrenwort mehr und von keiner Schonung des Lebens hören. Die wilden, blutdürstigen Nachbarn des Lukmainer, baumstarke Männer, groß, knochigt, von der Sonne braungebrannt, schwangen ihre Gewehre und Keulen. Ihrem Beispiel folgten die Tawetscher. In dem Getümmel erschienen einige der ehrwürdigsten Geistlichen des Klosters, und erhoben ihre Stimmen, die Rasenden an die heiligen Pflichten der Menschlichkeit zu mahnen. Der greise Dekan der Abtei selbst, Basilius Voith, begleitet vom Pater Domenico und dem Pfarrer von Sedrun, Vigilius Wen; ein, schrie vergebens um Gnade. Die Priester warfen sich gegen die eindringenden, schon zum Theil vom Branntewein berauschten Bauern auf die Knieen nieder und erhoben flehend ihre Hände für das Leben der Gefangnen. Einige der Landleute fühlten sich durch die bittende Stellung der Geistlichen vorübergehend bewegt, und hießen dem Zug der Soldaten und des Volks, sich vorwärts bewegen; andre schwangen ihre Schwerdtklingen und Kolben selbst gegen die knieenden Priester. Kaum war die verworrene Menge der Tobenden, und in ihrer Mitte die französische Schaar, wenige Schritte außerhalb dem Dorfe gekommen, schienen einige der Soldaten, die seitwärts den Ihrigen gingen, Heil in der Flucht versuchen zu wollen, oder dieses Vorsatzes verdächtig zu seyn. Plötzlich stieg entsetzliches Geschrei, vermischt mit Flintenschüssen zum Himmel. Alles stürzte mordsnch- tig auf die Gefangenen ein. Sie wurden insgesammt erschossen, erschlagen, durchbohrt, zerschmettert, verstümmelt. Nachdem die 47 blutigen Leichen ausgeplündert waren, setzten die berauschten Rotten ihren Weg gegen das Dorf Tavanosa fort, zur Pfarrei DanLs gehörig, wo eine Brücke über den Rhein führt. Bei dieser Brücke sah man die Blutspuren und die Todten eines mörderischen Gefechtes, welches erst geliefert worden war. Hier hatte schon der Landsturm, welcher von den Bergen des Brigelser Thals und den Umgebungen des Glenuerstroms dahergekommen war, eine Compagnie französischer Grenadiers überrascht und umzingelt. Aber mit gefälltem Bajonet hatte sich diese unerschrockne kleine Schaar Bahn durch die wilden Schwärme gebrochen, und Schritt um Schritt kämpfend, ihren Rückzug gegen Chur fortgesetzt. Dahin folgten ihr die vereinten Landstürme des Oberlandes, angewachsen zu Tausenden in ihrem weitem Zuge, wie Lauinen des Gebirgs. Dort aber fanden sie ihre Zerstörung. Einige Compagnien französischen Fußvolks und Reiterei reichten hin, die zügel- und regellosen Banden in der Nähe von den Gärten der Hauptstadt und den Wiesen von Ems zu zersprengen. Es war kein Kampf; nur ein allgemeines Niedermetzeln der umherstüchtenden Bauern. Niemand hat die Menge der Todten und Verwundeten zählen mögen. Wochenlang nachher fand man noch in Bergen und Wäldern der Nachbarschaft die Leichname derer, die aus dem Blutbade dahin entronnen und verlassen gestorben waren. Aber dies schien dem französischen Heer ein noch zu geringes Sühnopfer für die Schatten jener Unglücklichen, welche bei Disentis grausam ermordet worden waren. Schlachthaufen, von Rache brennend , zogen hinauf in das Gebirg des Oberlandes. Oisentis wurde besetzt; das Dorf, die Abtei geplündert; Geld, Geldeswerth, Vieh geraubt; dann das Kloster angezündet und in Asche gelegt. Ein Theil des Dorfes loderte mit auf. Als man dem französischen General Suchet, der zu Chur, im sogenannten alten Gebäu, Hauptquartier hielt, eines Tages diese Härte vorwarf, zeigte er, statt der Antwort, eine Menge durchstochner und blutiger Uniformen der Franzosen vor, die man beim»Verfolgen der gesprengten Landstürme, in einer katholischen Kirche des Oberlandes gefunden hatte, und welche da, wie Meßgewänder, zur Schau aufgehangen gewesen waren. 48 6 . Die Stadt (Lhur. Zu den Füßen eines waldigen Gebirgs, vor einer Thalschlucht, aus welcher der Bergstrom der Plessur hervorrauscht, lagert sich die uralte Hauptstadt des rhätischen Bundesstaats. Wenn sie auch ihren Namen (6uria li-Iraetorum) erst im vierten Jahrhundert unsrer Zeitrechnung empfangen haben mag, war sie gewiß doch schon Jahrhunderte früher eine römische Feste zur Bewachung des Landes. Noch ragen auf den Hügeln die hohen Trümmer zweie? Wartthürme, von Epheu - Ranken umsponnen, Marsöl und Spinöl (Mars in ooul,8, 8j)ina in vculis) genannt. Im fünften Jahrhundert war auch schon der Sitz eines Bisthums da. Die Ansicht der Stadt und ihrer großartigen Umgebung ist von einem Fußwege genommen, welcher auf der Höhe, hinter dem Kloster St. Luzi, ins Thal von Schanfik führt. Rechts das Kloster im Vorgrund mit seiner Kirche, umgeben von jener wunderbaren romantischwilden Pracht und Größe, welche der eigenthümliche Charakter bündnischer Landschaften ist. Im Hintergründe breitet sich, auf der andern Thalseite, der Gebirgsstock des hohen Galanda aus, den der junge Rhein bespült. Aus der Ferne strahlt das Silberlicht der Gletscher. Die Stadt selbst, nur von 4 — 5000 Seelen bewohnt, trägt zwar noch in ihren Gemeindscinrichtungen, wie in der Bauart ihrer Häuser und engen, winkelreichen Gassen, ein ziemlich unverwisch- liches Gepräge mittelaltcrischer Reichsstädterei. Doch viel schon des Veralteten und Geschmacklosen, was die Großväter in ehrbarer Gewohnheit von Großvatern erbten und treu bewahrten, ist in den letzten dreißig Jahren abgestreift worden. Verschönerungen, Bequemlichkeiten und gemeinnützige Einrichtungen verdrängen immerhin die alte Unbehosenheit und Selbstverwahrlosung; und das Alles erst, seit Einverleibung Bündens in den Staatskörper der schweizerischen Eidsgenossenschaft. Nicht aber nur die kleine Hauptstadt des rhätischen Föderativ-Staats, sondern dieser selbst fühlt sich seitdem mehr oder minder von einem andern Geist durchdrungen.— So wahr ist es, daß das Leben in gesellschaftlichen Verbindungen mit Andern, oder auch nur in besserer Gesellschaft, nicht nur auf Charakterbildung einzelner Menschen, sondern auf Civilisation ganzer Völkerschaften den entschiedensten Einfluß übet. 88 « ES 49 Ss lange Bünden nur in geringer Gemeinschaft mit den Eids- genossen stand, und sich mehr im politischen Verkehr mit den auswärtigen grDtri Mächten von Oesterreich, Spanien und Frankreich, oder Venedig, Rom und Sardinien bewegte, war es in geld- dnrstige Partheiungen zerspalten, durch die es in bürgerliche und auswärtige Unruhen verwickelt, und abwechselnd, von dieser oder jener Seite her, betrogen ward. Es glich einem gemietheten Knecht, der, im Dienst seiner Herrschaft, unter den schmutzigsten Verrichtungen, sich selbst vernachläßigte. Jetzt wird für Schulen des Landes, Bibliotheken, große Handelsstraßen, wohlthätige Anstalten gesorgt. Der Kunst- und Ge- werbssteiß regt sich vielseitiger. Man legt Hand an, die verwüstende Gewalt der Bcrgströme zu bändigen, und Verbesserungen des Landbau's einzuführen. Selbst das labyrinthische Staatsgebäu hat schon einige Einfachheit gewonnen. Zwar die uralte Conföderation der sechs und zwanzig freien Gemeinwesen des Gebirgs, mit ihren Hoheitsrcchten und Stimmen besteht noch. Jedes der Hochgerichte hat noch eigne Obrigkeiten, eigne Staatsverfassung, die es selber abändern kann; eigne Repräsentanten im Bunde; eigne souveräne Landsgemeinden, welche über körperliche Gesetze, Staatsverträge und Bündnisse entscheiden, wie sie ihnen von den obersten Kantons-Behörden vorgelegt werden. Aber ein großer Rath, aus Deputierten aller Hochgerichte, berathschlagt zuvor über die Gesetze, Verträge und Bündnisse, ehe sie zu den Gemeinden gelangen; leitet die Vcrwaltungs- und Polizei-Angelegenheiten des Landes; entscheidet den Streit der Gemeinden in ihren politischen Verhältnissen und wacht über die Finanzen des Staats. Ein kleiner Rath hinwieder, von einem Mitgliede aus jedem der drei Bünde, führt, als vollziehende Gewalt, die Regierung; verwaltet das öffentliche Vermögen; beaufsichtigt Rechtspflege, Kirchen-, Schul-, Polizei-, Handels-Angelegenheiten u. s. w. Ein Oberapellationsgericht für Staatsverbrecher , ein Kriminalgericht für Landstreicher und Gauner vereinfachen den vormals äußerst verworrenen Justizgang. Jene alten, händelsüchtigen, feilen, nebenbuhlerischen Factionen sind ausgestor- ben. Von Jahrzehend zu Jahrzehend erschließt sich edleres Leben des Staates und des Volks. II. Kanton Uri. Eine Stadt von kaum mittler Größe beherbergt häufig zahlreichere Bevölkerung, als dieser souveräne Alpenstaat, welcher unter den Urkantonen der Schweiz, als deren erster glänzt. Er bat von einem Ende zum andern, in seinen 20 — 30 Dörfern, kaum 13,000 Einwohner. Und doch wird seines Gebietes Flachenraum auf mehr denn 20 Geviertmeilen geschätzt. Aber weit aus den größer» Theil des Raums bedecken unwirthbare Felsen, Firnen und Gletscher, von 5 —10,000 Fuß Höhe, und, nur im Sommer, den Heerden zugängliche, Alpen. Der Mensch aber wohnt in der Tiefe schmaler Schluchten und Tbalgelände, wo die Gebirge ihre Füße verschränken und den Bergströmen Durchgang gestatten. Von den Quellen der Reuß, auf dem höchsten Uebergangs- punkte des St. Gotthardsberges, zieht sich längs diesem Strome, ein enges Thal zehn Stunden lang abwärts bis zum See der vier Waldstätte, den es noch, ein Paar Stunden weiter hin, gabelförmig mit feinen Uferrändern, wie eine große Bucht, umfaßt, oder vielmehr mit Felswänden und waldigen, wilden Berg- halden ummauert. Vom Hochgebirg der Morgenseite münden sich zwei Bergwasser gegen die Reuß aus: der Schächenbach und Ker- stelen- oder Maderanerbach, die aus dem verschneiten Hintergründe noch engerer Nebenthäler gleiches Namens hervortoben. Gegen den See hin erweitert sich aber das Hauptthal, mit stachen versumpften Ufern auf die Breite einer halben Stunde; von da zurück, den Reußstrom aufwärts, verengert es sich allmälig, bis, nach vier Wegstunden schon, die 8000 Schuh hohe Pyramide des Bristenstoks Alles, selbst jeden Ausweg zu verrammeln scheint. Dort schlangelt sich rechts jedoch durch Gebirgsschluchten die be- WMU »<>> , - > >'' -E-r -N UM HM M MW M8 WKM S. 51 queme, neugebaute Hochstraße zum Gotthard hinauf; links spalten sich die Berge zum Eingang ins Maderanerthal aus einander. Es wäre wohl überflüssig die landschaftlichen Schönheiten dieses kleinen Geländes zu schildern. Man kennt sie aus unzähligen Abbildern: das Grüttli am See, welches den ersten Schwur der Eidsgenossen für ihre bedrängte Freiheit hörte; die Tellen- platte am andern Ufer, wo der kühne Mann, von dem sie den Namen führt, Geßlers Nachen entsprang, und nun zu seinem Gedächtniß eine offne geräumige Kapelle zwischen wehenden Zweigen über den Spiegel des Wassers leuchtet; die Trümmer von Twing-Uri in der Nähe vom Zusammenfluß der Rcuß und des Kerstelcnbachs, im Schatten des hohen Bristcnstoks und der noch höhern Windgelle. Jeder Schritt durch das romantische Thal, zwischen den Reihen der Berge, mit ihren Silbergipfeln, schroffen Felswänden, waldigen Abhängen und grünen Auen, verwandelt die Schaubühne, bringt andre Gemälde. Den Ernst, welchen die Erhabenheit der nahen Alpen einflößen könnte, mildert die idyllische Lieblichkeit der Umgebungen im Thalboden; ein im Gebüsch Verlornes Dorf dort und hier; ein von Epheu umsponnenes Kreuz neben einsamer Kapelle; eine Heerde im umhägten Wie- sengrund; eine baufällige Hütte, die sich an den bemoosten Felsblock lehnt; ein Wald von Fruchtbäumen, durch welchen der Weg zieht; Geräusch der Duellen und Waldbäche, vermengt mit dem melodischen Schcllenklang weidender Heerden und beladner Saumrosse vom Gotthard her oder hin zu ihm; und Glockenklang entfernter Kirchen. Ohne Zweifel könnte das Hauptthal sorgfältiger und reicher angebaut seyn, wenn nicht die Viehzucht den größten Theil des Bodens zu Wiesen in Anspruch nähme, und wenn nicht Herkommen und herkömmliche Unwissenheit viel Gutes verhinderten. Sobald der Frühling die Felder grün kleidet, werden die Heerden ihren Ställen entlassen, hier, wie in den übrigen Hirtenkantonen. Von hundert Einwohnern ist jedoch im Allgemeinen kaum immer nur Einer Eigenthümer von Rindvieh. Schaafe, und besonders Ziegen, sind in größerer Menge, weil sie auch von ärmer» Haushaltungen genährt werden können. Bis der Boden des Thals abgeweidet ist, sprossen an den untern Berghaldcn schon Gras und Kräuter hervor. Die Heerden werden dann hinaufgeführt, und von Staffel zu Staffel des Gebirgs höher, je weiter allmälig der Winter zurückweicht, bis in die höchsten Alpen. Sind diese, während der wärmste» Sommerzeit endlich vollkommen benutzt, kehrt eben so, beim 52 anrückendem Herbst, das Vieh, in die untern Alpen, weidend zurück; nach und nach bis zum Thalboden, um da wieder die Wiesen abzuätzen, welche indessen schon die Scheuren mit Heu gefüllt haben. Wie gesagt, bei gehörigem Anbau des Bodens, würde das Ländchen um Vieles reicher seyn. Himmel und Erdreich sind günstig. Aber weite Strecken der Felder liegen noch wüst da: als „Allmenden" dienen sie zu schlechter, magerer Weide des Viehes, welches jeder Bürger, der desgleichen besitzt, dahin treibt. Der Reichere hat natürlich den größern Nutzen; der Aermere, wie überall in dieser besten Welt, kömmt dabei zu kurz, wird noch ärmer, und natürlicher Weise dann die Plage der Wohlhabendem. Diese müssen ihn, und seinen Müßiggang dazu, am Ende mit Steuern und Almosen nähren, und sie büßen Größeres ein, als sie durch übelrechnende Habsucht gewonnen hatten. Es ist nachgewiesen, daß ein sehr beträchtlicher Theil des Völkchens fast ganz eigenthumslos ist, und daß, ungeachtet es nicht am anbaufähigen Boden mangelt, jährlich über 60,000 Gulden allein nur für Produkte des Landbau's aus dem Kanton gehen, die in ihm selber sehr gut erzeugt werden könnten. Erst im Jahr 1834 hat man angefangen, zur Abwehr größerer Verarmung, einige Verbesserungen einzuführen. Das Reuß-Thal von Uri und die untern Nebenthäler übertreffen sogar an Fruchtbarkeit die benachbarten Gelände von Schwyz und Unterwalden. Denn die sommerliche Wärme, hier von den ungeheuern Felsenbergen links und rechts gegen die Thalebenen zurückgestrahlt, wird brennender; und in den Hochthälern zerrinnt der Schnee früher unter dem Hauch des Frühlings. Freilich, dieser Frühlingshauch, welcher in Uri das Pflanzen- leben schneller erregt und zur Reife führt, kann nicht selten auch Gefahren bringen. Er ist ohne Zweifel der Sohn der afrikanischen Sandwüsten, welcher, über das Mittelmeer gekommen, in Italien den Namen Sirocco empfängt, und in der Schweiz Fön (k's- vonius) geheißen wird. Vermöge seiner Wärme fährt er in den obern Schichten des Luftkreises daher, und in schrägen Richtungen, von Süden nach Norden, in die Thäler der Schweiz nieder. Hier zwischen tausend Klaftern hohen Gebirgswäuden, wie in labyrin- thischen Gassen einer Stadt, gefangen und eingeklemmt, verdoppelt sich seine Gewalt, wie seine Strömung reißender wird. Während der Fön Tage, zuweilen Wochen lang, den Schnee von den untern Alpen abfegt und Lauinen neben Lauinen von Gipfeln und Halden der Firnen und Gletscher rollt, kann er in den tiefern !r»sL«k?r DMA 53 Thalungcn Hütten niederstürzen, ihre umsonst mit Felsstücken belasteten Schindeldächer entführen, starke Bäume entwurzeln, und den weiten See der Waldstätte mit schäumenden Westen bedecken. Zur Zeit seines größten Ungestüms, wird in Uri die Sorgfalt gegen Feuersgefahr verdoppelt; man bewacht die Flamme des Heerdes, oder löscht ste, und rüstet das Geräth zur Tilgung allfälliger Feuersbrünste, für welche die hölzernen Wohnungen und Ställe der Dörfer nur zu viel Empfänglichkeit zeigen. Nervenschwache oder reizbare Personen empfinden beim Gehen des Fön's unbehagliche Schwere in den Gliedern, bald Kopfweh, bald eine gewisse Betäubung. Ich erkannte ihn jedesmal, nicht nur an seiner höher» Wärme, sondern an einem durch die Luft verbreiteten, feinen, nicht unangenehmen, brandigen Geruch. Man sieht ihn in schräger Bahn längs den Bergen niedergehen, wo droben das bewegte Laub der Wälder mit geänderter Farbe seinen Strich verräth, inzwischen drunten noch Stille oder ein entgegengesetzter Luftstrvm herrscht. Der plötzliche Uebergang aus diesem letzter», besonders wenn er kühl ist, in den heißen Fön, erschreckt fast. Man hat eine Empfindung, als athme man Wärmestrahlen eines nahen, unsichtbaren Gluthaufens. 1 . Teils Kapelle in Bürgten. In diesem freundlichen Bergdorfe, auf einer sanften Anschwellung des Bodens, an der Ausmündung des Schächenthals gelegen, ward am Ende des dreizehnten Jahrhunderts Wilhelm Teil geborerp Seinen Namen nennen die gebildetem Bewohner aller Welttheile. Mit ihm verknüpft sich der Gedanke der Freiheit. Man besucht gern die Stätten, wo einst die Unsterblichen wandelten; und glaubt ihnen näher zu seyn, wo uns umgibt, was sie umgab. Tell's Wohnung steht nicht mehr; aber auf der Stelle derselben erhebt sich malerisch ein kleines Bethaus, mit Gemälden von Tells Thaten geschmückt. Dahinter und ohnweit der zierlichen Dorfkirche, ragen die zerfallenen Mauern einer Burg hervor, die weiland von den Meyern von Bürgten bewohnt wurde. Diese sind vergessen; Tells Name lebt. Griechen und Römer errichteten dem Andenken ihrer großen Männer Bildsäulen; die Schweizer 54 bauten, in christlicher Frömmigkeit, ihren Helden und Vatcrlands- rettern Kapellen. Hieher stellen noch heute Uruer und Schwyzcr jährlich feierliche Betfahrt an. Man weiß vom Leben und Tode des berühmten Hirten und Jägers wenig; aber von beiden das Schönste. Er legte zur Erlö- sung seines gedrückten Volkes die erste Hand an; und er starb, sieben und vierzig Jahr nach dieser That (im Jahr 1354), als er sich, ein hochbetagter Greis, um ein Kind aus den Fluthen des Schächenbachs zu retten, in die Wellen desselben stürzte. Weder Leben noch Tod konnt' er mit glänzender», Tugendmuth bezeichnen. Man verweilt gerne bei dieser Kapelle. In die großen Erinnerungen, welche sie weckt, mischt die landschaftliche Umgebung ihren mächtigen Zauber. Alles ist Ehrfurcht erregend, Lieblichkeit und Demuth. Das Thal krümmt sich von da sechs Stunden lang aufwärts, links von den Felsgipfeln der Roßstöcke und des Kinzig umschlossen, rechts von den Kulmen und Zinken der Kla- riden, des Tismar, Schneehorns, der Ruchi und hohen Windgelle. In der Tiefe brauset der Schächenstrom, welcher oftmals mit furchtbarer Gewalt anschwillt und Bergschutt und Felsblocke hinwegwogt, wenn der Schnee des Hochgcbirgs plötzlich schmilzt. Die Künstler zeichnen den Wilhelm Tell gewöhnlich als einen kräftigen und schönen Mann; wahrscheinlich mit dem größten Recht. Denn dies Thal beherbergt von Uri den schönsten Menschenschlag; blühende, zuweilen herkulische Jünglingsgestalten; Jungfrauen von junonischem Wuchs und den reinsten Farben des Gesichts. Im Reußthal begegnet man hingegen mehr hagern, bleichen, unansehnlichen Gestalten; sei es, daß die auszehrende Kraft des Fön's oder die Armuth vieler Leute, oder die minder einfache, minder mäßige Lebensart derselben, längs der Gotthardsstraße mit deren Wirthshäusern, nachtheilig einwirkt. Die That des Teilen für sein Vaterland wird oft sehr falsch verstanden. Er war kein Stifter der Freiheit seines Volks, sondern nur Retter und Wiederhersteller derselben. Jahrhunderte vor ihm genoß die Bevölkerung dieser Hochgebirgsgegenden, was sie nach ihm genoß, und damals nur von unverständigen, gewaltsherrischen Vögten bedroht war. Die ersten Anfassen in diesen rauhen Thälern, noch von Niemanden gekannt und genannt, wohnten in den weiten Einöden zerstreut, Jagd und Viehzucht treibend. Denn andere Mittel bot ihnen die Natur des Landes zu ihrer Sclbsterhaltung nicht dar. 55 Das Hirtenleben fordert weite Räume für die Heerden. Einsamkeit gestattete den Einsiedlern die größte, persönliche Ungebundenheit, tägliche Vertrautheit mit Gefahren der Umgebungen machte sie stark und unerschrocken, und die freieste Bewegung ihrer Kräfte nöthig. Lange Zeit bildeten die Familien in den Thälern von Uri, Schwyz und Unterwalden nur noch eine einzige Gemeinde, die sich von Zeit zu Zeit, wenn eine Angelegenheit Aller berathen werden mußte, versammelte. Ohne Zweifel waren die Leute wohl auch insgesammt Genossen eines und desselben Volksstammes, vielleicht, ja wahrscheinlich, Ueberbleibsel der geschlagenen Kymcrn und Deutschen (Cimbcrn und Teutonen). Erst mit dem Wachsthum der Bevölkerung näherte man sich einander mehr und wurden die gesellschaftlichen Verhältnisse mannigfaltiger, die persönlichen Willkühren beschränkter. Aber von der gewohnten Freiheit mochte keiner opfern. Wer konnte dem Gefühl und Bedürfniß seines eigenen Werthes und seines Rechts entsagen? Jeder blieb Herr für sich und wachte über sein Recht. Die Höfe waren endlich Dörfer geworden; doch behielten auch diese, wie einst die Höfe, den gemeinschaftlichen Genuß von Wäldern, Alpen und Viehweiden bei. So entstanden in Uri die „Genossamen" oder nachherigen politischen Bezirke von mehreren Ortschaften; in Unterwalden die „Urtinen" in ähnlicher Bedeutung. Die Schwyzer hatten ihr Land in vier Theile gesondert, oder in „Viertel." Wegen der zunehmenden Volksmenge mußte zuletzt die gemeinschaftliche Versammlung aller waffenfähigen Männer der drei Länder in einer einzigen Landesgemeinde aufgehoben werden. Uri, Schwyz und Unterwalden trennten sich; jedes bildete von da an einen kleinen Freistaat für sich. Aus gleicher Ursache trennte sich späterhin, auf ähnliche Weise, auch Unterwalden noch in das Land „ob und nid dem Kernwald." Doch sie alle behielten den alten Familienverband bei, wie ihn ihre Väter gehabt; zum Schutz und Trutz für ihre Rechte vereint im Leben und Tod. Dieser Verein war, der Form nach, ein Staatcnbund; im Gemüth und Leben des Volks aber ein einiger, fester Bundesstaat. Die Leute in Uri, zufrieden mit ihrem Loose, blieben fremden Händeln lange Zeit abgeneigt. Ihre kriegerische Jugend zog wohl zum Beistand der Bundesgenossen in Schlachtfelder; doch, nach erfüllter Pflicht, ohne fernern Anspruch. Sie verlangten keine Erweiterung ihres kleines Gebiets durch Eroberungen über die Nachkuren ; am wenigsten konnte ihr Sinn für Recht und Freiheit Herrschaft über andere Völkerschaften begehren. Erst spät, und ver- 56 führt durch das Beispiel der übrigen Eidsgenoffen, nahmen sie Antheil an deren Eroberungskriegen, und dünkte es ihrem Rechtsgefühl und Freiheitsstolz kein Unrecht, Herren von Unterthanen, Gebieter von Unfreien zu werden. Sie unterwarfen sich das Livener Thal, und sandten, gemeinschaftlich mit andern Eidsgenoffen, ihre Landvögte in die bezwungenen Landschaften von Tessin, in's Rhein- thal, in Thurgau und Sargans und in die obern freien Aemter. Von da an verlor sich die edle Sitteneinfalt der Vorwelt. Die Landsgemeinden verkauften die Verwaltung der Landvogteien, denen ihrer Mitbürger, die dafür das meiste Geld boten. Bestechlichkeit und Umtriebe, sonst unbekannte Laster, wurden häufiger. Einzelne Familien bereicherten sich und sicherten sich hinwieder, durch Reichthum, den Besitz der ersten Aemter im kleinen Staate zu; verkehrten, im Namen des Volks, mit den übrigen Eidsgenoffen, mit ausländischen Gesandten, vermietheten Kriegsvolk in fremder Herren Dienst, um ihren Söhnen und Verwandten Befeblshaber- stellen und Gelegenheiten zu schaffen, Geld, Würden und Kenntnisse zu gewinnen; und nahmen für sich selbst, ohne Scheu, von fremden Höfen Besoldung ihrer Dienstfertigkeit. Bis zum Ausbruch der französischen Staatsumwälzung erhielten die Glieder der Regierung von Uri, wie in den übrigen katholischen Kantonen der Schweiz, vom französischen Hofe regelmäßige Jahrgehalte (deren Gesammtheit sich auf 600,000 Gulden belaufen mochte). Mancher bezog eine Pension von 100 Louisd'ors. Dafür war man an den eidgenössischen Tagsatzungen, wie im eigenen Kanton, dem Wink aus den Tuillerien gehorsam. Diese wenigen Züge reichen aus, um das Verarten der kleinen Republik, wie ihrer übrigen Schwestern im Gebirg, zu bezeichnen. Johannes Müller, der große Geschichtschreiber der Eidsgenossen- schaft, beschrieb die schönern Zeiten derselben, die Tage der Freiheitsschlachten, der hirtlichen Sitteneinfalt, der Würde, Weisheit und Bescheidenheit der Volkshäupter. Der Eindruck davon blieb in allen Lesern zurück, und zog in ihrer Einbildungskraft einen Heiligenschein um das Schweizerthum. Die Zeiten des innern Verfalls aber mit Treue zu schildern, konnte Einheimischen, bei den Machthabern, Gefahr bringen; mußte Ausländern schwer oder unmöglich werden; ward durch Vaterlandsliebe, oder Nationalstolz, durch strenge Geheimhaltung der Urkunden, oder staatsklnge Scheue vor dem Auslande, verhindert. Man verschleierte die Wahrheit, um nicht das günstige Vorurtbeil der Europäer zu zerstören. Aber das Schweigen von den Gebrechen in den kleinen 57 Staaten nährte das Uebel, stärkte und verewigte dasselbe. Niemand dachte an Heilung, bis, nach dem kriegerischen Einbruch der Franzosen im Jahr 1798, der Schleier zerrissen, und Ohnmacht und Verderbniß der Schweiz vor den Augen aller Welt offenbar wurde. Seitdem ist in den meisten Kantonen unstreitig viel Großes gestiftet, viel Löbliches geleistet worden; in einem Vierteljahrhundert mehr, als zuvor in zwei Jahrhunderten. Allein in den kleinern Alpeukantonen, besonders in denen des katholischen Glaubens, blieb man zu Verbesserungen des Staats und seiner Anstalten unthätig und selbst unfähig. Der Grund davon liegt im persönlichen Interesse der weltlichen und geistlichen Führer, und in der von ihnen begünstigten, oder geduldeten Bildungslosigkeit des Volks; in der Unkunde des Bessern, in der Zufriedenheit mit dem vorhandenen Zustande und dem festen Halten am Herkömmlichen und Gewohnten. Gewohnheit wird nicht nur zur andern Natur des Menschen, sondern auch der Völker. Wie Kinder sich vor unbekannten Erscheinungen zu fürchten pflegen, so hegen Völkerschaften, auf tiefern Gesittungsstufen, Scheu vor jeder Neuerung im öffentlichen Leben. Sie werden sich darin fremd, stoßen überall an, und sehnen sich in das Alte, wie in ihre wahre Heimath zurück. Das Volk von Uri ist im Allgemeinen ein kräftiger, treuherziger, in Dingen des gemeinen Lebens verständiger, frommer und für Freiheit entschlossener Menschenschlag. Aus Armuth und Gewöhnung mäßig, enthaltsam, einfach, findet es nur beim Genuß der größten persönlichen Freiheit seine wildern Bergthäler bewohnbar. Man will daher Herr in seinem Hause, in seiner Gemeinde, in seinem Lande seyn. Der Hausvater gebietet daheim; stellt seine Knechte und Mägde an, und bewirthschaftet sein Gut, wie ihm gefällt. Die Gemeinde verwaltet ihr Eigenthum, stellt ihre Obrigkeit an, ihre Schullehrer, ihre Pfarrer, die jährlich um ihre Stelle neu anhalten müssen. Die Genvffamen wählen ihre Rathsherren, oder Stellvertreter, in den Landrath und in die Gerichte. Die Landsgemeinde ernennt jährlich die obersten Staatsbeamten sammt Schreibern, Weibeln und Zöllnern und entscheidet über Gesetzesvorschläge, Staatsverträge und alle wichtigen öffentlichen Angelegenheiten. An Trennung der Staatsgewalten aber ist da nicht zu denken. Die obern Beamten sind zugleich Regenten, Gesetzgeber und Richter, und können allen ihren Einfluß durch alle Verzweigungen des Staatslebens geltend machen. Abgaben für das Wohl des ganzen Landes gelten, als Verminderungen des 58 Privatwohlstandes; darum gewährt man keine, chne die größte Noth. Es fehlt mithin auch an manchen der mentbehrlichsten, öffentlichen Einrichtungen, die keinem selbstständigm Staate, von einiger Civilisation, fehlen sollten. Aus Mangel an tauglichen Strafanstalten wird der grobe Verbrecher verbann.', andern Ländern zugeschickt, oder, doch selten, grades Wege, durch scharfrichterliche Kunst in die Ewigkeit gesandt, in das scherste Gefängniß, aus welchem sobald Niemand entrinnt. Eben so schlecht ist der öffentliche Unterricht der Jugend bestellt. Die Gemeinden scheuen Geldausgaben; die Eltern, bei eigener Unwissenleit, finden es überflüssig, daß Kinder mehr lernen, als die Alter für sich selber nöthig hatten. Sie gebrauchen Söhne und Töchter lieber zur Arbeit, die Geld einträgt; Knaben und Mädchen zi:hen das Haus oder die freie Luft, dem Sitzen in der Schule vcr; die Lehrer, meistens arm und bildungslos, dienen um geringen Lohn. So erbt sich Unkunde, Aberglaube und Vorurtheil vcn Geschlecht zu Geschlecht im Volke fort. Ein junger, talentvoller Mann, der, aus höherer Liebe für sein Vaterland, sich in den Fellenbergischen Anstalten von Hofwyl zum Schullehrer ausgebildet hatte, mußte bei seiner Rückkehr in die Heimath leise auftreten, wenn er nicht Verdächtigung und Verfolgung erfahren wollte; denn er trug die Schuld auf sich, in der Anstalt eines Protestantei gebildet worden zu seyn. Diese Gesinnung der Menge sagt sowohl den reichern Familien zu, die klug genug ihre Söhne in Schulen außer Landes senden; als auch dem Priesterstande, welcher in Ver „kindlichen" Unwissenheit und „Unschuld" des Volks die sicherste Schutzwehr gegen Gefahren der Aufklärung findet. Weltliche und geistliche Obrigkeit sind daher, durch Ueberlegenheit der Kenntnisse und des Reichthums, die wirklichen „Herren« im Lande, wie man sie in der That schlechtweg zu nennen pflegt; nur mit dem Unterschiede, daß sie das Volk nicht gebieterisch zwingen können» sondern blos leiten, wohin ihnen gefällt. Aus demselben Grunde sieht man ungern, wenn Fremde, daS heißt Schweizer aus andern und reichern Kantonen, in diesem Ländchen sich ansiedeln wollen. Man fürchtet, sie könnten Begriffe, Ansichten, Kenntnisse verbreiten, die nicht gelegen kämen. Es versteht sich: Protestanten würden die unwillkommensten seyn. Begüterte würden auch den Preis der Ländereien, zum Nachtheil einheimischer Erwerber, steigern können. Man verweigert Schweizern zwar nicht geradezu den Aufenthalt, aber erschwert denselben MK-MWKr »' -W .75 S0N«»M '-ll ^ ?:. -" "77 7 ^ - .'.'Vri- 7:'.'LL!- ' LL^ME!«E EK«orM M - WUikL'ÄF t ?L>> -.. ^ ^ /EL^: HfEd' '' " 59 auf mannigfache Art; am nachdrücklichsten durch lästige jährliche Abgaben für die Aufenthaltsbewilligung. Noch im Jahr 1833 fand sich der Kanton Luzern genöthigt, den Kanton Uri, durch ausgeübtes strenges Gegenrecht an Urnern, die im Luzernifchen wohnten, zu mildern Abgaben eines dort ansässigen Luzerners zu zwingen. Sogar auswärtige Geldanleihen auf Grundeigenthum im Lande werden abgewehrt; denn einheimische Kapitalisten könnten bei größerer Concurrenz Gefahr laufen, niedrigere Zinse annehmen zu müssen. Dies Alles gilt nicht von Uri allein, sondern auch von den beiden andern Urkantonen Schwyz und Unterwalde n. Die Erben Tells erbten eine Freiheit, dürftiger, als die Freiheit des Bürgers in wohlgeordneten Monarchien. Indessen die Leute sind damit zufrieden, also in ihrer Art glücklich. 2 . Die Gotthards-Strasse (ältere und neuere.) Die beste Lehrerin und Erzieherin der Völker ist zuletzt immer die Noth. Ohne sie würde der Mensch ein unbeholfenes Halb- thier bleiben. Sie weckt den Geist zum Gedanken. Vorzeiten war die Gotthardsstraße der berühmteste und bequemste Alpenübergang zur Verbindung des Nordens mit Italien und dem Mittelmeer. Jährlich wandelten über 16,000 Reisende darüber her und hin, Kaufleute, Wallfahrer, Naturforscher, Soldaten, Abentheurer, Staatsmänner, Arbeiter, die in andern Ländern Erwerb suchten, Postboten u. s. w. Jährlich führten bei 0000 Pferde gegen 20,000 Ballen, Fässer, Kisten u. s. w. mit Waaren herüber und hinüber. Der Stand oder Staat Uri bezog im Durchschnitt von seinen drei Zollstätten jährlich 20,000 Gulden. Als aber Napoleon die prachtvolle fahrbare Straße über den Simplon (in den Jahren 1802 bis 1806) durch Wallis in Pie- mont einerseits, Franz II. die eben so bewundernswürdige fahrbare Kunststraße von Bormio über den hohen Stelvio (seit 1822) anderseits, zur Verbindung Tyrols und der Lombardei gebaut hatte; als Graubünden nnd Sardinien darauf die nähere 60 Fahrstraße, zum Verkehr Deutschlands mit dem Mittelmeer, über den Bernhardt« anlegten, verlor sich das Leben des Gotthards- passes. Denn auf dem übel gepflasterten Wege desselben, nur 10 bis 14 Schuh breit, konnte kein Wagen gehen. Die Waaren, in Fässern und Ballen verpackt, wurden von Pferden getragen, denen, mit hölzernen Satteln bedeckt, man sie auf beiden Seiten anhing. Ein Pferd trug aber nicht mehr, als 3 Centner; diese Last hieß ein Saum. Davon nannte man die Pferde »Saumrosse"; ihre Eigenthümer, die deren gewöhnlich 6—12 hielten, »Säumer.« Indem der Waarenverkehr über die Alpen links und rechts andere Richtungen nahm, verlor ein großer Theil der Bevölkerung, d. i. eine Menge von Arbeitern, Wirthen, Schiffern, Säumern, Handwerkern und Landwirthen, die Mittel ihrer Erhaltung. Ja, manche Ortschaften und Dörfer, die, fast ohne Land, in den hohen, engen Felsenschlünden des Gebirgs sich angeniftet hatten, und ohne den starken Waarendurchgang nie ihr Daseyn empfangen haben würden, sahen sich in Gefahr es wieder mit ihm zu verlieren. So blieb keine Rettung, als es eben den nebenbuhlerischen Nachbaren gleich zu thun, und vereint mit dem Kanton Tessin, den Gotthard fahrbar zu machen. Gegenwärtig ist er es; die Straße überall 20 Fuß breit, mit nicht stärkerm Fall als von 5 Schuh auf Hundert. Sieben große und vier kleinere Brücken führen über die Abgründe mit sichern, kühnen Wölbungen. Die erste der Brücken schwingt sich in zwei Bogen beim Dörflein Amstäg, am Fuß der hohen Windgelle über die Reuß, wo sich der wilde Kerstelenbach des Maderaner-Thals in den Strom vom Gotthard stürzt. Der Blick durch die erhabenen, steinernen Bogen, thalabwärts, gewährt ein wunderbar liebliches Bild der Landschaft; in der Nähe die hölzernen Häuser des Dörfchens, deren es kaum viele über 30 zählt; rechts die beinah 9000 Fuß hohe Windgelle; links die neue Fahrstraße über den Gotthard. Vormahls, noch vor dem Jahre 1821, that hier eine offene, hölzerne Brücke Genüge, welche im Jahr 1799 Zeuge eines blutigen Treffens zwischen Franzosen und Ocsterreichern gewesen war, die um den Besitz derselben stritten. Ich sah, wenige Tage nach dem Kampfe, die Brücke noch mit dem Blute der gefallenen Krieger befleckt, als ich auf ihr mich mit dem General Loison erging. Dieser französische Feldherr erzählte mir damals Einzeln- heiten von dem Treffen an dieser Brücke und wodurch es veranlaßt'Worden war, die mir wunderlich genug schienen. Die Generale Lecourbe und Gudin waren yqmlich, bald nach der Schlacht bei Zürich und Massena's Sieg über Korsakow, beauftragt, die Höhen des Gotthard zu erobern und zu besetzen. Gudin zog zu dem Ende mit seiner Division über die Grimsel und Furca, Loison über das hohe Mayenthal, am Fuß der Gletscher gelegen, wo er aus einer alterthümlichen Schanze die darin stehenden Oesterreicher, nach wenigen Flintenschüssen, vertrieb. Bei Wasen, einem ärmlichen Dorf an der Gotthards- straße, stieß er zum General Lecourbe. Wie er mit diesem, an der Spitze der Truppen, bergauf ritt, meldeten Eilboten des Vortrabs: eine große feindliche Heermacht rücke vom Urserenthal herab ihnen entgegen und bedecke mit seinen Bataillonen nicht nur den offenen Weg, sondern alle kaum gangbare Klippen am andern User des Reußstromes. Beide Generale lachten. Sie wußten von keiner Armee auf dem Gotthard, oder von wannen eine solche kommen könnte? Aber neue Boten bestätigten die Nachricht der ersten, ohne sagen zu können, welcher europäischen Macht die feindlichen Schaaren angehören mögten. Es entspann sich bald das Gefecht. Man erkannte, es seyen Russen, mit denen man zu schaffen habe. Es war Suwarow, der, von Italien her, in die Schweiz dringen wollte. Während die Franzosen von der Ueber- macht des Gegners langsam gegen Wasen zurückgedrängt wurden, meldeten andere Boten, die in größter Eil von Amstäg herausgesprengt waren, daß General Rosenberg mit zahlreichen Schlachthaufen von Oesterreicher», aus Bünden ins Maderanerthal eingerückt sey, und den Franzosen den Rückweg vom Gotthard zu versperren drohe. Nun war keine Zeit zu verlieren. Während Loison durch Widerstand das schnellere Vorrücken Suwarows bis nach Wasen so lang, als ihm möglich war, hemmte und dann sich wieder, die steilen Berghalden bei diesem Dorfe hinauf, ins Maienthal ziehen mußte, eilte Lecourbe mit seiner Division nach Amstäg hinab. H)ier fand er das Dorf und die Brücke schon von der starken Vorh ut der Oesterreicher besetzt, und seinen Heimweg in die sichern Schamzen von Seedorf, am Ufer des Vierwaldstätter Sees, abgeschnitten. Jeder versäumte Augenblick führte ihm die österreichische Hauptmacht vom Maderanerthal näher. Hinter ihm drohte Sawmrow in wenigen Stunden zu erscheinen. Lecourbe sah sich vor überlegenen Streitkräften eingeschlossen, und keinen Ausweg, als über die Brücke. Er ließ sie durch seine Grenadiere mit gefälltem Bajonet stürmen. Flinten- und Kanonenfeuer warf diese Tcpsiern zurück. Er gebot den Angriff zum andery und zum drit- 62 tenmahl, mit eben so schlechtem Erfolg. Die Soldaten wurden un entschlossen, wankten, zögerten, ungeachtet des wiederholten Be fehls zum Sturm. Da riß Lecourbe, nach einigen derben Flüchen einem der Grenadiere das Gewehr weg und stürzte sich allen gegen die Brücke. Die Grenadiere sahen es, erhoben voll Unwil lens über ihn ein furchtbares Geschrei, rannten ihm nach, erstürm ten die Brücke und trieben die Oefterreicher zurück. Am schlimmster fast lief es für Lecourbe ab. Seine Grenadiere, durch ihn beschämt über ihn erbost, hatten ihn noch zeitig auf der Brücke ereilt und fluchend hinter sich geworfen. Mann um Mann stieß ihn nun wei ter zurück, so unsanft als möglich. Es gab Kolbenstoße, Rippenstöße, Faustschläge unterwegs. Der General selbst erzählte lachend von den blauen Flecken, die er davon wochenlang am Leibe ge tragen. Aber er gelangte durch Amstäg, und, immer der letzte Mann auf dem Rückzüge, glücklich wieder in die Verschanzungei von Seedorf. Man hielt ehedem den Weg über den Gotthard für eines bei erstaunungswürdigsten Riesenwerke menschlicher Kraft und Kunst, im Kampf mit den Hindernissen, welche die Natur zu besiegen darbot. So ist's heute nicht mehr. Der Bau der jetzigen Straße erscheint von der alten verschieden, wie das 19te Jahrhundert vom 13ten oder I4ten. Die Simplonftraße aber ist um 5 Schul breiter, als sie. Das berühmte Urnerloch, jetzt bedeutend crwer tert und Heller geworden, übertrifft keineswegs an Länge und Breite die mehrfachen Gallerien vom Simplon; mehrere von der Brücken des letzter» sind mit nicht geringerer Kühnheit über dü Abgründe gesprengt. Wer in Bünden die Bernhardinstraße mir ihrem »Verlornen Loch", mit ihrer Via mala, oder wer den ver wegenen Bau über den Stelvio bei Bormio sah, findet da «ich« weniger zu bewundern, als am Gotthard. Hingegen der Wechsel hier von angenehmen, landschaftlicher Parthien mit den entsetzlichsten Wildnissen; der Kontrast freund sicher Hütten neben Bächen und Bäumen, und kleinen Gärter auf Felsenblöcken, mit schwindelerregenden Abgründen, in derer Tiefen der schäumende Strom zwischen Trümmern des Urgebirgt quillt, wird wohl von keiner der andern Alpenstraßen übertreffen Das Dörflein Wasen gewährt droben noch einmal, mit seiner braunen Hütten und der malerischen Kirche auf dem Hügel, unte' Gebüschen und wilden Kirschbäumen, einen erquickenden Eindruck Vom Himmel nieder leuchten Gletscher über dunkelgrünen Alpen; flattern Wasserfälle. — Das Dorf Gestinen, oder Geschenen. ' W8W »8 MM N« M« LÄT2S M8H »V WMG UNK 63 eine halbe Stnsde höher am Gebirg, ruht schon a» den Gränze» der Fclsenwüste wo das Leben der Pflanzen verschwinden will, und Schutt der Berge, rechts, ein unwirthbares Thal, füllt, von Eisbergen nmzozen. Weiter hin hört man zuweilen noch einförmiges Geräusch aus dem Abgrund; zuweilen noch das ersterbende Getöse eines Bachs, der aus unerstciglichen Höhen stürzt und im Sturz verfliegt. Ringsum steigen die Berge der Schöllenen senkrecht, glatt und kahl in grauscnhaftcr Nacktheit empor; schwarze Mauern 100—1000 Fuß hoch. Man wandelt wie auf dem tiefen Boden eines ungeheuern Felsenkessels, oder vielmehr an einer Rippe desselben, längs welchem die Straße sich, unter überhangendem Gestein, über jähen Abhängen fortwindet. Oft scheint der Ausweg zu fehlen; und wenn er wieder erscheint, öffnet er nur die Aussicht in noch furchtbarere Wüstenei. Man erblickt den Strom der Reuß, statt tief unter den Füßen, vor sich droben. Er bricht da durch den Riß der Berge zwischen dunkel-glänzenden Klippen; schwindelt jählings in die Tiefe hinunter, und zerschellend im finstern Geklüft, steigt er als Wafferstaub gespenstisch unter dem hohen Bogen der Teufels brücke wieder auf und umgaukelt sie, unter ewigem Donner und Windsturm, mit Wolken, die einander drängen und jagen. Die Straße verliert sich, denn anderer Raum fehlt für sie, in eine finstere Höhle des gegenüberstehenden Felsen. Der Ausweg vom Thal der Schrecken droht Eingang eines noch grauenvollern Schauspiels zu werden. Und wie der Wanderer, nach etwa hundert Schritten, aus der Dämmerung des Urnerlochs an's Licht des Tages hervortritt, umfängt ihn eine neue Welt. Ein geräumiges, ebenes Wiesenthal, von grünen Bergm umfangen, liegt träumerisch vor ihm da. Von Erlen und Weidin sind die Ufer der Reuß bekränzt, die klar und leise dabin rinnt. Links schmiegt sich Andermatt, ein Dörflein, an den Berz, den ein kleiner Wald ziert; rechts ein anderes und darübw auf dem Hügel romantisch die Burg-Ruine der Edeln von Hosoental. Man athmet in dieser großen Abgeschiedenheit vo« der wrigen Welt, fünfthalbtausend Fuß hoch über dem Meere, die reinsten Lüfte. Es ist das Thal Urseren, 64 3. Ältdork. Der Hauptort des Kantons Uri erscheint, als ein stattlicher Flecken von einigen hundert, zum Theil wohlgebauten Häusern, in der Thalebene, eine halbe Stunde vom See, und am Fuße des schroffen Bannbergs. Geräumige, reinliche Straßen; Gebäude, zuweilen in italiänischem Styl; artige Anlagen und Gärten, Kirchen, Kapellen, Klöster, heitere Umgebungen voller Mannigfaltigkeit , machen Altdorf zur zierlichsten Ortschaft sämmtlicher Urkantone. Fast in der Mitte des Fleckens tritt uns ein alterthümlicher Thurm entgegen, dessen Seiten von bunten Gemälden bedeckt sind. Sein Bau ist vermuthlich ein Werk des eilften Jahrhunderts. Noch im Jahr 1567 sah man in der Nähe eine Linde, welche für die galt, unter der Wilhelm Tells Knabe mit dem Apfel auf dem Haupte gestanden. Statt ihrer steht nun aber ein steinerner Brunnen da, der noch „Tellenbrunnen" geheißen wird. Links schaut der finstere Bannberg in die Straße» nieder, dessen Tannenwälder keine Axt berühren darf, weil sie den Ort vor der Gefahr von Lauinen und herabrollenden Steinmassen schützen sollen. Zwar schöner ist Altdorf aus der Asche hervorgestiegen, nachdem es, im Frühjahr 1799, fast gänzlich ein Raub der Flammen geworden war, zu denen sich verderbenvvll der Fön gesellt hatte. Aber reicher ist es nicht erstanden; der alte Wohlstand nicht wieder heimgekehrt. Zuerst versiegten für seine vornehmem Bewohner die Geldquellen der französischen Pensionen und ausländischen Kriegsdienste, beim Ausbruch der Staatsumwälzung in Frankreich; dann vernichtete jene Feuersbrunst den Großtheil des Orts, und man werthete den Schaden auf drei Millionen Franken. Darauf verheerten abwechslend Franzosen, Russen und Oesterreicher mit Einlagerungen und Durchzögen ihrer Truppen, mit Plünderungen, Gefechten und Treffen das arme Thal. Endlich, nach Wiederkehr des Friedens, verminderten die besser gebauten Alpenftraßen der Nachbaren sogar den Waarenverkehr mit Italien, eine der vorzüglichen Erwerbquellen des armen Landes. Das Unglück zu vollenden, muß aber nun noch die Unwissenheit und Unbeholfen- heit des meisten Volks und die Arbeitsscheue einer großen Menge dürftiger Familien dazu treten, die, ohne Eigenthum und nur von 65 Almosen oder leichten Verdiensten beim Waaren-Durchzug gewöhnt, die Plage der Begüterten geworden sind. Schon längst sah man in umliegenden Dörfern nicht ohne Neid den ehemaligen Wohlstand und sehr massigen Aufwand Altorfs. Man erinnert sich izt, wie bei dem ungeheuren Brande des Flek- kens unzählige Menschen aus den nachbarlichen Ortschaften muffige, ja selbst schadenfrohe Zuschauer des furchtbaren Unglücks geblieben waren, und wie sie es gleichgültig der damaligen Besaz- zung französischer Soldaten überließen, das Feuer zu löschen. Dieser verderbliche Geist ist späterhin leider durch keine edlere Volksbildung, vermittelst Schule und Kirche, verbannt, vielmehr wohl durch wachsende Verarmung gesteigert worden. Der Ausbruch eines Kampfes zwischen Güterlose gegen Besitzende wäre nirgends gefährlicher, als in solcher Republik. Jede politische Mißhelligkeit, zu der nie ein Stoff fehlt, könnte ihn leicht entzünden. Wie schön und edel blüht die ewigherrliche Natur, und wie häßlich erscheint nur zu oft der Sterbliche in ihr, wann er von ihren Gesetzen, von den Gesetzen der Vernunft und Gottes abgefallen ist! Die Geschichte der größten, wie der kleinsten Völker lehrt, daß nicht Bildung des Herzens und Geistes, sondern staats- schlaue Verwilderung der Menschen alles Elend und den verzweiflungs- vollen Untergang der bürgerlichen Gesellschaften herbeigeführt haben. Das wilde Thier, zum Dienst des Meisters abgerichtet, wendet undankbar auch den Zahn gegen ihn, wenn es gehezt wird. 68 «r. Kanton Schwytz. i. Dcr Hauptort öchwxlz. Am Spiegel des romantischen Sees der vier Waldstätte, wo er sich um das, allen Schweizern heilige Grütli südwärts herumbeugt, erblickt man nördlicher, im Busen des Gebirgs, eine ausgedehnte reizende Uferlandschaft. Der grüne Wiesengrund, geschmückt mit Weilern, Banmgärten, Kapellen und kleinen Dörfern, schwillt amphitheatralisch bis zum Bergzug des Haggen empor, der den Hintergrund füllt. Den Rahmen des großen Bildes stellen, links und rechts der Rigiberg und der Gebirgsstock der Frohnalp dar; im Mittelpunkt des Ganzen schimmern, zwischen Gebüschen und Obstbäumen, die Gebäude des Fleckens Schwytz, am Fuß des Haggen, eben da, wo dieses zwei schroffe, gewaltige Felsen- kegel von ungleicher Höhe in die Lüfte rekt. Man nennt diese Kegel die Myten. Die Spitze des Höchsten ragt 5870 Fuß über das Meer, und trägt ein langes hölzernes Kreuz, welches, obschon von der Tiefe aus kaum sichtbar, als Wahrzeichen der Landcs- frömmigkeit dahin gepflanzt zu seyn scheint. Schwytz selbst, der Hauptflecken, welcher dem kleinen Freistaat den Namen gab, den, nach den ersten Freiheitsschlachten, alle Eidsgenossen empfingen, die sich mit den Urkantonen verbündeten, gewährt mit den städtisch gebauten, weisgetünchten Häusern einen recht freundlichen Anblick. Jmmitten des Hirtenlandes findet man da auch Sorge für des Lebens Anmuth getragen; in wohlhabendem Familien, feinern, geselligen Ton, kleine Büchersammlungen, kleine Kunstsammlungen, sogar ein kleines Theater Die Pfarrkirche, wird, wie eine Mutter von ihren Kindern, mit Wohn- gebäuden, Klöstern und Landhäusern umringt. Sie ist noch jung; -rst in den Jahren 1773—1774 entstanden, als die ältere endlich OKW ipMM NWU MW APW WK WWW M/M 8 ^M§ 67 der vermehrten Christenmeiige zu eng geworden war. Aber auch die ältere war nicht die älteste des Landes; sondern diese stand vermuthlich in einem abgelegenen, rauhen Bergthal, Jberg geheißen. Da hatte vermuthlich einer der frühesten Hcidenbekehrer einst zwischen Felsen und Wäldern seine Bethütte aufgeschlagen. Ich setze zu Allem ein « Vermuthlich «, wie sichs gebührt, wenn man von mündlichen Ueberlieferungen spricht. Man weiß nur, daß vor Zeiten die Hirtenfamilien, welche zerstreut und noch nicht zahlreich, in den Thälern von Unterwalden und Schwytz wohnten, die weite Reise zum Küchlein nach Jberg machten, und abwechselnd nach dem unterwaldner Ennetmoos, zum Gottesdienst, wie etwa heutiges Tages noch im unbevölkcrtcn Innern NorLamcrika's dergleichen fromme Sonntags-Fahrten geschehn. Auch izt noch hat das Kirchlein von Jberg, durch altcrthümliches Herkommen, bei jährlichen Kreuzfahrten seinen Vorrang. Doch nicht eigentlich der Flecken Schwytz, sondern das ganze Ländchen, diese republikanische Antike, kaum größer, als 22 Geviertmeilen mit etwa 38,000 Einwohnern, ist eine Merkwürdigkeit der Schweiz. Am Fuße der Hochalpen dehnt es sich, mit seinen Bergreihen und Thälern, zwischen dem Waldstätter-, Zuger- und Züricher-See aus. Ich sage nichts von seinen landschaftlichen Schönheiten. Sie sind genug gepriesen, besungen und konterfeit. Sie bilden einen idyllischen Epos. Hier ist kein betäubender Wechsel von Ueberraschungen; kein Gebirgskamm, der sich so hoch in den Himmel erhebt, bis seine Felsengrathe im ewigen Eis erstarren. Das Liebliche paart sich mit dem Großartigen in sanften Ueber- gängen, fast künstlerisch geordnet. Zwischen Wildbächcn und Obsthainen, Blumenfluren und Felsen, Alpentriften und Hüttengärten, freundliches Wohnen eines biederen, stämmigen, heitern Völkchens. Ich will lieber von diesem reden. Es lebt bekanntlich von Wiesenbau, Alpenwirthschaft, Viehzucht; damit wird freilich kein Uebermaaß des Reichthums geerntct; aber auch kein Unmaaß der Armuth verbreitet. Beide erblickt man hier allenfalls im Wallfahrtsort Einsiedcln beisammen. Im Allgemeinen besitzt jede der ländlichen Haushaltungen ohngefähr soviel Eigenthum, als für des Leibes Nahrung und Nothdurft hinreicht. Und viel ist da nicht vonnöthen, wo man sich am Unentbehrlichen genügen läßt. Wohnungen der Menschen und Ställe des Viehs, sind, wie im Gcbirg überall, von Baumstämmen des nächsten Waldes zusammengefügt; von innen vertäfelt, oft zierlich, meistens reinlich; die Schindeldächer mit großen Steinen gehörig belastet, damit sie kein Sturmwind ent- 68 führe. Brod, Fleisch oder Wein erscheinen im Jahre selten auf dem Tische. Man fühlt sich auch bei Most, Milch und Quellwaffer, Kartoffeln, gedörrtem Obst, Käse und ähnlicher Kost, gesund und wohlgemuth, welche der Garten, das Feld und die Heerde liefern. Vom ersparten Gewinn der Arbeit wird das Gewand, das Hausund Küchengeräth auf benachbarten Märkten eingekauft, wenn man es in Wintertagen nicht selber bereiten kann. Die Städte Luzern, Zug und Zürich versorgen den Reichern mit dem, was, bei einfacher Lebensart, dem Minderbemittelten überflüssig dünkt. Hier muß mau, so wenig, als in andern Hirtenländern, Künstler und Handwerker suchen, ausser den wenigen, die man nirgends vermissen kann. Nicht einmahl der Schuster wird zu viel in Anspruch genommen. Der Hirt wandelt, mit Halbstrümpfen und nackten Füßen, auf hölzernen Sohlen, die er selber schnizt und mit angenagelten Riemen trägt. Ein Hirtenhemd von Hanf, hinten mit einer Kapuzze, gleich einer Kapuzinerkutte, bedeckt ihn im Sommer bis zu den Hüften und den kurzen Hosen. Große Fabriken giebt es nicht. Nur in Gersau Seidcnmanufacturen; aber dieser kleine Flecken gehört erst seit 30 Jahren zum Kanton Schwytz. Er war, um beiläufig von ihm zu reden, mit seinen andert- halbhnndert Häusern, ehmaks ein eigner, souveräner Freistaat; hatte aber nicht durch seine Winzigkeit das beneidenswürdige Loos, in den politischen Stürmen des Weltthcils ganz überschn und vergessen zu werden, wie San-Mariuo immitten Italiens, oder der Freistaat An dorre im Pyrenäenthal, und wohl andre dergleichen mikroskopische Republiken. Wie gesagt, Napoleon verleibte ihn dem Kanton Schwytz ein. Noch izt haben die paar hundert Bürger den Unabhängigkeitsverlust ihres Vaterländchens nicht ganz verschmerzt. Können sie nun keine Landsgemeinde mehr halten, lassen sie doch alle Jahr noch den Herwallfahrtenden Gaunern oder Feke rn der Schweiz, wie mau sie nennt, ihren Landtag mit allen möglichen Lustbarkeiten feiern, ohne daß die Polizei Einspruch thut. Diese Gauner-Kilbi ist Herkommen aus dem grauen Alterthum. Schade, daß noch kein schweizerischer Hogarth die bunte Versammlung von Strolchen, Bettlern und Heimathlosen, in der Herrlichkeit ihres dreitägigen Ehren- und Jubelfestes, zeichnete! Die Umgebung dazu wäre schon allein der Darstellung würdig. Denn der Flecken Gersau liegt gar malerisch, wenn auch nicht ganz bequem, zwischen dem Seeufer, und den Rigifelsen eingeklemmt. 69 Wer das Schwytzervolk kennt, muß es liebgewinnen. Roh, aber gutherzig, kirchlichstreng, aber fröhlichen Gemüths, unwissend aber rechtlich und wohlwollend, ist es auf seine Unabhängigkeit stolz, und für seine gewohnte Freiheit, oder vielmehr seine freie Gewohnheit, muthvoll, tapfer und unternehmend bis zur Vermesscn- heit, und wild bis zur Grausamkeit. Es gleicht seinen Waldströmen, die keiner Menschenknnst dienstbar seyn, keine Wiesen wässern, keine Mühlgewerbe treiben wollen, sondern mit durchsichtigen Wellen gaukelnd um bemoosete Felstrümmer tanzen. Aber unter Gewittergüssen erheben sie sich zornig; donnern dem Donner des Himmels entgegen; reißen Steinmassen vom Gebirg, Baumstämme vom Wald ab, und vernichten in der Wuth, mit Schlamm uud Schutt, auf ein Jahrhundert die blühenden Gefilde, von denen sie umkränzt waren. Wenn man unt?r diesen gutmüthigen, frommen frischen und frohen Leuten lebt, die aber doch in Haltung und Geberde den republikanischen Troz nicht ganz verläugnen, sollte man kaun« glauben, daß sie so allgemeiner, fürchterlicher Aufwallungen fähig wären, wie ihre Geschichte von ältern und neuen Zeiten erzählt. Allein jede Bedrohung, jede Störung ibrer herkömmlichen Zustände wird, Bedrohung und Störung des Lebens selber, für sie. Sich ungebunden in dem engen, armen Raum des väterlichen Erbes regen und bewegen zu können, ist das unbedingte Bedürfniß ihrer Selbfterhaltung. Darum besteht unter ihnen Allen staatsbürgerliche Rechtsgleichheit. Der gesunde Menschenverstand sagt ihnen, daß, wie .'n der häuslichen, so in der Staatsfamilie, einer soviel Recht habe, soviel sey und gelte, als der andere. Der gesunde Menschenverstand sagt ihnen, daß die Ungleichheit der Natur- und Glücksgaben etwas ganz Verschiedenes von erkünstelter Ungleichheit der Rechte sey. Darum mögen sie keine andre Gesetze und Lan- desvorsteher, als die sie sich selbst machen; keine Abgaben zahlen, als freiwillige, vom sparsam zugemessenen Ueberfluß; keine Einmischung von Fremden in ihre innern Angelegenheiten, weil, wer nicht Eingeborner ist, ihr Bedürfniß nicht mitfühlt. Darum gewähren sie keinem Ausländer das Bürgerrecht unter sich; nur ungern andern Eidsgenossen Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligung in dem kleinen Gebiet; sogar Priestern, die nicht im Lande geboren und erzogen sind, gestattet ein Landesgemeinden Gesetz (v. 1675) keine geistliche Pfründe, „es wäre denn Sach„, spricht es: »Daß dergleichen taugliche Priester in »inserm Land nit wären,» 70 So war'S seit Jahrhunderten. Dies Völkchen, in seiner altväterlichen Unwissenheit, aber mit ausnehmender Gemüthskraft, hat eigentlich nie andre Freiheit gekannt und genossen, nie andre begehrt, als für seinen materiellen Bedarf. Von jener höher» Freiheit, der geistigen, ohne welche selbst in Monarchien das bürgerliche Leben für civilistrte Nationen Sklaverei scheint, weiß und will es nichts. Daß dies nie andre, dafür sorgt mit ängstlicher Vorsicht der die Gewissen leitende Pricsterstand. Hier, wie in andern katholischen Freistaaten der Alpen, ist die Staatsverfassung von jeher ein wunderliches Gemenge von Demokratie, Hierarchie und Familien-Oligarchie gewesen. Gebräuche, Uebungen, welche nach und nach gemein wurden, und in Gewohnheit verhärteten, nahmen immer zulezt Gesetzesrang ein. Es ist für den Beobachter höchst interessant in Haushalt und Leben eines solchen kleinen Hirtcnstaats, wie er izt oder sonst beschaffen war, einen Blick zu werfen. Ich will einiges daraus mittheilen. Wie schon gesagt, nur der eingeborne Schwytzcr, oder, wie er sich nennt, «Landmann" war in seinem Ländchen Alles; jeder Andere, der sich aus der Schweiz, oder aus andern Ländern, da niederließ, blieb ewiger Fremdling, das heißt, «Beisaß«; ein Verflossener von jedem bürgerlichen Genuß. Nicht einmahl Geld durfte er einem Landmann leihen (laut Gesez v. I. 1702) um denselben nicht von sich abhängig zu machen, oder auch, damit die reichern Landleute ihre Kapitalien zu desto höher» Zinsen ausleihen tonnten, zu 6—8 Prozent. Die Beisassen müssen für sich Bürgen stellen, oder das Land meiden (v. I. 1638); müssen, wenn sie heirathen, abermahls 300 st- Bürgschaft geben, und dazu eine gute Flinte, nebst Seitengewehr ins Zeughaus liefern, ausserdem noch 10 fl. in den Landskaften (in die Staatskasse). Sie dürfen nicht jagen, nicht mit dem Netz fischen, nicht über 4 Rinder auf die Gemeinweide treiben; nicht für mehr als 1000 st. Grund und Boden kaufen; nicht in weltlichen, noch geistlichen Dingen Stimme geben. Aber eben so streng war auch (schon seit 1503) den eingebornen Landleuten untersagt, ausser Landes Geldanleihen zu machen; oder dahin Güter zu verpfänden, oder in Lehen zu geben. Hätte man nicht den Klöstern schon in alter Zeit Schranken gesetzt, so würden diese, durch fromme. Schenkungen, durch Ankäufe, durch Prozesse, den größer» und bessern Theil des Landes bald zu ihrer Domäne gemacht haben. Allein jeder Verkauf, 7t jede Schenkung von Land und Gut an sie, ward gesetzlich ungültig und strafbar erklärt. In älteren Zeiten bewies man sich noch weit strenger in bürgerlichen Verhältnissen gegen Kloster- und Weltgeistliche, als in spätern Jahren; eben so gegen Diener und Söldner ausländischer Fürsten. Wer deren Libereien, offene Zeichen (Orden) in Kleidern, Waopen, in Häusern an der Wand, an Thüren, oder an- derSwo andenkte, mußte 5 Pfund Buße zahlen (v. 1.1516). Wie übrigens weltliche Gesetze aber auch die Frömmigkeit unterstüzten, erhellt daraus daß (im I. 1531) geboten ward, »so oft es zu Mittag läute, solle jeder, wo er wäre, knieend mit ausgespannten Armen 5 Vater unser und Ave Maria und einen christlichen Glauben beten»; oder, wer bei Gott und den heiligen Sacramentcn schwört, »solle alsbald den Erdboden küssen», oder der schwersten Strafe gewärtig seyn (o. I. 1705). Unter andern Landesgesetzen heb' ich noch folgende aus: »Im XV. Jahrhundert ward jeder gehangen, der an Geld oder Geldes Werth 4 Pfenning und 5 Schilling gestohlen hatte und mit 12 ehrlichen Männern überzeuget war.» Wenn der Bestohlene aber vvm Dieb mehr forderte, als jener ihm genommen, kam er selber in dessen Strafe. Kirschen konnte man von jedem Baum pflücken, der vom Eigenthümer mit keinem daran befestigten Dornbusch bezeichnet war; »wer aber ab einem gekörnten Baum kriesete (Kirschen pflückte) den mag man dieben (wie einen Dieb anklagen) als wenn er gestohlen hätte.» (Gesez v. I. 1530). Verwundung im Duell ward mit der doppelten Strafe belegt die auf Verwundung stand; Tödtung aber im Duell, als gemeiner Mord behandelt. — Spielen war erlaubt um 5 Pfund Pfennig »oder Nidlen» (Milchrahmen); aber nie an Festtagen, Sonnabenden, heiligen Abenden, vor der heil. Messe, oder nach dem Läuten der Betglocke, (Gesetz v. I. 1518).— Einer Frau, die einem Landmann lebende, männliche Zwillinge gebiert, soll der Hr. Landsekelmeister »ohnverweilt 70 Maas guten wellschen Wein geben.» (1784.) Auf Ehrbarkeit im Rath ward sehr gehalten. Hart gestraft wurde, »wer aus dem Rath schwäzte;» ein Rathsherr aber der den andern ehrver- lezlich »,'n der Rathsftube schalt, old (oder) auf dem Estrich, (vor der Stube,)» dürfte fortan so wenig, als der Gescholtene, dem Rath weiter beiwohnen, bis nach rechtlichem Austrag der Sache (v. I. 1676.) Diese Sitte steht noch hoin Ehren. Ein »gescholtener Mann» der den Scheiter nicht vor Gericht nimmt, gilt als ein ehren-unfähiger Mann. Man sieht daraus, daß die Gesetzgebung des Hirtenkandes höchst einfach und mangelhaft war; den Negierenden und Richtern aber weiten Spielraum und eine Willkühr, einräumte, bis in ältern und neuern Zeiten gar nicht selten auf empörende Weise benuzt wurde. Indessen das Volk hielt sich für frei. Unkundig des Bessern, oder in herkömmlicher Unwissenheit unbeholfen zum Bessern, überließ es sich mit vertrauensvoller Kindlichkeit der Leitung seiner "geistlichen und weltlichen Herrn," wenn sie ihm nur nicht zu schlimm mitspielten. Das hat sich in neueren Zeiten nun freilich etwas anders gestaltet. Die Reformen nämlich, welche, seit Anfang des Jahres 1830, von den meisten Kantonen in ihren Staatsvcrfaffungen vorgenommen wurden, sind auch auf Schwytz nicht ohne Einfluß geblieben. Es ist da unerwartet ein Lichtstrahl in die alterthüm- liche Finsterniß eingebrochen, der nicht mehr erlöschen kann. Bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts waren von den 38,000 Seelen, aus welchen das Völkchen besteht, nur eigentlich 12 bis 16,000 staatsbürgerlich frei, nämlich, die Landleute des einzigen Bezirks Schwytz. Das übrige zum Kanton gehörige Land war Unterthan dieses Bezirks, der sich daher auch das "altgefreite Land" hieß. Erst, als die Franzosen (im I. 1798) in die Schweiz einbrachen, und als gegen sie die Unterthanen mit ins Schlachtfeld ziehn sollten, wurden diese frei erklärt. — Auch selbst im Bezirk Schwytz wohnten noch bei 3000 Personen, die unter dem Namen der Insassen oder „neuen Landleute", an den bürgerlichen Rechten und Freiheiten der alten Landleute keinen Theil hatten, blos auf ein gewisses Gewerb beschränkt und mancher lästigen Bedingung unterworfen waren. Ihnen, deren Vorfahren da schon seit Jahrhunderten gelebt hatten, ward von souveräner Landsgemeinde ebenfalls endlich am Tage der Noth (am 18. April 1798,) zugesagt, daß sie hinfort, als „gefreite Landleute" angesehn werden sollten. Was das biedre Hirtenvolk damals von ganzem Herzen gern bewilligt hatte, mogte von den regierenden Herrn wohl nur ungern gewährt worden seyn. Es ging damit manches Aemtlein für ihre Familien verloren. Inzwischen ließ sich nichts ändern. Aber (im I. 1815) nach dem Stur; Napoleons, steuerte die Aristokratie wieder, wie in den übrigen Kantonen, auch in. Schwytz 73 den alten Zuständen entgegen. Man machte langsam und vorsichtig die ehemaligen Vorrechte des altgefreiten Landes über die sechs andern Bezirke geltend. Diese verlangten vergebens und jahrelang eine bestimmte Landesverfassung. Sie ward immer verheißen doch, unter schlauem Zögern, nie ins Werk gesezt. Da erschien das Jahr 1830, in welchem die Mehrheit der Kantone ihre Staatsgrundgesetze verbesserten. Als die Herrn zu Schwytz beharrlich zauderten, das Begehren der sechs „äußern Bezirke« zu erfüllen, trennten sich diese, nach vielen Unterhandlungen und vergeblichen Vermittlungsversuchen der Tagsatzung, als ein eignes Gemeinwesen, vom altgefreiten Bezirk. Doch die Trennung dauerte nicht lange. Denn als die in der Schweiz zerstreute aristokratische Parthei, zur Wiedereroberung ihrer angemaßten Herrlichkeit, im Jahre 1833 sogar Bürgerkrieg versuchen und nicht an die eigne Ohnmacht glauben wollte; als von, Flecken Schwytz aus sogar ein schlechtbewaffneter Haufe von 600 Menschen den Angriff gegen die äußern Bezirke begann, stellte die Tagsaßunz plözlich, ohne Blutvergießen, Ruhe und Ordnung her, indem sie eine Truppen- macht von 10,000 Mann ins Land schickte. Dann wurde die Trennung aufgehoben, und das Ländchen ist wieder, unter selbst- gegebener Verfassung, eine ungetheilte Republik. Diese Verfassung, wie einfach und den Verhältnissen des kleinen Gebiets angemessen sie auch seyn mag, enthält aber Grundsätze, die das volle Gegentheil der ehmaligen sind. Sie bringen nothwendig ein andres Leben, einen andern Geist in den engen Alpen- staat und durch ihn wahrscheinlich auch in die übrigen Berg- und Waldkantone, früher oder später. Wenn Bürger einer Monarchie diese Grundsätze lesen, welche solches Wunder wirken sollen, werden sie lächeln müssen; denn in guten Monarchien bestehn die darin gegebnen Freiheiten längst für alle Unterthanen. Sie werden erstaunen, daß es nöthig war, erst solche Grundsätze feierlich zu erklären und durch eine Con- ftitution in einem Lande zu beurkunden, welches man immer für eine Demokratie, für die uralte Wiege der Freiheit, zu halten gewohnt war. Aber man lernt daraus, welch eine Bewand- niß es mit den ehmaligen schweizerischen Republiken hatte, die man pries, ohne von ihnen mehr, als ihre äußere Vergoldung zu kennen. Die Souveränetät des Volks im Kanton Schwytz thut sich, wie seit einem halben Jahrtausend, zwar auch izt noch, durch die versammelte Landsgemcinde kund; aber nicht mehr einige Abthei- 74 lungen des Volks, sondern alle Staatsbürger haben nun Recht, dabei zu erscheinen; denn alle genießen gleiche staatsbürgerliche Rechte und alle sind vor dem Gesez einander gleich. Jeder kann sich nun in einer Gemeinde niederlassen, wo er will, und Handel und Gewerbe treiben, wie der eingeborne; übt sein politisches Bürgerrecht aus, wo er wohnt, und kann vor Gericht treten, ohne von einer Behörde daran gehindert zu werden. Die freie Meinungsäußerung in Wort und Schrift ist gewährleistet, (wirklich bestehn nun schon thätige Druckerpressen zu Schwytz, wie zu Einsiedeln). Die vollziehende und richterliche Gewalt ist getrennt; kein verfassungswidriges Gericht darf mehr ausgestellt werden. Klöster stehn in jeder Beziehung unter Aufsicht des Staats; sind im Handel und Gewerbe auf die Erzeugnisse ihrer Güter und den damit verbundnen Viehstand beschränkt; dürfen auf keine Weise ihr Grundeigenthum vergrößern und müssen dennoch zu den Staatslasten, vcrhältmßmäßig wie andre Bürger beisteuern. Was ist nun in dem Allen Außerordentliches? — wird man fragen. Das Außerordentliche liegt darin, daß es Mühe, ja beinah Bürgcrblut, kostete, in einem sogenannten Freistaat den Genossen desselben Rechte zu verschaffen, deren sich die Unterthanen weiser Fürsten längst erfreuten! Goldau vor dem Bergsturz. Das arme Gold au! Es liegt mit seinen friedlichen Hütten, seinen Fluren und Obsthainen hundert Schuh tief unter Felsen begraben. Einst ruhete es im schönen Thale zwischen dem Ruffiberge und Rigi, zwischen den Seen von Zug und Lowerz, weich und tief, in seinen dunkelgrünen Wiesen und krausen Gebüschen, eingebettet. Durch die Mitte der zerstreuten Hütten strömte fröhlich der Aabach, aus dessen Sande man noch Ende vorigen Jahrhunderts Gold wusch. Eine hölzerne, geräumige Brücke, mit Bedachung, führte hinüber ins Innere deS Dorfes. Da trat dem Wanderer malerisch die Filialkapelle des Ortes, mit ihrer kleinen Vorhalle und dem hochgcspizten Thürmlein entgegen, umringt von ländlichen Wohnungen. Diese, wenn mich höchst einfach und prunklos, WUW UM 75 wie überall in den Hirtenthälern, trugen doch den Charakter deß Beqnemlichm und, wie die Schweizer sagen, «Heimeligen" (Heimathlichen), weil man sie nicht ohne ein Gefühl ansehen kann, es sey da drinren behaglich. Nur das niedrige Erdgeschoß, für Keller, oder Bewalrung allerlei «Gerümpels" ist von Mauerwerk aufgeführt; das llebrige des Gebäudes, eins und zwei Stockwerke hoch, bis zum Dache, von Holz. Zahlreiche Fenster, mit kleinen runden Scheiben, geben den Zimmern und Kammern drinnen genügsames Licht; und das vertäfelte Holzwerk gewährt im Winter größere Wärme, iw Sommer größere Kühle, als das dickste Gemäuer. Vordächlein draußen über die Reihen der Fenster dienen den Gemächern, statt Sonnenschirmes. Der Sammelplatz der Familie, die Wohnstube, pflegt das größte Gemach des Hauses, dennoch aber durch den weiten und breiten ausgemauerten Ofen oft über Gebühr, verkleinert zu seyn. Solch ein Riesen-Ofen dient der Hansmutter auch zum Backen des Brodes, zum Dörren ihres Obstes und dem Herrn und Knecht am kalten Wintertage, sich auf die erwärmte Oberstäche ausgestreckt hin zu lagern. Ein kleines Weihwasser-Gefäß neben der Thür, ein Kruzifix, ein Marienbild in der Zimmcrecke, ein schwerer, hölzerner Tisch, nebst einigen Bänken und Schränken, bilden gewöhnlich die gesammte Verzierung und Geräthschaft des Zimmers. Die zerstreuten Häuser und Höfe von Rothen und Busingen, welche mit Goldau zugleich untergingen, gehörten, wie dieses, zur Pfarrei des Fleckens Arth, am Zugersee. Das ganze Thalgelände bis Lowerz, das sich am Fuß des Rigi in seinem eignen See spiegelt, war zwar von Alters her zum Ländchen Schwytz gezählt, aber im zehnten Jahrhundert, durch frommer Herrn Hand dem Gotteshaus Murbach im Elsaß, nicht minder den Grafen von Lenzburg im Aargau, zins- und gaben-pstichtig, übrigens aber unter Kaisers und Reiches Schirm. König Albrecht, dem, zur Bereicherung seines Hauses, auch das Geringe nicht zu gering schien, brachte nachher die Rechte und Steuern des armen Thals mit Gewalt an sich. Sie bestanden in wenigen Geldzinsen und gerichtlichen Bussen, einigen Maltern Getraide, in Fischen, Lämmern, Käsen, Butter u. s. w. Um 200 Mark Silbers Züricher Gewicht kaufte sich im I. 1353 das Thal endlich von Allem los. Gern mögt' ich die tausendjährige Lebensgeschichte ches unglückseligen Oörfleins und der benachbarten Höfe erzählen. Aber sie ist so einfach und einförmig, wie die Sitten seiner gutmüthigen Bewohner vor Jahrhunderten und noch am Tage des Unterganges waren. 76 Die nämlichen Grundstücke, auf welchen schon vor dreisstg Men- schcnaltern die bescheidenen Geschlechter des Dorfs, die Bürgi, Eikvrn, Biser, Amen, Ospenthal »gehauset und gehofet" hatten, wurden noch im Jahr 1806 von deren Nachkommen gleiches Namens ungeschmälert besessen und angebaut. Ein Sohn folgte immer dem andern der Reihe nach, als Erbe und Erblasser der nämlichen Heimath, und wußte seinen Kindern von Vatern zu erzählen, die vor fünf und sechs Menschenalter auf derselben Stätte geboren und gestorben waren. Die Sitte des Alterthums blieb die Sitte der neuesten Zeit. Zieger, mit Salz und Kümmel gemengt, hart gepresst, auch geräuchert, galt ehemals, und am letzten Tag noch, als alltägliche Kost. Brod- und Fleischspeisen waren seltne Ueppigkeit; dürres Obst, Gemüse und Milchspeisen gehörten zur bessern Nahrnng. Es ist aufgezeichnet worden, daß Melchior Bürgi zu Goldau, bei einer amtlichen Rechnungsablage im Jahr 1690, den in seinem Hause versammelten Rathsherren einen Schmauß gab. Da wurde „gcbläheter" (oder verdickter, dann zusammengepreßter, dann über Kohlenglut gebratener) Zieger*) in Fülle genossen und Brod dazu gegessen. Das Ehrenmahl kostete einen ganzen Gulden! Einfach, wie die Kost, war die Kleidung. Das Gewand des Reichen, wie des Armen, bestand aus gleichem Stoff mit gleichem Schnitt. Nur an Festtagen erschienen Feierkleider, doch ohne Kostbarkeit, gewöhnlich aus selbstverfcrtigtcm Zeuge. Im vorigen Jahrhundert wohnten auf der Harmettlen, einem Hofe bei Goldau, die zwei schönsten und reichsten Mädchen der Gegend, die Töchter eines hablichen Bürgi. Aber beide hatten doch nur einen und denselben festlichen Putz mit einander gemein. Ging die eine der Schwestern Sonntags in den Flecken Arth zur Kirche, erwartete die andere die Rückkunft derselben, um dann in der nämlichen Kleidung die Kirche zu besuchen und die Augen der Bewunderer auf sich zu ziehen. Nachts schlief man nackt, ohne Hemd, im Bette, wie darin die alten Könige und Königinnen noch in alten Holzschnitten zu schauen sind; eine Sitte, die aber unter den Landleuten vieler Schweizergegenden noch immer in Uebung ist. Von solcher Häuslichkeit und einfachen Lebensart hat man wohl nur in wenigen . *1 Zieger ist der käsige Niederschlug, der, vermittelst einer Säure, aus dem dünnen, milchigen Wasser (Sirbe, Sirbele genannt) noch abgeschieden werden kann, was von der gewonnenen und davon genommenen Milch noch übrig bleibt. 77 Landern Europcns Vorstellungen; aber auch nicht von der harmlosen Redlichkeit und Treue der Denkart, die daneben herrschte. Bridel hat uns davon, im Jahr 1783, einen Zug aufbewahrt, der zu schön ist, als daß er hier nicht wieder erzählt werden sollte. Zween Nachbarcn hegten mit einander wegen eines Stück Mattlandes Streit. Jeder glaubte sein Eigenthumsrecht mit guten Gründen geborgen. Die Sache sollte zur Entscheidung vor das offene Landgericht zu Schwytz gebracht werden. Franz ging zu seinem Nachbar, und meinte, sie wollten in Gesellschaft mit einander von GolLau dahin wandern; Nachbar Kaspar schützte Unmöglichkeit vor, weil er sein Heu von den Wiesen einbringen müsse, ehe sich das Wetter verschlimmere. Nach manchem Hin- und Hcrreden sagte Kaspar: "Nun denn, so kannst du ja allein nach Schwytz gehen, und dem Richter deine und meine Gründe sagen.» — »Auch das!» erwiederte Franz: »Ich werde die Sache für dich besorgen, wie für mich.» Franz ging. Als er zurückkam, war sein Erstes, den Nachbar zu besuchen, und ihm mit freudiger Miene zu verkünden: »Ich wünsche dir Glück, Kaspar, du hast den Handel gewonnen und die Wiese gehört dir!» So oft ich ehemals durch die freundlichen Gegenden von Goldau wandelte, und es geschah während meines amtlichen Aufenthalts in den Urkantonen nicht selten, befremdete mich der Anblick zahlloser mit Moos und Kräutern, oder Tannen bewachsenen Felsblöcke in der Umgebung des Dorfs. Es war ein wirkliches Labyrinth zwischen diesen Felstrümmern. Es zweifelte Niemand, daß hier vor undenklichen Zeiten schon ein Bergsturz gewesen seyn müsse. Vielleicht riß sich damals eine Masse des hohen Gnyppenstvcks los. Man hat auch Erinnerungen von spätern Ucberschüttungen dieser Gegend. Eine Urkunde spricht noch von einem Dorf in Rötten, das nicht mehr vorhanden ist; statt dessen finden wir da Grundstücke, deren Name »Brechen» auf einen Abbruch vvm Felsen deutet: »All- mendbrechen, Hublisbrechen» u. s. w. Im Jahr 1712 drohte eine von der Höhe niedertobende Stein-Lauine große Gefahr in der Gegend vom benachbarten Arth. In derselben Gegend wiederholte sich dasselbe Schauspiel vom Berge herabrollender Felsen, Tannen und Erdhaufen im Juli 1795. Ueberhaupt sind die furchtbaren Erscheinungen der Bergfälle, wenn in Verwitterung zerrissene Felsmassen stürzen, oder »Erdschlipfe», wenn Grund und Boden steiler Halden, mit Fels und Wald, gegen die Tiefe niedergleitet, keiner Gegend des Hochgebirgs fremd. Wer mögte sieMe aufzeichnen?. Nur die verheerendsten 78 werden im Gedächtniß bewahrt, wie der entsetzliche Untergang des großen und reichen Fleckens Plurs im Jahr 1618, welcher mit seinen 2430 Einwohnern unter dem m'edcrgefallenen Gipfel des Berges Conto begraben liegt. >Die bleiche Spur eines mächtigen Erdschlipfes an der Südwestseite des Rigi, ohnwcit dem Dorfe Weggis am Luzerner-See erblickt man noch seitdem Jahre 1795. Damals glitten bei 80 Juchart Landes, mit Wiesen, Gärten, Fruchtbäumen und 31 Häusern zum See herunter; doch so langsam, daß man das Beste retten und selbst die Häuser fast ganz abtragen konnte. Goldau nach dcm öcrgslurz. An einem schönen Sommertage, es war im August 1806, besuchte mich ein junger, liebenswürdiger Mann, Rudolph Jenner, von Bern, mit dem ich durch freundschaftliche Verhältnisse und Briefwechsel verbunden war. Er wollte mich zu einer Rigi-Reisc bereden, die er in Gesellschaft einiger Freunde und Freundinnen zu machen im Begriff stand. Ich mußte die Einladung ablehnen. Wäre sie von mir angenommen worden, würd' ich wahrscheinlich neben ihm unter den Bergtrümmcrn des Gnpppen ruhn. Nach anhaltendem heftigem Rcgenwetter war er mit 'seinen Gefährten aufgebrochen. Am 2. Scptembertag, bei trübem Himmel, stiller Luft, wanderte er mit ihnen wohlgemuth durch den Flecken Arth, und den Weg nach Schwytz, das reizende Thal entlang. Einige Herren waren zufällig etwas zurückgeblieben. Sie eilten «ach und sahen ihn noch, nur einige hundert Schritt vor sich, mit seinen Begleitern und Begleiterinnen, in das Dorf Goldau wohlgemuth einziehen. Aber ein anderer Anblick fesselte die Aufmerksamkeit und die Schritte der Zurückgebliebenen. Sie sahen links von der Höbe des Gebirgs einzelne Felsenblöcke niederfallen; einige mit hohen Tannen gekrönt. Ein dumpfer Donner hallte nach. Die Entfernung bis zum Berge war zu groß, um Gefahr zu fürchten. Sie blieben stehen. Das großartige, wunderbare Schauspiel hob ihr Gemüth mit Frohlocken und Erstaunen. Sie jauchzten bei jeder Wiederholung ihren Beifall der gewaltigen Natur. Sie klatschten freudig mit den Hän- «r?^KAZ MW Ä-.^-^TÄS ZdE WM MG 79 den. Aber plötzlich, wildbrechend fing die Masse des ganzen riesigen «Gebirgs an sich zu bewegen. Erst in fürchterlich langsamer Wellemform, und mit donnerndem Gcbrause hob und senkte sich die ungeheure Bergwand, von mehreren Stunden Ausdehnung, sammt ihren Waldungen, Sennhütten, Viehheerden und Ortschaften, '— dann mit Blitzesschnelle brach Alles los, und nieder sausend, betäubend, Finsterniß, einer Nacht gleich, erstickender Dampf und Staub ringsum. Der Boden bebte. Es war ein Schlag, ein Augenblick. Dann verstummte der Donner in langsam hinsterbendem Getöse. Erst nach einigen Minuten legte sich der dichteste Staub. Die auf einer Wiese vor Goldau gebliebenen Beobachter des grauenvollen Ereignisses sahen einander mit Entsetzen an, sprachlos, bleich. Bald, wie die Staubwolken lichter wurden, erkannten sie, in unmittelbarer Umgebung, Schutt und Felsen; bald weiter hin den gleichen Gräuel der Verwüstung. Aber sie sahen nicht mehr Goldau vor sich; nicht ihre Reisegefährten mehr, die ins Dorf eintreten wollten.. Alles war verschwunden, Alles begraben; das grüne, blühende Thal eine leblose, graue, dampfende Einöde. Es war Nachmittags um 5 Uhr. Der Flächenraum von beinahe einer Geviertenmeile zeigte sich mit Erdschlamm und ungeheuern Felsen, stellenweis bei 100 und mehr Schuh hoch, überlagert. Vom Gnyppen herab hatten sich die vom Wasser unterfreffencn obern Gebirgsschichten überwälzt. Die Wucht des Falles hatte sogar gewaltige Steinblöcke an den gegenübergelegenen Rigiberg, zu der andern Thalseite hinaufge- schleudert; Vogel in der Luft, während der Flucht, getödtet. Der Lowerzer-See schwoll und wogte vom hereinstürzendem Getrümmer hoch auf. Die Wellen schlugen über die romantische Insel Schwans» zusammen, über die Wipfel der Bäume, 60 — 70 Schuh über dem Wasserspiegel des Sees, zur Thurmspitze der einsamen Felsenkapelle empor; fuhren zerstörend in die Dörfer von Lowerz und Seewen. Die Ortschaften Goldau, Busingen, Rötten, mit ohngesähr 500 Menschen, mit 11t Wohnungen, ihren Heer- den, ihren Ställen, waren von der Oberfläche der Erde vertilgt, nebst allen Kapellen und Andachtsstätten. Niemand konnte die Stelle nur annähernd bezeichnen, wo die Gebäude, wo die Brücke von Goldau, wo das Filialkirchlein des Orts gestanden waren. Landleute, die zufällig während des furchtbaren Schicksals auf den Höhen gestanden, sagten aus, sie hätten in dem finstern Augenblick ein herzzerreißendes Angstgeschrei vom Dorf her vernommen. Einer der Zeugen erklärte: er habe deutlich aus einem Hause bei Goldau 80 das letzte Geschrei eines Mannes vernommen: »Fliehet, fliehet! der Berg kömmt. Er ist schon da!» Einige Tage vorher schon hatten Personen, die am Berge Holz fällten, und andere ländliche Arbeiten verrichteten, im Erdboden vorher nie gesehene Wülsten, Risse und Spaltungen des Grundes bemerkt; auch Fallen einzelner Steine; dumpfes Dröhnen der Erde unler ihren Füßen. Sie erzählten davon, als herrsche da Teufels- spuck und Aefferei böser Geister. Einer derselben ging zum Pfarrer und bat ihn, sein Landstück zu benediciren, denn »da sey es unrichtig.» Es ist eine der schaübervollsten Vorstellungen, daß wohl mehr, als einer jener vom Bergfall Verschütteten nicht plötzlichen Tod gefunden, sondern in der Nacht seines Grabes noch Tage ver- zweiflungsvoll gelebt haben möge. Bald nachdem das Schreckliche geschehen war, kamen von der Höhe des Gebirgs drei Männer, welche Holz gefällt hatten. Sie hörten, am Saum der Schlamm - und Schutt-Lauine wandernd, in der Gegend, wo einst eine ärmliche Berghütte gestanden war, unterirdisches Wimmern. Sie machten sich rasch aus Werk; fanden unter dem Schütte zertrümmerte Balken, und zogen einen vierzehnjährigen Knaben, Meinrad Appert, unversehrt darunter hervor. Wie die Bewegung des Berges begann und die Wälder und die Felsen droben durch einander gingen, sah es auch Lienhard Wiget, der eben mit seiner Familie Obst unter den Bäumen auflas neben seinem zierlichen, wohlgebauten Hause. Alles flüchtete mit Geschrei. Die 23jährige Magd, Franziska Ulrich, ergriff das ihr nächste Kind, ein Mägdlein von 5 Jahren, rannte mit demselben in's Haus und wollte noch das Jüngste retten, welches in der Wiege schlummerte. In demselben Augenblick aber ward die Stube nächtlich finster, das ganze Haus aufgehoben, weggeschoben, fortgeschleudert, wie Franziska glaubte, in einen tiefen Abgrund. Als die Bewegung ein Ende nahm, fühlte sich das arme Mädchen hart eingeklemmt, die Füße aufwärts, den Kopf unten, über das Gesicht Blut fließen. Franziska litt keine Schmerzen; aber sie wähnte sich begraben im ungeheuren Weltuntergang, der dem jüngsten Tage vorangegangen sey; alles Lebende auf Erden hielt sie nun für vernichtet; sich allein noch im todten Reich der verwüsteten Schöpfung als die Letzte übrig, welche athmete. Nach geraumer Zeit drang aber durch die Finsterniß das Wimmern eines Kindes. Sie erkannte die Stimme der kleinen Marianne, die sich in das Haus geflüchtet hatte. Sie selber ohne Trost, versuchte aber das Kind zu trösten, welches über Schmerzen, . ' «M AM WWW MOWO! ?!^Kz d-x. ürM'< 8t bald über Hunger, klagte, endlich leiser sprach und nach einigen Stunden weinend entschlief. Franziska betete. Da hörte sie Glok- kentöne. Sie erkannte noch das Abendgeläut am Steinerberg und bald darauf auch die Betglocke vom Dorfe Steinen. Nun ward Licht in ihrer Seele; die Welt sey noch nicht untergegangen. Es blieb noch Hoffnung auf Erlösung. Eine lange, grauenvolle Nacht verging, eh sich die Tone der Morgenglvcke am Steinerberg wieder hören ließen. Auch die kleine Mariane ließ sich vernehmen mit neuen Jammerlauten. Indem sie das Kind tröstete, drang auch Geschrei aus der Höhe zu ihr. Sie erkannte die Stimme deS verzweifelnden Wiget. Nun erhob sie mit dem Kinde ein klägliches Rufen um Hülfe. Wiget stand wirklich in diesem Augenblick am Saum der Fels- lauine, und heulte im Schmerz um den Verlust seiner Familie laut auf. Wie er die unterirdischen Stimmen vernahm, erstarrte er vor Grausen und Freude. Dann, mit Beistand einiger Männer, schritt er zur Ausscharrung der Begrabnen. Er fand sie endlich. Er zog sie hervor, und befreite sie von Schlamm, der jede Bewegung ihrer Leiber 14 Stunden lang unmöglich gemacht hatte. Des Kindes Schenkelbein war gebrochen; Franziska blutig und zerquetscht am ganzen Leibe. Beide jedoch sind gerettet und geheilt worden. Noch nach einem Jahrhundert wird der Wanderer die Verwüstung des weiland glücklichen Geländes wahrnehmen, und die vom Bergsturz hinterlassene lange, breite Narbe des Gnyppenstocks, neben dem Rüfiberge. Ueber den unfruchtbaren Schutt, zwischen Felsstücken und Wasserpfützen, schlängest sich nun der Weg von Arth gen Schwytz. Hin und wieder hebt sich ein magres Gesträuch an todten Klippen. Eine Kapelle, ein Wirthshaus für Reisende, ein Heuftall, über den Ruin aufgerichtet, tragen den Namen des verschwundenen Goldau und deuten in der Einöde, auf die ehmalige Stätte desselben hin. 4. Maria zum Schnee auk dem Rigi. In einer Bcrgverticfung, aber noch 4300 Fuß über dem Meere, auf dem Rigi, erbaute im Jahr 1689 ein frommer Mann, Sebastian Zay, ein Kirchlein. Er that es, damit die Hirten, «; 82 welche an diesem Gcbirg 3 — 4000 Stück Vieh in den Alpen weiden , ihrer Andacht pflegen mögtcn. Auch eine Wohnung, oder ein Klösterlein für einige Kapuziner, fügte er hinzu, welche daselbst des Gottesdienstes Sorge trügen , Sommers und Winters. Als darauf der heilige Vater zu Rom (im I. 1696) noch reichlichen Ablaß hieher ertheilte, begann bald großes Wallfahrten zum wunderthätigen Bilde „unsrer lieben Frau zum Schnee." Denn die Vater Kapuziner ließen es nicht an Ermunterung, erbaulichen Geschichten und guter Bewirthung der Pilger mangeln. Dafür flößen ihnen der frommen Gaben und Almosen viel. Es wurden Wirthshäuser gebaut. Aber den besten Tisch und den wohlgefülltesten Keller fand der Reichere bei den ehrwürdigen Vatern selbst; Wildpret, Forellen und Geflügel, italienische und Elsasser Weine fehlten nicht. Doch noch im Anfang des vorigen Jahrhunderts kannten, ausser den Hirten, die dort in anderthalb hundert Sennhütten längst dem Gebirg zerstreut lebten, und ausser den Pilgern wenige Reisende den Rigi. Sogar der alte Naturforscher Joh. Jak. Scheuchzer zog im I. 1706 auf seiner fünften Vergreise gleichgültig an ihm vorüber, und erstieg dafür lieber den gegenüber stehenden Pilatus. Erst gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts ward der Rigi, (die ksKma nwntiuni, Königinn der Berge) durch erhabene Pracht einer unermeßlichen Aussicht, die er gewährt, berühmter; und bald auch von Freunden der landschaftlichen Naturschönheiten , oder von neugierigen Reisenden, Naturforschern, und von Kranken besucht, denen die Aerzte Alpenluft oder Molkenkuren verordnet hatten. Von da an mehrten sich die Gasthäuser und ihre Bequemlichkeiten. Seit den lczten 20 Jahren wurden deren noch auf der sogenannten »Staffel» nur eine Viertelstunde unter dem Berggipfel oder »Kulm» und auf dem Kulm selbst gebaut, blos 38 Pariscrfuß tiefer, als die lezte Spitze des Rigi, auf welcher sich noch ein Signalgerüst, 5570 Fuß über dem Meer, erhebt. Die ehmals schroffen, oft lebensgefährlichen Pfade hinauf verwandelten sich in breite, bequeme, sichre Wege für Fußgänger und Reiter, daß selbst Frauenzimmer, ohne Uebermüdung, ohne Furcht, hinaufwandeln mögen. - Seitdem sieht man droben in den Sommermondcn das Stelldichein von Reiselustigen aus der größer« Hälfte unsers Welttheils, welche Zerstreuung, oder Gesundheit, oder Belehrung, oder das Schauspiel außerordentlicher Naturwunder suchen. Der Brite begegnet da dem «s Jtaliäner, der Franzose dem Russen, der Schweizer dem Amerikaner, der Spanier dem Polen, der Deutsche dem Ungar. Oft reichen kaum alle Gasthäuser aus, der Menge Obdach zu geben. An schönen Tagen werden von Karavanen der Auf- und Nieder- steigenden die Hauptwege des Berges belebt. Die sonst einsamen Alpen gleichen dann 'nem weiten Lustgarten in der Nähe irgend einer großen Hauptstadt. Gruppen der Spaziergänger, männlichen und weiblichen Geschlechts, mit Sorgfalt und Auswahl gekleidet, zeigen sich in allen Richtungen; hier im Grase gelagert, dort einen Berg erklimmend, hier auf einer Felswand versammelt, mit bewaffneten oder »»bewaffneten Augen die Fernen zu mustern; dort Abschiednehmende; dort Ankömmlinge in seltsamer Reisetracht, von Führern und von Trägern ihres Gepäcks begleitet. Dies bunte Getümmel, der hier entfaltete Luxus, das fröhliche Umhertreiben reicher Familien der verschiedensten Nationen, machte vor einigen Jahren sogar einen Franzosen gelustig, ich glaube er hieß L afitte, auf dem Rigi, während der Sommerzeit ein Spielhaus zu halten, und sein Pharao, Roulette, Rouge et Noir immitten der Alpen anzulegen. Er trat sogar schon mit der Regierung von Schwytz in Unterhandlung. Aber in der Eidgenossenschaft erhob sich die Stimme des tiefsten Unwilles dagegen, wie gegen «ine Entweihung des Heiligthums. Die ausgezeichnet vortheilhafte Lage dieser erhabnen GebirgS« Masse, welche, abgeschieden von andern Bergen, im Umfang von zehn Stunden, und im Vorgrund der langen Kette von Gletschern, zwischen unmuthigen Landschaften und drei schonen Seen, zu einer Höhe emporsteigt, auf welcher im Sommer noch Schnee fällt, aber nicht liegen bleibt — diese Lage ist es, welcher der Rigi einen Ruhm dankt, den ihm kein Nebenbuhler unter den europäischen Bergen mehr streitig macht. Gen Süden und Osten lagert sich vom Montblanc bis ins Tyrvl die Kette der Alpen mit ihren Tausend vergletscherten Firsten, Hörnern, Zinken und Thürmen aus, fern genug, um sie bequem zu überschauen. Gegen Westen und Norden, bis zum Jura am Himmelssaum , schweift der Blick über einen bunten Teppich von niedrem Schweizerkantonen, über Berge, Hügel, Thäler, Dörfer, Städte, Wälder, Ebnen, Seen, Ströme hin. Man denke sich einen Ueberblick von mehr, denn einem halben Tausend Geviertmeilen! Kein Wunder, wenn in solcher Höhe der menschliche Geist sich selber erhabner fühlt. Im Wehn der reinen Alpenluft scheint das Gemüth von den Schlacken des Alltagslebens frei zu werden. — 84 Jenes schwimmende Spreukorn auf dem Wasser? Es ist ein durch den See ruderndes Schiff. Jener Maulwurfshügel, jene zusammengescharrten Schutthaufen in der Tiefe drunten ? Es sind Dörfer und Städte, von kleinen Wesen bewohnt, die wir mit bloßen Augen unmöglich erkennen mögen, die sich aber Herrn der Schöpfung heißen; die sich mit Eitelkeiten brüsten, mit Leidenschaften verfolgen, mit ihren riesenhaftscheinenden Plänen und zerstörten Hoffnungen, vom ersten zum lezten Odemzug, quälen. Die armen Ameisen! In der That, ihre Kunst ist bewundernswürdig, mit der sie sich zwischen Holzsplittern und kleinen Steinen annisten; einige Sandkörner anhäufen, welche ihnen Denkmale des Ruhms für Jahrtausende dünken, und sogar von einem Ufer des Gewässers zum andern, in einer Hülse, überzuschwimmen wagen. Aber bedauernswürdig ist die Bosheit, mit der sich diese Milben einander zu vernichten und zu zertreten suchen, wie kein anders Thiergeschlecht gegen Geschöpfe seiner eignen Gattung zu thun pflegt. — Ach, unH wir selber auf der Berghöhe, nur der Natur, und darum schon, aus der Endlichkeit, dem Unendlichen und Göttlichen näher getreten — auch wir gehören jenem Milben-Geschlecht an. Welch ein Nichts ist unsere Persönlichkeit! Aber wie göttlich groß das Licht Gottes in uns, der Geist dessen Strahl das Weltall, die Geheimnisse der Natur durchleuchtet, ins Ewige dringt! Auch im Thautropfen des Halms zwar spiegeln sich des Himmels Millionen Sonnen; aber der Thautropfen begreift sie nicht; sie sind ihm dunkel, wie er sich selbst. Man hat schon die Pracht der Rigi-Aussichten so oft, und in so mannigfacherweise geschildert, daß mir nichts überflüßiger scheint, als das Vielbeschriebene wieder zu beschreiben. Ohnehin giebt es nichts langweiligeres, als Landschaftbilder mit Buchstaben gemalt. Eben so wenig mögt' ich aber auch die Merkwürdigkeiten des Berges, seine Höhlen, seine Abgründe, oder seinen Pflanzen- reichthum oder die Darstellung seiner Kalkstein- und Nagelflue- lager der Reihe nach aufführen. Lieber will ich von dem erzählen, was in diesen reizenden und wilden Höhen jeden Wandrer bald mit Entsetzen, bald mit Entzücken anspricht; ihn, durch sein Eigenthümliches, wie in eine fremde Welt versezt; was Sterbliche in Thälern und Ebnen nie erfahren. Es ist dies die geheimnisvolle Haushaltung der Wolken; es sind dies die Zaubereien des Lichts und der Farben; es sind dies die wunderbaren Tändeleien der Natur in höher» Gegenden des Luftreichs. Dem Schiffer ist die Richtung des Windes auf dem Meer, welches er durchsegelt, kaum 85 wichtiger, als dem der ins Gebirg steigt, die Witterung des Tags, welche nirgends plötzlichere Umschwünge hat; als eben droben, vom hellen Tagesglanz zur Dunkelheit, von der Hitze zum Frost, von schlagenden Regenschauern zum reinsten Blau. des Himmels. Vielleicht kein Punkt unsers Welttheils wäre geeigneter, die Aenderungen und Erscheinungen der obern Luftschichten mit Bequemlichkeit zu beobachten, als das Knlmhaus, das selbst im Winter bewohnbar ist, und Gemächlichkeiten jeder Art gewähren kann. Zwar hat die Gesellschaft schweizerischer Naturforscher ein gut gearbeitetes Barometer und Thermometer hinaufgestellt; theils aber sind diese Paar Werkzeuge nicht für alle Untersuchungen genügend. theils fehlt es an zusammenhängenden Beobachtungen. Wenigstens ein Jahr lang sollte dies erhabne Observatorium von einem tüchtigen Naturforscher bewohnt werden, ausgerüstet mit erforderlichen Instrumenten aller Art, täglich und stündlich die wechselnden Verhältnisse des Lustvceans zu belauschen. Welch ein ungeheurer Himmelskreis böte sich dazu dar! Das Quecksilber des Barometers spielt da gewöhnlich um 23 Zoll, auf und ab; *) mit großem und plötzlichen Sprüngen steigt es aber im Wärmemesser auf und nieder, daß es nicht selten zwischen dem höchsten und niedrigsten Stande an einem und demselben Tage einen Raum von 20 bis 30 reaumurschen Graden durchläuft. Ein gewöhnliches, den Rigigästen freilich nicht immer daS angenehmste Schauspiel ist, tief unter ihren Füßen einen Wolkenhimmel ausgespannt zuerblicken, der, so weit das Auge reicht, die Unterwelt verschleiert; und hoch am Himmel wieder eine andre Wolkenschicht. In Sommergewittern geschieht es auch, daß beide Wolkenlager (ohne Zweifel von entgegengesetzten Electricitäten geladen,) einander Blitze zusenden, und der erstaunte Zuschauer sonst nur des zur Erde niederschießenden Blitzes gewohnt, ihn aufwärts gen Himmel fahren sieht. Meisten» nach Sonnenaufgang zerreißt das in der Tiefe ruhende Wolkenmeer. Es entsteht dann in ihm allgemeine Bewegung; einzelne Stellen blähen sich langsam auf, und erheben sich ballenförmig; *1 In den letzten Augusttagen des Jahrs 1827 stand das Barometer des Rigikulms auf 22". 9"'. 21 und 22". 10" 39; am 12. Juny 1832 auf 22". 9"'. 40; (in derselben Zeit «im kalten Bade" weiter abwärts am Rigi an dessen Südwestseite gelegen, 23". 9'". 8.1 Am 24. Juny 1834 betrug die Baromelerhöhe des KulmS 23". 3"0. 8V andre scheinen dampfend zu werden. Was davon stelzt nimmt, bei stiller Lust, einige Zeit den leisen Zug ostwärts der Sonne entgegen. Statt des bisherigen weiten, weißen Schleiers, der die Erde verbarg, liegt nun ein großes, aus Wolken gestricktes Netz unter unsern Füßen, durch dessen Maschen wir dort ein Dörfchen, hier einem Wald - und Wiesen-Fleck; in der Ferne den Silberfaden eines Stroms, in der Nähe eine Stadt hervortreten und wieder verschwinden sehen. Nie aber sind die Bewegungen der Gewölke auffallender und überraschender, als während der Vorbereitungen zu einem Gewitter. Jm- mitten der klarsten Lust gewahrt man das Werden eines blassen Dunstes; der wird Wolke. Aus Felsklüsten steigen gespensterhast weiße Nebel hervor, und schleichen still, längs Bergwänden hin, aber in den verschiedensten Richtungen; die einen senken sich, die andern kriechen aufwärts. Einige weichen einander aus; andre verbinden sich eilfertig. Sie scheinen beseelt zu seyn, und Verabredungen zu treffen, um den Aufruhr der Natur zu erregen. Es reißen sich bald vom R igi, und bald drüben vom Pilatus, einzelne tiefergehende düstere Wölkchen los, und ziehen nordwärts; oder es kommen deren von Norden her, vomJura und Schwarzwald,wie abgesandte Boten, gegen das Hochgebirg der Alpen. Wer weiß von ihren Verrichtungen ? — Mehr denn einmahl belauscht' ich das Zusammentreffen der Zugwölkchen aus verschiednen Gegenden. Ich bemerkte einige- mahl, daß eine kleine Wolke, dem Rigi zu, dahersegelte; dann in seiner Nähe über dem finstern Spiegel des Luzernersees stillstand, bis ein Nebelgebilde aus irgend einer Schlucht des Berges hervor- schlich und dem Ankömmling entgegen schwamm. Wie beide sich gegenseitig näherten, verwandelten sie ihre Gestalten. Bald streckten beide einander lange Nebelstreifen entgegen, die sie aus sich Hervorspannen ; bald bot nur eine der Wolken ihren bleichen, dunstigen Arm dar, und zog ihn, bei unerwiedertem Gruße, seitwärts gekrümmt zurück. Offenbar treiben, im Gewände der Wolken verborgen, elektrische Kräfte ihr räthselhastes Spiel, bis sie, als donnernde Flammenstrahlen, aus ihnen hervorstürzen. Ein prachtvolles, wenn auch Grausen erregendes Gewitter erfuhr ich, da ich vom Ufer des Waldstättersees beiWäggis (23. Juny 1834) den Rigr Hinanstieg. Beim reinsten blauen Himmel war die nachmittägliche Wanderung begonnen. Um die Kuppe des Pilatus flatterten lichtbelle Wölkchen. Südwestlich trübte sich allmählig der Himmel; je höher ich stieg, je weiter rückte die düstre Bedeckung dem Rigi, wie eine wandernde Mauer, zu. Als ich mich 87 schon in der Nähe der Alpen befand, welche das Kaltbad umgeben, und der Rigi noch im Sonnenglanz stand und der helle Himmel über ihm, sah ich mit Erstaunen, mir gegenüber, plötzlich die ganze lange Gebirgskette sammt ihren Silberfirnen, selbst den hohen, nachbarlichen Pilatus, verschwunden. Statt dessen erhob sich vom flimmernden Spiegel des Vierwaldstättersees unter mir, bis zum Himmel, wie eine schwarze Wand, die finstre Nacht. Den obern Saum derselben bildete ein schwefelgelber Schimmer. Ich stand, im Genuß des vollen Sonnenscheins, still, und starrte überrascht das Räthsel an. Es erklärte sich nur durch den dichtesten Regenguß, der eine düstre Wand vor mir bildete, und durch das dahinter gelegne Hochgebirg Unterwaldens und Uri's blauschwarze Färbung annahm. Den gelben Saum der Höhe schufen im Regengewölk gebrochne Sonnenstrahlen. Die vom Tage glattabgeschnittne Nacht rückte mir über den See immer näher. Die Sonne verlor sich. Im Ooppelschritt eilt' ich die Alp hinan. Aber aus der Thalschlucht wälzte sich, einer fallenden Lauine ähnlich, eine graue Masse Nebels, bergab dem See zu. Ein stürmischer Windstoß, schneidend kalt, sieg ihr voran. Bald war ich im feuchten Duft verloren. Plözlich stürzte schwerer Regen nieder. Blitze flammten. Alle Felsen leuchteten auf, indem sie von Donnerschlägen wiederhallten. Ich flüchtete in eine der Sennhütten. Der Hirt, ein baumstarker Schwytzer, den sieben- ziger Jahren nahe, oder schon darin, bekreuzte und segnete sich, bei jedem Wetterschlag, mit leisem Gebet; da zwischen plauderte er aber ganz gelassen. Es ward endlich so finster, daß man einander nur noch in Dämmerung sah. Der greise Senne schüttelte den Kopf. Das hatte er vielleicht selber nicht oft erfahren. Nach einer Viertelstunde aber war das Schauspiel aus. Ich machte noch einige hundert Schritt weiter, zum Gasthause des kalten Bades. Dieses dankt seinen Namen einer kalten Quelle, die aus dem Geklüft aneinander gelehnter Nagelflueblöcke hervorbrodelt. Ihre Temperatur beträgt ohngefähr 5 reaumürsche Grade, *1 mit geringem Abwechseln. Romantisch ist ihre Umgebung, ein enger Kreis von Felsentrümmern, überwachsen von Tannengestrüpp, mit schmalem *1 Wablenberg fand die Quellentemperatur im Jahr 1812 am 1- Juny : 6°, 3 CelffuS; am 6. Juny : 6°, 4; am 11- Septlir.: 6, 6. — Hr. Kämh, Pros. der Physik zu Halle im Jahre 1832 am 12. Juny fand sie 6°, 31 Cels. und am 11. July : 6° 20. SS Eingang und Ausgang zwischen Felsen. Das innere Plätzchen bildet zugleich den Vorhof einer kleinen Kapelle zwischen den Felsblöcken. Sie ist von innen mit geschmacklosen Votivbildern behängen, und mit Beschreibung der Sage, daß drei von einem Vogt verfolgte schöne Schwestern in diese Wildniß flüchteten, geleitet von Engeln. Darum trägt die Quelle den Namen des Schwesternborns. Sie wird erst seit Mitte des XVI. Jahrhunderts von Hirten und andern Nachbaren des Rigi als Heilbad und Gesundbrunnen benutzt. Das Gasthaus des kalten Bades, eine halbe Stunde unter dem Kulm gelegen, in der Nachbarschaft prächtiger und wechselnder Gebirgsparthien und Alpen, giebt natürlich nicht die unermeßliche Aussicht des Kulms, aber eine dem Auge wolthuendere vom Fel- senvorspung des „Käntzli" über den See der Waldstätte, wo er sein weites Wasserkreuz zwischen blühenden Ufern ausdehnt. Wunderhaster noch ist bei heiterm Sonnenuntergang das seltsame Lichtspiel der gegenüberstehenden Vinznauer Flue des Rigi. Es ist dies eine schroffe, braunröthliche Felswand des Nagelflue- lagers, welche hoch über den See Heller erglänzt, wenn dieser drunten schon in abendlichen Schatten zu verschwimmen beginnt. Der Glanz wächst dann, in blasser, bald in dunklerer Rothe, bis sich die ganze Bergwand entzündet und uns, gleich einer ungeheuren Kohlenglut, anstrahlt, die selbst in den vorüberschwebenden Nebel ihren Wiederschein wirft. Man vergißt in der Selbsttäuschung den Untergang des Tagesgestirns, und erwartet den Ausbruch einer aus Lohe und Glut der Felsen hervorlodernden Flamme. Langsam steigen dann aber, aus dem Abgrunde, da und hier, blaue Farbenlichter in breiten Banden. Sie wechseln mit dem brennenden Schimmer des Gesteins. Was zuvor flache Felswand gewesen, schwillt theilweis heraus und gewinnt halbrunde, thurmförmige Auswüchse, einer alten-Burg ähnlich. Auch diese neue Gestaltungen, und die glutrothen und blauen Strömungen, bleiben nie lange dieselben. Falber wird nach und nach das Rothlicht; es erlischt allmählich im überschwimmenden Blau, bis dieses selbst schattenhaftes Grau wird. Vom Kulm herab ein schöner Sonnen-Aufgang, oder Niedergang gesehn, läßt dem Gedächtniß und Gemüth einen unvertilgbaren Eindruck. Man hat Geburt und Tod einer Welt gesehn; eine zauberhafte Feerei, die uns umgaukelt, die wir nicht glauben und nicht läugnen können. Es malt kein Maler die blendenden Goldflammen, welche von zehn bis zwölf Seen nah und fern, in grüner 89 Tiefe, zerstreuet emporstrahlen; keiner LaS zarte Rosenlicht der Gletscher, sein Kommen, sein Sterben. Oft, wenn der Himmel von leichten Gewöllen bedeckt ist, und der Wiederschein der Sonne aus einem der entferntem Seen her- aufblitzt, bilden sich über demselben und um ihn in Nebeln blendende Glorien, in rothen, gelben und blauen Farbenlichtern. Aber gewöhnlicher, wenn auch nicht alltäglich, und prachtvoller zugleich, sind die sogenannten »Apotheosen« oder «Verklärungen«, welche, meines Wissens Bouguer und de la Conda- mine im Anfang des vorigen Jahrhunderts, in Südamerika auf dem Gebirg Pambamarca, zuerst gesehn und beschrieben haben, die dann auch auf dem Aetna in Sicilien und aus andern Bergen, erblickt wurden. In der Schweiz nennt mann solche Erscheinungen einfach Nebelbilder. Sie zeigen sich von Zeit zu, Zeit, wie auf dem Rigi, so auf dem Weissenstein bei Solothurn und auf andern Höhen. Sie treten nur dann vor das erstaunte Auge, wenn man auf einer schroffen Felswand über ihrem Abgrund steht, und ein dichter, feuchter Nebel aus der Tiefe steigt, auf welchen der Schatten der Person fallen kann, in deren Rücken die Sonne leuchtet. Dann schwingt sich um daS Schattenbild des Sehers ein Regenbogen in allen sieben Farben schimmernd; zuweilen ein zweiter noch, wenig von diesem entfernt, über demselben herum, der aber schmaler und weislich ist. Die Farben des innern Bogens, vom dunkeln Purpur seines untern Randes bis zum Flammenroth des äußern Saums, strahlen so brennend, daß das Auge manchmahl oft die Stärke des bunten Lichtglanzes nicht zu ertragen vermag. Wohin man geht, folgt auch der umstrahlte Schatten und immer wandelt dieser im Mittelpunkt des ihn umlodernden Farbenkreises. Je näher die Nebel stehn, um so schärfer sind die Umrisse der Schatten darin; alle Anwesende erblicken sich neben einander mit ihren verschiedenen Bewegungen. Sind aber Wolke und Schatten entfernter, so nimmt jeder darin nur die eigne Gestalt wahr, und niemals die des Nachbars. Reicht er diesem die Hand ^ so sieht er nur die Bewegung des eignen Arms. Jedem also erscheint dann ein andrer Farbenbogen auf seiner Stelle. Von flüchtiger Dauer ist das Nebelbild mit seiner Pracht, welche an die Verklärung auf Tabors Höhen mahnt. Sie währt oft einige Minuten, oft mehrere, bis die Sonne verhüllt, oder der Nebel entführt wird. Zuweilen sind diese Erscheinungen sehr weit vom Zuschauer entfernt; dann aber undeutlicher. so 5. Einsiedcln. In anmuthloser, wilder, zum Theil moorigter Ebne eines hohen Bergthals, beinah 3000 Fuß über dem Meer, liegt das Loretto der Schweiz. Die weitlänstigen Gebäude der Benedictiner-Abtei und ihrer Kirche, erst seit Anfang des vorigen Jahrhunderts neu gebaut, schauen mit Herrscherstolz über die armseeligen Häuser des Fleckens Ein sie dein durch das Thal hin. Ein Brunnen von schwarzem Marmor, der aus zweimahl sieben Röhren Wasser sprudelt, ein weiter Halbkreis von Krämerbuden, in welchem geistliche Waaren aller Art feil geboten werden, bilden den Vorgrund des Tempels. Schon da erblickt man zuweilen einzelne Wallfahrer zum wunderthätigen Marienbilde, Männer, Weiber, auf dem Kniee« gegen die Kirche rutschend. Andre strecken, in der Vorhalle knieend, die Arme im Gebet stundenlang wagrecht aus, oder die zusammen- geschlagnen Hände hoch gen Himmel. Tausend und abermahl tausend der gläubigen Pilger strömen hieher, zum Theil aus katholischen Kantonen der Schweiz, häufiger noch vom Landvolk des Elsasses und Schwabens. Viele hundert Weiber aber und Männer treiben das Pilger-Handwerk nur um Geld, wenn sie arbeitscheu das herumfahrende Leben lieben. Mit gutem Gewinn reisen sie zur Erfüllung von Gelübden Andrer. Fast auf allen großen Landstraßen begegnet man solchen betenden Zügen; meistens unreinlich gekleideten Gestalten, und wüsten, sonneverbrannten Gesichtern. Von ihnen gilt wohl was der Ar a b er von den Mekka-P ilg ern zu sagen pflegt. Zuerst soll sich ein Graf vom Sulgau Namens Meinrad, ums Jahr 861 in dieser Gegend, die man damals den Finsterwald hieß, ein Bethüttlein angebaut haben, um in steter Andacht den Freuden der Welt abzusterben. Einer Mönchssage zufolge, ward er von zween Räubern ermordet, die aber von Raben verfolgt, entdeckt und hingerichtet wurden. Der Rabe spielte in der Mythologie des Nordens, dann später im Aberglauben des Mittelalters, immer eine wichtige Rolle; und es scheint fast, Verwüste Vogel habe mehrmals selber durch seine Einmischung in das menschliche Schicksal Anlaß gegeben, ihn für Werkzeug höherer Mächte zu halten. Merkwürdiger, als die Entdeckung von Meinrads Mördern, war vor zwanzig und etlichen Jahxen die Rettung der jungen Enkel Rudolf ttMW 91 Mayers*) vonAarau durch sie. Die Kinder wurden in einem Wagen, aus Burgdorf nach Aarau, abgeholt, inmitten wilden Winterwetters. Der plötzlich angeschwollene Strom der Emma warf den Wagen um, daß die Kinder nur auf einem der Räder sitzend sich über den Fluten erhielten. Im Sturm und Wogen- gebraus verscholl ihr und des Kutschers Geschrei, bis, in einem Bauerhause ohnweit des Ufers, die Leute, durch Geschrei und Flügelschlag von Raben gegen die Fenster, aufmerksam gemacht wurden, vor die Hütte traten, und die Kinder in der Ferne aus dem Rade über den Wellen, und die dahin zurückgeflogenen Raben über den Häuptern der Kinder umherflattern sahn. Meinradszelle war längst zerfallen, als sich der Sage nach, ein späterer Ascet, Eberhard von Straßburg im I. 923, da ansiedelte, und neben der Einsiedelei eine Kapelle errichtete. Darauf zogen sich die Jünger St. Benedicts hieher; bauten ein Klösterlein, und wohnten in großer Frömmigkeit und Armuth. Es ist nicht zu läugnen, die Zelle Meinrads und das Marienbild darin wirkten im Lauf der Zeit Wunder; aber die besten unstreitig für die einsiedlerischen Mönche. Ihr Vorsteher und Abt ward Fürst des heil. röm. Reichs, und bekam eigne Erbhofämter. Ihre Besitzungen, Domänen, Gefälle und Einkünfte übertrafen das Hausgut manches deutschen Fürsten. In der Schatzkammer der Gottesmutter sah man die reichsten Perlenkleider; schwere, goldne Monstranzen mit Edelsteinen ausgelegt; Rosenkränze von Ambrakugeln und andere Kostbarkeiten. Dankbar ward dafür die kleine hölzerne Zelle des ersten Einsiedlers in ein Gehäuse, von polirtem schwarzem Marmor, eingefaßt, mitten im großen prachtreichen Tempel. Im vorigen Jahrhundert beherbergte das pallastartige Kloster 60 Conventualen, eben so viele Laien-Brüder; ungerechnet die Professen und mehr denn hundert Bedienten, Beamten, Knechte u. s. w. Bekanntlich zogen aber, im Jahre 1798, die französischen Brigaden hier verwüsterisch ein und zerstöhrten Meinrads Zelle. Obgleich das wunderthätige Marienbild die armen Mönche nicht vor dem Unglück geschirmt und gerettet hatte, schirmten und retteten sie doch dankbar und großmüthig das Bild. Sie flüchteten es mit sich ins Tyrol. Aber gleichzeitig führten es auch die französischen Eroberer nach Paris im Triumph. Während man noch über die Aechtheit des einen, oder des andern Wunders stritt, und das *) Der Herausgeber des großen Schweizer-Atlasses. 92 Volk der Klosterumgebung, welches nur von Wallfahrern und vom Betteln gelebt hatte, keinen Gewerbfleiß kannte und liebte, in titfster Noth schmachtete, geschah ein neues Wunder. Pfarrer und Municipalität des Fleckens Einsiedeln nämlich baten den Bef b'ollmächtigten der helvetischen Regierung im Jahre 1799, um Erlaubniß, einen Altar mit dem ächten Muttergottesbilde und die Wallfahrten herzustellen, damit nicht des Elends willen, das Volk auswandern müsse. Der Regierungs-Commissair, als Protestant der heiligen Dinge unkundig, erinnerte daran, daß die Muttergottes, schon in Paris und im Tyrol sey. Aber man führte ihn in eine Art Sacristei, wo in einem hölzernen Kasten beinah ein Dutzend schwarzgebeizter Madonnen, alle schön gekleidet, alle von einerlei Model, in der Reihe nebeneinander lagen. Sie hatten dazu gedient, daß die Wunderthätige an verschiedenen Festtagen in verschiedenem Gewände aufgestellt werden konnte. — So ward der Altar denn erbaut auf der Stätte der heiligen Capelle, und nach wenigen Monden hatten die unterbrochnen Wallfahrten wieder frischen Zug. Später stellte das Kloster auch die Marmorkapeüe wieder her. Gegenwärtig besteht die Abtei zwar nicht mehr in altreichs- fürstlichem Prunke, mit Erbhofämtern und hohen und niedern Gerichtsbarkeiten, aber noch, als das reichste Kloster Helvetiens, gefeiert von der abergläubigen Ehrfurcht Schwabens, des Elsasses, Tyrols und der bildungslosern Gegenden in der katholischen Schweiz. — Außer dieser Abtei hat jedoch der kleine Freistaat Schwytz, mit seiner gottesfürchtigen Bevölkerung von 38,000 Menschen, noch fünf Kloster und dreißig Pfarreien, ungerechnet die Menge der Kapellen. 6. Die Kapelle bei Morgarlcn. Rohe Sterbliche, mit noch dunkler Vernunft, haben gleich der vernunftlosen Bestie, nur Ehrfurcht vor überlegner körperlicher Stärke, nicht vor der Heiligkeit des Rechts. So hat jeder Mensch, wie jedes Volk, im Leben ein Zeitalter des Faustrcchts; und jedes Volk wie jeder Mensch. Man nennt diese Stufe der Gesittung bei den Nationen den Stand der Barbarei. In ' . - ^r- ^ « » P- H-.. 4 . H O »3 demselben erlauben sich mächtigere Staaten gegen schwächere Alles, weil sie ihre überlegne, materielle Stärke für überlegenes, göttliches, oder naturgemäßes Recht halten. Das Hirtenvolk des Ländleins Schwyz hatte Mühe von den ältesten Zeiten her bis zu unsern Tagen, sich, sein Recht und seine stille Unabhängigkeit gegen die brutale Gewalt der Gewaltigen zu sichern. Im dreizehnten Jahrhundert schon baute es, gegen unver- muthete Einbrüche der fehdelustigen Herrn und Grafen längs seiner westlichen Landesgränze eine Landwehr, oder Mauer, die den Eingang seines Gebietes verschloß. Diese »Letze» zog sich von Arth, hinauf über den Egerisee, am Berg, bis zur Höhe der Schornen. Einzelne Warthürme, nach der Befestigungskunst damaliger Zeit, dienten zu größerm Schutz, das Dorf Rothenthurm hat von einem derselben den Namen; ein andrer bei Arth ist längst, wie die ganze Mauer, verschwunden. Aber noch steht zwischen dem Weryberg und der Eiglerflue der viereckte, alterthüm- liche Schornen thurm, zum Gedächtniß der frühesten Faustrechtszeiten. Hier auch erheben sich am östlichen Ende des Egeri-Sees, der zum Kanton Zug gehört, die schwytzerischen Höhen vom Morgarten. Da am Berghang in den grünen Matten, nahe bei der von Wettern ausgewaschnen Bergschlucht der Haselmatt- Küfe, kämpften die Schwytzer am 16. November 1315 den schweren Streit für ihr selbständiges Leben, gegen Herzog Leopolds von Oesterreich Schaaren, siegreich aus. Und hier wieder, aber auf der östlichen Seite der Höhen von Schornen, im Thals von Rothenthurm, war es, wo am 17. Juny 1798 die freien und tapfern Bewohner des Gebirgs, um das Keinod ihrer Unabhängigkeit zu retten, die französischen Brigaden Schauenburgs angriffen und bis zum Ufer des Egerisees zurückschlugen. Aloys Reding, ihr Landeshauptmann und Anführer erwartete keinen Sieg über die Eroberer Italiens, als er aus den Umarmungen seiner Familie zur Schlacht eilte, sondern den edeln Tod für Freiheit seines Vaterlandes. So erzählte er mir selber. Frankreichs Uebermacht, ein Kriegsher, stärker, als die Gesammtbevölkerung des kleinen Staats, konnte endlich wohl sein Gesez aufzwingen, aber nicht die Siege des Hirtenvolks vereiteln. Sie leben im Gedächtniß der Nachwelt. Sie lehren fort und fort: der Tod für Vaterland und ewiges Recht ist Welterlösertod. Wie Reding damals von den Seinigen schied, und kaum mehr hoffte, sie wieder zu erblicken, sank er wor seinem Vater 9l auf die Kniee, einem hochbetagten, majestätischen Greise. Erbat mit kindlicher Ehrfurcht um des Greises Segen. Und dieser, in patriarchalischer Frömmigkeit, legte die Hand auf des Sohnes Haupt, betete leise, den Blick zum Himmel gewandt, für Sohn und Vaterland, und segnete ihn. Auf der Höhe, zwischen den beiden Siegesfeldern, steht neuerbaut nun die Schornen-Kapelle, ohnweit dem Morgarten und dem Rothenthurm. Sie ist zugleich das Denkmahl der Faustrechtszeiten, vom XHI bis zum XIX Jahrhundert; die Wandbilder ihrer Vorhalle vergegenwärtigen das Schlachtgetümmel am Egeri-See, den man von hier an den Zugerbergen zum Theil erblickt in der entfernten Tiefe. Näher lagern sich die einzelnen Hirtenwohnungen an der Schornen, zwischen Gebüschen zerstreut. Auch das »streckte, alterthümliche Gemäuer des Schornenthurms streckt sich noch daneben in die Höhe, als mögte dieser graue Zeuge des barbarischen Mittelalters die Gesittung eines ediern Zeitalters erleben. Es ist hier wohl eine der heiligsten Stätten des Schweizerlandes; aber auch, hier ob Morgarten, eine der schönsten, weit- timher. Der Blick verliert sich träumerisch in einer wunderlieblichen Jdyllenwelt. Um den Spiegel des stillen Egeri-Sees, zwischen den grünen Weiden der Heerden, einzelne Hütten, Kapellen und Dörfer; — rings um ein Kranz, von Alpen gewunden, vom Schornen bis zum hohen Nohnen, vom Roßberg und Kaiserstock bis zum Kamistal; und überall Gottes Frieden über de.. Gräbern der Helden! WW SS IV. Kanton Untermalden. i. 3m LNclchtlial. Aus dem Schooße der Hochalpen streckt sich, auf den Gränzen der Länder von Bern, Uri und Untermalden, der Titlis 10,700 Fuß hoch, mit Gletschern und Firnen. Er wird 30—40 Stunden weit, noch jenseits Straßburg, gesehn. Man unterscheidet ihn in der Alpenkette leicht durch seine eigenthümliche Gestalt. Er erhebt den unter Schneelasten gekrümmten Rücken allmähtig, von Abend gegen Morgen, und bricht da plözlich, als eine schwarze steile Felsenwand ab. Diese senkt ihren Fuß in den grünen Abgrund des Hochthales der Abtei Engelberg; ihre Zinnen bildet droben ein Rand von ewigem Eise, der, senkrecht gemessen, eine Breite von beinah 200 Schuh hat. Ein Gebirgszug, wild, waldig und Alpenreich, durchschneidet von hier, in einer Lange von 4—5 Wegstunden, das Land Unterm alden bis zum Luzernersee. Er theilt es in zwei ungleiche Hälften, in Untermalden ob und nidem Kernwald, (oder auch Obwalden und Nidwalden genannt). Der Kernwald selbst, dessen Schatten einst den ganzen untern Theil Obwaldens bedeckte, zeigt heutiges Tages nur geringe Ueberreste seiner vormaligen Größe. Jen: beiden Landestheile sind zwei lange Hauptthäler, deren jedes von einem Bergstrom durchstoßen ist, welcher vom Gebirgs- Hintergrund zum See der vier Waldstätte herabrauscht. Kleinere Bäche münden sich aus einigen Nebenthälern in jeden der Hauptströme aus. Beide Landestheile gelten zwar im Bunde der Eids- genossenschaft nur, als ein Kanton; haben daher auf dem Bundestage auch nur einen Stellvertreter und das Recht nur einer Stimme; aber wie durch ihre Gebirgskette geschieden, sind sie es auch durch ihre Verfassungen, Gesetze und Sitten. Ob- und Nidwaldensind zwei selbstständige Republiken, die auf dem Flächen- raum von 10 —12 Geviertmeilen etwa 20—24,000 Einwohner haben. Den größer» Theil des Ganzen macht Obwalden aus; ich mögte auch sagen den schönern und dabei an ältern historischen Erinnerungen reichern. Zwei Seen, mit anmuthsvollen Umufe- rungen, geben dem Hauptthale eine Mannigfaltigkeit und Heiterkeit der landschaftlichen Gebilde, welche dem Ländchen Nidwalden fehlen. Ein dritter See, in der Nähe von der Stammburg des altbc- rühmten Geschlechts von Rudenz, ist schon verschwunden. Bei erweitertem Abfluß seiner Gewässer versiegte er allmählig. JezI erblickt man, statt seiner, nur noch einen schilf-und binsenvolleu Moorgrund beim Dorfe Giswyl; auf dem Hügel daneben nur noch Ruinen der Rudenzer Burg. Auch der See von Lungern, am Fuß des Brüniggebirgs wird binnen Jahresfrist, wohl um mehr, als die Hälfte verkleinert seyn. Jetzt noch versperrt eine Felsenrippe, wie ein hoher Damm, quer durchs Thal seinen stärkere, Ablauf gegen den 700 Fuß tiefen Thalgrund von Giswyl. -Die betriebsamen Bewohner der Gegend, um durch Ableitung des Wassers ein halbes Tausend Jucharte Landes zu erobern, fingen schon im I. 1788 an, die Felsenmasse zu durchbrechen. So waren sie 188 Klafter weit mit ihrer Arbeit vorgeschritten, als sie bemerkten, daß sie unter der Erde die erste Richtung verloren hatten. Unkunde im Bergbau und Armuth verhinderten lange Zeit die Vollendung des Unternehmet Erst seit kurzem ist es auf zweckmäßigere Weise wieder begonnen; und bald wird man da neue Fluren grünen sehn, wo heut noch das stille Volk der Fische in den durchsichtigen Tiefen spielt. Und thalabwärts, zwei Wegstunden weiter, ist der helle Spiegel vom Sarnersee zwischen Gebirgen und lachenden Ufern ausgegossen. Unter den Dörfern, die ihn umkränzen, ist Sächseln das berühmteste. Denn hier ruhn in der prächtigen Pfarrkirche die Gebeine des allen Eidsgenossen ehrwürdigen Nicolaus von der Flue, der vor vierhundert Jahren auf dem Tage zu Stanz die entzweiten Schweizer durch Macht seines Wortes wieder versöhnte. Den gvttgeweihten Theil seines Lebens brachte der »seelige Bruder Klaus" (wie man ihn gewöhnlich heißt) in einer selten besuchten Einöde des hohen Melchthals zu. Dahin führt von Sächseln ein rauher Bergpfad in wenigen Stunden hinauf. Noch «W M-S > 1 ^ «8 - W G 97 zeigt man in der Alp Kluftor, über einem tiefen Abgrund des wilden Ranft-Tobcls seine Verhütte zwischen einigen Wohnhäusern und Kapellen. Dort starb der Gottesniann. Nach Jahrhunderten wallfahrtet die fromme Andacht zu der ihr heiligen Stätte. Schon der Name des Melchthals erinnert an einen der ersten Stifter des freien Schweizcrbundes, an jenen Arnold Ander- halden, der vor der brutalen Gewalt des Vogtes Landenberg gen Uri flüchten, und dort erfahren mußte, daß der Tyrann, voller Rachsucht, dem schuldlosen Vater des Flüchtlings die Augen ausgestochen und dessen Güter eingezogen hatte. Arnold war einer der drei Männer des Grütli, welche die Erlösung ihres Vaterlandes beschworen und vollbrachten. Das Melchthal selber ist eine lange, tiefe Schlucht, die sich, drei Stunden Weges weit, in verschiedenen Krümmungen, durch das Gebirg südöstlich hinaufzieht bis zum öden Jochberg. Am Fuße dieses Berges ruht noch ein kleiner See, dessen Gewässer vom Schnee der Höhen rings um genährt, und in gleichem Maaße wieder von unterirdischen Klüften und Höhlen verschlungen werden. Erst eine Stunde weiter abwärts im Thale treten sie neuerdings mächtig hervor, und bilden den Melchbach. Dieser rauscht durch die Krümmungen des Thals nieder, bis zum See von Sarnen. Von allen Seiten rieseln ihm von den Berghängen Quellen zu. Hin und wieder leitet ein hölzerner Steg über sein tiefgefreffenes Felsenbett. Die Umgebungen seiner Ufer sind von hoher Mannigfaltigkeit, bald öffnen sich weite Wiesenthäler, still und freundlich, zwischen sanftanschwellenden Halden des Gebirgs, mit zerstreuten Heuställen und Hütten der Hirten. Dürre Häge von Stangen und Scheiten, oder kleine Alpenbäche oder trockne Strombetten, scheiden die Besitzungen der Nachbaren von einander. Die Fruchtbarkeit der Matten liefert ihren Heerden gesundes Winterfutter zur Gnüge; im Sommer finden sie es in den hohem Alpen. Bald rücken plözlich die himmelhohen, grauen Felsen wieder eng zusammen, und der Melchbach bricht sich schäumend durch die herabgestürzten Felsstücke Bahn. Tannenwälder, die von der Höhe Herabnicken, vermehren Kühle und Dämmerung des Bergschlundes. Da und hier steht man an den schroffen Gebirgswänden einzelne, mit grünen Rasenplätzen bedeckte Absätze und Vorspränge; aber sie sind allem Vieh unzugänglich; nicht dem Menschen. Der ,/Wildheuer, läßt sich vom jähen Rand der Felsen, bei hundert Schuh tief, an einem Seile darauf nieder, und sezt für eine Handvoll Eras sein Leben in's Spiel. Die auf dem schmalen, 7 98 schlüpfrigen Vorsprung deS Gesteins gesammelte Bürde Futters, von einem starken Netz zusammengehalten, schleudert er über den Abgrund hinaus, und läßt sich am Seile, wie eine Spinne am Faden schwebend, wieder in die schwindelerregende Höhe ziehn. Der Bewohner des Gebirgs, Zögling der Natur, furchtlos unter ihren Schrecken, einfach, kraftvoll und gut, wie sie, verlebt den größern Theil seines Lebens in anhaltender Einsamkeit; während des Sommers mit seiner Heerde in den hohen Alpen- fiuren vereinzelt; während des Winters mit seiner Familie in der kleinen, oft tief verschneiten Hütte. Er hat kaum Ahnung vom Daseyn jener künstlichen Lebensbequemlichkeiten, wandelbaren Zutreffen, verwickelten Verhältnissen, die in reichbevölkerten, mancherlei Gewerb und Ueppigkeit treibenden Gegenden, Fluch und Seegen derselben sind. Er weiß von keinem Unterschied der Stände; der Sterbliche gilt hier, was er in und durch sich selber ist. Die Regeln feiner Sitte bleiben ihm fremd. Seine Rechte werden zu'den natürlichen, die jeder Mensch besitzt; welche auch in den civilisirtesten Staaten zwar Grundlage aller sogenannten positiven Rechtsverhältnisse bleiben, aber von diesen gewöhnlich dermaßen überbaut oder verschüttet sind, daß an der Grundlage noch kaum etwas erkennbar ist. Es ist wahrlich kein Wunder, wenn der Mensch des Gebirgs, in seiner Abgeschiedenheit vom Weltgetümmel, bei der Einförmigkeit seiner Beschäftigungen, die ihm Muffe genug zum stillen Nachsinnen gewährt, bei der Einfachheit seiner Bedürfnisse, die leicht befriedigt sind, ein Andrer wird, als der Mensch der Ebnen und tiefern Thäler; — wenn hier ein Arnold Anderhalden zum Retter der Volks gegen die Verhöhner des ewigen Rechts wird; oder ein Nicolaus von der Flue, dem Irdischen abgestorben, sich zu einem Leben in Gott und göttlichen Dingen verliert, wovon das Kirchenthum nichts weiß und lehrt. Man hat den Schweizern immer nachgesagt, daß sie häufig in ihrem Denken, Treiben und Wesen, etwas Wunderliches, Ungewöhnliches, oft Ueberspanntes hätten; etwas Originelles wie in ihren Staatseinrichtungen, so in religiösen Dingen, in Uebungen, Sitten und Lebensansichten; einen Staarsinn der Meinungen, den kein Verlust und keine Gefahr beugt; eine Liebestreue zur Heimath, die in der Fremde zum tödlichen Heimweh werden kann; ein Gefühl für Freiheit, das wohl Jahre und Jahrzehende lang durch Uebermacht der Gewalt niedergedrückt, aber nie erstickt und ausgerottet werden kann. Es ist Wahres in dieser Sage. Die Geschichte dieser Bergvölker spricht dafür bis zu den lezten Zeiten. — SS Aber das ist die Wirkung der hohen Natur, in der sie wohnen; das die Wirkung des einsamen Lebens, welches in Gebirgen unvermeidlich ist und in volkreicher» Thälern, Dörfern und Städten wieder in Abgeschlossenheit einer Gemeinde von der andern, und abermals in Vereinzelung der Familien inmitten der Ortschaften erscheint. Dieser Hang zum Fürsichseyn, zum Fürsichbestehn der Familien, der Ortschaften, der Kantone ist ein Grundzug im Schweizercharakter, und so unaustilgbar, als es die Bergketten sind, die ihre Thäler scheiden. Solche Vereinzelung und Abgeschiedenheit bringt eine gewisse Einseitigkeit, aber auch eine Energie der Gemüthsart und ein Gefühl der Selbstständigkeit hervor, wannt der Geschmeidigkeit, Vielseitigkeit und Abgeschliffenheit der Ebnenbewohner allerdings einen scharfen Gegensatz bilden muß. — Wie Arnold Anderhaldrn denken und fühlen noch viele Tausende in der Schweiz, die unter ähnlichen Verhältnissen ihm ähnlich Handel» würden. Wie Nicolaus von der Flue in seinem Gottesgcfühl leben noch Tausende zerstreut im Gebirg, die, wenn sie auch nicht, wie er, in Enthaltung von fast aller Nahrung sich abtödten, doch ihre innere, geheime Religion bewahren, welche ohne oder mit der herrschenden Kirchlichkeit bestehend, für sie mehr, wie diese, nämlich als eine innere Erleuchtung gilt. Im Mittclalter waren die Begharden und Lollharden, oder Brüder befreien Geistes in der Schweiz sehr häufig. Nachdem Zwingst und Calvin ihre Reform der Kirche begonnen hatten, wandten sich Tausende im Volk den schwärmerischen Wiedertäufern zu. Ich zweifle gar nicht, daß selbst ein Mann von hoher Bildung des Geistes und Gemüths, ein Weltweiser, oder Dichter, wenn er länger» Aufenthalt in den Alpen des Melchthals machte, bald eine andre und höhere Ansicht der Welt, eine andere Liebe der ewigen Güter der Menschheit, ein andres Seyn haben würde, als er aus dem Staub der Schule, aus der trocknen Pracht der Palläste, aus dem Gewühl der Märkte mit hinaufgebracht hatte. Man hört auf, Geschöpf der Kunst zu seyn, und wird, durchdrungen bis im Innersten der Seele vom reinen Hauche der Natur, ihr Kind und wie sie selbst. Was Lebensziel der meisten Sterblichen ist, was die Leidenschaften der Einzelnen und ganzer Nationen stürmisch aufregt, Gold, Ruhm und Nachruhm, Herrschaft und Gewalt verschwebt, wie ein nichtiger Nebel am Felsen im Sonnenstrahl. Gott selber erscheint dem Geist dort, als ein andrer Gott, Senn der in Philosophemen der Schulweisen, in Dogmen des Kirchenthums, in Katechismen der Kindheit. 7 * 100 Erst in jener wildschönen Umgebung von Wiesengründcn, Berghängen, einsiedlerischen Hütten, Gletscherschimmern, Alpenhainen und geisterhaft umherschlttchenden Wvlkengebilden; erst in jener schwermüthig-heitern Klosterstille des Hochgebirgs, welche vom einförmigen Brausen der Wasserfalle, dem Gemurmel herabrinnender Bäche und dem Geläute der Heerdenglocken nur fühlbarer gemacht, nicht unterbrochen wird, — erst da lernt man I. I. Rousseau's Klage über Abtrünnigkeit des menschlichen Geschlechts von der Natur und über die Selbstqual der Völker in ihrer Sittenverfeinerung ganz verstehn. Seine Klagen waren nur Wiederklang von Gefühlen, die er, als Jüngling, aus den erhabnen Einöden der savoyischen Alpen mit sich getragen hatte, und die durch den schreienden Gegensatz gleisnerischer Unnatur in der französischen, sogenannten »großen oder feinen Welt» schärfer gereizt wurden. S. Sarnrn. Indem der Künstler für die Ansicht der Hauptorts der kleinen obwaldner Republik feinen Standpunkt nicht am See wählte, an dessen Ufern der städtisch gebaute Flecken ruht, sondern da, wo der Aastrom dem weiten Wasserbecken schon entflossen ist, wollte er uns wahrscheinlich den romantisch-idyllischen Ton der ganzen Landschaft geben. Die hölzerne, bedeckte Brücke des Bachs im Vor- grund; dahinter, in den Schatten eines Fruchthains versenkt, ruhn die Wohnungen des Ortes halbsichtbar. Rings schwillt der Wiesen- teppich, bestreut mit Dörfern, Kapellen und krausen Gebüschen zu Bergen auf, deren anmuthige, weiche Umrisse nirgends durch starre Gipfelklippen oder nackte Felsmaffen gestöhrt werden. Nur, wie zur Verzierung der fröhlichen Landschaft, leuchten aus der Ferne die Silberzinken des bernischen Eisgebirgs von Süden her, während nordwärts der zerrissene Felsenkamm des Pilatus durch die Luft aufstarrt. Der Hügel, welcher über die Dachgiebel des Fleckens einige Gebäude (das Zeughaus und Schützenhaus der Republik) empvr- hält, ist c-:ne von den klassischen Stellen des Schweizerlandes. Hier stand vorzeiten die Burg, von der herab der Vogt Landenberg über die Rechte des Volks schaltete. Aber am Ncujahrsmorgen LÄÜ'-!'!« 'ch - ' ' UÄ v^.V7- 7'//?. /^/WL'^VÄL'/L^ ^.ÄMkiL<' IlTLSD I.) 8IL ^^LNVLDMIL^Go i-. 7.^7^/v77L7VS?^l?. 101 1308, als der Vogt vvm Hügel nieder zur Messe gehn wollte, brachten ihm zwanzig Unterwaldner, nach alter Uebung, Neujahrsgeschenke, ausgewählte Thiere ihrer Heerden und ihres Geflügels. Eingetreten in die Burg, bemächtigten sie sich derselben mit Hülfe andrer Verschwornen, die aus den benachbarten Erlengebüschen hervorsprangen. Da erging die Losung zur Landesfreiheit von Dorf zu Dorf, von Thal zu Thal. Landenberg, der durch die Wiesen zum Luzernersee flüchtete, ward eingebracht. Doch seine Grausamkeit gegen den blinden Vater des Arnold AndAchaldcn ward von dem bideren Volk mit keiner Grausamkeit vergolten. Der Vogt ward unverlezt entlassen, sobald er den Eid gethan, zu ewigen Zeiten nicht mehr in dies Land zu kommen. Noch versammelt sich nun alljährlich an der Stätte der verschwundenen Tyrannenburg das Volk Obwaldens, um in offner Landsgemeinde seine Obrigkeiten und Richter zu ernennen und Vorschläge über öffentliche Angelegenheiten anzuhören, zu genehmigen oder zu verwerfen. Eine bedeutsamere Stelle konnte es nicht zur Ausübung seiner landesherrlichen Gewalt wählen. Im Genusse einer Unabhängigkeit und Freiheit, die ihm durch Natur und Armuth seiner Heimath, in halbtausendjähriger Gewohnheit, unentbehrlich zum Leben geworden ist, hat es keine Landenberge mehr zu fürchten. In unsern Tagen hat der Name von Sarnen in der Schweiz zufällig eine böse Nebenbedeutung erhalten, freilich ohne Verschulden der gutmüthigen Einwohner. Es hat sich in der Umgangssprache ein Nennwort »Sämerei» und sogar ein Zeitwort »sarnern» gebildet, wenn man Ränkemachereien oder Verschwörungen der oli- garchischen oder hierarchischen Factionen verschiedener Kantone gegen die Rechte und Freiheiten der Nation bezeichnen will. Anlaß dazu gab die Conferenz, welche zu Tarnen, im November 1832, von Abgeordneten der Regierungen des Bezirks Schwytz, der Stadt Basel, der Kantone Neuenburg, Unterwalden und Uri gehalten wurde, und Trennung der Eidgenossenschaft, fremde Einmischung und Bürgerkrieg herbeizuführen drohte. Bekanntlich ward auch der Landfriede wirklich im Sommer des folgenden Jahrs vom Bezirk Schwytz, wie von der Stadt Basel, mit bewaffneter Faust gebrochen; aber der Aufstand dieser Orte dann durch den Ernst der Nation eben so schnell gedämpft, als er erhoben war. Zwietracht ist die Erbsünde aller Föderativstaahen, wenn die Genossen des Bundes, in voller Selbstherrlichkeit zu einander, für Kraft und Macht des Bundes nichts von ihren Rechten opfern, über von ihm Alles für ihren Nutzen begehren. Die Geschichte 102 sämmtlicher Föderativffaaten, der vereinten Stämme'Israels, wie der griechischen Republiken, der Staaten des deutschen Reichs, wie der niederländischen Provinzen oder der schweizerischen Kantone, ist eine fast ununterbrochene Verkettung von Zerwürfnissen, Zänkereien und innern Kriegen. Merkwürdig ist dabei, daß demun- geachtet dergleichen Conföderationen von Mlkerstämmen und Nationen ein längeres Leben erreichten, als ihr innerer gebrechlicher Zustand erwarten ließ. Die mosaische Bundes - Republik hatte bei 400 Jahre gedauert, ehe sie, statt des unsichtbaren Jehova, einen sichtbaren König forderte. Der griechische Staatenbund lebte seit Stiftung der Amphyctionen bis zur Schlacht von Chäronea 1100 Jahre. Nächst ihm erscheint die schweizerische Eidsgenossen- schast mit einer halbtausendjährigen Lebenslänge; die vereinigten Niederlande brachten es, seit der Utrechter Union kaum auf die Hälfte dieser Zeit. Montesquieu hat, in seinem berühmten Werke, das Kapitel vom Föderativsystem ganz vergessen. Unter der Feder dieses scharfsinnigen Beobachters würd' es für Fürsten und Republikaner eins der lehrreichsten geworden seyn. Nur kleine Völkerschaften können in republikanischer Form besteh», worin sie die staatsbürgerliche Freiheit in höchster Fülle walten lassen, so daß jeder Bürger seinen unmittelbaren Theil an der Gesezgebung und Ernennung der Obrigkeit nimmt. Der geringste Zuwachs der Bevölkerung macht die Versammlung des ganzen Volks (in einer Landsgemeinde) unmöglich; es muß sich begnügen, die Sorge für die wichtigsten Angelegenheiten den von ihm erwählten Stellvertretern zu überlassen. So wird die unmittelbare Theilnahme an den öffentlichen Geschäften in eine sehr mittelbare verwandelt, und diese in gleichem Grade immer beschränkter , als in repräsentativen Republiken die Volksmassen größer werden. Auf gleiche Weise verhält es sich mit dem Genuß der bürgerlichen Rechte. Je kleiner die Republik ist, um so weniger wird es gefährlich, die freie Verfügung der Bürger über ihre Person und ihr Eigenthum nicht durch zahlreiche Gesetze zu begränzen. In größcrn Staaten, bei vervielfältigten Jntressen, Verhältnissen und Reibungen der bürgerlichen Zustände ist eine stärkere gesezliche Schutzwehr, und daher engere Begränzung der Freiheit der Einzelnen wie der Gemeinden und Stände unvermeidbar. Im häuslichen Kreise einer Familie darf Manches ohne Furcht gestattet und lockerer gebunden seyn, was in einem weitläufigen Gemeinwesen von Tausenden nicht zu erlauben wäre, 103 ohne Unordnung, Zerrüttung und gänzliche Auflösung zu erzeugen. Es war ein wahnsinniger Einfall, Frankreich mit seinen 32 Millionen Menschen zu einer einzigen Republik umzugestalten. Die Geschichte kennt keine Republik von so ungeheurem Umfang, weil solche in sich selber unmöglich ist, oder dem Volke keine höhere Freiheit gewähren könnte, als jede wohl eingerichtete Monarchie. Für große Staaten ist das monarchische Princip Naturnothwendigkeit. Das republikanische Rom, als es die Welt beherrschte, .war nur inner der Mauern der Hauptstadt. Außer der Ringmauer wohnten Unterthanen und zinsbare Bundesgenossen. Die nordamerikanischen Vereinftaaten sind, mit einer dünnen Bevölkerung auf weiten Landstrccken, kleinen Staaten gleich. New- york, der volkreichste derselben, zählt auf einem Flächenraum, so groß wie Altengland, wo 13 Millionen Seelen leben, noch nicht zwei Millionen Einwohner. Wenn dereinst Newyvrk gleiche Bevölkerung wie England besizt, wird es entweder in eine Menge kleinerer Freistaaten zersplittert seyn, oder einer Monarchie so ähnlich sehn, wie ein Haupthaar dem andern. Da also nur kleine Staaten republikanischer Formen fähig sind, müssen sie, um nicht bei feindlichem Anstoß von den größer» zertreten zu werden, Conföderationen mit ihres Gleichen eingehn, oder sich, wie die Republiken S. Marino. Andorre, Krakau, die ionischen Inseln, die freien Städte Deutschlands :c., unter Schutz mächtiger Nachbar-« stellen. Der Föderalismus gewährt den Republiken zu ihrem selbstständigen Staatslcben und ihrer Freiheit, die Kraft eines größern Reichs zum Widerstand gegen fremde Gewalt. Diese Kraft steigt in gleichem Maaße, wie sich das bloße Schutzbündniß der kleinen Staaten zu einem förmlichen Einheits-Bund Aller erhöht, worin sie, mit eignen Gesetzen und Regierungen für sich dastehend, von ihrer Souveränität so viel an die allgemeine Bundesgewalt übertragen, als hinreicht, um als ein einziger, als ein Bundesstaat Friedfamkeit und Ordnung im Innern, Ehrfurcht im Ausland zu erzielen. Mächtige Fürstenreiche besitzen, was schwächere Staaten durch den Föderalismus erst zu gewinnen suchen, nämlich die Mittel zur Selbstvertheidigung und Concentrirung der Staatskraft in einer Hand. Aber die Freiheit, deren sich die Bürger kleiner Republiken erfreuen, finden große Staaten ihrerseits ebenfalls auf dem Wege des Föderalismus, oder eines Quasi-Födera- lismus der zu ihnen gehörenden Provinzen und Völkerschaften. 104 ES ist der gefährlichste Irrthum, wenn man für innere Ruhe und äußere Stärke großer Reiche das Hauptmittel in der so genannten Vereinfachung der Verwaltung, das heißt, darin sucht, daß man Völkern und Provinzen von ganz ungleichen Oertlich- keiten, GewerbSarten, Gesittungsstufen, Lebensweisen und In- reressen einerlei Einrichtungen, Gesetze und Derwaltungsformen schafft. Es giebt keine größere Tyrannei, als die Tyrannei des Gesetzes, welche auf widernatürliche, gewaltsame Weise, gleich machen will, was von Natur und Schicksal ungleich gestellt ist. Kein verständiger Hausvater wird vom erwachsnen, gebildeten Sohn das nämliche, was vom unmündigen fordern. Jenes Gleichmachungssvstem vernichtet alle menschliche Lebensfreiheit, macht allen herkömmlichen Gewohnheiten, Erinnerungen und Sitten, allen Lebensweisen und Bedürfnissen der verschiedenen Provinzen den Krieg, und giebt den Einen mehr, als sie beim Zustand ihrer Bildung gebrauchen können, den andern weniger, als ihnen durchaus nöthig ist. Daher in manchen Reichen die wachsende, allgemeine Unzufriedenheit; daher die ewige Unruhe Frankreichs, wo jeder Mißgriff in der Verwaltung gleichzeitig und überall l'm ganzen Staat Schmerz und Murren erweckt. Das alte Rom beherrschte tausend Völkerschaften des Erdbodens mit leichter Hand durch den natürlichen Zauber eines Quasi - Föderalismus , in welchem es der zusammengeschürzte Knoten zur Verbindung Aller blieb. Es ließ den unterthänigen Nationen ihre Eigenthümlichkeiten, Religionen, Sitten und Einrichtungen; ließ sie diesen gemäs verwalten und veredeln, und behielt sich nur die fürstlichen Hoheitsrechte, Oberbefehl, Kriegsvolk und Abgaben vor. Ausbruch der Unzufriedenheit in einer Gegend stöhrte die Ruhe der andern nicht, weil deren Interessen nicht die gleichen waren, und konnte durch Uebermacht Aller leicht gedämpft oder in Schranken gehalten werden. — Die großen, europäischen Reiche heutiger Zeit, wie Oesterreich, Preussen, Rußland, werden mit ähnlicher Staatsklugheit verwaltet. Indem die Rechte, Freiheiten, Ordnungen und Bedürfnisse jeder besondern Provinz heilig gehalten, nur mit der fortschreitenden Kultur der Einwohner allmählig verbessert und mit den Rechten, Freiheiten, Ordnungen und Bedürfnissen des Gesammtstaats in Einklang gesezt werden, sieht jede der Völkerschaften in einem und demselben Monarchen ihren eigenen Schutzgeist, und wird ihr ein politischer Zustand theuer, der ihrer Natur und Civilisation entsprechend ist. 105 3. ötans, in Uidwalden. In einem kaum vier bis sechs Stunden langen Thale, dessen Wiesenbvdcn zwischen hohen Waldgebirgen sich fast eben ausbreitet, ist der Flecken Stans, Hauptort einer Republik von 9000 See« len. Das Thal trägt, wie kaum ein andres in der Schweiz, den Charakter ruhiger, ich möchte fast sagen, klösterlicher Schwermuth. Finstre Waldstreifen durchbrechen das dunkle Alpengrün. Einsame Fußwege, sauber und eingehägt, irren durch die stillen Wiesen, im Schatten alter, hoher Fruchtbäume. Die Umherwandelnden begegnen sich schweigsam. Ihr frommer Gruß: «Gelobt sey Jesus Christ!« und der Dank: «In Ewigkeit, Amen!" ist nicht selten das Einzige, was sie sich zu sagen haben. Das Jauchzen der Hirten auf den Höhen hat drunten keinen Wiederhast. Nur nach Festen oder Landsgemeinden kann in Wirthshäusern die Lust um so ausgelassener werden. Das Volk ist im Allgemeinen ernst, fast düster; die Mehrheit der Landleute nur mäßig bemittelt; wie gewöhnlich in Hirtenländern, zum müßigen Leben geneigt; aber kirchlich-religiös und unwissend nebenbei. Reisende klagen über ihre Verfolgung von Bettlern. Nur in den Dörfern am Seeufer bringt Schiffahrt, mit mannigfaltigerem Verkehr und Gewinn, auch regsameres Leben und fröhlichern Sinn, aber schwerlich Wohlstand oder Reichthum. Doch ein herzhaftes, treues, frci- heitlicbendes, biedres Gemüth ist den Nidwaldnern gemein, und eine Festigkeit der Denkart, die oft in furchtbaren Starrsinn verartef!, was dem Ländchen schon mehrmals schweres Verderben zubrachte. Man sieht im Flecken Stans mehrere neu aufgeführte Gebäude; noch mehr derselben in den Ortschaften Buochs und Stans- stad. Sie haben sich über der Asche derjenigen erhoben, die durch Wuth der französischen Schlachthaufen im September 1798 den Flammen übergeben worden waren. Damals, bald nachdem dies geschehen war, sagten mir in Lumpen gewickelte Menschen, die traurig an den Trümmern ihrer verbrannten Habe umher- schlichen: «Wären auch noch zweimal mehr luetischen draufgegan- gen, wenn nur die Franzosen nicht Feuer angelegt hätten!" — Diese Gefühllosigkeit gegen die Umgekommenen machte mir Grausen und Unwillen; und doch konnten auch religiöse Zuversicht auf 10 « Seeligkeit den für Religion und Vaterland Gestorbnen zu dieser scheinbaren Gleichgültigkeit beigetragen haben. „Religion und Vaterland!" ist der Talisman, mit dem man dies Hirtenvölkchcn zu Allem führt. Aber unter Vaterland versteht niemand das Schweizerland, sondern die ärmliche, enge Heimath zwischen See und Berg; unter Freiheit nicht das Befug- niß zur Entfaltung der materiellen und geistigen Kraft nach allseitigen Richtungen in streng gesezlicher Ordnung, sondern daS ungestöhrte Fortleben in althergebrachten Gewohnheiten und Uebungen. Religion hinwieder heißt der römisch-katholische Cultus der Kirche, durch dessen fleißige Beobachtung der bildungsarme Mensch das Heil seiner Seele zu sichern hofft. Die Sache dieser Religion steht in der Regel weit erhaben über die Sache des Vaterlandes, und somit auch daS Wort der Priesterscssaft weit über Ansetzn und Gebot weltlicher Obrigkeit. In der Priester- schaft aber pflegen diejenigen Geistlichen den größer» Einfluß auf das Volk zu haben, welche das Unglaublichste zu glauben lehren, und die Religion in ewiger Gefahr zeigen. ^ Als im Jahr 1798 die Franzosen sich völkerrechtsmörderisch gegen die Schweiz warfen, schworen die unerschrockenen Nid- waldner, ermähnt von der Priesterschaft, auf dem Landsgemeindeplatz zu Wyl, das Leben für Religion und Vaterland zu opfern. Sobald aber selbst Schwytz, nach ruhmreichem Kampf, sich der Uebermacht unterworfen hatte, entband dieselbe Pricfterschaft das Volk auf demselben Platz, fünf Wochen später, jenes Eides. „Unter den veränderten Umständen, sagte sie: wird Gott nun diesmal den guten Willen für's Werk annehmen!" — Das Länd- chen nahm beruhigt also auch die neue Verfassung der helvetischen Republik an, und es kam zur Leistung des gesezlichcn Bürgereides. Aber einige wenige Priester widersezten sich diesem Eide und brachten plözlich das ganze Land zur Widersezlichkeit: „man müsse sich für Religion und Vaterland wehren; die himmlischen Heerschaaren würden zu Hülfe eilen; der Kaiser aus Oesterreich Unterstützung bringen; keine französische Kugel werde einen derer verwunden können, die im Vertrauen auf Gottes und der heil. Jungfrau Beistand streiten würden." So ward der Kampf mit Schauen- burgs französischen Brigaden freudig unternommen. Es ist weltbekannt, wie er, obgleich mit ungeheurem Verlust der Franzosen, doch ein schauderhaftes Ende, unter Mord und Brand, für Nid- walden nahm. Es sind seitdem beinahe 40 Jahre verflossen; in diesem Zeit- 107 räume entstanden und verschwanden große Reiche; Völker weit umher änderten Sitten, Gesetze, Verfassungen und Herrschaften. In Nidwalden aber blieb unverwandelt, was da war. Noch im Jahr 1835 entstanden neue Bewegungen und Entzweiungen, weil abermals einige wenige Geistliche die Religion in Gefahr gesezt erblickten. Und wodurch? — Durch ein ganz harmloses, zwei Bogen starkes ABC-Buch. Es sollte in die Schulen eingeführt werden mit Beifall sowohl der Obrigkeit, als der Pfarrgeistlich- kcit. Aber das fromme Volk, von einigen Priestern gewarnt, bebte vor der Gefahr zurück, welche durch das Büchlein der Religion drohte, das, wie die Warner sagten, einen »Keim zu Ketzereien» in sich trage. Größere Landesunruhen zu verhüten, mußte man die Fibel verwerfen. Der Künstler, welcher in diesen Blättern eine Ansicht oom Innern des Fleckens Stans giebt, scheint ironisch auf die seltsame Macht der Frömmigkeit und auf den Talisman von Religion und Vaterland hingedeutet zu haben. Im Vorgrund, wie billig, alles überragend, ein Theil der schönen Pfarrkirche, deren Choraltar noch das Loch der Flintenkugel zeigt, durch welche im Aufstand von 1798 der Messe lesende Priester gctödtet ward. In der Nähe der Stolz des Vaterlandes, doch nur als Brunnensäule , das Standbild des Helden von Sempach, Arnold Winkelrieds, welcher, indem er die feindlichen Speere in seine Brust drückte, «der Freiheit eine Gaffe machte." Aber von ihm ab lenkt eine andächtige Prozession von Betern mit Kreuz und Fahnen, den Blick auf sich; voran der Priester, Seegen spendend, welchen die Gläubigen, Weiber und Kinder am meisten, knieend empfahn. Trübe schwebt über dem ganzen Thal der Himmel. Raben und Dohlen schwärmen im Sturmwind umher. Es entströmen den zerrissenen Gewöllen dichte Regenschauer. Nichts stöhrt die Haltung des Feierzugs. Nur noch ein flüchtiger Blick auf die Einrichtung dieser from» men Demokratie, in welcher das zur Landsgemeinde versammelte Volk sein Souveränitätsrecht ausübt. Zur Landsgemeinde erscheinen alle Bürger, die zwanzig Jahr und mehr alt sind; aber zu Wahlen der obersten Staatsbeamten stimmen auch kleine l4jäh- rige Knaben mit. Die meisten Staatsämter sind lebenslänglich, was in Freistaaten oft bedenklich seyn mag. Eben dieselbe LandesbehörLe, welche Gesetze, die dem Volke vorzuschlagen sind, vorberäth, ist nachher die Gesetz auslege rin: fü zugleich die höchste vollziehende Gewalt; dabei 108 noch die oberste criminalrichterliche und theilweis sogar civilrichterliche Behörde. Es würde Unterthanen einer Monarchie bange werden, so viel Gewalt, ohne alle Trennung, in einer und derselben Behörde zusammengehäuft zu sehn. Daß damit nicht zuweilen Mißbrauch getrieben werde, läßt sich nicht läugnen. Doch ist dies in neuerer Zeit hier seltner, als in Schwytz und Obwaldcn, den kleinen Nachbarrepubliken, der Fall gewesen. In NiLwalden herrscht im Allgemeinen strengere Gewissenhaftigkeit, vielleicht auch mehr Furcht vor der Unbeständigkeit der Volksgunst. M. j 8 .D k--^k'LLS >l > ' ' '° ' i-'' °'MÄ 'i, .Ä!-/» « «!ii ?! N'" -» ./ -W^-^ , »? ^ >»K>^ M- MAi -; ^ /I ?.' «M.-^ 10S V. Kanton Zug. Ein lustiger/ weiter, fünf bis sechs Geviertmeilen großer Baumgarten im Innersten der Schweiz, über Thäler, Hügel und Borge ausgedehnt, zuweilen mit Aeckern oder Weinbergen zwischen hohen Kastanien- und Nußbäumen, oder mit Matten und Wiesen abwechselnd, die von buschartigen Grünhägen umfangen sind — das ist der Kanton Zug. Verwitternde Ruinen alter Burgen, ländliche Wohnungen mit ihren Laubengängen, Brunnen und Blumengärtchen, Dörfchen, um ihre Kirchen malerisch versammelt, scheinen ganz absichtlich dahin gebaut, Reiz und Leben der landschaftlichen Scenerie zu vergrößern. Auch ein paar liebliche Seen dazu fehlen nicht. Den Garten bewohnt ein regsames, gutmüthiges Völkchen von nur etwa 14,000 Seelen. In seiner demokratischen Staatseinrichtung, in seinem Glauben, in seinen ländlichen Beschäftigungen gleicht es zwar seinen Nachbaren von Uri, Schwytz und Unterwalden; aber es ist, wenn auch streitsüchtig unter sich, doch verträglicher mit den übrigen Eidsgenossen. Man könnte dies Ländchen, die Heimath vieler ausgezeichneten Staats- und Kriegsmänner, wie die Koline, Zurlauben, Siedler u. s. w. sind, eigentlich einen Bundesstaat im Kleinen nennen. Denn es besteht aus vier von einander fast unabhängigen Gemeinwesen (Zug, Men- zingcn, Baar und Aegeri geheißen), die unter ihren eigenen Verfassungen, Gesetzen und Regierungen leben, auch sich sogar in Sitte, Lebensart, Kleidertracht, Bauart der Wohnungen u.s. w. unterscheiden lassen. Nur für allgemeine Angelegenheiten stehn Kantonalbehörden da, Landsgemeinde, Landammann, Rath und Gericht. ItO Das einzige Städtchen, von welchem der See, an dem eS gelegen ist, und der Kanton selbst, den Namen trägt, ist zugleich Hauptort der Republik. Man zählt darin ohngefähr 3000 Einwohner, und findet in ihm mehr für öffentliche Bildung und Gewerbigkeit geleistet, als in den schon erwähnten benachbarten Urkantonen. Auch die Geistlichkeit ist helleren Geistes, oder hat minder politischen Einfluß, als in jenen Hirtenländern. Sie ist verfassungsmäßig sogar vom Besuch der Landsgemeinde ausgeschlossen, in welcher das Volk sein Souveränitätsrecht ausübt. Ohne Zweifel ist unter den Sehenswürdigkeiten der kleinen Stadt ihre wunderliebliche Umgebung das Sehenswürdigste. Hier spricht die Natur in sanfter Majestät. Der zitternde Glanz eine- See's, der sich vier Stunden weit bis in den Schoos des dunkeln Hochgebirgs ansfaltet, wird von sanft anschwellenden Hügeln und Bergen umkränzt, unter denen viele mit üppiger Waldung, andrr mit Reben bekleidet sind. Das anmuthige Gelände wallet ringsum amphitheatralisch auf, bis die Pyramiden des Rigi und Pi- latus, die scharf geschnitten in den blauen Himmel hineinragen, den Vorgrund der Alpen und Gletscher bilden. Aus hoher Ferne schaun das Finsteraarhorn, die Schreck- und Wetterhvrner, Eiger, Mönch und Jungfrau, Tschingli- und Gespaltenhorn hernieder. Man weiß nicht, ob sie zur Erde oder zum Himmel gehören. Die Pracht der Oertlichkeit, das reiche Laubwerk der Waldgebüsche, die über dem Seespiegel schwebenden Segel, die Fülle und Mannigfaltigkeit des Schönen, welches, so weit das Auge reicht, uns in frischen Tinten, zumal bei Morgen- und Abendbeleuchtungen, entgegenglänzt — Alles hat hier eigenthümlichen Zauber. Wer sollte glauben, daß dieser freundliche See seinen Uferbewohnern schon mehr, denn einmahl, fürchterliches Unglück bereitete? Er ist am Fuß des Rigi 1200 Fuß tief; bei der Stadt Zug nur kaum 200 Fuß. Hier aber, wie anderswo, nnterfrißt er allmählig, wie es scheint, seine Gestade. Schon einmahl im Jahre 1435, wie die Chroniken erzählen, vernahm man an einem Nachmittag um 5 Uhr (den 4. März) durch das ganze Städtchen schreckliches Gekrache. In der dem See zunächst gelegenen Straße warf der Erdboden Spalten. Häuser rissen auseinander. Die Leute flüchteten aus den Wohnungen; andere wollten noch Habseligkeiten retten. Aber in wenigen Minuten versanken zwei Straßen mit Grund und Boden in den See. Ueber Tbürme und Mauern schlagen die Wellen Ill zusammen. Sechs und zwanzig Häuser lagen von der nassen Tiefe verschlungen und bis auf die Spur ihres Daseyns ver- schwunden. Fünf und vierzig Menschen, noch in den Wohnungen, wurden mit in den Abgrund gezogen. Ihrer keiner konnte gerettet werden; nur ein Mann schwamm empor gegen das Ufer, und einen Säugling in seiner Wiege trieben die Wellen heran. Im Jahr 1591 versuchte man die Oberfläche des Sees, durch Vertiefung seines Abflusses (der Lorz), niedriger zu legen, um mehrere hundert Juchart Landes aus ihrer Versumpfung zu ziehn und fruchtbar zu machen. Eine künstliche Dämmung oder Schwelle, 75 Klafter lang, hemmte während der Arbeit des Abgrabens den Zudrang der Gewässer. Nach Vollendung des Werks riß man vielleicht die Dämmung unvorsichtigerweise allzu- plözlich ein. Der Wasserdruck gegen das den See umringende Land ward damit allzujählings aufgehoben; und es geriethen weit herum die Gestade in Bewegung. Man zählte über hundert Einbrüche des Ufers und Erdfälle. Bei dem Dorfe Buonas verschwand eine ganze Strecke Landes. An der Ei ölen, wo auf ihren Kähnen im See die Fischer beschäftigt waren, sahen sie eine schöne Wiese, sammt dem darin befindlichen Teich, Herabdonnern und mit grausenhaftem Getose in den Abgrund sinken. In der Stadt Zug gingen neun Häuser unter; im Flecken Arth einS; andre an andern Orten. Ueberall floh man von den Ufern; man fürchtete den Untergang sämmtlicher Ortschaften längs dem See. Wedet so groß, noch ähnliche Gefahren bringend, wie der Zugersee, ist ein anderer im Kanton, der Aegerisee. Er liegt immitten eines romantischen Thals, von mehreren Ortschaften in einem Umfang von vier Wegstunden umgeben. An seiner Morgenseite zieht sich zwischen allmählig aufsteigenden Waldbergen und Waldströmen ein geräumiges Wiesenland von den Höhen nieder. Dies ist der durch die Freiheitsschlacht der Schwytzer im Jahr 1315 berühmt gewordene Moorgarten. Man kennt diese Schlacht aus zahllosen Beschreibungen; auch wie sich fünfzig verbannte Jünglinge von Schwytz zu ihr drängten, um sich durch Tapferkeit wieder Gnade und Heimkehr in's Vaterland zu verdienen. Man weiß, wie die Eidgenossen ihr Anbieten verwarfen, und nicht mit Bestraften gemeinsam streiten wollten, die dann aber abgesondert kämpften und durch ihr Heldenwerk den Zorn ihrer Landsleute versöhnten. Doch weniger weiß man von der 1!2 Ursach. derentwillen sie aus dem Lande verbannt worden waren. Laut einer noch im Volke lebenden Sage, war es folgende: Zu Steinen im Lande Schwytz, wo Werner Stauffacher mit seiner hcldensinnigen Gattin lebte, wohnte ein schönes Mädchen, um dessen Gegenliebe mehr als ein Jüngling deS Ortes und der Nachbarschaft warb. Nach alter, in den Schweizergebirgen einheimischer Sitte, wollten einige der jungen Leute einst dem Mädchen ihren nächtlichen Besuch abstatten, oder, wie man es nennt „kilten", um, in traulichen Gesprächen, der Schönen Gunst zu gewinnen. Da sie aber sahn, ihnen sei schon ein glücklicherer Nebenbuhler zuvorgekommen, forderten sie ihn heraus, daß er, wie üblich, im Kampf den Preis der Minne durch Mannesmuth verdiene. Er, die Achtung der Geliebten für sich zu erhöhn, säumte nicht, zu erscheinen. In der Finsterniß begann das Ringen und Schlagen. Am Morgen fand man den unglücklichen Jüngling unter dem Fenster der Geliebten todt. Es war nicht leicht, den eigentlichen Urheber dieses Unglücks zu erfahren. Selbst über den, welchen man endlich dafür hielt, entzweite sich das Blutgericht; es fielen gleichviel Stimmen für seine Unschuld, wie für seine Bestrafung mit dem Tode. Der Landammann mußte entscheiden und er entschied für die Hinrichtung des Verklagten. Sie geschah. Nun aber athmeten die Freunde des Unglücklichen Rache. Sie vereinten sich mit denen, die von der politischen Gegenparthei des Landammanns waren. Sie tödteten diesen, als er eines Tages von Schwytz nach Steinen ritt, und legten seinen Leib auf einer, und das davon getrennte Haupt auf der andern Seite der Strasse. Dann entflohen sie. Das waren die Verbannten ! Reicher an Sagen und seltsamen Ueberlieferungen sind aber die Umgelände des schönen Zugersees. Wer nur alle hören und wiedererzählen könnte, eh sie aus dem Gedächtniß des Volks, bei gesteigerter Bildung desselben, ganz verschwinden! Sie geben das treueste Bild vom kindlichen Geistesleben eines vergangenen Zeitalters, wo der Mensch «'inmitten von Wundern wandelte. — Nur Greise erzählen noch von wunderlichen schwarzbrauncn „Schrätteli", Zwergen und Erdmännch.'n, oder Bergmännchen, kleinen eigensinnigen, launenhaften Geschöpfen, die dem Menschen bald zur Hülfe, bald zur Plage sind. Zwischen Gestrüppen und Fclsenlöchern schlüpfen sie hervor und verschwinden sie; haben Niesenstärke und Vogelschnelligkeit; besitzen Gold und Diamanten im Ueberfluß und gebrauchen sie nicht. Gesegnet ist die Hütte, wo sie einkehren und 113 Speise verlangen; Schweinefleisch besonders ist ihre Leckerei. Keinen Dienst lassen sie u»vergolten. Eines Tages kam im Dorfe Walchwyl, das am Zugersee unter einem Kastaniemvald am Gebirge liegt, ein winziges Erd- männlein zur Hebamme. Seine Geliebte litt in Kindesnkthen. Die dienstwillige Amme folgte. Der Kleine führte sie durch Gebüsch und Gestein bergauf zur schattigen Schlucht der »kalten Hölle." Von hier ging's in eine Fesenspalte hinein, die bald sich zur hohen Halle erweiterte, hell erleuchtet von unterirdischem Licht; links und rechts sah man goldne Pforten von Nebenge- mächern. Der braune Zwerg führte die Amme in eins derselben, wo die leidende Schönheit in einem prachtvollen Bettchen lag. Das Geschäft ging glücklich von statten. Die kunstverständige Walchwylerin erwartete großen Lohn. Der kleine Mann gebot ihr, die Schürze zu erheben, als wollte er sie reichlich füllen. Aber statt des Goldes schüttete er ihr nur Kohlen hinein. Sie wagte nicht, ihren Verdruß zu zeigen und wurde von ihm wieder in's Freie hinausgeführt. Unterwegs ließ die Unzufriedne nachlässig von den Kohlen fallen. Flugs stand das Männchen neben ihr mit aufgehobenem, warnendem Finger und sagte: »Verachte die Gaben der Unterirdischen nicht!» — Sie wandte sich verdrossen von ihm, und warf die lezten, wenigen Kohlen zu den andern auf den Küchenhcerd. Aber, siehe, da blizten diese im blendenden Glanz aller Regenbogenfarben; es waren edle Steine. Sie sammelte die Wenigen, trug sie in die Stadt zu Kennern und vernahm, der Kohlenstoff wäre nun Diamant. Umsonst suchte sie nach allen klebrigen, die sie unterwegs hatte fallen lassen, als sie vom Pallast des Berggeistes gekommen war. Keine Spur ließ sich davon erblicken. Auf einer kleinen, von den Armen des Lorze-Stroms umfaßten Insel, ohnweit Cham, liegt das Nonnenkloster Frauen- thal. Sogar zu den frommen und schönen Cisterzienserinnen erblödeten sich die Erdmännchen nicht in die Zellen zu steigen und ihnen Blumen zuzutragen, oder boshaft die Schleier zu verstecken. Aber als die Himmelsbräute, zur Zeit der Reformation, auf den bösen Einfall geriethen, in die Freuden der Welt zurückzukehren, verschwanden die freundlichen, unterirdischen Gesellen. Statt dessen hatten sie eine Erscheinung andrer Art, von der sie so in Schrecken und Furcht gejagt wurden, daß sie von Herzen gern katholisch und im Kloster blieben. Denn allnächtlich stieg an ihren Zellenfenstern eine gräßliche Gestalt auf, und gaffte mit großen, wilden Auge» 8 114 hinein. Der Kopf hatte struppiges Haupthaar, einen zottigen Bart, und was das ärgste war, drei große Nasen Lm Gesicht. Aebtissin und Klosterfrauen thaten Gelübde und Eid, nie wieder den Einfall zu haben, das Kloster zu verlassen. Die ganze Geschichte dieser schreckenvollen Begebenheit war aber ein frommer Spaß, nicht der Erdmännchen, sondern einiger damaligen Rathsherren von Zug gewesen. Man pries, wie billig, den glücklichen Gedanken dieser geistreichen Männer, und verewigte das Gedächtniß solcher That zur Warnung für alle wcltlüsterne Klosterfrauen. Denn so oft, von da an, der große Rath deS Kantons in der Stadt Zug versammelt ward, sah man vor den Fenstern seines Saales jene scheußliche Gestalt, »den Guardian,» zur Schau gestellt. Dies geschah bis zum Jahr 1798. An demselben Tage trug man vor dem, durch die Stadt ziehenden, großen Rath das Bild einer Cistercienser-Nonne in Prozession her; während die Aebtissin von Frauenthal vor die Hausthüre jedes Rathsherrn ein Bund Stroh legen lassen mußte. Das Kloster kaufte sich endlich von dieser eben so kränkenden, als lächerlichen Uebung, durch Zahlung einer jährlichen Geldsumme, los. Den Zuger- und Luzernersee scheidet am Fuß des Rigi nur eine schmale Landzunge von einander, kaum breiter als eine halbe Wegstunde. Am Ufer des erstern liegen dort die braunen Hütten von Jmmisee; am Ufer des andern die stattlichern Gebäude des Fleckens Küs nacht. Wem ist aus den Historien von Wilhelm Tell nicht die hohle Gasse bei Küsnacht bekannt, wo der Brutus von Uri den Vogt Geßler erschoß? — Aber heut sucht der Wandrer vergebens den Hohlweg und seine romantische Dunkelheit unter überhangenden Gebüschen. Er hat sich in eine helle, breite, gemächliche Kunststraße verwandelt. Nichts deutet die Nachbarschaft der klassischen Stelle an, als die einfache, malerische Kapelle daneben mit der bekannten Inschrift: »Hier ist Geßlers Hochmuth vom Tell erschossen, Und der Schwyzer edle Freiheit entsprossen." Auch die winzigen Ueberbleibsel von der Burg Geßlers sind zur Noth noch auf dem benachbarten Hügel erkennbar, wohin Tell geführt werden sollte. Aber wie die hohle Gasse, zum großen Schaden der Romantik, vergangen ist, so haben auch neuere Entdeckungen der Geschichtforscher aus den ältesten Urkunden schweizerischer Archive dargethan, daß die Burg von Küsnacht nie dem grimmigen Geßler angehört habe. Sie war, vor und nach Kaiser Rudolphs von Habsburg Zeiten, Gut und Eigen- MM L« -5HW ZLÄ DpStzMMß ^.L- ' WMOW WMEM2 L ^ 4.^< 4t»r? -,»ä, M« MÄKM MM, lxÄ- WDtzR '. ^ -i EN8 WHW LNN 115 der Edeln von Küsnacht gewesen, wie man uns izt mit Brief und Siegel beweist. Es thut einem gläubigen Christen in der That leid, die alten, schönen Chroniken, selbst den treuherzigen Tschudi und den ihm nacherzählenden Johannes Müller sogar, nach so langer Zeit endlich des Irrthums geziehen zu sehn. Wer weiß nun, was an all den lieblichen Heldensagen zulezt ist? — Zum Glück bleibt doch wenigstens Schillers Wilhelm Tell wahr; denn das Gute und Schöne ist ewig wahr. 116 VI. Kanton Luzern. i. Die ötadl. Wenn irgendwo die Natur in ihren Landschaftsgcbilden mit poetischer, wollüstiger Trunkenheit gearbeitet zu haben scheint, so ist es in den nächsten Umgebungen der Stadt Luzern. Diese, von den heimathlichen Hügeln umarmt, ruht voll unmuthigen Stolzes am Busen ihres prachtvollen Sees. Als wäre sie sich ihres romantischen Reizes bewußt, spiegelt sie Tempel, Ringmauern, Gebäude und Thürme in seiner Klarheit. Mit seladongrünen Wellen tritt der Reußstrom leise aus ihm hervor, und trennt die Stadt in zwei ungleiche Hälften, die von mehreren Brücken wieder zusammengeschnürt sind, gleich dem Mieder eines Mädchens von schmalen Nestelbändern. Der See selber, ungeachtet der Großartigkeit seiner Umgebungen, enthüllt hier nur das Liebliche. Er ist zwischen sanftabgerundeten Userhügeln, wie zwischen weichen Polstern, eingebettet, auf denen, wie Blumen auf Sammetgrün, einzelne Villa's und ländliche Wohnungen umherliegen. In angemessener Ferne steigen neben ihm links der Rigi, rechts der finstre Pilatus zu den Wolken des Himmels empor, um dem großen Bilde zur Einfassung zu dienen. Und von einem zum andern spannt sich am Horizont des Hintergrundes die kolossale Perlenschnur der Eisberge. Der See windet sich von Luzern in mannigfachen Krümmungen durch das Gebirg der übrigen Waldstädtc (Unterwalden, Schwyz und Uri) fantastisch hin; überall schön, überall mit verwandeltem Charakter; bald feierlich ernst in weiten, stillen Räumen; bald finster und wild zwischen gigantischen Berggestalten, die auf ihren schneeweißen Achseln das Gewölbe des Himmels tragen; 117 bald durchsichtig bis auf den Grund, wo die Heerdcn der Fische auf den Gipfeln bewegter Wasserkräuter gaukeln; bald zum tausend Schuh tiefen Abgrund verdunkelt, wohin kaum ein Senkblei hinab- reicht. Von allen großem Schweizerseen liegt er über dem Weltmeer am höchsten; *) von allen gewährt er den reichsten Wechsel der Uferbilder. Nordwestwärts von ihm breitet sich das Gebiet des Kantons Luzern über einen Flächenraum von 36 Geviertmeilen aus; meistens ein fruchtbares Hügelland, welches südwärts zu Berghohen von 6 — 7000 Fuß aufschwillt, und in seinen Städten, Dörfern und Höfen ein freies, kräftiges, lebensfrohes Völkchen von mehr denn 103,000 Seelen nährt. Aber auch hier von Gegend zu Gegend, von Thal zu Thal, andre Sitte, Bauart, Kleidertracht und Menschenschlag; die stärksten, rüstigsten Männer, von edelm Wuchs im Eingang des Hirtenthals von Entlibuch; die feinsten Mädchengestalten in der Nähe der Hauptstadt. Wenn sich auch von der bunten, theatralischen Tracht der ländlichen Schönen nicht sagen läßt, sie sei geschmackvoll, so gefällt sie doch trotz der vielen, grellen Farben an den Bändern des über dem Haupthaar schwebenden Strohhütchens, des Wamses und Brustlatzes und kurzen Röckchens, dem überraschten Auge des Fremden. Die Mädchen gleichen darin umher- wandelnden Blumen, oder sie scheinen, wie Jemand sagte, durch den Regenbogen gelaufen zu seyn, dessen Farben an ihnen hangen blieben. Die Hauptstadt, einfach und glanzlos gebaut, doch zierlich, soll vormals größer und volkreicher gewesen seyn, als heutiges Tages. Sie zählt kaum über 800 Wohnhäuser, und kaum viel über 300 Ortsbürger. Ihre meiste Bevölkerung besteht aus Eingesessenen von der Landschaft, oder andern Kantonen, und beträgt im Ganzen etwa 7400 Personen. Vielleicht trug zu dieser Abnahme der verminderte Waarenzug über den See und Gotthards- berg, gewiß aber der aristokratische Geist und unverständige Eigen- nuz der Bürgerschaft nicht wenig bei, welcher sich scheute, durch Aufnahme neuer Bürger die Nutznießungen zu schmälern, die den noch vorhandenen Familien der Stadt vom gemeinen Gut derselben zuflössen. Es besteht nämlich seit den frühesten Zeiten, da sich Städte *1 Der Bodensee ist 1080 Fuß über dem Meer; der Genkersee 1150; der Zürichersee 1280; der Zugersee 1320; der Neuen- burgersee 1349; der Vierwaldstätlersee aber 1360- 118 und Dörfer in der Schweiz bildeten, fast überall die Einrichtung, daß ein großer Theil der umhergelegenen Wälder, Weiden, Wiesen und Alpen unter den ersten Einwohnern und Andauern zur gemeinsamen Benutzung liegen blieb. So konnte auch der Aermste unter ihnen, wenn er ohne Eigenthum war, ein Stück Landes vom gemeinen Gut hingeliehen empfangen, wo er für die Deinigen Nahrung anpflanzte; Holz zum Bau seiner Hütte, oder für die Flamme des Heerdes, gab der Gemeinwald, und seine Ziege oder Kuh weidete mit den andern auf der Allmend, oder in den Gemein- Alpen. Wer nicht zu den ursprünglichen Familien gehörte, hatte auch keinen Antheil an ihrem gemeinschaftlichen Gut. Und wenn er und sein Geschlecht Jahrhunderte lang in derselben Ortschaft wohnte, ward er dadurch nicht Ortsbürger, sondern blieb nur Einsäße, oder Hinterfüße und Fremder. Mit Abnahme der Anzahl einheimischer Geschlechter mehrten sich Vortheile und Nutzungen des gemeinsamen Vermögens für die übrigen Familien. Daher noch heut geschieht, daß nicht leicht ein Schweizer sein Ortsbürgerrecht auf- giebt, sondern nach vieljähriger Entfernung wieder in die Heimath zurückkehrt, in welcher ihm, sei er reich oder arm, das Seinige zufließr. Aber eben daher stammt auch die Abneigung des kleinsten Dorfes, wie der reichsten Stadt, die Zahl der nutznießungsberech- tigten Ortsbürger, durch Annahme neuer Bürger, zu vergrößern. In einigen andern Gegenden der Schweiz hinwieder haftet die Nuznießung des gemeinen Gutes nicht an den ursprünglichen Familien, sondern an den ursprünglichen Wohngebäuden des Ortes. Wer Eigenthümer eines solchen Gebäudes wird, ist von selbst Miteigentümer des den Wohnungen zustehenden ungeteilten Gutes, und hat, wie man sich ausdrückt, eine "ganze Gerechtigkeit." Ein Haus ist nicht selten aber von mehrern Familien bewohnt und eigenthümlich unter ihnen vertheilt. Daher hat man daselbst auch halbe, Viertels- und Achtelsgerechtigkeiten. So können Fremdlinge Nutznießer des Gemeingutes sein, während ursprüngliche Ortseinwohner und Gemeindsbürger davon ausgeschlossen sind. In allen, oder den meisten Kantonen der Schweiz waltet aber noch ein anderer Unterschied zwischen Orts- und Gemeindsbürger». Ortsbürger sind freilich auch Gemeindsbürger, und sie allein haben Mitgenuß und Mitverfügungsrecht in den Ortsbürgerversammlungen über das ihrer Heimath zustehende gemeine Vermögen; nicht also die Gemeindsbürger. Diese sind nur Ansäßige aus andern Gegenden des nämlichen KantonS , und üben in den Versammlun- IIS gen der Gemeinde, in der sie Wohnung haben, bloS ihre staatsbürgerlichen Rechte aus, von denen Schweizer andrer Kantone, oder Ausländer gänzlich ausgeschlossen sind. Die Stadt Luzern zählte im I. 1833 nur 330 stimmfähige Ortsbürger, aber 833 Gemeindsbürger. In ältern Zeiten war das Verhältniß anders; die Stadt daher volkreicher, gewerbiger, reicher und mächtiger. Sie konnte ihr Gebiet durch Ankäufe und Eroberungen vergrößern. Damals sprach die ganze Bürgergemeinde in öffentlichen Angelegenheiten mit. Nach und nach, seit Anfang des XV. Jahrhunderts, beschränkte man unmerklich diese demokratische Freiheit; brachte nur geringfügige Dinge vor die Gemeinde; verminderte die Anzahl der Mitglieder in dem großen und kleinen Rath der Republik; erlaubte endlich nur eigentlichen Stadt- oder Ortsbürgern, Glieder desselben zu werden; schloß sogar zuletzt die Mehrheit der Ortsbürger davon aus, und verwandelte Genuß und Recht der Herrschaft über Stadt und Land allmählig in eine Art Erbgut weniger angesehenen Familien, welche sich, bei Erledigung einer Stelle, die Besetzung derselben aus ihrer Mitte vorbehielten^ So ward die Aristokratie oder vielmehr Oligarchie vollendet. Im allgemeinen Untergang der alten Staatsformen durch französische Revoluziom'rung der Schweiz, und durch die Vermittlungsakte des französischen ersten Cvnsuls im I. 1803 ging auch die luzernische Oligarchie unter. Obschvn aber Napoleon, in seiner Vermittlung, der Stadt bedeutende Vortheile gestattet hatte, genügte dies den Patriziern nicht. Auch sie, wie andre in andern Schweizerstädten, versuchten im I. 1814 ihre Wiederherstellung, die aber nicht länger, als die Furcht des Volks vor Einmischungen der bekannten »heiligen Allianz« der großen Mächte dauerte. Mit dem Jahr 1830 verschwand diese Furcht; und mit ihr die verjüngte Aristokratie wieder. In Luzern herrscht, neben mäßigem Wohlstand, weit mehr wissenschaftliche Bildung, mehr Kunstsinn, als in andern katholischen Hauptorten der Schweiz; und unter den Einwohnern ein freundlicher, geselliger, frohsinm'ger Ton, den selbst der düstre Partheigeist während der bürgerlichen Unruhen nur auf kurze Zeit verstimmen konnte. Es scheint dieser leichte Sinn, diese Lebeseeligkeit ist ein Erbstück der Vorwelt, und dann wahrlich ein beneidens- würdiges. Jede Jahrszeit bringt neue Feste und neue Gelegenheiten der Freude. Ja, was vielleicht in keiner andern Stadt der Fall ist, feiert man in Luzern, statt des Andenkens großer Helden, das Fest eines fröhlichen Mannes, der die Kunst verstand, ein 120 halbes Jahrhundert lang Luzern und die übrige Eidgenossenschaft mit seinen witzigen Einfällen, Schwanken und Streichen zu erheitern. Er hieß Fritschi, ein jovialer, lustiger Bruder, zu Erde des XV. Jahrhunderts, der sein Vermögen, und er war reich, dem Gott der Freuden widmete, so lang er lebte, und, durch ein Vermächtniß, selbst noch nach seinem Tode. In diesem Vermächtniß ordnete er an: Alljährlich an einem gewissen Tage, (gewöhnlich dem letzten Donnerstag der Fastnacht) sollen die Mitgieder der Stadtzunft, zu welcher er gehörte, einen Umzug durch die Stadt halten, Musik voran, und ein Mann von seiner Gestalt und Art dabei. Dieser habe als sein Stellvertreter zu erscheinen, und den großen, silbergeschmückten Pokal, den er hinterlassen (der Fritschikopf genannt), stattlich zu tragen und, wohlgefüllt mit Wein, jedem anzubieten, der einen guten Truuk begehre. Dann müsse der Zug der Männer, alle in Harnisch und Waffen, hinaus nach der Halden, wo er selber einst gewohnt, gelacht und getrunken hatte, um seiner nicht zu vergessen; von da aber in den Zuuftsaal zurück, den Tag bei Spiel und Tanz, Wein und Gesang zu vollenden. Es ist nicht nöthig zu sagen, daß sich die muntern Luzerner ein Testament dieser Art Wohlgefallen ließen. Selbst ehrbare Rathsherrn und Regenten des Staates marschirten in den ersten Zeiten feierlich und gewissenhaft mit, bis sie allzu vornehm wurden, um mit Unterthanen und Angehörigen das Vergnügen zu theilen. Zierlich gekleidete, schöne Knaben eröffneten die lustige Prozession, hinter welchen in Harnisch und Waffen, mit eroberten Siegeszeichen, eine Maunsschaar folgte. Nach ihr schritt der Träger des großen Fritschibcchers majestätisch einher, neben ihm auf einer Seite das Zunft-Banner, auf der andern ein Feldhauptmann zu Pferd in kriegerischer Rüstung. Hinter dem Becherträger aber erschien, ebenfalls zu Pferd, endlich Bruder Fritschi selbst und seine ehrsame Hausfrau, beide in die Staatsfarben des Kantons, blau und weiß gekleidet; eine jubelnde Menge Volks von fern und nah schloß den Zug. Wie gesagt, die Festlichkeit wiederholt sich alljährlich noch heutiges Tages. Wenn auch die Schweizer von jeher in ihren verschiedenen Kantonen und politischen Haushaltungen mit einander unter beständigen Zwisten lebten, die zuweilen sogar in Kriege ausarteten, betrachteten sie sich doch stets wie Glieder und Bruder einer und derselben Familie! War der Bruderzwist beseitigt, vergaß man ihn. Von Kanton zu Kanton lud man sich zu großen, wochenlangen Festen 12l ein, bei welchen dann zahlreiche Abgeordnete der erbetenen Regierungen und Städte nicht fehlten. Die alten Geschichten und Chroniken der Schweiz sind reich an Beschreibungen solcher Lusttage und der dabei bewirtheten Gäste, von einer Republik zur andern. Kein andres europäisches Land hat Aehnliches auszuweisen. Auch izt noch dauern die Einladungen zum Genuß gemeinsamer Freuden- tage und Spiele von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, von Kanton zu Kanton fort. Ost giebt ein Ort gastfrei nur der in Waffen oder im Turnen geübten Jugend andrer Orte und Kantone das Fest. Ueblicher aber sind seit zwanzig Jahren volkreiche Zusammenkünfte und Vereine von Männern aller Gegenden des Schweizerlandes, bald der Schützen zu eidsgenössischen Freischießen, bald der Sängerchöre verschiedner Kantone, bald der Musikliebhaber, bald anderer sogenannten allgemeinen Gesellschaften geworden. Hunderte, oft Tausende von Gästen erscheinen dabei, die Lust des Volksfestes mit zu genießen, welches durch die Gastfreundlichkeit der Gegend, in der es begangen wird, nicht selten für sie mit beträchtlichem Aufwand verbunden ist. Warum sollt' ich hier die bekannten Merkwürdigkeiten der Stadt Luzern aufzählen? Man findet sie in einer erkleklichen Menge von Reisebüchern genannt und beschrieben. Lieber wend ich meinen Blick dem majestätischen Pilatus zu, diesem Riesen in einer vierzehn Stunden langen Reihe von Gebirgskuppen, der, mit seinen sieben ungleich hohen Felsenhörnern, im Hintergründe unsers Bildes schwebt. Schroffer, wilder, zerrissener und erhabener, als der sanftere Rigi, ragt seine lezte Spitze fast anderthalb tausend Schuh über diesen hinaus (7130 Schuh über die Meeresfläche). Auch reicher ist er an mannigfaltigen und seltnern Pflanzen, ungerechnet die Menge der Versteinerungen, welche die Lager seiner Kalksteinmassen enthalten. Dorfschaften und Höfe blühen rings um an seinen Abhängen. Bis zu seinen höchsten Kämmen und G.athen weiden Sommers die Heerden. Uebrigens kann man wohl zugeben, daß er denen, die des Vergnügens willen Gebirgsreisen machen, weder soviel Bequemlichkeiten beim Ersteigen seiner Höhen darbietet, wie der Rigi, noch die Mühen so schön durch Aussichten in unermeßliche Fernen belohnt. Denn seine Zugänge sind von allen Seiten ziemlich rauh, von Tannenwäldern, oder Nebenbergen, oder Felsen umzogen und des wechselnden Blicks in die tiefern Thalgegenden beraubt; oft jäh und schlüpfrig. In seinen höchsten Alpen wird die Aussicht über die Reiche der untern Welt nicht nach jeder Seite hin frei gelassen, 18S sondern von nebenaufragenden Felshörnern, Steinklippen und Bergwänden verrammelt. Diese zu erklettern ist weder eine ganz leichte, noch gefahrlose Arbeit. Auch ist es nicht für jedermann behaglich, droben auf einem engen Raum da zu stehn, wenige Schritte von fürchterlichen Abgründen getrennt, in die man kaum ohne Anwandlung des Schwindels den Blick hinuntertaucht, um dafür allenfalls, wenn das Wetter günstig, das Fernrohr gut ist, den Münsterthurm von Straßburg, oder wie auf einer Landcharte, ein Dutzend Seen zu erkennen. Aber ein Vorzug des Pilatus wenigstens wäre auch dem Rkgi noch zu seinen übrigen Herrlichkeiten zu wünschen, — das Echo der schönen Bründlenalp, und ein Sänger dazu, wie der Jüngling vom Dorfe Hergottswald, welcher einst mir zum Führer diente. Der Mond stand schon hoch am Himmel, als ich noch einmahl, von dem jungen Aelpler begleitet, aus der Sennhütte in den windstillen, lauen Abend des Gebirgs hinaustrat. Ich ging wie in ein Traumleben ein. Zwischen grellen Lichtern, Finsternissen und Dämmerungen, sah ich mich in einer Fremde verloren, die mit der gewohnten Welt keine Aehnlichkeit behält. Mein Fuß schien über Berggipfeln zu schweben; und Berggipfel ragten in bleicher, undeutlicher Entfernung unter mir hervor. Die Felsklippen hatten sich neben mir in schwarze, gespenstige Riesengestalten verwandelt, von seltsamer Stellung. Die Luft, rein und geistig, wie ich sie hier mit tiefen Odemzügen eintrank, schien mein ganzes Innre erfrischend zu durchstießen. In dem weiten Schweigen der überirdischen Nacht klangen von Zeit zu Zeit fantastische, aber liebliche Töne, als drängen sie von den Sternen her. Es waren die Hirten in entlegnen Alpen mit ihren Liedern. Indem ich einige hundert Schritte gegangen war, und unter mir aus der Helldunkeln Tiefe links die Stadt Luzern, rechts ihren See dämmern sah, als schwämmen sie, wie Luftbilder in Mondstrahlen umher, erhob mein Begleiter die Stimme zum Gesang, das Antliz von mir abgewandt gegen die breite und hohe Felsenmauer des Tomlishorns und Gems- mättli's. Aus der Brust hervorgepreßte, dem Jodeln ähnliche, Töne, angenehm und rein durch sich selbst, wurden es noch mehr durch einfache, liebliche, launenhafte Melodien, welche mein Sänger augenblicklichen Eingebungen zu danken schien. Schwieg er, so fiel, wie mit süßen Orgelklängen, der Widerhall der Felsen ein, hell und deutlich, nach und nach abschwindend, wie in Seufzern der Windharfe. Es schien ein Wettgesang der Oreaden mit meinem Führer zu werden. Er machte lange Pausen, sich zu erholen. Dann 1S3 begannen die Hirten gegenüberliegender Berge von neuem ihre Sänge, die sie so lange hatten verstummen lassen, als sie die Stimme meines Führers hörten, bis er sie wieder erhob, und ihr das Echo, wie Schatten seiner Töne, folgte. Erst, als wir zur Hütte zurückkehrten, vor welcher die rnßigten Sennen horchend im Mondenschein standen, erfuhr ich von ihnen, daß der junge Mann von Herrgottswald der beste und berühmteste Sänger der Gegend war. Ich gestehe, keine Oper, kein Concert mit Catalaniftimmen, hat über mein Gemüth so großen Zauber geübt, als dieser Wechselgesang des Arion der Alpen mit den Geistern des Gebirgs. Von dem kleinen See oder Weiher der Bründlenalp, in Welchen sich, wie die Volkssage des Mittelalters sprach, der Landpfleger Pontius Pilatus in der Verzweiflung seines Gewissens stürzte, ist es nicht der Mühe werth zu reden. Er liegt zwischen finsterm Tannengestrüpp. Daß von ihm zuweilen aufsteigender Nebel nahe Gewitter verkündet, ist so natürlich, wie bei jedem Nebel, der aus Berghvhlen, oder Wäldern sichtbar wird, wenn die Atmosphäre mit aufgelösten Dünsten schon überladen ist. Sonst glaubte man, ein in den See geworfener Stein, der darin dem bösen Pontius Aerger errege, reiche hin, die schrecklichsten Wetter zusammen zu ziehn. Noch im sechszehnten Jahrhundert mußten Fürsten, Staatsmänner, Naturforscher und andre Fremde, welche den Pilatus besteigen wollten, von den wohlweisen Luzerner Ratbsherrn besondre Erlaubniß dazu einholen; und sie empfingen dieselbe jedesmal nur unter wohlgemeinten Warnungen, in der Nähe der höllischen Pfützen fromm und vorsichtig zu seyn. Furchtbarer, als durch dies kleine Gewässer, wird der Pilatus zuweilen seinen Umgegenden durch die zahlreichen Waldströme und Gießbäche, welche in seinen Klüften und Schluchten, unter Gewitterschauern und Wolkenbrüchen, anschwellen und verheerend über die Thäler ausbrechen. Einer der Waldströme, der wildeste von allen, der Krienserbach, hat in frühern Zeiten und selbst noch im lezten Jahrhundert, seine Verwüstungen mehrmals bis über einen großen Theil der Stadt Luzern, (die Kleinstadt geheißen) ausgedehnt. Er stürzt vom Pilatus aus einer hohen, engen Felsenschlucht, in eine weite, mit Bergschutt gefüllte, muldenförmige Tiefe. Würde er nicht in seiner graben Richtung durch einen natürlichen Felsdamm gehemmt, der quer von einer Bergseite zur andern überspringt, so könnte er frei in einen öden Abgrund zwei bis dreihundert Schuh zwischen hohen Bergen hinunterstürzen. Der Abgrund heißt das Renggloch. Aber überall eingesperrt, und sein Bett immerdar mit 124 neuen Felsblöcken und Bergtrümmern erhöhend, ergießt er sich auch eitwärtS über ein minder erhabnes Ufer gegen das Dorf Kriens, und gegen Luzern, welches von da noch eine Wegstunde entfernt liegt. Schon in vergangenen Jahrhunderten hat man, mit ungeheuerm Aufwand von Kosten und Arbeiten, bald das Ufer mit Dämmen und Wehren befestigt und erhöht, die von seiner Gewalt aber, wie leichtes Gespinnst, zerrissen wurden; bald ihm ein tieferes Bett gesprengt, das er immer wieder mit fortgerissenem Schutt ausfüllte; bald das hemmende Felsband vor dem Renggloch durchbrochen. Endlich, vor wenigen Jahren, führte man ihn, von der Höhe gegen den Abgrund hin, in einem geräumigen, künstlichen Kanal-Bett von mächtigen, zusammengefügten, glattbehauenen Granitquadern. Aber auch diesen ist keine lange Dauer zu verheißen. Seine Gewässer, wenn sie von Bergwettern geschwollen, reißend mit abgebrochnen Felsen Herabdonnern, schleifen die Granitwände ab, und stürzen sie in sich zusammen. Die öde, schaurige Gegend, an sich sehenswürdig, wird es dem Reisenden noch mehr durch Betrachtung des Kunstwerks, mit welchem der Mensch den unzähmbaren Waldstrom gelehrig zu machen versucht hat. S. Die LapeUe bei Semparh. Unter alten, breitschattigen Bäumen, auf einer über dem Städtchen Sempach gelegenen Wiesenhöhe, sieht man eine kleine Kapelle. Sie ist dem Gedächtniß der hier im Jahr 1386 von den Schweizern gelieferten Freiheitsschlacht geweiht. Man sagt, sie stehe auf demselben Plaz gebaut, wo der Leichnam des besiegten Herzogs Leopold von Oesterreich gefunden worden war, umringt von ungefähr 2000 Todten seines unglücklichen Heers. Sechs bis siebenhundert Grafen und Ritter waren mit ihm gefallen, von denen 350 gekrönte Helme getragen hatten. War es nur Achtung für das Ansehn eines großen Fürsten, oder Rache und Stolz der Ueber- winder, was zur Wahl dieser Stelle, und keiner andern, für ein Siegesdenkmal bewog? — Würdiger wär' es auf derjenigen Stätte errichtet worden, wo der hochsinnige Unterwaldner Arnold Winkelried sich, ein Curtius der Eidsgenossen, dem Tode für's Vaterland hingab, indem er die Feindes-Speere, soviel er deren mit den Armen fassen konnte, in seine Brust begrub, und so den Seinen, »WMM WM» MsW MW iM-K ^ ^ ^.D WWSK^^M MM MAW <. M Mk' MÄ'W 125 in die eiserne Phalanx der Ritter hinein, eine Gasse machte, über den eignen Leichnam hinweg. Ein armer Waldbruder (man nennt ihn gewöhnlich den Schlacht- Bruder,) wohnt neben der Bethütte, um den Reisenden, als Cicerone, zu dienen und die Kapelle zu öffnen. Unter den drei Bogen der engen Vorhalle laden Sitze den Wanderer, wie den Andächtigen, zur Ruhe ein. Im Innern sieht man ein herabhängendes, großes Kreuz; zu beiden Seiten desselben in betender Stellung auf den Knieen, den Herzog Leopold, und seinen, gleich ihm in der Schlacht umgekommenen, Feind, den Luzerner Schultheiß Petermann von Gundoldingen. In derselben Stellung wird über der Thür Arnold Winkelried erblickt, den Arm voller Lanzen, mit der Inschrift: „Arnold von Winkelried Zertrennt des Adels Ordnung Und macht den Sinen ein' Gassen.» Charakteristisch sind die lezten Worte beider republikanischen Helden, des Winkelried und des Gundoldingen, ehe sie das Leben aushauchten. »Gedenket der Meinen!» rief Winkelried, eh er die Todesspeere umklafterte. — Gundoldingen hingegen, da er am Boden in seinem Blute sterbend dalag, und ihn ein Luzerner fragte, ob er noch etwas an seine Familie zu melden habe, sprach: »Nichts den Meinen! aber unsern Mitbürgern sage: sie sollen keinen Schultheißen länger, als ein Jahr, im Amte lassen!» -- Jener, der sich dem Vaterlands freiwillig aufopferte, empfahl dem Vaterlands noch Weib und Kind; diesem aber war die Bewahrung der Freiheit wichtiger, als die eigne Familie. Die luzernischen Patrizier wußten indessen den weisen Rath des Mannes schlau genug zu umgehn, um ihre Oligarchie zu sichern; zwar ließen sie von den beiden Schultheißen und Häuptern der Republik jeden nur ein halbes Jahr im Amt, aber beide darin lebenslänglich abwechseln. Griechen und Römer erbauten den Stiftern und Helden ihrer Freistaaten Ehrensäulen auf öffentlichen Plätzen; die Republikaner der katholischen Schweiz stifteten denselben Kapellen und kirchliche Feierlichkeiten. So finden wir diese Kapellen zu Ehren Tells in seinem Wohnort zu Bürgten, auf der Tellenplatte am Urnersee, und neben der Hohlgaffe bei Küsnacht; so in der Matte von Schvrno die Threnkapelle der Schlacht von Moorgarten, wie die bei Sempach. Und wie hier> so werden auch anderer Orten die Gedächtnißtage: der Helden und ihrer Thaten noch alljährlich mit kirchlichem Pomp 1S6 gefeiert. Ja, bis zur neuesten Zeit beging Frekburg sogar den Jahrestag der ersten Villmergerschlacht (v. 1.1657), mit religiöser Festlichkeit, wo brudermörderischer Fanatismus die katholischen Kantone siegreich gegen die protestantischen Eidsgenossen ins Feld geführt hatte. Man erkennt in dergleichen kirchlich-weltlichen, oder religiöS- politischen Einrichtungen der katholischen Schweizerkantone die fromme Sinnesart der Völkerschaften; aber deutlicher noch tragen sie das Gepräge einer tief durch das Innerste des republikanischen Lebens gedrungenen Hierarchie. Indem diesen gutmüthigen aber bildungs- armen Hirtenvölkern schmeichelhaft gepredigt wird: »Ihr seid freie Männer; Ihr habt keinen Herrn und König über Euch, als Gott im Himmel!» ist nichts leichter, als der Uebergang zu den Priestern gemacht, zu den Dienern dieses Königs, welche seine Befehle verkünden und Gehorsam fordern. Die Priesterherrschaft, im Namen der Kirche oder Gottes, bildete sich bei den demokratischen Hirtenvölkern erst im Lauf der Jahrhunderte, neben einer gleichzeitig erwachsenden Familienherrschaft, allmählig aus, bis die geistliche Hoheit dem Ansetzn weltlicher Obrigkeit vollkommen gleich stand, oder es sogar überwog. Sämmtliche Priesterstaaten alter und neuer Zeit gestalteten sich nach den nämlichen Grundsätzen aus, wie wir sie in den meisten katholischen Staaten der Schweiz ausgeführt sehn. Die Basis der Theokratie ist die Kraft des Glaubens an das priesterliche Wort. Jeder Zweifel ist Hochverrath. Zur schnellen Verkündung, zur sichern Vollstreckung der Gebote des göttlichen Landesherr» wird eine zahlreiche Menge seiner Diener unvermeidlich, die, in vielfachen Abstufungen einander untergeordnet, blindlings die Weisungen der Obern erfüllen. Es ist eine lange, starke Kette, von welcher das ganze Land, jedes Dorf, jedes Haus umschlungen ist, und deren leztes Glied in der Hand des Hohenpriesters ruht, der im Namen Gottes spricht. Ein Zug von dieser Hand, und es ward damit ehmals ein ganzer Welttheil, von den Thronen bis zu den untersten Volkstiefen, erschüttert. Was den Dienern des Altars zu Theil ward, das war der Gottheit geopfert; was dem Himmel gegeben ward, fiel dem Genuß der Priester zu. Beide standen untrennbar vor dem Volke. Alles mußte nur zur Verherrlichung eines Gottes geschehn, dessen Ehre die Ehre seines Dieners ward. Dem der unsichtbar waltet, der den Menschenkindern Alles verleiht, ihm gehört Alles. Wie er erhaben steht über sterbliche Fürsten, so stehn seine Diener erhaben 127 über irdische Obrigkeit. Jedes Lebensgeschäft, jede Tageszeit, jede Stelle des Landes muß an die Verehrung des göttlichen Landesherr» mahnen; das Gotteshaus an Größe und Pracht über Palläste und Hütten hervorragen. So sonst, so heut. Noch werden sogar in den wüsten Einöden Afrika's von kühnen Reisenden die Ueberbleibsel von mehr denn hundert Tempelgebäuden des alten Meroö bewundert, Pyramiden und Götterdenkmale aus Weltaltern, von denen die Geschichte nichts kennt. — Salomons Tempel gehörte zu den Weltwundern. Wem ist der israelitische Jehovadienst unbekannt, wie er durch Festtage, Festwochen, Jubeljahre, Waschungen, Gebete, Opferungen u. s. w. mit Geschäften des täglichen Lebens verflochten war? — Die Thäler des thibetischen Priefterreichs sind bis hoch an den Bergen mit Wallfahrtsörtern, Klöstern und Klausnerhüttcn übersät. Fasten und Kasteiungen wechseln mit lustigen Feiertagen, häusliche mit gottes- dienstlichcn Verrichtungen in ununterbrochener Folge täglich ab. — Man sieht in den Ebnen und Gebirgen Japans überall, an Landstraßen, Häusern und Ställen, selbst am geringsten Hausgeräth ein Sinnzeichen, das an die unsichtbaren Gewalten erinnern soll.— So offenbart sich die Theokratie! Und schwer ists, daß sich ein Volk von einer solchen Auflösung seines ganzen Lebens in kirchlichem Dienst losringe; von diesem Zauber frei mache, womit priesterliche Hoheit in das Innerste des Staats- und Hauswesens dringt; sich mit den wichtigsten Ereignissen der Familie und des Menschen, von seiner Geburtsstunde, oder von der Vermählung, bis zu seinem Begräbniß, verschlingt. Wer wundert sich, daß unwissende Bergvölker sammt ihren Vorstehern, in Verwechslung des Religiösen mit dem Kirchlichen, und der Gottheit mit den Priestern derselben, arglos und gleichgültig eine auf vielen Schlachtfeldern blutig erkaufte Freiheit dem Interesse der Hierarchie preisgeben? 128 VII. Kanton Glarus. i. Der Flecken Glarus. Selbst unter Schweizern gilt dies Alpenländchcn immer mehr, als einer ihrer Lieblinskantone. Es ist durch Rauheit seines Bodens, durch Wildheit seiner Gebirgsnatur, zwar arm, wie die meisten der Hirtenländer in den Thälern der Alpen. Sein schmaler Flächenraum von etwa 21 Geviertmeilen schrumpft auf 4 oder 5 derselben zusammen, die anbaufähig oder bewohnbar sind (nicht gerechnet die hohen Alpentristen für die Heerden). Und auf diesem Raum, den oft noch Waldströme, Gießbäche und Lauinen verwüsten, sollen 30,000 Menschen ihre Nahrung suchen! Aber doch findet die Mehrheit des Volks durch Erwerbsthätigkeit und sinnreichen Kunstfleiß nicht nur Nahrung, sondern selbst Wohlstand. Glarner Handel geht durch ganz Europa und über das Weltmeer. Er hat in entfernten Ländern Niederlassungen und Fabriken, die ihren Gewinn der Heimath zusenden. In Dörfern sieht man fast allenthalben Werkstätten der Maschinenspinnerei, der Linnen- und Baumwollenweberei, der Seidenwaaren, Färbereien und Druckereien. Glarnerschiefer wird weit umher vertragen; ebenso Kräuterthee und Schabzieger. Für letzteren wird das Kraut, welches ihn würzt (Trikolium melilotus eaeruleum), nicht einmal mehr, weil schon das Land zu kostbar ist, in den Glarner Dörfern selbst so häufig, wie sonst gebaut, sondern aus Nachbargegcnden angekauft. Auch Glarus besizt zwar, wie die übrigen Hirtenkantone im Schoos der Hochalpen, die alterthümliche demokratische Verfassung des Staats. Die 15 Tagwen (oder Bezirke) des Landes wählen ihre unmittelbaren Obrigkeiten, und in allgemeiner Landesgemeinde, bei welcher alle Landleute mitstimmen, die über 16 Jahre alt sind, 189 ihre Staatshäupter, Landammann, Landesstatthalter, Pannerherrn, Landesfähndrich, Seckelmeister u. s. f. entscheiden über Gesetze, Auflagen und Verträge mit dem Auslande, in souveräner Vollgemalt. Ausserdem noch halten die reformirten und katholischen Einwohner (leztre bilden nur den siebenten oder achten Theil der Bevölkerung) besondere Landsgemeinden. Aber hier herrscht doch hellerer, freierer Geist, als in den Urkantonen. Weder die Oligarchie der reichern Geschlechter, noch die Hierarchie kann in dies Landsgemeinden-Wesen tief einwurzeln. Denn man will höhern Wohlstand; dazu ist aber höhere Volksbildung unentbehrlich. Jährlich geschehen auf diese Art Fortschritte zum Bessern, selbst in Staatseinrichtungen, während in den übrigen Landsgemeinden- Cantonen (nur Appenzell Inner Rhoden ausgenommen und Graubünden) Stillstand, oder Rückgang neben Familien- und Priesterherrschaft beklagt wird. Man erblickt daher hier, was in den meisten Alpenthälern fehlt: Regsamkeit für Verbesserung, für Erhebung des allgemeinen Schulunterrichts; zinstragende Ersparnißkassen; eine Brandversicherungsanstalt (worin die Schätzungssumme der Gebäude über vier Millionen Franken beträgt); medicinische, pädagogische und litera- rische Vereine; gesellschaftliche Bibliotheken und Naturaliensamm- lungen, Lesezirkel u. s. w. und zwar nicht blos am Hauptort des Landes, sondern in mehreren Ortschaften. Viele Dörfer haben durch Größe und Zierlichkeit schon ein Ansehen stattlicher Marktflecken, wie Ennenda, Schwanden, Wallis. Der Hauptort Glarus, mit mehr denn 400 Gebäuden und 4000 Einwohnern, erhebt sich stadtähnlich. Ihn schmückt die Betriebsamkeit seiner Bürger mit allen Kennzeichen eines bescheidenen Wohlstandes. Er hat sein Cassino, seine höhere Schul- anstalr. Das Gebäude der leztern verschönert den Landgemcinden- platz, als Denkmal bürgerlichen Gemcinsinns. Es ist durch Privatbeiträge entstanden, die in den ersten Paar Tagen des Sammelns schon 30 — 40,000 Gulden betrugen. Jetzt empfangen da täglich bei 700 Kinder Unterricht, selbst in den für das bürgerliche Leben nöthigen höhern Wissenschaften. Im Kreise seiner himmeltragenden Alpenhöhen und Eisberge, ruht der Hauptflecken in seinen Wiesen und Gärten, wie in einem Blummbette. Westwärts steigt der riesige Gebirgsstock der Glär- nisch im ewigen Schnee empor, von dessen Gipfeln der kühne Jäger der Gemsen (8 — 9000 Fuß über dem Meere) die halbe Schwriz unter seinen Füßen, einen Theil Frankreichs und Deutsch- 9 130 lauds in blauen Fernen sieht. Ostwärts schwellen die begrünten Halden der Frohnalp und des schroffen Schiltberges zu mehr denn 7000 Fuß absoluter Höhe an. Wie hier, so überall im Lande, wächst, mit der Gewerbs- tbätigkeit, die Bevölkerung und Benutzung des Bodens. In mancher Ortschaft, wie ;. B. in Schwanden, nahm die Menschenzahl, während der lezten zwanzig Jahre, um zwei Fünftel zu. Wo irgend die ungeheuren Gebirgsmassen ein Pläzchen zum Anbau übrig lassen, nisten Menschen mit ihren Heerdcn, oder ihren Werkstätten, an. Was Kunst der Sterblichen über die Gewalt der Natur vermag, davon zeugt Glarus. Vor zwei tausend, ja zum Theil noch vor tausend Jahren war dies Land wüste Wildniß, so öd und furchtbar, wie kaum irgend ein andres in der Schweiz. Zwar beim Ausgang des Grvsthales, an den Ufern des Wallen- see's hatten die Römer schon ein Lager ihrer Cohorten aufgeschlagen, zur Bewachung der unzähmbaren Rhätier. Davon zeugen dort und bei Mollis zahlreich gefundne Römermünzen und die heutigen Oörfernamcn von Terzen, Quarten, Quinten. Aber der höher gelegne Theil des Landes lag öde und unbewohnbar, durch Wuth der Waldströme, Bergstürze, Lauincn und Erdbeben zerrissen. Der Boden des ganzen, zwölf Stunden langen, selten mehr denn eine halbe Wegstunde breiten Hauptthals spricht dafür, von den Quellen des Linth unter den Eisgewölben des Tödi an, bis wo sich der Strom durch die von ihm angelegten Schuttfelder in den Wallensce wirft. Erdbeben, von welchen alljährlich in der Schweiz empfunden werden, sind noch heut in den Thälern von Glarus keine Seltenheit, doch minder häufig oder furchtbar, denn vorzeiten. Doch noch in den ersten drei Jahren des vorigen Jahrhunderts zählte man nach einander gegen vierzig größere oder schwächere Erderschütterungen. Solches, zuweilen mit dumpfem Tosen und Brausen in der Luft begleitete, Zucken des Erdengrundes scheint fast nur Nachschlug entfernter, unterirdischer Gewitter zu seyn, die ihre Stöße durch das Gerippe unsers Weltkörpers durch unbekannte Tiefen, bis zu den Felsenwurzeln des Alpcng birgs, fortpflanzen. Meisten- theils bewegen sie sich von Westen nach Osten. Oft verschwinden nach ihnen die Wasserqucllen, da und hier; oft entspringen neue Brunnen, wo nie dergleichen vorbanden gewesen waren. Als am 1. November 1755 Lissabon vom Erdbeben zerstört ward, wogte der Wallensee hoch auf; die Schiffe wurden ans Ufer geschmettert; die helle Badquelle von Nieder-Urnen stoß trübe. Ueberall noch 131 beurkunden im Thalboden gewaltige Felsenblöcke, welche von den Gipfeln des Gebirgs abgeschüttelt umherliegen, die Furchtbarkeit solcher Naturerscheinungen, die mit den Verheerungen wetteifern, welche von Lauincn noch häufiger angerichtet werden. Aber weder Erdbeben noch Lauinen erschrecken das Thalgelände sosehr, als jene plözlichen Ueberschwemmungen, welche in den Gebirgen durch Regengüsse, oder durch schnelles Aufthauen der droben hochgethürmten Schneelager bereitet werden. Wandelt man vom Wallensee aufwärts bis zum Hintergrund des Hauptthals: so gewahrt man zu beiden Seiten des Linthstroms, der das gemeinsame Rinnsal aller Landesgewässer ist, jenen falben, breiten Saum der Versandungen und Schuttablagerungen, welche durch Stärke der Fluten von den Bergen abgewaschen wurden, um drunten die Schöpfungen vieljähriger Menschcnmühen in wenigen Stunden zu vereiteln; oder links und rechts aus den Bergschluchten hervor- rasende Gießbäche, vergebens von mächtigen Dämmen eingezäunt, daß sie nicht die wenigen Spannen fruchtbaren Bodens wegspülen, oder unter Sand und Steingerölle vergraben. Immerdar muß der Glarner, was er mit einer Hand baut, mit der andern kampfbereit gegen die Unbändigkeit der Elemente vertheidigen. Fast scheint es, als sei dies große Gebirg in seinem Innern voll weiter Höhlen, die von zufließenden Wassern der Firnen und Gletscher ausgefüllt sind. Durch alle Poren der Berge sprudeln Duellen. Aus allen Bergschlünden und Seitenthälern rauschen Bäche, oder stürzen, schon in der Höhe, ungeduldig über Felswände in Abgründe; oder wühlen sich in die Klüfte der Felsen hinein, bis sie verschwinden, aber, nach einer langen Strecke ihres unterirdischen Laufes, jählings wiederum hervorbrechen, stärker als sie vorher gewesen waren. Manche solcher Quellen treten mit einer Fülle aus dem Schoos der Erde, daß sie auf der Stelle Bäche bilden, welche Mühlwerkc treiben. Die Quelle des Hauptsteckens Glarus nährt nicht nur 50 — 70 Brunnen in den umherliegenden Gärten und Gütern, fordern versorgt mit ihrem Wasser auch die öffentlichen Brunnen des Ortes, so wie die besondern in Häusern der Einwohner. Fast ebenso zahlreich sind neben diesen nie versiegenden Quellen jene periodischen, die man »Maibrunnen» nennt, welche nur fließen, während die Sonne des Frühlings und Sommers ihre Macht über die Gletscher übt, aber mit Beginn des Winters vergehen. Mehrmals säon wurden die unteren Gegenden des LandeA durch plötzlichen llnlauf der Gebirgsströme in einen weiten See 132 verwandelt, der von Moll,'s und Näfels bis zum Wallensee reichte; nie aber verwüfterischer, als im Jahr 1762. Der Schaden an Gebäuden, Gütern, AllmcnLen, die damals weggeschwemmt oder versandet wurden, — nicht der umgekommenen Menschen und Hausthiere zu gedenken — ward auf eine halbe Million geschäzt. Eine große Summe für ein armes Ländchen! Ehe noch der Mensch Schuzanstalten traf, war ohne Zweifel Alles unwirthbar, und die Ströme wogten im Thalboden zwischen umgestürzten Wäldern, Felscnstücken und Bergtrümmern. Unter der jezt begrünten, fruchtbaren Erdrinde bilden Schlammsand und Steinschutt die Grundlage. Ein guter Theil des Fleckens Glarus ist darauf gebaut. Die tiefer und ebner gelegenen Gegenden, zum Wallensee hin, mochten damals beschiffbar, wie er selber, seyn. Es ist mehr, als wahrscheinlich, daß der Rhein, welcher izt durch den Bodensee gen Schaffhausen fließt, in alter Zeit seinen Lauf durch den Wallen- und Zürichsee bis zur Aare, gen Koblenz im Aargau, genommen habe. Noch in den ersten Jahrhunderten unsrer Zeitrechnung, als der Rhein schon die Richtung zum Bodensee genommen hatte, war zwischen diesem und Rhätien weites Sumpfland. Die Fläche des Sarganserthales ist auch izt noch, vom Rhein bis zum Wallensee, nur 19'^ Fuß über den mittlern Wasserstand des Rheins hoch. Im Jahr 16l8, als dieser Fluß unter gewaltigen und anhaltenden Regengüssen hoch angeschwollen tobte, ward nur durch die größten Anstrengungen verhütet, daß er nicht abermals gegen Zürich durchbreche. Es ist mehr, als wahrscheinlich, noch bestätigen es die großen, wasserrechten Ebnen, die breiten Sand- und Grienablagerungen, noch die von Wellen ausgcfressenen Berge und Hügel längs beiden Ufern der Linth und Limmat, der Reuß und Aare, und die tief eingewühlten Betten dieser Ströme selber, daß der Rheinfluß nicht von jeher den heutigen Lauf hatte, in welchem er um die Schweiz den weitgedehnten Bogen zieht. Zu jener Zeit, die weit über die Tage der römischen Eroberung Helvetiens hinausliegt, und über alle menschlichen Erinnerungen hinaus, breitete sich ein vierzig Stunden langer See vom Fuß des hohen Falknisses, an der östlichen Pforte des Bündner Landes, bis zum Bötzberg im aar- gauischen Jura, aus. Indem er links und rechts die ihm zuströmenden Gewässer der Bäche, Ströme und Flüsse in den Seitenthälern aufstauete und zurückdrückte, wurden diese selber zu ungeheuren Buchten und Seearmen, bis Wucht und Wuth der schweren Wassermasse den Felsendamm zwischen dem Siggisberg Ä.EA- 133 und Bötzberg niederwarf, der sie gesperrt hatte. Auch heut noch erkennt man den Ort jenes engen Dammbruchs, hinter dem Städtlein Brugg, deutlich, durch welchen nun die Aar allein dahineilt, um den Rhein, der sie verlassen hat, in der Nähe von Waldshut wieder zu finden. Wo einst, in unbekannten Jahrhunderten, die Wellen des großen verschwundenen Sees an den Rippen der Berge nagten, blühn izt ein Dutzend Städte und Hunderte von Dörfern und Weilern und Höfen in lachenden Thälern. S. Das Ltarhelbrrgcr Lad. An Mineralquellen fehlt es auch den Glarner», nicht. Die wenigsten aber werden, und nur wenig, benuzt, wie die beim Bade von Nieder-Urnen; oder, hoch im Sernsthal über Elm, in den Alpen von Wichlen; oder bei den Dörfern Luchsinge», Bilten u. s. w. Andere sind von wilden Bergwassern zerstört und in Schutt versenkt worden, wie das Lochseitenbad und das Mattlauerbad, bei Engi, vom Sernftstrom; das Leug- gelbacherbad von der Linth; das Schwefelbad bei Mollis u. s. w. Die Schweiz ist zu reich an Heilwassern, Trink- und Badeanstalten, als daß alle zugleich sich zahlreichen Besuchs erfreuen könnten; und die Eigenthümer der Glarner Quellen haben selten Muth oder Vermögen genug, dieselben mit Lebensbequemlichkeiten und Zierden zu umringen, welche von der Verwöhnung und Ueppigkeit des Zeitalters begehrt werden. Nur ein einziges der Glarner Bäder steht ausgezeichnet da; viel besucht in den Sommermondcn, sowohl wegen der Wunder- kraft seines äusserst concentrirten alkalisch-schweflichten Wassers, welche Z in einer Kluft oder Höhle des steilen Braunbergs tropfen- weis zusammenrinnt, oder wegen der Behaglichkeiten, die dem Gaste durch Wohnung und Tafel gewährt sind, als auch wegen Anmuth und Pracht einer Umgegend, die ich „furchtbar-schön-- nennen möchte. — Dies ist das Stachelberger Bad, welches erst seit dem Jahre 1816 namhafter und eins der angenehmsten der Schweiz geworden ist. 134 Im hintersten Winkel des Glarnischen Großthals, wo es sich zwischen den zusammenrückenden Gebirgen ausspizt, und die ewigen Felsenmauern der höchsten Alpen und Gletschermaffen jeden Ausweg verrammeln; wo bei jedem Regenschauer eine Unzahl größerer und kleinerer Wasserfalle über die riesigen Bergwände herab flattert, oder, an Felsenriffen zerschellend, in bewegliche, krystallene Locken zerfällt, liegt immitten grüner Auen und waldiger Berghalden, Las Dörflern Lintthal, an beiden Ufern des Stromö, dem das Thal und dies Dorf den Namen entlehnt hat. Wer dahin kömmt, glaubt sich in eine Wildniß verloren, die mehr Entsetzen, als Lust erzeugen könne. Im nahen, dunkeln Hintergründe drängen sich Berge, einer den andern halb verdeckend, zusammen. Weite, bleiche Schneefelder sind das Gewand ihrer Hüften; Gletscher und Firnen schimmern um ihre Häupter über den Wolken. Ein ewiges Brausen der Wasserfalle erfüllt die Luft; ihr Tosen verliert sich im erschütternden, immerwährenden Donner des Linthstroms, dessen Wogen von tausend Fclsblöcken seines Bettes tausendfach zermalmt werden. — Aber links der Linth, auf einer Anschwellung des Erdbodens zu Füßen des Gebirgs, erhebt sich, wie von einer Fcenhand dahin gezaubert, ein freundlicher Pallast mit seinen Nebengebäuden; vorn mit einem geräumigen Blumengarten; hinterwärts mit Lust- gängen und Ruheplätzen unter breitschattigten Ahornen, und seitwärts darüber mit einem Hügel, den ein Pavillon krönt. Die Natur erscheint hier in ihrer schönen Schwermuth. Es ist die reizende Melancholie der Majestät. Wenn man, vom Altan des Badegebäudes, über den Blumengarten und die Wiesen, und den Silberstreifen der schäumenden Linth, den Blick durch die Fluren und Hügel und Hütten des Linththals umherirren läßt; man wähnt in einer idyllischen Phantasie zu athmen, die kein Geßner, kein Göthe, kein Voß so schön träumen konnte. Alles schwebt halb im Licht, halb im Schatten des nahen Gebirgs, immer in schwer- müthiger Beleuchtung und Bewegung. Der Klang der Heerden- glocken dringt melodisch durch den donnernden Gesang der Giesbäche, Wasserfalle und des Linthstroms empor. Dem Altan gegenüber stürzt vom Freiberg der Durnagelbach verwüsterisch herab; von ihm hinweg bilden rechts himmelan- strebende Berge ihren gigantischen Halbkreis; erst der große, alpenreiche Saßberg und der waldige Kirchenstock, zwischen deren Schultern der Mättliberg mit seinen Felsenzinken hervorschaut; dann der Rütistock und der düstre, steile Selbsanft oder Greolium, dessen pyramidalisches Horn bei 9000 Fuß hoch 135 über daS Meer geht. Zwischen diesen beiden strahlen die nie von Sterblichen durchwandelten Eisgefilde der Platalva auf. An den Selbstsanst lehnt sich aber der Bifirtenstock, den die weiten Gletschermassen des Urlaum vom höchsten aller Glarner- berge, dem Tödi, scheiden. Die Eiskrone von diesem, 12,890 Fuß über dem Meere, leuchtet noch am Strahl der untergegangenen Sonne, wenn alle Nebenberge schon eine Stunde lang im dunkeln Schatten liegen. Zur Zeit der kürzesten Nächte aber kennt sie fast keine Nacht. Doch nur eins seiner Silberhörner streckt der königliche Tödi gegen das Linththal aus. Ihn verbirgt der waldreiche Gemsi stock, an den sich auch, ihn halb bedeckend, der K a m m erste ck schmiegt. Diese Verkettung der Gebirge, welche das Land Glarus vom Kanton Bünden scheidet, ist nur von gewandten Berggängern im hohen Sommer, und auch dann nicht ohne Gefahren, übersteigbar. Aber den Pfad zu den untersten Alpentrifften am Fuß des Tödi, neben der Pracht der Wasserfäüe vom Schreienbach und Fletschbach vorbei, welcher den Klaridenalpcn entströmt, und über die Pantenbrücke, welche, mehr denn 1000 Fuß über dem Linththal erhaben, in finstrer Felsschlucht über einem andert- halbhundert Fuß tiefen Abgrund schwebt, — diesen Pfad der Lust und des Grausens zu wandeln, scheut selbst der Fuß schüchterner Schönen nicht, wenn sie von den geselligen Unterhaltungen im Bade sich Hinwegsehnen in die ernsten Einsamkeiten der Gcbirgs- welt, und zu deren schauerlichen Größe, Herrlichkeit und Anmuth. Jmmitten solcher erhabnen Natur, in diesem Bergwinkel, der den lieblichsten und arosai-r,'asten aller Schweizerlandschaften gleichzustellen ist, wohnt rn zerstreuren, oft elenden Hütten, ein freundliches, gutmüthiges, aber bildungsloseS und zum Theil höchst armes Volk. Es ist der dürftigste Theil vielleicht von der gekämmten Bevölkerung des Landes. Wie mag es anders seyn? — Das kleine Thal ist von fast 2000 Menschen bewohnt, denen der enge Raum des Bodens schwerlich das Notdürftigste zum Leben für sich und ihre Hecrden geben kann. Nur hin und wieder sieht man ein kleines Gerstenfeld, oder ein Gartenplätzchen und einzelne Obstbäume. Bald zerstören Lauinen, bald Bergwasser die mühsamen Pflanzungen wieder mit Geschieben und Felstrümmern; bald stürzt die furchtbare Macht der Linth die aufgeschichteten Dämme ein. Mehrmals rissen die übergetretne Fluten Wohnungen und Menschen mit sich fort. Flüchtig ist der Sommer; lang der Winter. Erdbeben erschüttern öfters den Boden. Manche Familien nehmen 136 wohl ihre Zuflucht zum leichten, aber unsicher» Verdienst, den Arbeit für entfernte Fabriken darbietet. Doch zum Fabrikverdienst gesellen sich gewöhnlich dann die mit demselben verbundnen Uebel: «»haushälterischer Leichtsinn, Scheu vor schwerer Handarbeit, Kinderreichthum und Bettelei. Dies Unheil wird durch Unwissenheit der Menschen, bei vernachlässigter Erziehung und Belehrung der Jugend, und durch mangelvvlle Oertlichkeitsgesetze nur genährt und vergrößert. Doch Aussicht in eine bessere Zukunft wird izt durch die wohlthätige Armenerziehungsanstalt in der Linthkolonie eröffnet, wo viele Kinder dieser Bedürftigen edlere Geistesbildung, nüzliche Kenntnisse, Gewöhnung zur Arbeit und Anleitung zum verständigen Acker- und Wiesenbau empfangen. Ich spreche hier von jenem großen Werk, jenem wahrhaft königlichen Denkmal, welches sich schweizerischer Gemeinsinn, auf Glarner Boden, in den untern Linthgegenden vor einigen Jahrzehnden gestiftet hat. Dort war ehemals in einer langen Reihe von Jahren der stundenweite, stäche Thalboden zwischen dem Wallensee und Zürichsee, durch Wildheit des Linthstroms, theils versumpft, theils mit Geschieben, Sand und Felsschutt überlagert, schon zur wirklichen Wüste geworden. Fieber und Seuchen vergifteten die ganze Gegend. Schon früher hatte ,im vorigen Jahrhundert, der Patriot Rudolf Meyer von Aarau daran gemahnt, diese Sümpfe trocken zu legen, und dem gefährlichen Gebirgsstrom eine kürzere und gradere Bahn in den Wallensee zu verleih«, damit er den Schutt, welchen er mit sich aus den Gebirgen führt, darin ablegen könne. Konrad Escher von Zürich nahm dann im Anfang dieses Jahrhunderts Meyers Gedanken wieder auf, und trat an die Spitze des großen Unternehmens, als im Jahr 1807, die Ausführung desselben beschlossen worden war. Freiwillige Beiträge flössen reichlich aus allen Kantonen zur Bestreitung der Kosten zusammen, die bis zum Jahr 1830 die Summe von 1,040,000 Franken betrugen. — Es wurden 14 Kanäle gebaut, deren wichtigster, der Mclliser Kanal, 19,000 Fuß, deren größter, der Hauptkanal, 57,000 Fuß lang ist. So wurde die Athmosphäre von ihren verpestenden Dünsten gesäubert; eine Masse von mehr denn 20,000 Jucharten Landes für den Wiesen- und Ackerbau erobert: und in der Mitte fruchtbar gewordnen Gefilde erhebt sich heut da die Linthkolonie, diese Armenerziehungsanstalt für Glarus, nach dem Muster gebildet, welches der edelmüthige Fellenberg, in seinem Hofwyl, aufgestellt hatte. WS4 AM SS MÄW 137 3. Das Llönthal. Unter den schweizerischen Hochthälern ist dieses unstreitig eines der lieblichsten. Niemand wundert sich, wenn hier zwei Schweizer, begeistert von dem schönen Landschaftsgebilde, in einen der Felsen am Fnß des Glärnisch (im I. 1788) eine Inschrift zur Ehre deS Jdyllendichters Salon, o'n Geßner eingraben ließen. Das Klönthal, nur etwa 3000 Fuß über dem Meer erhaben, hat die milde, reine Luft der untern Alpen und daneben die Vegetation tiefer gelegener Gegenden. Den größer» Theil desselben füllt ein stiller, klarer See in der Länge von beinahe einer Wegstunde, und nur eine halbe Stunde breit. Hohe, vereinzelte Ahornen schmücken sein Ufer abendwärts. In ihrem Kreise und Schatten stehen einzelne Heuhütten. Zwischen Felsenblöcken und Buchengebüschen oder im fetten Wiesengrund irren Rinder, deren melodisches Glockengeläut allein die heitre Stille der Landschaft unterbricht. Alles athmet Anmuth und Ruhe. Rings reihen sich die Hochgebirge von, Glärnisch und Wiggis malerisch zusammen; nordwärts prangen, über einer senkrechten Bergwand, die hinter ihr aufgethürmtcn Felsenthürme des Fluenbrigs, Deienstocks und Schiens. Wenn ich in diesem Thale, im Schatten der Ahornzwcige, einsam neben den Hütten träumerisch ruhte, und dem Geschäft der Hirten, oder dem leichten Spiel der Seewellen zusah, zog jedesmahl die seelige Ruhe der Umgebungen in mein Gemüth ein. Aber jedesmahl ward sie mir wieder durch Erinnerungen an jene schrecklichen Tage vernichtet, da eben die Heimath des Friedens, unter dem Donner der Feuerschlünde, Schlachtfeld fremder Heere geworden war, die aus dem Süden und dem äußersten Norden des Welttheils hier zusammenkamen, einander zu morden. Der abentheuerliche Heerzug Suwarvws (im September des Jahrs 1799), durch die höchsten Alpen der Schweiz, gehört zu den verzweiflungsvollsten und tollkühnsten Wagstücken, welche die ältere und neuere Kriegsgeschichte kennt. Man muß jene engen, furchtbaren Wege neben schwiudlichten Abgründen, jene schroffen Felspfadc und Berggrathe, jene ewigen Schneefelder mit eignen Augen gesehn haben, welche die russischen Schlachthaufen durchklettern mußten, immer von, mörderischen Feuer der französischen 138 Brigaden verfolgt und vom Hunger in den unwirthlichen Einöden gequält; man muß diese Wildnisse gesehn haben, um eine lebendige Vorstellung vom Loose der 22,000 Russen zu erhalten, welche unter Suwarows Anführung zwanzig Tage lang das Hvchgebirg kämpfend durchwanderten, abwechselnd Sieger und Flüchtlinge, immer elend. Die Begebenheit ist so außerordentlich, ihr Ausgang so schauderhaft und folgenreich gewesen, daß sie wenigen unbekannt seyn kann. Da Suwarows Unglück eigentlich in den Gebirgen von Glarus erst wahrhaft begann und sich darin vollendete, verzeiht man's vielleicht gern, wenn ich einiges Minderbekannte darüber mittheile, wovon ich zum Theil selber Zeuge war, oder wie ich es aus dem Munde französischer Feldherrn und schweizerischen Beamten vernahm. Ich lebte damals, als Regierungscommissär, mit außerordentlichen Vollmachten bekleidet, in den Ur-Kantonen. Ich war noch beschäftigt, dem unglücklichen Unterwalden Hülfe und Erleichterung seiner Leiden zu schaffen, als General Oliv i er Loison, der mit seiner Brigade daselbst lag, Befehl erhielt, mit Lecourbe den Gotthardsberg zu besetzen. Die Schlacht von Zürich war noch nicht geschlagen. Aber Massen« wollte den rechten Flügel seines Heeres decken; vielleicht auch hatte er von Suwarows verdächtigen Bewegungen und Absichten Winke aus Italien empfangen. Ich begleitete den General Loison durch Obwalden und über den Brünig, theils weil er darum, als eine Gefälligkeit, bat, theils und mehr noch, nm Unordnungen zu verhüten, welche auf dem Zuge der Kriegermaffen Lurch die Dörfer fast unvermeidlich sind. Zu Meiringen im Haslithale stieß General Güdin zu uns. Nach dem Mittagsesscn eilten wir den vorangezvgenen Truppen nach. Güdins Brigaden zogen beim Dörflein Jmgrund die Grimsel- straße hinauf, um droben über die Furka ins Ursercnthal niederzusteigen, und sich mit Lecourbcs Division wieder zu vereinigen. Wir schieden von dem liebenswürdigen Mann. Loison und ich übernachteten in der Wilde des Ncffelthals auf einem Strohlager; folgendes Morgens in aller Frühe zogen die Schaaren in das hohe Gebirgsthal hinauf, in welchem sich die Gebiete von Uri und Bern scheiden. Es heißt das Mayenthal. Wo izt eine wohl- gebahnte Straße angelegt ist, war damals nur ein schmaler, jäher Felspfad, kaum für das Heerdenvieh gangbar. Die Kanonen mußten über die Klippen auf den Achseln der Soldaten gehoben und getragen werden. Nur ein Mann verunglückte dabei. Die Pferde einiger Zeltkrämer stürzten mit ihrem Gepäck rechts in die Abgründe hinab, aus welchen der Nessclbach schäumend aufheult. AuS dem Mayenthal kehrt' ich nach Unterwalden zurück, wohin mich Amt und Pflicht riefen; während die französischen Plänkler mit den Oestreichern scharmüzelten, welche über Waffen, dem Dorfe an der Gotthardsstraße, mit weniger Mannschaft die uralte zerfallene Mayenschanze*) besezt hielten, welche den Ausgang des Maycnthals sperrt. Ohne Zweifel mochten die wenigen Ocstreicher selber froh seyn, diese rauhe Stätte mit gutem Verwände verlassen zu können. Sie zogen plänkelnd die hohe Berg- halde nieder, nach Waffen, und überließen den Franzosen die Schanze. Kein Mensch verlor dabei das Leben; nicht einmahl verwundet ward einer. Loison schrieb mir nach einigen Tagen, da Suwarow schon glücklich über den Gotthard, nach Mors und von da gegen Schwytz vorgedrungen war, ein Billet über den Ausgang seiner Expedition, aber aus guten Gründen, weder mit Wahrheit, noch Klarheit. **) Er sprach darin nur von Siegen und Wunderthaten. Aber 14 Tage später vernahm ich aus seinem Munde den eigentlichen Hergang der Dinge. Wie er nach Waffen herabgekommen war, fand er da schon den Divisionsgencral Lecourbe. Beide ritten mit einander den *1 Sie war in alter Zeit von den Urnern gegen die Berner ge> baut worden. **) Der Brief, nur mit ReiSblei geschrieben, lautete folgender- maaßen: Lk dien, mon ober Dommissaire, vou« n'aves üouo pa« eu eoiiliaocs en nie« rolique« et vou« aves pressre Is vou« avoir inspire 1a resolution, cls retnurner. Dar ge vvus avoue, qus le oliemin et 1a ileseeute vtaient allreux, que nou« avons couebö ä I'air et «an« pouvoir «ouper. L'apprentissaKs ilu metier äe« arme« von» aurait «an« i!vutv cleKoute pour tochours. Iv üructiilvr. Salut amlcal. t) Loinoa. 140 Truppen nach, die gegen die Teufelsbrücke in Bewegung waren und unvermuihet durch feindliche Truppen aufgehalten wurden. Beide glaubten, es mit einem österreichische» Posten zu thun zu haben; beide wußten nicht, daß Suwarow mit seiner Armee schon die Höhen des Gotthard erkämpft hatte und der französischen Division mit ungeheurer Uebermacht gegenüberstand. Sie waren erstaunt aller Orten, selbst am rechten Reußufer, an den Felsen umherkletternd, russische Streitmaffen zu sehen. Der Kampf ward mörderisch. Ihre Verlegenheit stieg aber aufs höchste, als Nachricht kam, daß eine Kolonne Oesterreich» unter dem General Rosenberg durchs Maderanerthal herabziehe, und den Franzosen sogar den nothwendigen Rückzug nach Uri abzuschneiden drohe. Es war der 25. September. »Ich muß mir den Rücken frei machen,» sagte Lecourbe zu Loison: »Halte die Russen auf, so lange du irgend kannst, wenn auch nur drei, vier Stunden.» Er eilte mit allen Truppen, die er aus Uri mitgebracht, wieder hinab nach Amstäg, drängte die eben dahin vorrückenden Oesterreich» zurück, und erreichte wieder glücklich seine Verschanzungen bei Seedorf am Vierwald- stättersee. Loison, mit wenigen Bataillonen seinem Schicksale überlassen, vertheidigte sich indessen verzweistungsvoll Schritt um Schritt bis Massen. Die schmale Bergstraße zwischen Felsen und Abgründen ward von Blut und Leichnamen bedeckt. Von Massen stieg er die steile Berghalde zur Mayenschanze wieder hinauf von wannen er gekommen war, und sah mit seinen Soldaten, ohne einen Schuß zu thun, ohne weiter vom Feind eunruhbig zu werden, den langen, fast endlosen Zug des russischen Heers durch das zu seinen Füßen liegende Dorf. Erst als dieser vollendet war, stieg er abermahls hinab nach Massen, schlug sich mit einzelnen nachrückenden Haufen der Russen und gelangte ins Urserenthal. Suwarow kam mit seinem ermüdeten und ausgehungerten Heer nach Aktors. Er wußte noch nicht von der für Korsakow unglücklichen Schlacht bei Zürich. Indem er durch die Straßen des Hauptfleckens an der Spitze seiner Tapfern, im Hemd und eine Knute in der Hand, daherritt, ließ er sich in der Geschwindigkeit vom Ortspfarrer, der unter den Zuschauern stand, mit vieler Devotion den Segen ertheilen. Die Truppen fanden in dem armen, verödeten Lande kaum hinlängliche Lebensmittel. Man hatte fast alles Vieh in die Berge geflüchtet. Selbst Lederabfall uud Leim bei den Gerbern, Unschlitt, Kerzen und Lampenöhl wurden gierig verzehrt. Schon im Urserenthal hatten die Soldaten einen Fasttag 141 gehabt, den Suwarow durch die Popen verkünden ließ, als er durch Vorstellung!» des Thalammanns Meyer von Andermatt zum Erbarmen ge 1255 Fuß über dem Meeresspiegel ruht), wenige Wegstunden von ihm entfernt, liegt ein Thal, von einigen Anhöhen umfaßt, von einem Paar Bächen durchstoßen. Es war im siebenten Jahrhundert noch unbewohnte Waldwildniß, nur von Wölfen und Bären durchstreift. Hieher kam der irländische Mönch Gallus aus Benehors Zellen, nachdem er einen guten Theil der Abendländer bereiset hatte, um europäische Heiden zu bekehren. Schon war der Ruf seiner Heiligkeit, selbst seiner Wunderkraft groß. Sey es aus weltentsagender Frömmigkeit, oder um, in reiner Berglust, des Fiebers frei zu werden, das ihn oft in den Niederungen der Seegegenden quälte: er siedelte sich endlich mit zwölf Jüngern St. Bencdikts in jenem Thale an, baute da zwischen den Urwäldern eine Bethütte neben hinfälligen Wohnungen, und lebte, lehrend WWW !«W » 4 » M-A? 147 und bekehrend, von Früchten des Ackers, welchen er selber baute, oder von milden Gaben, welche ihm Dankbarkeit und Ehrfurcht christlicher und heidnischer Nachbarn zollte. Das war der bescheidene Ursprung der Abtei St. Gallen, der allerersten, die in obern deutschen Landen entstand. Erst über dem Grabe des großen Heidenbekehrers strahlte aber der Ruhm seiner Tugenden und Wunder Heller. Man wall- fahrtete bald zur St. Gallenzelle und bereicherte sie mit Vergabungen von Ländereien und Leibeignen, um dafür aller Seligkeiten des Himmels nach der Todesstunde versichert zu werden. Was in unsern Tagen Politik der Fürsten und Großen begünstigen würde, leistete damals Frömmigkeit derselben. Klöster wurden, immitten der Halbwilden und Barbaren, Pflanzstätten besserer G e- < sittung; und Mönche streuten mit den Saaten des Christenthums die ersten Keime der Gewerbe und Künste aus. Sie lehrten Kalk und Ziegel brennen, Getraide und Weinreben pflanzen und aus Fasern sclbstgebauten Hanfs und LeinS Gewänder weben. Bald siedelten sich um den Wallfahrtsort, zur Bequemlichkeit der Pilger, Krämer, Kauffahrcr und Wirthe an. Die schlichte Bethütte verwandelte sich in ein gemauertes Klostergebäude mit stattlicher Kirche, von den fleißigen Händen der Mönche aufgeführt. Die Leibeignen des Gotteshauses erlernten und betrieben, zum Vortheil desselben, bei verbessertem Feldbau, die unentbehrlichen Handwerke. Schon im neunten Jahrhundert erscholl der Ruf durchs Land von großer Wissenschaft und Kunst der Klostergeistlichen. Sie bewahrten unter sich die Geistesschätze des alten Griechcnlandes und Roms; und neben den Uebungen ihrer Andacht weihten sie sich der Stern- und Heilkunde, den Künsten der Musik, Malerei und Beredtsamkeit. Im zehnten und eüften Jahrhundert, als in Deutschland und Frankreich Schulen und Wissenschaften mehr und mehr unter der anschwellenden Macht allgemeiner Barbarei zerfielen, glänzte St. Gallen noch, als Stern in allgemeiner Nacht der Unwissenheit. Aus seinen Schulen hervor gingen die berühmten Gelehrten des Zeitalters. Noch sind heutiges Tags die Notkers, Kerons und Eckeharde in der ältesten Literatur der Deutschen gefeierte Namen. Weit mehr aber, als Gekahrtheit des Klosters, erregte immer höher steigender Reichthum desselben an Grundstücken, Weilern, Höfen, Dörfern, Zinsen, Rechtsamen und Leibeignen den Neid der Herrn und Grafen rings umher, selbst der Bischöfe von Constanj. Ehe noch das zehnte Jahrhundert unsrer Zeitrechnung 10* begonnen war, hatte die fromme Freigebigkeit nicht nur der nähern Umgegenden, sondern auch der entfernter» Landschaften Helveticas, Rhätiens, des Elsasses, Breisgaus und übrigen Schwabens die Stiftung des heiligen Gallus zu einer der hochbe- gütersten jener Zeit erhoben. Nur an eigenen oder zinstragenden Ländcreien besaß sie 160,000 Jucharte, oder 4000 Huben. Das Kloster zählte mehr denn hundert Mönche in seinen Zellen; mehr denn zweihundert Leibeigene; ungerechnet die Menge der Schüler und Verpfründeten. Der Abt ward einem Fürsten gleich, ohne dessen Namen zu führen. Weder die zahllosen Fehden der Ritter in jenen verwilderten Zeiten des Faustrechts, noch die verwüsterischen Streifzüge der Ungarn, noch selbst die Räubereien der ungläubigen Araber oder Mauren, die aus Spanien waren und schon in den Gebirgen Graubündens und Appenzells Fuß gefaßt hatten, konnten so großen Wohlstand vernichten. Unglück und allgemeine Unsicherheit dieser Gegenden und Zeiten brachte Wirkungen sehr entgegengesetzter Art hervor. Die frommen Aebte mit ihren Mönchen ergriffen selber Schwert und Harnisch. Sie wurden Krieger, befestigten ihr Kloster, zogen um dasselbe und die benachbarten Wohnungen eine Ringmauer mit dreizehn Thürmen und tiefem Graben. So wurden damit zur künftigen Stadt St. Gallen die ersten Grundsteine gelegt (Ende des zehnten Jahrhunderts). Hinwieder wie nun in Kämpfen und schwelgerischen Gelagen die frühere Tugend der Geistlichkeit allgemach abnahm, mehrte sich anderseits schwärmerische Frömmigkeit unter den Laien. Diese stifteten Klöster und Kirchen in Fülle, oder vergabten ihr Gut den Heiligen des Himmels. Einsamkeiten der Wälder und Gebirge bevölkerten sich mit Klausnern, Einsiedlern und Waldbrüdern, oder mit einzelnen und beisammenwohnenden Klausnerinnen, Feldnonnen und Waldschwestern, die der Weltlust abgeschworen, um in strenger Lebensweise das Paradies der Ewigkeit zu verdienen. Nur selten ward eine dieser Klausnerinnen so überraschend wieder in die Freuden des Lebens zurückgezogen, wie die schöne und tugendliche Wendelgard von Buchhorn, Kaiser Otto's I. Nichte. Nachdem sie ihren Gemahl, Grafen Ulrich, im Schlachtfeld gegen die Ungarn verloren, vertrauerte sie in Gebet und unter Thränen ihre Tage in einer Zelle bei St. Mangenkjrche zu St. Gallen. Nur einmahl im Jahr verließ sie die Klause, um dem Andenken des Geliebten im Tempel von Buchhorn Todten- feier zu halten und Almosen zu vertheilen. Wie dieß einst geschah, 149 und sie durch ihre Dienerschaft einem der Bettler ein Kl°id hatte reichen lassen, um welches er ungestüm gebeten, sprang dieser hervor, schloß die Geberin in seine Arme und küßte sie. Die Knechte der Gräfin stürzten empört gegen den Vermessenen hin, der aber den zerrissenen Mantel von seinen Schultern warf. Da stand Ulrich von Buchhorn, der vielbeweinte Gemahl, vor Wendelgarden. Und die Gottgeweihte verzieh den Kuß. Das Städtlein neben der Abtei, mit Lehenleuten oder Leibeigenen derselben oder freien Ansaßen bevölkert, blieb lange ein unbedeutender Ort, dem das Kloster Richter und Verwalter sezte. Die Bürger nährten sich vom Ertrag ihrer Accker, Heerden und gemeinen Handwerke. Bald aber fanden sie im Weben feiner Leinwand größer» Gewinn; bald ward dieß und Handel mit köstlichem Linnen die vornehmste ihrer gewerbigen Thätigkeit. Die Bevölkerung wuchs; die Ringmauern wurden erweitert. Kunstfleiß erhöhte den Wohlstand des bürgerlichen Haushaltes; steigender Verkehr machte größere Freiheit zum Bedürfniß. Die obcrherrlichen Aebte, in ihren Fehden und Kriegen oft von Feinden, bei ihrem verschwenderischen Leben oft von Geldnotb bedrängt, sahn sich abwechselnd durch die tapfern Waffen oder durch das Gold der Bürger getröstet, und vergalten dem stillaufblühenden Gemeinwesen durch Gewährung mannigfaltiger Rechtsame; gestatteten ihm auch, eigne Richter, endlich selbst eignen Rath zu wählen. Die Kaisen des Mittelalters, welche aufstrebenden Reichs- und Kirchenfürsteu Schranken bauen mußten, trachteten ftaatsklug, Städte an sich zr ziehen durch mancherlei Gunst. So ward auch St. Gallen im Anfang des dreizehnten Jahrhunderts in des Reichs Schirm aufgenommen und mit eignem Wappen geziert, wenn schon die Stadt noch dem Kloster steuer- und dienstpflichtig blieb. Aber schon in Handelsverträgen mit deutschen und schweizerischen Städten >chloß die Stadt mit ihnen nun, nach damaliger Sitte, zu eignem Schutz, besondere Bündnisse. So erstarkte die thätige Gemeinde durch kluge Benutzung der Zeiten, durch Gewerbigkeit, Kunstfleiß und haushälterische Sparsamkeit der Bürger, welche für die Ehre ihrer Stadt kein Opfer scheuten, während die Abtei den innern Verfall durch äußern Glanz zu verhüllen oder zu ersetzen glaubte. Ihr Abt empfing sim I. 1204) die Würde eines Reichsfürsten und zehn Jahre später das Recht der Jnful. Doch im Genuß klösterlicher Pracht und Ueppigkeit starben Ruhm und Wissenschaften immermehr ab, durch welche St. Gallens Stift einst herrlich vor dem Welttheil stand; und neben dem Gebieterstvlz des fürstlichen Mönchs und seiner 150 Kapitularen verschwanden heiliger Sitten-Ernst und edle Demuth der frühern Tage. Die Unterthanen des Gotteshauses selber er- rötheten vor der frechen Unzucht der Priester, oder begannen bewaffneten Widerstand und Aufruhr gegen deren Willkühr, Härte und Druck. Das Appenzellerland riß sich von der Botmäßigkeit der Aebte los (im Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts) und eroberte in siegreichen Feldzügen eine Freiheit, welche es bis zu unsern Tagen bewahrt hat. Die Birrgerschaft der Stadt St. Gallen indessen, immer gewandt und entschlossen, allen Zeitverhältniffen Vortheil abzugewinnen, schloß sich den Appenzellern in deren Kampf gegen den Abt an, zwang ihn, seinen wichtigsten Rechten zu ihren Gunsten zu entsagen; kaufte sich von den übrigen mit Geldsummen los, wie sie schon früher mit den beschwerlichsten Kosten gethan hatte, die ihr vom Reiche auflagen; trat, gleich dem Abt, mit Schweizerkantonen in Landrecht und Bund, und ward endlich sogar zugewandter Ort der Eidsgenossen. Obwohl ihr Gebiet sich nicht weit über die Stadtmauern hinaus erstreckte, war sie doch durch Gewerb und Verkehr reich, angesehen und mächtig worden. Viele Familien von Handwerkern, Künstlern und Kaufleuten, einst in Constauz angesessen, waren von da nach St. Gallen gezogen, als die große Kirchcuver- sammlung jener Stadt dortigen Gegenden erst Thcurung, dann lauge Kriegesunruhen gebracht hatte. Endlich kamen noch die Tage der Kirchenverbcfferung. St. Gallen wandte sich, Angesichts des Klosters, dieser zu, und lvsete sich damit selbst vom geistlichen Einfluß des Priesterthums ab. Von da an blühten, wie weiland im Kloster, kle Wissenschaften nun in der Stadt, begünstigt vom freiern Geist deS evangelischen Glaubens. Aus den Stadtschulen trat eine bildungsreiche Bürger- schaft, eine große Zahl trefflicher Staatsmänner, Gelehrten und berühmter Schriftsteller hervor. Aus den Stadtthoren gingen zahllose Frachten von einfacher und geblümter Leinwand, Sangalcitcn oder Glanzlcincn, Parchent, Schleier, Musselinen und Baum- wollcnwaaren aller Art nach Deutsch - und Welschland, bis Svauicn und Rußland. St. Gallen ward der Mittelpunkt des Verkehrs und der Manufakturen von einem großen Theil der östlichen Schweiz und des westlichen Schwabens. Mehrere Häuser hatten in entfernten Seestädten Absenker ihrer Handelszweige gelegt. Noch immer gehört St. Gallen zu den ersten Gewerbs- und Handelsstädten der Schweiz.. Obgleich unvvrtheilhaft, fern von den großen Straßen des Weltverkehrs, im Innern des Landes und zwar hoch im 151 Gebirg gelegen, wußte ausdauernde Betriebsamkeit, Muth und Klugheit der Bürgerschaft alle Hindernisse siegreich zu bekämpfen, die ihr durch Ungunst der Natur, wie der Menschen, entgegenge- führt werden waren. Hinwieder durch Versäumung alles dessen, was die Abtei einst ruhmreich und blühend gemacht hatte; nun überflügelt von der Stadt in Kunst, Wissenschaft und Wohlstand; erschöpft durch Fehden und Kriege mit Fremden oder mit eignen Unterthanen; zerrüttet durch Aufwand und Übeln Haushalt, sah man das Gotteshaus endlich so tiek sinken, daß es sich bei den Kriegen der Eidgenossenschaft wegen Toggonburgs (im Jahr 1712) sogar in den Schutz der Stadt begab, deren erste Bewohner Dienstleute und Leibeigene des Klosters gewesen waren. Dieser Umschwung aller Verhältnisse war das Werk der Civilisation, die, vom Priesterthum ausgegangen, dem Bürgerthum eine Uebermacht verlieh, welche naturnothwendig mit größerer Sittenstrenge und höherer Einsicht, wie mit weiserer Benutzung des Eigenthums und der Zeitumstände verbunden ist. Zwar noch zu Ende des vorigen Jahrhunderts erfreute sich der Fürstabt eines Gebietes, welches die Besitzung manches andern Fürsten an Größe übertraf. Es umschloß mit der Grafschaft Tog- genburg und der sogenannten alten Landschaft, das heißt, mit einem Landgebiet von ungefähr 20 Geviertmeilen, beinah den ganzen Kanton Appenzell. Es zählte eine Bevölkerung von beinah 100,000 Seelen. Die weitläuftigen Gebäude des Klosters, mit der prächtigen Kirche desselben, ragten noch im alten Herrnstolz über die bescheidenen Bürgerwohnungen der Stadt hervor, welche in ihrem mäßigen Umfange nur 7 —8000 Einwohner zählte, und vor ihren Thoren kaum mehr Bodens besaß, als dürftig zu Gärten und Bleichplätzen hinreichte; dazu noch nöthige Waldung für ihren Bedarf. Aber die Mönchsherrschaft, schon in vorigen Jahrhunderten vielfach gebrochen, ward im achtzehnten Jahrhundert während der ewigen Händel der Abtei mit ihren bedrängten Unterthanen, immer mehr gelähmt, bis sie endlich in den Verwirrungen der schweizerischen Revolution machtlos zusammenstürzte und verschwand. Der letzte Nachfolger des heiligen Gallus, Abt Pancratius Vorster, starb in der Zelle eines fremden Klosters *), nachdem er umsonst *1 Nämlich in der Abtei Muri des K. Aargau am s. Juli t8ss. Er genoß, nach Beschluß des Wiener Congresses. einen Jahrgehalt von Kvoo Gulden. Sein Vermögen vermachte er meistens zur Stiftung ewiger Jahrszeiten; seinen zum Theil dürftigen Verwandten aber — nichts. 152 die Gewalt der Zeit und ihrer Erscheinungen mit starrsinnigem Eifer und herrischem Trotz zurückzudrängen gehofft hatte. Jetzt bildet jene alte Landschaft des Klosters und die Grafschaft Toggenburg, verbunden mit den Städten und Ortschaften des Rheinthals, einen selbstständigen Freistaat in der Eidgenossenschaft, dessen Hauptstadt St. Gallen geworden ist. Die junge Republik zählt auf einem Flächenraum von etwa 40 Geviertmeilen ohnge- sähr 160,000 Einwohner. Zwar hat die Stadt ihre mittelalterlichen kleinen Rechtsame und Privilegien eingebüßt; aber dagegen gewann sie in ftäatsbürgerlicher Rechtsgleichheit mit gesammten Gemeinden des Landes, und im engern politischen Verband mit der Eidgenossenschaft, weitem Spielraum für ihr kraftvolles Leben, als sie je vorher hoffen durfte. Mit Wachsthum ihres Wohlstandes steigt von Jahr zu Jahr ihre Volksmenge, ihre Verschönerung und die Anzahl oder Veredlung ihrer öffentlichen Einrichtungen. Dieß war der Ausgang des tausendjährigen Wettkampfes zwischen Abtei und Stadt, zwischen herrischem Priesterthum und zur Freiheit emvorstrebendem Bürgerthum. 2 Das öad Misters Wo der junge Rheinstrom aus dem Bündnerland bei dem Dorfe Ragaz hervorbricht, geht südwärts ein Fußweg ins Gebirg hinauf bis zu den Hütten des Dorfes Valens. Es liegt beinah 3000 Schuh über dem Meere, in einem heitern Bergthal zwischen den grauen Hörnern und Gebirgsstöckcn des wildzerriffenen Ca- landa und Monteluna. Vom Kirchlein des Dorfes hinweg windet sich seitwärts ein Pfad durch Wiesen bis zum Rand einer Bergschlucht, deren Tiefe die den Sardonagletschern entsprungene Tamina durchrauscht. Ein ziemlich steiler Weg führt hier, bei 700 Fuß tief, in den Felsenschlund hinunter, wo, zwischen Waldstrvm und Felsen eng eingeklemmt, die Gebäude eines der berühmtesten Schweizerbäder ruhn. Die Strahlen der Sonne, selbst im Sommer, während ihres höchsten Standes am Himmel, tauchen kaum vier Stunden lang in diese Gruft hinunter. Wie schauerlich immerhin auch beim erste» Anblick der Aufenthalt in solcher Felsspalte scheint, wird er doch von Kurgästen aus s Lß,e^ - ^ s LBN 4 « ' » v » R 153 Deutschland, Frankreich, der Schweiz und Italien alljährlich zahlreich genug besucht. Hier ist aber kein Ort des Vergnügens, kaum einiger Bequemlichkeit. Nur durch Wunderkraft des krystallhellen, geschmack- und geruchlosen 30° Reaumur warmen Mineralwassers wird PfLffers ein Ort des Heils für Leidende und ist es seit vielen Jahrhunderten. Die Römer kannten ihn nicht. Erst spät wurden diese Gebirge bevölkert, vielleicht erst, seit der heilige Pirmin, Bischof von Meaur, in dieser Gegend ein Klöfterlein St. Maria, zu Anfang des achten Jahrhunderts (im I. 731), gestiftet hatte, um welches sich denn das Oörflein Pfäffers anlegte. Im Winter aus dem Abgrund emporsteigende Dampfwolken mußten bald zur Entdeckung der warmen Quelle führen. Allein urkundlich wird ihres Daseyns erst im I. 1050 gedacht, als Kaiser Heinrich III. dem Kloster das Eigenthum des Gesundbrunnens bestätigte. Dreihundert und zwei und dreißig Jahre später lieh der Abt des Klosters noch das Bad, bei dem sich blos eine kleine Hütte mit Küche und Stube befand, um 6 Gulden und mit der Bedingung aus, daß die Personen des Gotteshauses Pfäffers das «Wildbad" unentgeltlich benutzen könnten. Freilich die Benutzung war damals nicht nur ziemlich mühselig, sondern auch lebensgefährliches Wagstück. Denn man mußte sich an Seilen zwischen den Klippen in die Tiefe hinunterlassen; dann zwischen den Felsen die Tamina aufwärtskriechen, bald von Seilen gehalten, bald auf Leitern und Hangenden Brücken bis zu den Quellen, wo man eine Woche lang im Wasser liegen blieb, darin aß und trank und schlief, bis jeder der verzweifelten Kur müde ward, oder sich genesen glaubte. Wo heutiges Tages die Badehäuser in einem künstlich erweiterten Platz der Felsenspalte liegen, wurden erst im I. 1630 Hütten aufgeschlagen, dann (im I. 1716) die jetzigen Gebäude vollendet, zu denen das Badwaffer in Röhre» von der Quelle geleitet wird, fast 700 Schritt weit. Es ist der Mühe werth, durch das etwas grauenhafte Helldunkel der engen Schlucht bis zum Ursprung der Quellen zu wandern. Es ist ein Gang, als wär' es ein Weg durch die geborstene Erdrinde zum Orkus, oder zu den unterirdischen Pallästcn der Gnomen. Doch mögt' ich ihn nicht dem »»sichern Fuß ängstlicher Frauen, unbehutsamer Kinder, oder ungelenker Männer empfehlen; sondern nur denen, welche schwindellos etwa, wenn sie kein höheres Jntresse ruft, von Zeit zu Zeit starke Gemüthserschütterungen bedürfen, um ein in Uebersättigung erschlafftes Gemüth aufzuregen, oder welche Brennstoff für die erkaltete Phantasie nöthig 154 haben; oder auch wohl Bergspitzen und Gletscher erklimmen, um. Mit Gefühl eigner Sicherheit, behaglich Empfindungen der Furcht und des Entsetzens zu genießen, wie Kinder beim Hören der Gespenster- und Räubergeschichte». Der Pfad des Tamiuaschlundes führt bei den Badhäusertt sogleich zur Pforte der schmalen Felsenhalle. Er ist schlüpfrig, kaum zwei Schuh breit, nur von Brettern, die auf steilen Felsenstäben, in die Felswand getrieben, über einem 30 — 40 Fuß tiefen Abgrund schweben. Hier waltet ewige Dämmerung und Feuchte. Nacktes Gestein schwarzen Marmors, den weiße Spatadern durchschlängeln, thürmt sich links und rechts einige hundert Schuh hoch. Es drohn die überhangenden Klippen, die sich droben einander bald zuneigen, bald verschränken, bald auseinandergehen, furchtbaren Einsturz. Helles Grün der Gebüsche leuchtet von den Felsenhöhen am Himmel, wie aus einer schönern Welt nieder, die wir nun verlassen. Man athmet in einem dreißig Schuh weiten Grabe. Die Tamina heult, ein unterirdischer Höllenstrom, aus der Tiefe herauf. Der lange hölzerne Steg, an Felsen geklebt, zittert. Er ist ohne Geländer. Nach einer bangen Viertelstunde kömmt man zum „Beschluß" in die volle Finsterniß einer Höhle. Sie ist etwa zehn Fuß über dem Bach erhaben. In ihr bricht die unterste und reichste Quelle hervor, welche den Bädern in jeder Minute gegen anderthalbtausend Maas ihres Heilwassers spendet, während der Ueberschuß desselben in die Tamina rinnt. Eine andere Höhle erscheint seitwärts, ohngefähr 20 — 30 Fuß hoch, tief und weit, von der Gewalt der Fluten im harten Marmor eingewühlt und aus- geglättet. Heutiges Tages wird sie nicht mehr vom Strom erreicht, dessen Oberfläche schon gegen vier Fuß unter ihr liegt. Welchen Aufwand von Jahrtausenden brauchten die Tamina-Wellen, bis sie den festen Kalkstein sechs Klafter weit einwärts auswuschen und das eigne Flußbett über 20 Fuß tiefer im Felsboden einfraßen? Wenn man die außerordentlichen Heilkräfte der Mineralquelle erwägt, welche schon dem Mittelalter nicht unbekannt waren, mass es befremden, daß die Mönche von Pfäffers erst nach 800 Jahren auf den gemeinnützigen Einfall kamen, Hütten oder Gebäude zum Baden und Trinken auf die Stelle hinzupflanzen, wo sie sich gegenwärtig befinden. Dazu gehörte keine Kunst, welche die Erfindungsgabe früherer Zeiten überstiegen hätte. Sinnreich genug waren die Gottgeweihten dagegen schon vor acht Jahrhunderten in Pflege ihrer Andacht und Gaumsecligkeit, sowohl im Kloster St. Gallen, als Pfäffers. Das lernen wir aus des alte» Eckehard EZ 155 von St. Gallen Hauschronik und Gebetbuch, diesen Fundgruben zur Sittenkunde des Mittelalters. Außer dem gewöhnlichern Wild- pret und Fleisch zahmer Hausthiere, aßen sie damals auch vom Fleisch der Steinböcke, Murmelthiere, Auerochsen und Wisentochsen; dazu Schwäne, Fasanen, Pfauen, Rebhühner, Kapaunen, Turteltauben und andres Geflügel. Sie schmeckten Alles aus. So groß aber war ihre Andacht, daß sie sogar für jede Art der Speisen, die aus ihrer Tafel erschienen, eigene Tischgebete hatten. »Gesegnet sey das Biberfleisch!» (8it benoäiota Kibri enro) beteten sie; »mögen keinem die in Schlingen gefangenen Vögelchen schaden!" (nil nooesnt ulli sie cleeipulis volueelli); »segne uns Gott die tausend gekochten Fischlein!» (millia «ootorumbvnoäidlv« piseieulorurn). Aber noch in unsern Tagen ist für behaglichere Zustände der Leidenden und Kranken nur nachläßig gesorgt. Die Gebäude längs den Tamina-Ufern, im Klosterstyl gebaut, mit 400 Fuß langen Gängen verbunden, haben zwar 70 — 80 bewohnbare Zimmer, aber sind ohne Oefen, oft unreinlich, feucht, kaum mit den nöthigsten Mobilien versehen. Und dennoch reichen sie mehrmals nicht zur Beherbergung aller Gäste hin, die der Heilquelle froh werden mögten. Es wäre ein Leichtes, das Wasser in fast ungeschwächter Wärme, bis gen Ragaz in freundlicher Gegend zu leiten, wo Raums genug zu finden wäre und für das Kloster größere Einkünfte von der Anstalt zu gewinnen seyn würden. Vorschläge dafür sind mehrmals, doch vergebens gethan, so wie, unter den Regierungen der Eidsgenossenschaft, Anträge, das Bad zu kaufen und es zum Gemeinbesten vortheilhafter einzurichten und zu benutzen. Vielleicht ist die Erfüllung des frommen Wunsches nun der Regierung des Kantons St. Gallen vorbehalten, in dessen Gebiet die Abtei Pfäffers und zwar im Bezirk Sargans liegt, der reich an Erinnerungen aus dem romantischen Mittelalter und an wahrhaft romantischen Landschaftsbildern ist. Wen mahnt nicht schon dieser Name Sakgans an die Tage und Schicksale des alten, mächtigen und vielverzweigten Geschlechts der Grafen von Werdenberg, an die Abentheuer des Helden, der in den Freiheitskriegen Appenzells Hirtenkleider anlegte ! — Und wie bald und tief sank dieser uraltadelige Stamm in sich selbst modernd zusammen! — In die Linien Werdenberg- Heiligenberg und Werdenberg-Sargans getrennt, zerstöhrten die feindseligen Brüder, in ewiger Fehde unter einander, Macht und Ruhm ihres Hauses, bis Alles verschwunden war. Einst mit ihrem Besitzthum weit durch Schwaben und Rhätien verbreitet, verarm- 156 ten und geriethen sie m so tiefe Schulden, daß endlich der Rest ihres ganzen Vermögens (im I. 1494) im Städtlein Sargans öffentlich den Meistbietenden versteigert werden mußte. Das Städtchen, mit seinen freundlichen Wohnungen und bäurisch eingezäunten Gärten, schmiegt sich an den Marmorfuß seines Schellberges und wird von der Handelsstraße belebt, die hindurch über die rhätischen Alpen nach Italien führt. Auf der Felsenhöhe darüber prangt noch malerisch, mit seinen Mauern und Zinnen, das alterthümliche Schloß der ehemaligen Grafen. Nachdem diese es in ihren Geldnöthen den Eidgenossen verkauft hatten, hause- ten, statt jener, darin schweizerische Landvögte. Jezt ist es, um 12,000 Gulden, mit dazugehörenden Gütern Eigenthum eines Privatmannes geworden. 3. Zwmgli's Hütte bei Wildhaus. Hier ruht sie still am Gebirg, zwischen ihren umzäunten Gärten, die dreihundertjährige Hütte von Holzstämmen*), ihr Dach mit Steinen beschwert, daß es die Stürme nicht entführen. Blumen droben vor den Paar Fenstern verrathen das Gemach der Tochter vom Hause; drunten die fünf zusammengereihten Fenster mit kleinen runden Scheiben, das Wohnzimmer der Familie, mit den Nebengemächern. Im Hintergründe steigt ein Seitenarm des Sän- tisgebirgs, der wilde Schafberg, über 7000 Fuß hoch, zum Himmel. Am Berghang vor uns lagert sich das Dörflein Wild Haus, mit seinen beiden Kirchen für evangelisch - reformirte und katholische Christen. Es mag vielleicht manchen Leser befremden, daß eine hölzerne Hütte ein Alter von 300 und mehr Jahren erreichen könne. Aber in der Schweiz ist es keine große Seltenheit, solche Wohnungen aus dem dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert zu sehen. Man erkennt aus dem Aeußern und Innern der Bauart das Zeitalter ihrer Errichtung. Vom ersten Holz freilich mag wenig daran vorhanden seyn; aber wie ein Balken, eine Sparre, ein Brett verdorben ist, wird es frisch ergänzt. So erneuern und bewahren diese Hütten sich in der ursprünglichen Form und Art, wie der menschliche Leib, der die verdünstendm Stoffe immer wieder durch neue ersezt, nicht ganz der ursprüngliche bleibt, und doch der Gestalt und den Zügen nach der nämliche ist- 157 Dieß also die bescheidene Hütte, in welcher Huldreich Zwingli, der kirchliche Reformator der Schweiz, geboren ward (1. Jänner 1484), dessen Namen immerdar, neben Luthers Namen , in den Jahrbüchern der Menschheit bleiben wird. Dieß also die Umgebungen, unter welchen in reiner Gebirgsluft, beinahe vierthalbtausend Fuß über dem Meeresspiegel, der Mann die Spiele und Träume seiner Kindheit genoß, der nachmals die Weltmonarchie des römischen Stuhls gewaltiger erschütterte, als es vor ihm Kaiser und Könige vermocht hatten. Beim Anblick dieser Hütte und ihres vorn Alter schwarzen Gebälkes drängen sich der Seele des Vorübcrwandernden unwiderstehlich, mit den großen Erinnerungen, ernstere Betrachtungen auf. Der gewöhnlichste Gedanke pflegt zu seyn: Wer hätte dem unbeachteten Knaben, dem Sohne eines Dorfammannes, sein großartiges Schicksal weissagen mögen, als er im zehnten Jahre das kleine Vaterhaus verließ, um in Basel die Schule zu besuchen? — Eine Frage, die auch bei allen berühmten und unberühmten Menschen wiederholt werden könnte. Eben so wenig ist es eines Erstaunens werth, daß Männer, welche wahrhaft groß und dauerhaft durch Jahrtausende aus das Loos der Menschheit einwirkten, selten oder nie Hochgeborne oder aus der Reihe der sogenannten Erdengötter waren, sondern von niedriger Herkunft. Denn der Erdengötter und Gewaltigen sind wenige; die größere Menschcn- masse der Nationen besteht ans Leuten gemeinen Stammes und Vermögens. So sind nothwendig darunter auch der ausgezeichne- tern Geister mehr vorhanden, als unter Wenigen. Aber was diese Ausgezeichneten immerhin Herrliches leisteten, sie verrichteten es nicht einmahl aus eigener Kraft. Sie waren nur Werkzeuge in der unsichtbaren Hand einer höher» Gewalt; waren geweckt durch Erfahrung und Schicksal; hingelenkt zum Ziel durch Lebensumstände, die sie kaum erkannten, und die unabhängig von ihnen erschienen; waren begünstig! in ihrem Werk von der Stimmung des Jahrhunderts, vorn Zusammenschlagen aller Verhängnisse und Verhältnisse des Zeitalters. Zweifle doch Niemand, es leben Tausende und aber Tausende in dunkler Vergessenheit unter uns, mit reichern Schätzen des Geistes ausgestattet, als Cäsar und Napoleon, alsMahomed und Manek, als Praxiteles und Rafael von Urbino, als Luther und Zwingli. Sie haben zu allen Zeiten gelebt. Aber Gott entzog ihnen das Jahrhundert und die Gelegenheit. Hinwieder haben andere Männer durch einen einzelnen Gedanken ungeheure Weltveränderungen hervorgebracht, von denen 158 sie selbst nichts geträumt hatten. Colombo wollte nur einen neuen Handelsweg nach Ostindien suchen, den nachher Vasco de Gama fand; er entdeckte statt dessen einen unbekannten Welttheil und verwandelte damit der europäischen Nationen Sitte, Lebensweise, Gesezgebung, Handel und politische Verhältnisse und Jntressen. — Guttenberg hatte in Mainz den Einfall, seines Nutzens willen, das einträgliche Gewerbe des Bücherabfchrei- bens durch Abdrucken der Buchstaben zu erleichtern und zu vereinfachen; und er beflügelte den Gang der allgemeinen Civilisation, machte die Weisheit des Alterthums nach Jahrtausenden zum Gemeingut der Völker, und lösete die Fesseln der Nationen, welche die Barbarei geschmiedet hatte. — Der Zufall zeigte einem Mönch, welcher Gold oder den Stein der Weisen suchte, die Kraft des entzündeten Salpeters, mit Kohlen- und Schwefelstaub verbunden; seine Entdeckung machte allem Vorrang und Heldenkhum des Ritterwesens ein Ende und schuf eine neue Kriegskunst. — Dem Sterblichen gehört seine That, dem göttlichen Verhängniß ihre Wirkung. Die größten Revolutionen auf Erden, deren Schwingungen und Nachklänge von allen Weltaltern empfunden werden, sind nicht von irdischen Thronen, nicht vom Siegesschwert der Feldherrn, nicht aus Schatzkammern der Großen hervorgegangen. Was ist von den Heldenzügen eines Alexander, Cäsar, Attila, Karls des Großen oder Napoleons übrig geblieben, als ihr leeres Andenken? —> Die meisten Schlachtfelder, die Namen der meisten Könige sind vergessen. Aber die großen Ideen eines Moses, Plato, Socrates, die Worte Christi und seiner Jünger, und Luthers und Zwinglis, die Gedanken eines Aristoteles, Newton u. s. w. leben und wirken noch immer fort. Auf dem Erdball ist die Menschheit ein Geisterreich; ihr Wesen und Schaffen geistig; alles Irdische und Materielle nur ihr todtes Werkzeug. Tonnen Goldes, Thronen, Heere, Flotten, Altäre sind nur Mittel, vergänglich und ohne eignen Werth, wie der irdische Menschenleib nur des Geistes angcboreies Mittel ist. Länderfürsten empfangen auf einem geringen Erdfleck für einen Augenblick Vergötterung des Staubes. Geisterfürsten geben der Geisterwelt, welche den Stern des Erdballs bewohnt, Vergött- 'ichung; sie gebieten in ihr ewig. Doch ich bemerke fast zu spät, daß ich in den Fehler der geschwätzigen Ciceronen verfalle, die, wenn sie den Beschauer zu Sehenswürdigkeiten führen, seine Freude mit langweiligem Wortkram verderben. Also zurück zur Hütte und zu Zwingst! 159 Der kirchliche Winkelried, welcher der Glaubensfreiheit die Gasse bahnte, begann sein kühnes Unternehmen im Jahr 1516 auf der Kanzel von Glarus; setzte es im Wallfahrtsort Einsicdcln bis zum Jahre 1519 fort, und vollendete es im großen Münster von Zürich. Luthers Eifer war erst durch Tetzels schamlose Ablaßkrämerschaft gereizt worden; Zwingli lebte schon einige Jahre in voller Thätigkeit, ehe der Franziskaner Samson in die Schweiz trat, um für den römischen Hof mit Ablaßzetteln Geld einzuwechseln. Große Geister stehen über ihrem Jahrhundert; kein Wunder, wenn dieses sie nicht begreift, sie lästert und ihnen den Dornen- kranz aufs blutende Haupt drückt, welchen erst die Nachwelt zum Siegeskranz macht. Sie bedürfen für Leben und Kampf Hähern Muth, als den gemeinen, soldatischen im Schlachtfeld. Ein solcher Geist, mit solchem Muth, war Zwingli's Geist, der sich mit den Meisterwerken des klassischen Alterthums genährt hatte. Selbst Luther begriff einen Mann, wie Zwingli, nicht, der auch in Lehren, Thaten und Tugenden der großen Griechen und Römer Offenbarungen Gottes erkannte, und sagte: »Beide Kato's, Cam- millus und Scipio wären nicht hocherhabne Menschen gewesen, hätten sie nicht Religiosität gehabt. Die Religion wurde nicht inner Palästina's Gränzen allein bewahrt; denn nicht Palästina hat jener himmlische Schöpfergeist allein geschaffen, allein geliebt, sondern daS Weltall!» In diesem erhabnen Sinne schrieb er jene schöne Stelle seines Schwanengesanges nieder, worin er sagte: »Dort (in der Ewigkeit) wirst du sehen, in einerlei Gesellschaft, alle Heiligen, Frommen, Weisen und Gerechten; den Erlöser und die Erlöseten; Adam, Habe!, Henoch, Noah; Abraham, Jsaak, Jakob, Juda, Mosen, Josua, Gedeon, Samuel, Elias, Elisäus, Esaias, die jungfräuliche Gottesmutter; David, Ezechias, Josias, den Täufer, Petrus, Paulus, Herkules, Theseus, Socrates, Aristides, Antigcnus, Numa, Camillus, die Catonen, Scipionen, und deine Vorfahren alle, die im Glauben sind verstorben!» — Luther gerieth beim Lesen dieser Stellen vor Zorn fast außer sich. — »Was," rief der wittenbergische Reformator: »was bedarf man weiter noch der Taufe, der Sacramente, Christi, des Evangelii, der Propheten oder der heiligen Schrift, wenn solche gottlose Heiden, wie Socrates und Aristides, ja der greuliche Numa, der zu Rom alle Abgötterei gestiftet durchs Teufels Offenbarung, und Scipio, der Epicuräer, selig und heilig sind mit den Patriarchen, Propheten und Aposteln im Himmel, so sie doch nichts von Gott, Schrift, 160 Evangelium, Christo, Taufe, Sacrament oder christlichem Glauben gewußt haben? Was kann ein solcher Schreiber, Lehrer und Prediger anders vom christlichen Glauben halten, denn daß er sey allerlei Glauben gleich, und könne ein jeglicher in seinem Glauben selig werden, auch ein Abgöttischer und Epicuräer, wie Numa und Scipio?" *) Zwingst war, bei aller Frömmigkeit seines Gemüths, ein liebenswürdiger Mann, wohlwollend, heiter und reich an witzigen Einfällen. Er war Dichter, zugleich Musiker und Componist vierstimmiger Lieder. Er spielte besonders die Laute vorzüglich gut. Seine Gegner nannten ihn daher spottend den evangelischen Lau- tenschläger und Pfeifer. Dem Generalvicar Faber in Constanz antwortete er: »Auf der Laute und Geige, auch andern Instrumenten, lernte ich etwas, das kömmt mir izt mächtig wohl, die Kinder zu schweigen.» Bekanntlich war er verheurathet, Vater von zwei Söhnen und zwei Töchtern. Das heut noch in Zürich blühende Geschlecht der Zwingli's stammt indessen nicht von ihm, sondern von einem seiner Brüder in Wildhaus ab. Mit seiner Gemahlin, Anna Reinhard, machte er in Zürich Bekanntschaft. Sie stammte aus altadlicher Familie, wohnte in der Nähe von Zwingli's Pfarrwohnung, und war schon Wittwe; aber auch noch im drei und dreißigsten Jahr eine schöne Frau. **) Wo irgend er in der Stadt predigte, war sie gewiß seine Zuhö- rerin, und saß sie, wie ihr neuester Biograph versichert, gewöhnlich in der ersten Reihe seiner Zuhörerinnen. Ungeachtet beide einander ihre Zuneigung gestanden, entschloß dr sich doch erst vier oder fünf Jahre später zur Ehe. Priesterehe war damals noch ein Wag- stück, obgleich ihm andre schon mit Beispiel vorangegangen waren. — Sein Haus stand allen Fremden gastfreundlich offen, deren nicht wenige nach Zürich kamen, den außerordentlichen Mann persönlich kennen zu lernen. So wenig ihn die Lästerungen, selbst Nachstellungen seiner fanatischen Feinde schreckten (man warf ihm Fenster ein, schoß auf ihn, verläumdete ihn in einer Menge von Flugschriften als den leibhaften Antichrist), eben so wenig erregte die öffentliche Bewunderung und der Ruhm, dessen er in Hütten und Palläften genoß, in seinem bescheidnen Selbstgefühl einigen Stolz. *) Luthers letztes Bekenntniß von des Herrn Nachtmahl. **) Der Oberkanzler Nicl. Arator in Schlesien, der im I. lsrs den «Herr Ulrich Zwingli mit seiner theuergeliebten Hausfrau" in Züri» besuchte, nennt sie in der Beschreibung seiner Reise »ein eigentlich Engelsweib." 161 Man yat noch Briefe von ihm, an seine Brüder in der väterlichen Hütte bei Wildhaus gerichtet. Diese Brüder trieben Landbau oder gingen zum Theil in ausländischen Kriegsdienst. Er sprach zn ihnen, als Bruder, als Gottgeweihter, als Republikaner. „Nie ist's der Fall," sagt er zu ihnen, »daß ich nicht wüßte, wie es um Euch stehe; so fleißig ist mein Fragen nach Euch. Ich aber muß die Arbeit, zu der mich Gott berufen hat, vollführen, gehe mir's dann, wie Gott will; alles Besorgliche hab ich vorher bedacht. Ich bleib ewig euer Bruder, wenn Ihr Christi Brüder bleibt. — So oft ich vernehme, Ihr lebet von Eurer Hände Arbeit, wie Ihr hergekommen seid, so bin ich froh zu wissen, daß Ihr den Adel, von dem ihr geboren seid, von Adam, wohl unterhaltet; und Eurer, die Ihr daheim die Wirthschaft treibt, versetz ich mich aller Ehren und Gutes. — So oft ich aber vernehme, daß Eurer etliche um Geldes Willen in Krieg gehn, so traure ich sehr, dass sie aus dem frommen Geschlechte der Bauren und Arbeiter ver- arten. Auch weiß ich wohl, was ich mich ihrer zu versehn habe, nämlich Jammer und Verdammniß ihrer Seele." 168 IX Kanton Appenzell. i. Der blecken Appenzell. Das kleine Land, welches den Namen von einem seiner Hauptörter entlehnt hat, während der Hauptort selber (der dieß erst seit 1402 ist) den seinigen von eines Abten Zelle, oder Klause, empfing, die hier, unbekannt in welcher Zeit, stand, (die Gegend hieß urkundlich nur Neu Gereute) — dieß kleine Land, sag' ich, hat so viel Eigenthümlichkeiten oder Seltsamheitcn; liegt mit seinen niedlichen, freundlichen Hütten und Dörfern so lieblich zwischen den Gebirgen, daß es, mögt' ich fast behaupten, ein wahrer Liebling aller in- und ausländischen Reisenden geworden ist. Von seinen niedrigsten Gegenden, die doch aber beinahe dritt- halbtausend Fuß hoch gelegen sind, steigt es, gegen Südosten, zur Bergkette des Kamor und Säntis, zu einer Höbe von beinahe achttausend Fuß empor. Bekanntlich hat das Ländlein nur die Größe von kaum mehr, als sieben Geviertmeilen; bildet aber einen Kanton der Eidgenossenschaft; ungeachtet es aus zwei unter sich unabhängigen Republiken besteht (Appenzell außer- und inner- Rhoden), die in Religion, Sitte, Gesez, Lebensart und Volksbildung ganz verschieden von einander sind. Das Staatsgebiet der äußern Rhoden (oder Bezirke) umklammert mehr als zur Hälfte, den Landtheil der innern Rhoden. Beide Republiken aber sind wieder ihrerseits vom Kanton St. Gallen so vollkommen umschlossen, daß der Kanton Appenzell eigentlich im Kanton St. Gallen eingeschachtelt liegt. Dieß hindert aber nichts am besten Ein- verständniß zwischen Allen. l 163 Wir wissen aus Erdbeschreibungen, daß die Insel Malta, mit ihren 90 oder 100,000 Einwohnern auf acht Geviertmeilen, das bevölkertste Ländchen unsers Welttheils sey; Appenzell aber in dieser Landestugend oder Untugend dem mittelmeerischen Eilande am nächsten stehe. Im strengen Sinne genommen, gilt jedoch diese Merkwürdigkeit eigentlich nur von Appenzell außer Rhoden. Hier befinden sich auf dem engen Raum von vier Geviertmeilen ohnge- fähr 40,000 Einwohner (nach der neuesten Zahlung 39,857). Wollte man den Boden unter dessen Volk nach der Seelenzahk vertheilen, so würde jede einheimische Person etwa 1?/-, Juchart (zu 40,000 O G zum Eigenthum erhalten, nicht groß genug, eine Kuh das Jahr hindurch zu füttern. Zieht man aber, wie billig, noch alle nnwirthbare Felsen und das Flußbett von mehr den dreißig Waldströmen und Bächen ab vom anbaufähigen Grunde: so schrumpft der bewohnbare Raum noch enger zusammen, und die Bevölkerung Malta's und Außerrhodens würde kaum noch bedeutenden Unterschied zeigen. Das ganze Land ist daher auch mit Häusern überstreut, an Berghängen, auf Höhen, in schmalen Thalschluchten, wie kein andrer Fleck Bodens in der ganzen Schweiz. Die Leutchen machen sich selbst darüber lustig, versteht sich, nicht ohne einigen Vaterlandsstolz. »Als der Teufel einst," sagen sie: „mit einem Sack voller Städte und Dörfer über die Gegend flog, riß er an einer Felsspitze des Säntis in sein Bündel ein Loch und es fielen ihm von den Häusern zu Tausenden heraus." (Nach einer Zählung vom-Jahr 1834 hatte Außerrhoden 6097 Wohnhäuser.) Die Bevölkerung beider Appenzelle beträgt im Ganzen 50,700 Seelen. So lange unser Welttheil noch weitläuftige Länderstrecken enthält, die zehn und zwanzigmahl mehr Nahrungsmittel erzeugen, als ihre Bewohner zur Selbsterhaltung bedürfen, sollte man sich wegen Uebervölkerung einzelner Gegenden keinen Kummer machen. Der Ueberschuß von Produkten des Ackerbaus eines Landes gleicht durch Tausch und Handel die Bedürfnisse des andern aus. In Jahren allgemeinen Mißwachses lieferten Afrika und die Küsten des schwarzen Meeres den Schweizern das Ge- traide. Malta und Appenzell sind so wenig übervölkert, als Paris und London, wo doch gegen ein bis zwei Millionen Menschen auf dem Raum von einer oder rwei Geviertmeilen beisammen- leben. Seit hundert Jahren betrug in den äußern Rhoden Appen- zells der zährliche Ueberschuß der Gebornen im Durchschnit ohnge- 11 * 1 164 fähr 53 Personen. Die Volksmenge ist also noch im Zunehmen. Und doch blüht hier mehr Wohlstand, als in den innern Rhoden, wo, mit Ausnahme einiger reichen Familien, im Allgemeinen, neben geringerer Volkszahl des Landes, viel Dürftigkeit herrscht, und die Ländereien mit Schulden belastet sind. Armuth eines Volks oder einer Gemeinde entspringt, beim gegenwärtigen Verhältniß der europäischen Menschenmenge zum kulturfähigen Boden des Welttheils, offenbar nicht aus der übergroßen Familienzahl eines Volks oder einer Gemeinde, sondern aus den Mängeln der Gesetzgebung und der öffentlichen Einrichtungen. Wo diese den Geist der Nation im Sumpf der Unwissenheit erstickt lassen; wo sie den Erwerbsfleiß beschränken oder durch Auflagen ohne Maas zurückschrecken; wo sie die Rechte der Mehrheit durch Vorrechte der Minderheit verkümmern: werden die fruchtbarsten Gefilde von einer dünnen und dürftigen Bevölkerung besezt seyn. Wo aber, neben bürgerlicher Freiheit, Aufklärung und Volksbildung am größten sind, schreitet öffentlicher Wohlstand auch am schnellsten vorwärts und mit dem Wohlstände die Bevölkerung. Es ist eine merkwürdige Verblendung oder Unerfahrenheit der Gesezgebungen, wenn sie, um die Verarmung im Lande zu vermindern, statt die offenen unläugbaren Quellen derselben zu vernichten, die naturwidrigsten Mittel ergreifen. In Jnnerrho- den muß z. B., wer heurathen will, die Bewilligung dazu von, Landammann haben! Ja, im Jahr 1817 sollte sogar allen Gebrechlichen und solchen Leuten, von denen nicht zu glauben war, daß sie Weib und Kind ernähren könnten, das Heurathen gänzlich verboten werden. Des Volkes gesunder Menschenverstand aber wi- dersezte sich dem naturwidrigen Vorschlage. Vorzeiten war das Appenzellerland, nachdem es sich von der Herrschaft der St. Galler Aebte losgerissen hatte, ein einziger Staat gewesen. Erst die Zeiten der Kirchenreformation zerrissen es in ein doppeltes Gemeinwesen. In den innern Rhoden hatten die Katholiken Oberhand; die evangelischen in den äußern. Jene gestatteten den Reformirten keinen Gottesdienst mehr bei sich; zwangen sie zum Verkauf ihrer Güter und zum Auswandern nach den äußern Rhoden; in diesen brauchte man Gegenrecht. So erfolgte endlich vollständige Theilung des Landes (im Jahr 1597), wie sie noch jetzt besteht. Nichts beweist die gegenseitige Erbitterung der katholischen und evangelischen Appenzeller damaliger Tage so lebhaft, als folgender Zug. Ein Mann der Gemeinde Urnäsch hatte einst, aus den italienischen Feldzügen, das Gemälde vom »X lAi'NT' UMMM Mj « ^ » gSMrk l^ « ÄSM« MM - MM 165 heiligen Antom'us in sein Dorf mitgebracht. Es war in der Kirche aufgestellt, bis zur Zeit der Reformation alle Heiligenbilder fortgeschafft wurden. Der heilige Antom'us mußte sich ebenfalls gefallen lassen, in eine Polterkammer zu wandern. Die katholische Gemeinde Appenzell, sich seiner erbarmend, unterhandelte; bot für das Bild die Holzreiche Sommeralp „Jmfluh", 4 bis 5000 Gulden an Werth. Umsonst. Vielleicht modert izt noch das Bild in einem Winkel, während sich Appenzell des Eigenthums seiner fruchtbaren Alp freuen mag. Die Bitterkeit des Glaubenshasses ist freilich verschwunden; aber die Wirkungen desselben dauern noch im Gegensatz von beider Gemeinwesen Leben fort. Einst war der Flecken Appenzell Hauptort des gesammten Landes; hier blühte damals durch Garn- handel und Leinwebereien größerer Wohlstand; hier strömten die Landleute zu Märkten und Festen, zu Rathstagen und Landsgemeinden zusammen. Dem ist nicht mehr so. Ueber ein Paar Kapuzinerklöster und über die alten finstern Häuser des Ortes erhebt sich nur die fromme Pracht der seit einem Jahrzehend neu und massiv erbauten Pfarrkirche. Dagegen haben die beiden Hauptorte der reformirten, aussern Rhoden, Trogen und Herisau, mit ihren Werkstätten und Fabriken, und schönen Häuserreihen, städtische Gestalt und städtisches Leben. Wie überhaupt in der Schweiz, ist auch im Appenzellerländ- chen der Abstand der reformirten und katholischen Gegenden auffallend. In Außerrhoden trägt Alles das Gepräge des Wohlstandes, der Ordnung und Reinlichkeit. Die freundlichen, saubern Wohnungen der Reichern wie der Aermern sind fast durchsichtig von ihren vielen, hellen Fenstern, und gewähren beim ersten Anblick ein Gefühl vom darin geführten behaglichen Leben. Zwischen sorgfältig gepflegten Wiesen, Aeckern, Baumgärten, sich immer mehr erweiternden, zierlichen Dörfern, Landhäusern und Anlagen laufen wohlunterhaltene Landstraßen hin, belebt von Fuhrleuten, Landarbsitern, Feilträgern und Reisenden jeder Gattung. In den Ortschaften selbst regt sich, neben Feldbau und Viehzucht, das Treiben von Künstlern, Handwerkern, Webern, Kaufleuten und Fabrikanten. Schulen und Bildungsanstalten werden von Jahr zu Jahr verbessert und vermehrt. Es werden Bibliotheken und Lesezirkel gehalten; wissenschaftliche und gemeinnützige Gesellschaften für des Ländchens Wohlfahrt besucht. Straßenbettler erblickt man fast nirgends; und wenn schon es nicht ganz an Armen fehlt, wird für die zur Arbeit Unfähigen durch reichliche Steuern oder in besondern Stiftungen gesorgt. 166 Andere Umgebungen treten uns im katholischen Jnnerrhoden entgegen. Der Glanz äußerer Ordnung und Sauberkeit verliert sich. Das Volk, wohl reich an heiterm Mutterwiz, ist bildungs- los und unwissend; ohne Sinn für bessere Schuleinrichtunaen und gemeinnützige Anstalten; der Leitung seiner altfrommen ( 'stlich- keit hingegeben, die, meistens selber ohne wissenschaftliche L .oung, keine Kenntnisse verbreiten kann, und dagegen Küchendienst, Prozessionen und Kreuzfahrten über alles Andre erhebt. Man sieht es den unzierlichen Dörfern, den ärmlichen Hütten mit ihren finstern, unreinlichen Gemächern an, wie im Allgemeinen die Einwohner dürftig bemittelt sind. Nur in wenigen Familien ist Reichthum; und ihnen gilt nur das Jntrcsse der Familie, welches alles Andre überwiegt. Die Mehrern des Volks aber leben nach der Weise, wie vor Jahrhunderten ihre Väter und in deren Glauben und Aberglauben. Ihr geringes Hausgeräth verfertigen sie zum Theil selbst; ihr Feld, ihre Heerde giebt ihnen die nöthige Speise. In manchen Haushaltungen wird für Außerrhoden, dem viel des verschuldeten Bodens zinsbar ist, vom weiblichen Geschlecht Stik- kerci getrieben oder gesponnen. Man beneidet aber die Wohlhabenheit der rcsormirten Nachbarn nicht, weil man die tägliche Anstrengung scheut, mit der sie erworben werden muß. Hirtenleben neigt sich gern zum Müssiggehn. Straßenbetttelei ist ungehemmte Plage der Einheimischen und der reisenden Fremden. Man zählt auf 10 bis 11,000 Einwohner gegen 400 Bettler von Profession; die Zahl der sogenannten schamhaften Armen, welchen aus Stiftungen und Armengütern Unterstützung gereicht werden muß, ist unbekannt; wohl wenigstens eben so groß. Man mag das Hirtenleben der bildungslosen Aelpler, ihre hohe Genügsamkeit, ihre Sitteneinfalt, ihre patriarchalische, kunstlose Staatseinrichtung recht anziehend, sogar recht poetisch finden. Schwerlich aber werden die begeisterten Lobredner dieser Zustände das Glück derselben gegen den Genuß eintauschen wollen, welchen ihnen das Leben im geregelten, gesittungsreichern Staat darbietet. Nichts romantischer, als Ruinen, baufällige Hütten, hölzerne Stege über Abgründen u. s. w. in Schilderungen und Gemälden! Doch in der Wirklichkeit zieht man den zerfallenen Gemäuern ein bequemes, zweckmäßig eingerichtetes Haus vor, wie prosaisch es auch in Abbildungen dastehen mag. Es ist indessen damit nicht gesagt, daß solch ein dürftiges, noch auf tiefern Stufen der Gesittung stehendes Völkchen nicht froh, nicht glücklich in seiner Art seyn könne. Es entbehrt ohne Schmerz 167 das Bessere von dem es keinen Begriff hat, »nd freut sich der Befriedigung seiner niedrigern Bedürfnisse nicht wengier, als ein civilisirteres Volk, der Befriedigung seiner höhcrn. Die Appen- zeller sind durch ihre heitre Laune und ihre drolligen Einfälle in der ganzen Schweiz bekannt; und vor allen die „Jnnerrhödler.« Man wiederholt sich gern ihre witzigen, spitzigen Erwiederungen bei verschiedenen Gelegenheiten, und es wird nicht ganz außer Ort seyn, wenn ich hier zur Unterhaltung einige mittheile. „Fort mit dir, und komm' mir nicht wieder vor's Haus!" rief einst ein reicher Herr dem Bettler durchs Fenster zu, der eben angeläutet hatte. „Nichts für ungut" versetzte der Bettler: „ich wollte grade bei Euch Abschied nehmen.« Bei einer Inspektion der Milizen bemerkte der eidgenössische Oberst, daß die Kragen der Uniform ungleich zu seyn schienen. „DaS kömmt nur daher", sagte Einer, „weil nicht alle Soldaten ordonanzmäßige Hälse haben." Ein Landammann, der von einer erhaltenen Sendung Stockfische dem Gemeindsvorsteher zum Kauf angeboten hatte, und zur Antwort erhielt: „Stockfische lieb ich überall nicht!" erwiederte diesem: „das find ich nicht gut, wenn Brüder einander nicht lieb haben." —- „Doch besser,« versetzte der Ortsbeamte: „als wenn sie einander freffen.« Freilich der Landamman ist die höchste Magistratsperson im Staat; aber im Privatleben allen Bürgern des Landes gleich. Er muß sich daher wohl gefallen lassen, wenn er vom geringsten Bauer dieselbe Behandlung empfängt, die er diesem wiedcrfahren läßt. In der Demokratie wird das Amtsvorrecht nicht, wie in monarchischen oder aristokratischen Staaten zu einer Art persönlichen Rangs und Vorrechts verwandelt; hinwieder dennoch der obrigkeitlichen Würde, und trüge sie auch der gemeinste Bürger, Ehrfurcht gezollt. Als die Gesandten Alexanders des Großen zu dem noch größeren Phocion kamen, fanden sie ihn mit Waffertragen, seine Gemahlin mit Backen beschäftigt. Solche Ueberraschungen sind in den schweizerischen Demokratien gar nichts Seltenes, wenn auch die Phocionen fehlen. Der Landamman Gebhard Zürcher von Außerrhoden, war Landbauer und Zimmermann. Wenn er Morgens in amtlichen Sitzungen des Rathes oder in Kommissionen die Verhandlungen mit Einsicht geleitet hatte, sah man ihn Nachmittags hinter dem Pflug oder mit der Axt in seiner Werkstätte. So fand ihn einst ein Patrizier aus einer der schweizerischen Hauptstädte, der sich 168 wegen erheblichen Angelegenheiten an die Regierung von Appenzell wenden mußte. Der Landammann führte ihn in sein Wohnzimmer, um; ihn anzuhören. Der Patrizier, vor dem Mann im Schurzfell wenig Achtung fühlend, setzte den Hut wieder auf, und mit der Reitgerte in der Hand spielend, trug er ihm sein Geschäft vor. Als er vollendet zu haben glaubte, und in einer vornehmen, fast herablassenden Stellung das Urtheil des Landammanns erwartete, fragte dieser: »Mit wem wollt ihr denn eigentlich reden? Mit dem Bauer Gebhard Zürcher, oder mit dem Landammann von Appenzell?"— »Natürlich mit dem Landammann!» antwortete der Patrizier. »So nehmt den Filz ab,» sagte der Landammann mit edlem Ernst: »vergeßt keinen Augenblick vor wem ihr steht; und traget mir-Eure Sache vor, von der der Landammann nichts gehört hat, weil Ihr sie nur Eures Gleichen, dem Bauer, erzählt habt.» — Der betroffene Patrizier gehorchte mit Ehrerbietung und stammelte erröthend seine Entschuldigungen. Eben dieser Landammann Zürcher saß an einem schönen Sommerabend mit Freunden vor dem Hause, als sich ihm zwei Weiber nahten, die mit einander in vollem Zank begriffen waren. Jede der Wüthenden brachte ihre Klage an, reichlich mit schändlichen Vorwürfen gegen die andere gespickt. Der Landammann, welcher sie beide genugsam kannte, hörte ihr Toben eine gute Weile gelassen an. Endlich gebot er Stillschweigen, und sagte ganz trocken: »Hier ist nicht schwer zu entscheiden; gebt Euch zufrieden und geht ruhig heim, denn ihr habt beide gegen einander völlig recht!» — Die Anwesenden brachen in lautes Gelächter aus, und die Zänke- rinnen machten sich beschämt davon. Ein Appenzeller, welcher drei Weiber gehabt hatte, wurde einst befragt, welche von ihnen die Beste gewesen sey? — Er antwortete: »Beiß in drei hübsche Holzäpfel, und sage mir, welcher von ihnen der Süßeste gewesen sey.» »Wie lange tragt Ihr Euern Schnurrbart schon?» fragte man einen alten Jnnerrhödler. »Länger als ihr denken könnet!» versetzte dieser. »Ihr habt ihn doch wohl nicht mit auf die Welt gebracht?» — »Ei nun, doch den Platz dazu.» Viele in den Thälern von Appenzell ehemals üblichen, oft rohen Volksspiele haben sich nach und nach verloren; andere sind wegen ihrer Gefährlichkeit, und weil sie selten ohne Unglück abliefen, verboten worden; Andere hatten sie mit andern Gegenden der Schweiz gemein, wo sie noch itzt gelten. Gewöhnlich bestehen sie in Uebungen körperlicher Gewandtheit und Kraft. So das Eierlesen um 169 Ostern. Zwei Jünglinge, nur in Hemd und Hosen, aber mit flatternden Bändern geziert, beginnen im Angesicht der Zuschauer ihren Wettgang. Der Eine läuft eine halbe oder ganze Stunde weit zu einem bestimmten Ort, wo man ihm ein Glas Weins reicht, und eilt dann wieder von wannen er kam zurück. Der Andre hebt inzwischen 50 oder 101 Eier auf, die er in einen mit Spreu gefüllten Korb wirft, ohne daß eines zerbrechen darf. Aber die Eier sind auf einer Wiese in schnurgrader Linie gelegt, jedes vom andern eine Elle weit. Der Aufsammler beginnt am äußersten Ende der Linie, und trägt Ei um Ei zum Korbe am andern Ende der langen Reihe. Sieger ist, wer seine Aufgabe am ersten vollendet hat. Eben so ist das Stein-Werfen oder «Steinstoßen" eine Kraftübung besonderer Art. Wer den schwersten Stein am weitesten schleudert, empfängt unter dem Jubel der Zuschauer, den Ehren- Preis; einen buntgestickten ledernen Küher-Gürtel, oder eine Kappe von feinem Leder, oder eine Denkmünze, oder Geld im zierlichen Beutel. Der zu werfende Stein ist aber oft über einen halben oder ganzen Centner schwer und von runder, schwierig zu handhabender Gestalt. Wer ihn lüpft, muß ihn sich selber auf eine der Schultern legen, und dann erst schleudern. Im Jahr 1805 hob ein Mann von Urnäsch einen Stein von 184 Pfund auf, und warf ihn zehn Schuh weit. An die Ringer-Spiele des Alterthums, bef Griechen und Römern, mahnt das schweizerische „Hosenlüpfen." In einem Kreise von Männern und Weibern, Jünglingen und Mädchen, stehn die kampffertigen Athleten. Sie nahen in gebückter Stellung. Jeder sucht die Theile, bei welchen er ergriffen werden kann, Schultern und Hosengurt, so weit er kann, vom Gegner zu entfernen. Endlich drängen sie, Kopf an Kopf, Wirbel an Wirbel gestämmt, zusammen, und haschen nach Gurt oder Schulter des Andern. Eins oder das andere ergriffen, beginnt ihr wirkliches Ringen. Wer von beiden zuerst zu Boden gestürzt wird, ist der Ueberwundene. Aber man sollte -die gewaltigen Anstrengungen dieser Muskelstarken, ihre geschmeidigen Wendungen und Biegungen, ihre durch Gleichgewicht der Kräfte zuweilen erzwungene starre Ruhe sehen, die plötzlich wieder in ungestüme Angriffe übergeht; ihre äußersten Machtversuche und Listen sehen, die Fersen des Gegners vom Erdboden zu trennen, um sich eine lebendige Vor? stellung vom Ringen des Hercules mit dem Riesen Antheus zu geben. 170 Ich übergehe eine Menge andrer üblicher Spiele, die von minder eigenthümlicher Art sind. Manche der in der Vorzeit gebräuchlichen, oft lebensgefährlichen, worin nur rohe Kräfte sich ohne Zweck erschlossen, wie im „Blvckfest", da man ungeheure Baumstämme in Prozession durch die Dörfer schleppte, sind im gleichen Verhältniß abgegangen, wie, mit größerer Gesittung, das Gefallen an geselligen Spielen des Witzes und heitrer Laune, oder an der Kunst des Gesanges, wuchs. Unter den öffentlichen Volksbelustigungen, die auch itzt noch wie ehemals, und weit allgemeiner, denn ehemals, beliebt sind, gehört das Ziel- oder Scheibenschießen. Sonntags Hort man fast in allen Dörfern, während der Sommerzeit, das Knallen der abgeschossenen Stutzer. Abwechselnd werden bald in dieser bald in jener Ortschaft „Freischießen" gegeben, bei welchen den Besten der Schützen, die weit her aus den Umgegenden erscheinen, kostbare Sicgespreise aufgestellt sind. Ehemals waren diese Uebungen der Schützen auch in Deutschland gemeiner. Sie dienten zur Verbrüderung und Vergesellung der Völkerschaften. Beim großen Hauptschießen zu Stuttg ard, im Jahr 1560, sah man auch die Schweizer zahlreich. Man zählte da anderthalbtausend Schützen mit 96 Gesellschaftsfahnen; und unter den Schützen erblickte man Fürsten und Bauern beisammen um den Preis zielen. Bekannter noch ist das große Freischießen von Straßbnrg im Jahr 1576, zu welchem die Züricher verhießen, so freudig und rasch zu eilen, daß ihr in Zürich gekochter Hirsbrei noch in Straßburg warm ankommen solle. Sie hielten Wort, indem sie zu Schiffe, mit ihrem Brei die Limmat, Aar und den Rhein hinabfchwammen. Die in Deutschland zum Theil halb, zum Theil ganz erloschene Sitte dauert in der Schweiz, und nicht in Appenzell allein, sondern in allen Kantonen ungefchwächt fort, ja in größerem Maas- stabe, als vor Zeiten. Privatleute und Regierungen zollen ansehnliche Gaben zu den Festen, welche durch Stiftung der sogenannten eid sgenössifchen Freischützen wirkliche Nationalfeste geworden sind. Das erste von diesen« gab dieSchützengesellfchaft der Stadt Aarau. Sie lud dazu die Meisterschützen der gesammten Eidgenossenschaft ein. Es dauerte, unter Zudrang aus fast allen Kantonen, acht Tage lang, und eben so in nachfolgenden Jahren in andern Schweizerstädten. Beim eidsgenössischen Schießen in Zürich, im Jahr 1834, dem glänzendsten, welches bisher sowohl in Rücksicht der großartigen und geschmackvollen Einrichtungen, als der Kostbarkeit und Menge .2-' ./ 4> AM. ^ : ! ' ' - A ^ / MM ? ,.'^-MAi-L^>>«W MW-W' >7? ' ",^W>^ .., K.. '. > - -W ^ ?scHV.^')^i''^2 .LV^c VMdvSK. 171 der Gaben veranstaltet worden ist, sah man täglich an Kommenden und Fortgehenden Tausende der Gäste aus allen Gegenden der Schweiz, und Tausende von Schützen. Unter den glücklichsten der Letztem standen auch die Appenzeller. Sie gewannen die ersten Gaben; und einige waren ihres Sieges so gewiß, daß sie sich untereinander verabredeten, wer aus ihnen folgendes Tages die größte Gabe gewinnen sollte. Aber eine jede der zwanzig Gemeinden von Außerrhoden hat auch ihre eigne Schützengesellschaft und jeder der 4 — 500 Scharfschützen seinen eigenthümlichen Stutzer mit Zubehör. Mehr denn die Hälfte dieser Männer ist in ihrer Kunst so eingeübt, daß ein Schuß aus freier Hand nie ein Brett von der Größe eines Gcviertschuh's in der Entfernung von 2 — 300 Schritten verfehlt. 2 . Die Kapelle am Stoss. Ein breiter, eingehägter Weg zwischen Bergwiesen leitet vom außerrhvdischen Pfarrdorf Gais ostwärts das Gebirg hinauf zu den hölzernen, hochgegiebelten und fensterreichen Wohngebäuden eines Weilers. Da faltet sich ein prachtvolles, unermeßliches Landschaftsbild auseinander. Ein Theil des Rheinthals, wie Schwabens, streckt sich unter unsern Füßen aus. Die Gebirge Appenzells, Bündens, St. Gallens und Voralbergs steigen aus der Tiefe empor. Man nennt diese Höhengegenden „den Stoß." Das Wort „Stoß„ bezeichnet in den Alpen einen Wiesenraum, groß genug, um während des Sommers darauf Weide für eine Kuh zu haben. Am Wege, links neben den ländlichen Gebäuden des Weilers, sieht man eine einfache Kapelle. Sie *steht da, als Dank- und Denkmahl der zwanzig Tapfern, die hier, in der Freiheitsschlacht des Jahres 1405, den Tod fürs Vaterland gestorben sind. Der Kampf auf dieser Wahlstätte hatte etwas Wunderhaftes. Freilich in unsern Zeiten darf man den Schlachtenbulletins nicht allzuviel vertrauen; aber den treuen Todtenberichten jener Tage ists erlaubt Glauben zu leihn. An einem regnerischen Junimorgen zogen der Herzog von Oesterreich und der Abt von St. Gallen hier, mit dreitausend Streitern, aus dem Rhcinthal herauf, um die Appenzeller, noch keines Angriffs gewärtig, zu überraschen. In der That konnten diese in aller Eile kaum mehr, denn 400 Mann, zusammenraffen. Graf 172 Rudolph von Werdenberg stellte dieselben am Fuß des Berges, der sich dort erhebt, oberhalb der Kapelle in Schlachtordnung. Entschlossen, frei zu leben, oder als Freie zu sterben, warfen sich die 400 gegen die 3000 ins Gefecht, nachdem zuvor der Feinde eine große Zahl durch herabgewälzte Felsen zerschmettert worden war. Jeder Einzelne von den Appenzellern schien sich zu vervielfältigen. Einer von ihnen, Ulrich Rotach, den Rücken an eine Hütte gelehnt, nahm es allein mit zwölf Gegnern auf, deren er fünf erlegte, bis die Hütte brennend über ihm zusammenstürzte. Die Flucht des Feindes ward aber erst von der Erscheinung eines langen Heerzuges entschieden, der in Hirtenhemden über den Sommersberg den Appenzellern zur Hülfe eilte. Es waren die Frauen und Töchter der Appenzeller, von Gais daherwandelnd, an der Seite ihrer Gatten, Söhne, Vater und Brüder zu streiten, oder den Tod zu finden. Ehe sie jedoch herankamen, hatten die Männer schon den Sieg wohlfeilen Kaufs, nur mit Verlust von zwanzig der Ihrigen errungen, während der dritte Theil des feindlichen Heeres zerschmettert und erschlagen auf dem Schlachtfelde lag. Als im Jahr 1820 der Eigenthümer der Wahlstatt einen Hügel seines Gutes, unterwärts der Kapelle, ausebnen wollte, fand er noch unter aufgehäuften Steinen der Tvdtengerippe eine Menge. Den Siegestag feiert Jnnerrhoden alljäbrlich noch mit einer Bet- fahrt, zu welcher jede Haushaltung wenigstens eine Mannesperson senden muß. Und im Jahr 1825 war es hier, daß fast aus gesammter Eidsgenossenschaft, der «Sempacher - Verein", verbunden mit dem Appenzeller Sängerverein, unter dem Liede „Am Grabe unserer Päter" das Gedächtniß der Freiheitsschlacht beging. Die Schweizer, mit Ausnahme einiger von ihnen selbst verspotteter Thoren, setzen keinen Werth auf ihr Abstammen aus adlichen Geschlechtern derVorzckt; desto höhern auf die adlichen Thaten der Vorwelt. Zur Verehrung derselben verbanden sich aus vielen Kantonen im Jahr 1822 gebildete junge Männer, mit Verpflichtung , alljährlich auf irgend einer Wahlstätte schweizerischer Freiheitsschlachten zusammen zu treten und sich durch das Andenken der alten Heldenwerke, zu ähnlichen zu begeistern, wenn Gefahr des Vaterlandes dazu riefe. Weil sie die erste Zusammenkunft auf dem Kampfplatz von Sempach gehalten, empfing ihre Verbrüderung jenen Namen des „Sempacher-Vereins." Aber auch die nächsten Umgebungen der Kapelle am Stoß sind durch manche Merkwürdigkeit anziehend. Nur eine Stunde von ihr liegt im wiesenreichen Hügellands das große und schöne Dorf 173 Gaiß dessen Kirche auf derselben Stätte steht, wo vor Zeiten des tapfern Ulrich Rotach Hütte gewesen. Das Dorf mit seinen zierlichen Lustgängen, Gasthäusern und Pavillons ist seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts einer der berühmtesten Kurorte der Schweiz geworden. Fremde, oft aus allen Gegenden Europens, und Einheimische trinken hier während der Sommermonate, im Genuß der gesunden, reinen Luft des hohen Wiesenthales, Ziegen- Mvlken. Und zwei Stunden von da, in reizender Gebirgseinsamkeit liegt ein anderer fast eben so reich besuchter Kurort, das Weisbad, wo, neben dem Molkentrank, das Wasser einer Heilquelle, in 80 Wannen, zu Bädern benutzt wird. Obwohl den Lebensbequemlichkeiten und gesellschaftlichen Freuden der Gäste Sorge getragen ist, gewährt doch der Besuch der nahen Berge weit Hähern Genuß. Denn es münden sich gegen die Anlagen des Bades drei Alpenthäler aus. Durch das mittlere führt der Weg zum Gipfel des höchsten Berges im Lande. Dieß ist der Säntis (7770 Fuß über dem Meer). Ihn scheidet von seiner steilen Nachbarin, der Gyrenspitze, ein Gletscher. Der Weg hinauf, durch das stille Thal der Seealp, ist, wenn auch dann und wann etwas mühsam, so gefahrlos, daß ihn selbst Frauenzimmer wandeln. Nur ohne Wegweiser soll man ihn nicht betreten, zumal wenn Welken die Abgründe steiler Felsen verhüllen. Im Jahr 1791 stürzte ein Professor Jetzeler von Schaffhausen vom Felsenvorsprung des hohen Mesmer herab. Unkundig der Wege, hatte er sich ohne Führer dahin gewagt. Eine Inschrift am Felsen verkündet sein trauriges Geschick. Ein Unfall andrer und minder gewöhnlicher Art, aber beinahe furchtbarer denn irgend einer, traf auf der Säntishöhe vor wenigen Jahren (1832) den Ingenieur Buchwalde r. Er hatte, zu trigonometrischen Messungen im Dienst der Eidgenossenschaft, nur von seinem Diener begleitet, hier für einige Tage sein Zelt aufgeschlagen. Die Luft war schwül. In der Ferne regneten Blitze am schwarzen Hintergrund. Der Wolkenhimmel sank herab. Ein Nebelmeer stoß über alles Land. Ein andrer Wolkenhimmel rollte sich droben aus, und verspann sich gährend mit dem andern. In den Klippen heulte der Sturmwind; von den Felswänden prallte der Donner zurück. Buchmüller rettete sich mit dem Diener unter das Gezelt vor den fallenden Regenschauern. Das Ungewitter rückte näher. Seine Blitze züngelten um die Spitzen der nahen Berge. Doch für die beiden Einsamen schien keine Gefahr zu fürchten zu 174 seyn; denn ihre Zeltstange war mit einem Wetterableiter versehn. Sie lagen harrend und horchend da. Die Wetterwolke hing über dem Säntis. Der Blitz fiel. Der zerschmetternde Funke glitt an der Zeltstange nieder, und brachte dem Diener, der mit den Nageln seiner Schuhsohle die Stange berührte, Tod. Buchmüller sank bewußtlos zusammen. Der Blitz hatte ihn an einem Beine verletzt. Fast eine Stunde mogte vergangen seyn, als er aus der Betäubung nach und nach erwachte, und ihm deutlich ward, wo er sich befinde, was geschehn sey. Noch troff die Zeltdecke vom Regen. Das Un- gewitter murmelte noch in der Ferne. Der Leichnam des erschlag- nen Dieners lag neben ihm. Umsonst sein Versuch, ihn zu wecken. Es war ein grausenhafter Augenblick, in dieser einsamen Höhe neben dem Todten, fern von allen Lebendigen, ohne ihre Hülfe. Er mußte nach St. Johann im Toggenburg zurück, von wannen er gekommen war; ein weiter, ein beschwerlicher Weg bis dahin, und wohl der gefahrvollste von allen, die zum Säntis herausführen. Er entschloß sich aber dennoch zum Wagstück, und glitt, noch mit dem Gefühl der Schwäche in seinem Bein, steil hinunter im schlüpferigen Bergschutt bis zum »großen Schnee," den er überschritt, um dann neben entsetzlichen Abgründen des Berggrathes und zwischen Felsstücken und einzelnen Schneefeldern, unter den Schrecken der »weißen Wand" hin, zur ersten Alp, zum sogenannten »Schafboden» zu gelangen. Der Gewitterregen in tiefern Landesgegenden war auf diesen Berghöhen Schnee, welcher Klippen und Klüfte winterlich bedeckte. Auch am schönsten Sommertag ist hier kein be- tretner Pfad zu erkennen. Dichter grauer Nebel verschlang jede Aussicht und verheimlichte links und rechts die Abgründe. An jedem Fehltritt hing eine Todesgefahr. Aber Buchmüller, ergeben in sein Schicksal, kletterte weiter. Er hatte keine Wahl mehr. Es gelang ihm; er rettete sich und kam zu hülfreichen Menschen. 3. Das iVilbkirchlein. Ein fantastisches Gebilde der schöpferischen Natur! Oder ist es das nicht erst durch menschliche Einfälle geworden? Nicht romantisch darf ich diese Stelle nennen, sondern lieber einen Roman cc^i c .'^f.'»«DW H ÄZE--/ d-sMü 5 ^- 7 - ck "« 175 selbst, mitten in die Alpen hineingebaut, abentheuerlich und seltsam, dem noch die belebenden Gestalten aus den Fantasten Walter Scotts abgehen. Im grauen Kalkstein einer Felswand der innerrhodischen "Eben- alp," 4620 Fuß über dem Meer, wölbt sich eine geräumige Höhle, die mehr denn hundert Fuß über der darunter grünenden Bommeralp und ihren Heerdcn erhaben ist. Drinnen errichtete die Andacht einen Altar, dem heiligen Michael geweiht; daneben einen Kapellenthurm, dessen Glocke fünfmal des Tages geläutet wird. Ihr weit durch die Stille der Berge und Alpen schallender Ton ruft die Sennen eben so oft zum Gebet. Ueber der Grotte aber steigt der senkrechte Felsen noch einige Hundert Fuß himmelwärts. Neben ihr ist eines bärtigen Kapuziners Einsiedelei zwischen Felsen geklebt, die auch eine Grotte formen, malerisch, wie Alles hier. Eine kleine Brücke führt am tiefen Abgrund zu ihr. Dieß noch nicht genug. Hinter des Einsiedlers Gemach klafft eine neue Höhle aus einander. Sie hat wohl 60 Schritte Breite und 80 Schuh Wölbung. Beständig träufelt darin Wasser herab, welches, von Kalktheilen geschwängert. Alles mit Tropfsteinrinde deckt und überzieht. Hundert Schritte wandert man durch den Bauch des Berges, bis sich der Weg verengert zu einer schmälern Höhle. Das Innere derselben ist von feuchter Mondmilch über- kleidet; der Boden voller Steintrümmer und Felsspalten. Es geht über diesem Schütte steil aufwärts. Der Eremit leuchtet mit stammendem Holzscheit voran. Man steht vor einer kleinen Thür. Sie wird aufgeschlossen, und es tritt uns ein blendendes Bild entgegen; eine fremde Alpenaussicht, blauer Himmel, Gebirg, glänzendes Wiesengrün, Halmen der Gräser wie durchsichtig. Es ist keine Täuschung. Wir sehen umherirrende Rinder. Wir hören das zeitweise Tönen ihrer Halsglocken. Wir sind durch das lange Felsengrab in die schönste aller innerrhodischen Alpen gelangt, in die Ebenalp, wo Hunderte von Kühen weiden. Die gesammte Gebirgskette, wie sie ihrer Länge und in ihren Scitenzweigen vom Kamor bis zum Säntis hinzieht, ist voll solcher Höhlungen ihres Innern. Viele mögen weitläuftiger seyn, als ihre engen Oeffnungen verrathen, die von den Hirten bald Wetterlvcher, bald Windlöcher, Krystallhöhlen nnd Ziegenlöcher genannt werden. Viele mögen im Bauch der Berge mit einander in Verbindung stehn. Aber wer wagt das Leben, um die Geheimnisse der unterirdischen Nacht zu erforschen? Die Hirten der Alpen bauen ihre Milchhütten zu solchen Felslöchern, aus denen jcder^ 176 zeit ein kalter Luftstrom bläst, der die Frische der Milch, selbst in den heißesten Tagen, bewahrt. In der italiänischen Schweiz dienen dergleichen Grotten zur Aufbehaltung des Weins. Aber das Wildkirchlein in der Grotte des Ebenalpfelsens baute, sim Jahr 1756) zur Nahrung oder Bewahrung der Frömmigkeit, ein gottesfürchtiger Bewohner des Fleckens Appenzell, Namens PaulUlmann. Am Festtag des Schutzengels Michael wird alljährlich hier Messe gelesen. Nach ihrer Vollendung erschallt die weite Ebenalp vom Jubel, Spiel, Gesang und Lärmen, bei Schmaus und Trunk, der hiehergezognen frommen Christenmenge des ganzen Gebirgs. Auch ohne grade der Andacht pflegen zu wollen, wandern an schönen Sonntagen die Nachbarschaften dahin. Vom Kurort Weisbad sind es nur anderthalb Stunden. Man mögte fast den Einsiedler um sein herrliches, hohes Ablernest an einer der Säulen des merkwürdigen Naturtempels beneiden. Er selbst aber hat, bei dem vor ihm schwebenden Wechselspiel des Himmels und der Erde, nur Kapuzinergedanken. Der Anblick des ungeheuren Prachtbildes draußen vor dem Fensterlein seiner Hütte ist ihm zur gewohnten, bunten Tapete geworden. Ich stand in der Stille des Sommermorgens droben einsam. Vor mir lag's wie ein aufgeschlossenes Weltall. Der Blick schweifte lang und irre durch die helle Weite in die blauverdämmernden Fernen. Er findet keinen Haltpunkt, wo er ruhe. Die zahllosen Hütten, wie Maulwurfshäuflein, an den Hügeln Appenzells verschwinden. Der Osten der Schweiz, der Bodensee, das weite Schwaben, sind zur flachen in sich verschwommenen Landcharte geworden; zur Mosaik, worauf sich das himmlische Gewölbe lehnt. Die Seele bebt vor wollustvollem Grausen, als habe sie sich in der Unendlichkeit verloren. Der Blick flieht scheu zurück, wie wenn er in einem unbegränzten, lautlosen Meer von Duft und Ouftfarben zu ertrinken scheue. Er rettet sich zu benachbarten Alpenfirsten, zu nähern, festern Gegenständen. Er senkt sich, wo der Seealpsee aus dem nachbarlichen Hochthal, wo der Wellenschaum des Schwändibaches aus schwarzer Waldschlucht, und der Strom der Sitter hinter Hügeln heraufglänzt. Das milbenhafte Geschlecht der Sterblichen bleibt dem Auge in dieser Höhe unsichtbar. Die weiten Landstriche drunten sind still und todt, als wären sie noch unbewohnt; als müßten sie noch aus Hochasien, der Wiege des Menschengeschlechts, Bevölkerung erwarten. So stumm und todt schwang sich einst Jahrtausende lang dieser Weltball in weiten Kreisen um die Sonne, nur Spielball Jährender 177 Elemente, welche, aus den Tiefen der Gewässer, Länder und Gebirge hervordrängten; — und Jahrtausende rollte er wieder im grünen Gewände seiner Urwälder und Savannen dahin, ehe das Thiergeschlecht aus Meeren und Sümpfen über festen Grund hervorging und sich stufenweiß und wechselweiß mit Pflanzenarten entfaltete. — Wann endlich trat der Mensch in den vollendeten Gottesgarten? Wie viele Jahrtausende flössen abermahls vorbei, eh' er sein Lallen des Säuglings mit einer ausgebildeten Sprache vertauschte, und die Sage vom Schicksal seiner Tage Enkeln überliefern konnte? Vor meinem innern Blick zog, unter diesen Gedanken, die Lebensgeschichte der Menschheit mit ihren Familien und Nationen, mit ihren Göttern und Heroen, Pyramiden und Ruinen, Tyrannen und Märtyrern, Weltumseglern und Erfindern vorüber. Ich sah, wie Jakob im Traum, die Himmelsleiter des sterblichen Geschlechts, wie es, von Stufe zu Stufe seiner Gesittung, zur Vergöttlichung überging. Auf jeder Stufe standen Millionen; die meisten dieser Millionen auf der niedrigsten, dem Urschlamm der Erde am nächsten. Es ist die Stufe der Kindheit unsers Geschlechts, der Stand ursprünglicher Wildheit. Der Mensch, noch ohne Gesetz, ohne Eigenthum, ohne deutlichen Begriff, fast ohne Sprache, steht da unter alleiniger Vormundschaft der Natur, der Leitung seiner Lebens- und Kunsttriebe überlassen. Sein weiches Gedächtniß hat nur selten bleibende Eindrücke. Er genießt und vergißt. Mit Gegenständen ändern seine Gefühle. Er weint, aber lacht im nächsten Augenblick mit unsinniger Freude. Er hascht nach dem, was ihn anglänzt. Ihm scheint Alles Gemeingut. Er kennt kein Recht, kennt keine Strafe, nur Rache und Furcht. Den Thieren verwandt, an Schärfe der äußern Sinne ihnen gleich, im Nachahmungstriebe sie übertreffend, beobachtet er sie mit furchtsamer Neugier. Er lernt von ihnen bauen, den Feind beschleichen, sich verstellen, wie sie, und ihre Spiele und Tänze nachäffen. —- Wer gibt Rechenschaft über die Dauer der Zeiträume, in denen noch, mit dem Gedächtniß, die Geschichte der Menschheit fehlt? Wer erinnert sich der eignen Tage, da er selber noch, als Säugling an einer Mutterbrust lag? Der Wilde liegt an der Mutter- brust der Natur. Aber er erstarkt; er klimmt, als Knabe, zur andern Stufe der Gesittung hinauf. Er wird auf ihr ein Halbwilder. Sein Gedächtniß hat Festigkeit gewonnen. Es leitet ihn durch die un- 12 178 wegsamen Steppen und Urwälder; es verleiht ihm Macht, Erfahrungen und Schicksale der Alten, in Sagen und Sängen fortzupflanzen. Der Greis lehrt; der Starke gebietet; der Schwache gehorcht; das Weib ist Magd; der Besiegte Sklav. Im Hochgefühl roher Kraft wird dem Halbwilden Unerschrockenheit in Gefahr, Ausdauer in Noth, trotzige Verachtung des Schmerzes und des Todes, die höchste Tugend. Dem Ungestüm seiner Begierde opfert er gleichgültig das Leben. Ebenso gleichgültig bringt er Menschenopfer und schmückt er die hinfällige Hütte mit Schädeln der Er- schlagnen. Auch Schönheitssinn erwacht. Das Weib erhöht seinen Reiz mit kindischem Zierrath; der Mann tättowirt sich. Der Schrecklichste ist dem schwächer»! Geschlecht der Liebenswürdigste. Der Held herrscht oder der Stammvater der Familie; die Kriegergemeinde gibt das Gesetz. Wie heut noch Eskimo's in der Eiszone, Guarani's, Mbaya's und andere Horden in Tropenländern Amerika's, standen einst die Griechen der Urzeit, die Germanen des Tacitus, die Galen Ossians. Nur vor Einem erbebt der Trotz des Halbwilden; vor dem, den seine Faust nicht zwingen, sein Pfeil nicht erreichen kann. Es ist die unsichtbare Gewalt im Donner der Wolke, iin Sturm, der den Wald bricht; die Gewalt, welche Sonnen und Monde ruft und verfinstert. Er ahnet einen großen Geist, er ahnet Gottheiten; er hört in Träumen ihre Stimme, sieht in Wundern und Zeichen ihren Wink. Erfahrungen steigern die Urthcilskraft. Losgerissen endlich von der Vormundschaft der Instinkte, vertraut sich das jugendliche Geschlecht der Sterblichen seiner Selbstmacht. Es verläßt die Mutterhand der Natur und verliert sich mit irren Schritten in ein Labyrinth reizender Täuschungen. Der Knabe ist zum lcbens- trunknen Jüngling geworden; der Halbwilde zum Barbaren. Er betritt eine höhere Stufe der Himmelsleiter. Die Keime von Staat, Kunst und Religion, im Leben der Halbwilden schwächlich aufgesprossen, gewinnen unter barbarischen Völkern festere Formen. Aber die Einbildungskraft überwuchert noch den halbentwickelten Verstand und mehr noch die Vernunft. Maaslos in Liebe und Haß und in allen Begierden, schweift der Barbar, gereizt von ihnen, vom Aeußersten zum Aeußersten. Er kennt keine Mittelbahn. Nur Außerordentliches, Riesenhaftes, Uebermenschliches ist seiner Bewunderung werth. Da paaren sich Rohheit und Zartgefühl, Grausamkeit und Edelmuth, Freiheitsstvlz und Knechtsgeist, .Ueppigkeit und Weltentsagung. Der Barbarenstaat hat nur Leib- 179 eigene und Bevorrechtete; Erbadel und Priesterthum; despotische Göttersöhne oder die Gottheit selber auf dem Thron, von Altar- dienern umgeben. Im Wesen der Majestät wohnt ihm Ueberna- türliches; die Religion wird entweder schwärmerische Andacht und Wundersucht, oder trockene Werkheiligkeit. Es fordert der B«rh dem Frieden prunkvolle Feste, glänzende Spiele, alle W des Lebens ab; dem Kriege hinwieder Riesenthaten theuer. Er vergöttert die Geliebte, kämpft und Ruhm ihrer Schönheit, und verwandelt sie in d^j vin seiner hausherrlichen Hoheit. Unter dem Walten der Fantasie und^ kindliche Augenlust am bunten Glanz nist! Verhaften und Gigantischen, allgenm Kein Lebensalter der Nationen gewogner, als das ihrer Bg Bildnerei, Dichtung und Da steigt das Alterthum gen; von dorther strahjj wo die Götter noch auf Erden wandelt^ Barbaren Heroen ger Ehrfurcht, vom Geblüt der 180 Schauspielhäuser und Rednerbühnen ertönen von Tugenden; aber man verlacht im Stillen den, der ihnen Rang, Vermögen und Lebensfreuden hinopfert, ohne stattlichen Ersatz. Ein Mensch ist zwar nicht mehr Leibeigener des andern, aber des Staates. Er srd mit dem Boden seines Landstrichs verkauft, vertauscht und bt. Der Staat selbst ist kunstreich gebaut, aber ohne Einfalt; rspruchvolles Flickwerk von Ueberbleibseln roher Vorzeit tgemäßern Stiftungen; ein ritterthümlicher Burgstall nhängseln, worin Glauben, Aberglauben und Un- ausen sten Gesittungsstufe der Menschheit empor, droben! Sie winken den Tieferstehenden; deßwegen verhönt. In ihrer Höhe und dem, was er ist, nicht was xrschaft der heiligen Vernunft j^m verlassenen Natur zurück, h, aber keinen Pöbel mehr, sehe noch Schwache und efühl über Alle. Selbst enossin Hähern Rechts aber die Strafe sregel für andre, wanden plotz- murmelte aumenen RDM N 7, 181 X Kanton Thurgau. i. Dir Kapelle bei Sehwadcrloeh. Ueber einen sanft auf- und abwallenden, fruchtbaren Boden, der hin und wieder zu Hügeln aufschwillt, tritt man zwischen Getreidefeldern, Weinbergen, weiten Obstgärten oder Alleen von Fruchtbäumen, die kleinen Lustwäldern gleichen, in den Kanton Thurgau ein. Man erblickt hier keine Wildnisse, keine Felsenmassen, keine Alpen, das Hochgebirg zeigt seine Gipfel nur aus der Ferne. Dies freundliche Hügelland zählt, wie seine Nächbar- kantone, Schaffhausen und Zürich zur »ebnen Schweiz." Es wohnen im Thurgau, auf dem Flächenraum von etwa 17 Geviertmeilen, gegenwärtig bei 84,000 freie Menschen (zehn Jahre früher zählte man nur wenige über 79,000). Nicht nur Landbau und Viehzucht sind im sichtbaren Fortschritt, sondern Gewerbe aller Art, Handel, Manufakturen und Fabriken verbreiten sich durch Dörfer und Städte zahlreicher und nähren das Wachsthum des allgemeinen Wohlstandes. So war's nicht vor 40, noch nicht vor 30 Jahren. Es ist wahrlich der Mühe werth dies Ländchen und die Seegenskraft der Freiheit zu sehen. Vorzeiten fand man hier armes, vielbedrängtes, von allen Seiten ausgesogenes Unterthanenland der schweizerischen Eidsgenossenschast, unfreier, sklavischer als irgend ein Gebiet und Volk benachbarter Monarchen. Noch vor vier Jahrzehenden war es mit Schmach der Leibeigenschaft bedeckt. Jeder Unterthan hatte seinen Guts- und Leibherrn, dem er den »Fallbatzen», die »Leibhenne" oder andere Kennzeichen der Knechtschaft entrichtete, und nach dem Tode sogar noch das beste Stück Vieh im Stall, das beste Gewand im Kleiderschrank 182 u. s. w. als Erben nehmen ließ. Unehliche Personen waren den regierenden Kantonen eigen und fällig, und wurden auch von diesen beerbt. Man kann sich von dem Wirrwarr der landesherrlichen, gerichts- herrlichen und gutsherrlichen Rechtsame und Befugnisse keine Vorstellung machen, die in bunter Mannigfaltigkeit aus den Tagen des viclbelobten Mittelalters bestanden. Auch ist es in der That nicht mehr der Mühe werth, davon einen deutlichen Begriff zu geben. Es ist genug hier zu sagen, daß die Landeshoheit acht verschiedenen Kantonen der Schweiz zustand, deren jeder, der Reihe nach, alle zwei Jahre einen Landvogt schickte, welcher oft seine einträgliche Stelle mit 8 bis 10,000 Gulden erkauft hatte. Man denke sich dazu, daß außerdem noch zwei und siebenzig Guts- und Gerichtsherrschaften von Privatpersonen, Städten und 18 Klöstern Rechtsame übten, Vortheile forderten. Wie konnte das arme Volk genesen in dem Chaos überall ungleicher Gesetze, Ordnungen, Uebungen und geldlüsterner Beamten? Noch sieht man, geht man durch das aufblühende Land, als Denkmal jener Tage, baufällige, unansehnliche Städtlein, in denen sich stattliche Gebäude jüngerer Zeiten erheben; große Dorfschaften voller elenden Hütten, zwischen welchen Fabriken und zierlichere Wohnungen der Landleute aufsteigen. So wird sich niemand wundern, wenn ein großer Theil von der Bevölkerung der Schweiz, oder vielmehr wenn alle Unterthanen der Schweiz, welche man damals, wie zum Spott „freie Schweizer" nannte, beim Beginn der schweizerischen Staatsumwälzung schlechte Neigung bewiesen, ihre gnädigen Herrn und Obern zu vertheidigen. Auch im Thurgau traten die Abgeordneten des ganzen Landes im Jahr 1798 im Marktflecken Weinfelden zusammen und verlangten von den regierenden acht Kantonen Freiheit und Unabhängigkeit. Sie war nicht zu verweigern. Der Thurgau ward ein selbstständiger Freistaat; aber seit 1814 in unbehaglicher fast aristokratischer Form. Daher traten im Jahr 1830 die Bürger des Landes abermahls in Weinfelden zusammen, (ihrer einige Tausend waren da erschienen) und baten ihre mit- bürgerliche Obrigkeit um Verbesserung der Landesgrundgesetze, — eine Bitte, die sich nicht abschlagen ließ. Die Natur hat das Land reich ausgestattet. Das Volk, gernthätig und in seiner Thätigkeit itzt unbeengt, erweitert alljährlich den eignen Wohlstand. Der Staat selbst ist nur dürftig ausgestattet. Mit einer Summe von etwa 100,000 fl. die er vom Salz- und Post-Stempel, Zollwesen und andern wenigen indirekten 183 Abgaben jährlich bezieht, muß er die gesammten Bedürfnisse seiner Haushaltung beftreiten. Auch betragen daneben die Kirchen- Schul- und Armengüter weit über eine Million Gulden Kapital. Dem ungeachtet ist kein Mangel an guter Ordnung und Landeszucht; an Verbesserung der öffentlichen Anstalten, besonders der Schulen, an wohl unterhaltenen Landstraßen, Brückeü u. s. w. In wohlor- ganistrten Staaten macht Noth erfinderischer und weiser, als die eingeübtefte Staatsklugheit, und führt und- treibt der Mangel zum öffentlichen Reichthum durch wohlberechnete Sparsamkeit. Der Hauptort der Republik, Franenfeld genannt, ist noch ein unbedeutendes Städtchen, von ungefähr 2000 Seelen belebt; ohne klassische Erinnerungen, ohne besondere Sehenswürdigkeiten, ohne Namen irgend eines berühmten Bürgers, obgleich hier im alterthümlichen Schlosse der dreihundertjährige Sitz der eidsgenös- sischen Vögte gewesen ist. Die Gewerbsherrn und reichen Gnter- besitzer wohnen zerstreut im Lande auf ihrem Eigenthum; unter ihnen sehr ausgezeichnete Personen, wie der edle Joseph'von Laß- berg in seinem Schlosse zuEppishausen, derfleißige Sammler und Herausgeber der frühesten Denkmäler altdeutscher Dichtkunst; — oder auf anmuthsvoller Höhe des Armenberges, in der Nähe von Konstanz, in ihrem heitern Schlosse den Stürmen der Welt entronnen, die Gräfin von St. Leu, Napoleons Stieftochter, einst Hollands Königin, in edler Mäße, wohlthuend und verehrt. Ihr geistvoller und liebenswürdiger Sohn, Prinz Louis, vergißt da, im Umgang mit den Musen, das glänzende und gefährliche Loos, welches durch seine Geburt ihm einst bestimmt zu seyn schien. Der Prinz ist Republikaner geworden, und der Bürger des freien Thur- gaus steht unabhängiger, als er je im königlichen Paüast, und harmloser unter dem Himmel der Alpen, als er je unter der Pracht eines Thronhimmels gestanden seyn würde. Auch an klassischen Stellen, deren sonst der Schweizerboden so reich ist, leidet der Thurgau Mangel; doch nicht gänzlichen. Denn auch er zeigt eine von den Wahlstätten der letzten acht Freiheitsschlachten der Eidsgenossen, durch welche sie im sogenannten Schwabenkriege Unabhängigkeit errangen. Die Heerschaaren Kaiser Maximilians I., die Macht des schwäbischen Bundes und des Adels umspannte damahls in weitem Bogen das Land der Eidsgenossen von den Engpässen Tyrols bis zu den Ebnen des Elsasses. Die Streitkräfte der Schweizer auf einer Linie von mehr denn 60 Stunden Weges zerstreut, waren überall schwach. — In Konstanz lag zahlreiches Kriegsvolk, zu Fuß 184 und Roß aus Deutschland versammelt, um von da aus, durch den Thurgau ins Innere der Schweiz vorzudringen. Es war im April des Jahres 1499, als diese Heerabtheilung, 10,000 Mann stark, aufbrach; mit vielen Feldschlangen ausgerüstet, und von einer Menge Wagen begleitet, die Beute fortzuführen. Sie zog längs dem Ufer des Bodensees bis zum Marktflecken Ermatingen, wo die Schweizer eine Besatzung gelassen hatten. Diese ward niedergemacht oder auseinander gesprengt; der Ort geplündert und eingeäschert, rings die Landschaft verheert. Der nächste Wacht- haufen der Schweizer, meistens Luzerner, befand sich bei einem Gehölz, genannt das Schwaderloch. Hieher, wo itzt auf der Gebirgshöhe ein Bauerhof steht, und am Bärenrain eine Kapelle im Schatten ihrer alten Linde, kamen die zerstreuten Flüchtlinge und baten um Beistand. Sogleich ward das Feuerzeichen der Hvch- wacht gegeben, und die aufsteigende Rauchsäule verkündete den benachbarten Gegenden die Stelle der Gefahr. Noch waren auf dieser erst fünfzehnhundert Mann versammelt, als die feindliche Macht schon an den Berghalden heraufzog, aber so zerstreut und verworren und so sorglos, daß es den Eidsgenossen leicht schien, ein überraschendes Wagstück auszuführen. Sie schickten ohngefähr 500 Mann aus, die Engpässe im Rücken des Feindes zu besetzen. Die übrigen gingen dann in tiefer Stille auf Fußwegen des Waldes vor, bis sie, in der Nähe des Feindes, den ihnen vor- theilhaftesten Ort und Augenblick zum Angriff ersahen. Hier ordneten, hier schaarten sie sich, und stürzten mit Ungestümm gegen die Massen des feindlichen Fußvolks, welches ohne Ordnung und Vorsicht bergauf zog und nun die Reiterei zum Beistand rief. Dieser war es unmöglich, auf Bergpfaden und in Gebüschen Bewegungen auszuführen. Sie rief die Geschützmeister schleunigst aus den Feldschlangen zu feuern. Allein die Stücke waren mit Beute und Gepäck so beladen, daß sie nicht im Augenblick Dienst verrichten konnten. Die Schweizer waren indessen schon im Handgemenge mit dem Fußvolk, und gestatteten demselben nicht Zeit, sich in Reih und Glied aufzustellen. Vom Kampf erschreckt, nahmen die Wagenführer mit dem Feldgepäck die Flucht; das Fußvolk in hülfloser Unordnung folgte bald dem Beispiel derselben; dann wandten sich auch die Reiter. Als die verworrenen Mengen gegen die Engpässe gelangt waren, fanden sie diese verrammelt, sich vom Hinterhalt der Schweizer angegriffen; alle Auswege von den eigenen Packwagen gesperrt. Es entstand fürchterliches Gemetzel. Jeder floh wie er konnte, nach Konstanz zu; die Schlachthaufen der Schweizer 185 nach, so daß auch bei der Stadt selbst die Flucht nicht endete, und Viele im See das Leben verloren, die sich durch Schwimmen zu retten suchten. Nach dieser Niederlage wurden beim schwäbischen Bundesheer bei 2000 Mann vermißt. Die meisten Feldschlangen, alles Feldgepäck, alle Beute war von den Schweizern erobert, die mit geringem Verlust auf ihren gewöhnlichen Posten zurückkehrten. So erzählt den Schlachttag von Schwaderloch einer der Feldobersten des schwäbischen Bundes selbst, Bilibald Pirkheimer. Seine Geschichte des Schwabenkriegs, oder wie er ihn nennt, des Schweizerkriegs, ist ein eben so naives als treues Gemälde von damaliger Kriegführung und Sitte. Ich bebe nur einen Zug aus, der heutiges Tags jedem Feldherrn und Diplomaten ein Lächeln abgewinnen kann. Man schickte sich von Heer zu Heer keine Parlamentairs oder Herolde zu, sondern beauftragte mit den Depeschen alte Weiber, Frauen und Mädchen. Als Kaiser Maximilian aus den Niederlanden nach Konstanz zum Heer gekommen war, sandten ihm die Schweizer aus ihrem Lager einen Brief mit Friedensanträgen. Das Mädchen, welches das Schreiben überbracht hatte, stand im kaiserlichen Vorzimmer und wartete auf Antwort, der Feldoberst Pirkheimer befand sich ebenfalls daselbst. »Was treiben die Schweizer da droben in ihrem Lager?» fragte einer der Trabanten die Botin. — Ihr sehts ja, antwortete diese, sie erwarten Euch. »Wie stark sind sie wohl?» — Genug, um Euch noch einmahl zu schlagen. «Sprich auf der Stelle, wieviel sind ihrer?" — Ei nun, ihr hättet sie wohl vor den Thoren dieser Stadt zählen können, wenn ihr Euch auf der Flucht von Schwaderloch nur ein einzigesmahl würdet umgesehen haben. „Was? haben denn die Leute auf dem Berg droben zu leben?» — Sonst wären sie ja schon gestorben. Pirkheimer und alle Anwesende lachten bei diesen Bescheiden laut auf. Aber den Frager ärgerten die Erwiederungen, welche die Lacher auf die Seite der jungen Schweizerin brachten. Er legte die Hand an's Schwerd und drohte ihr den Kopf zu spalten. Sie lächelte ihn ruhig an, und sagte: »Mann, du bist mir ein rechter Held, der einem schwachen Mädchen mit dem Schwerd droht! Warum stürmst du damit nicht lieber gegen den Posten der Schweizer an? Gelt, da antwortet dir, statt der Mädchenlippe, die Eisenzunge eines Mannes.« ir i, 186 Der biedre Pirkheimer gab, am Schluß seiner Kriegsgeschichte den damaligen Schweizern folgendes Zeugniß: „Sie nahmen den Ruhm standhafter Tapferkeit und gediegener Kriegskenntniß mit sich, da ste nie tollkühn und unbesonnen ein Unternehmen wagten, sondern in allen Dingen ihrem Muthe sehr viel, dem Glücke aber sehr wenig zutrauten; vorzüglich auch, weil sie dem Kriegsbefehl ihrer Anführer unbedingt gehorchten, und somit kein Rathschlag ohne That, und keine That ohne Rathschlag blieb." r Das Schloss Gottliebrn rm Thurgau. Vielleicht ist nur wenigen Anschauern dieser Bilder das Städtchen Gottlieben bekannt. Es liegt ganz in der Nähe von Konstanz, an dessen Seeufern. Kaum aus einem halben Hundert Wohnhäusern besteht es, über welche zween uralte, »streckte, mit eingedrückten Spitzdächern behütete Thürme vortreten. Diese Thürme gehören, wie man ihrer breiten, festen, schmucklosen Form, ihren regellos angebrachten Fenstern schon ansieht, zu einem Schlosse, welches mit seinen in verschiedenen Zeitaltern angeflickten Zugaben ein räthselhaftes unfreundliches Ansehen hat. Es gleicht einem in sich verschlossenen, mürrischen Alten, der unter Leidenschaften ergraut , von Jahren niedergedrückt, aber keineswegs geschwächt ist; der seine Jugendfreunde und Verwandte längst im Grabe weiß, aber inmitten einer ihm fremden Generation noch keineswegs Lust zeigt, den Platz in dieser Welt zu verlassen. Lord Byron besang die aus dem Genfersee hervorfteigenden Kerkermauern des Schlosses Chillon, die itzt den Dienst eines waatländischen Pulvermagazins verrichten. Würde der britische Dichter die finstern Burgthürme von Gottlieben gekannt haben, welche ihr wunderliches Gebilde im Bodensee spiegeln, ich wette, das düstere Feuer seiner Fantasie würde sich hier an grauenvollern Erinnerungen entzündet haben. Denn dies Schloß mit dem frommen Namen hielt vorzeiten in seinen Kerkermauern, eins ums andere, die Zierden und Schanden der Menschheit gefangen, deren Andenken länger als der Steinhaufen dauern wird, welcher ihre Seufzer empfing. Aus den Pforten dieser Burg ging Papst Johann XXIII. Lk :s^vs S'L:övl-,DSK M 187 in das Elend des Lebens; Johann Huß und Hieronymus von Prag zum Scheiterhaufen und Felix Hemmerlin, der gelehrteste, vielleicht edelsinnigste Mann des Schweizerlandes seiner Zeit, ward hier das Opfer seines Tugendmuthes. Wem wäre unbekannt, daß Huß, gesichert durch einen kaiserlichen Geleitsbrief und durch Verheißung päpstlichen Schutzes, aus Böhmen nach Constanz reisete, um vor der allergrößten und glänzendsten Kirchenversammlung, welche je in der abendländischen Christenheit gesehn worden war, seine Lehre zu vertheidigen? Wem wäre unbekannt, daß weder Pabst Johann XXHI., noch Kaiser Siegmund dem armen Professor der Theologie Treu und Glauben hielten? — Er ward in die felsenfesten Kerker von Gottlieben geschleppt. Aber felsenfest blieb auch hier sein Glaube und Muth. Und dieser wich von ihm nicht, als er (6. Juli 1415) vor dem Kaiser und der ganzen Kirchenversammlung das Todesurtheil hören mußte; als er, die papiernc, mit vier Teufeln bemalte Mütze auf dem Kopf, vom Kurfürsten von der Pfalz dem weltlichen Gericht überantwortet wurde, und er, unter Bedeckung von 800 Mann, erst vor den bischöflichen Pallast geführt wurde, um die Verbrennung seiner Schriften durch Henkershand anzusehn; dann von da zum Scheiterhaufen. Nur sein treuer Freund Hieronymus von Prag hatte noch gehofft, ihn durch Flucht aus der Gewalt einer blutdürstigen Priesterschaft zu retten; hatte sich verkleidet in die Stadt geschlichen; aber zu spät. Er erfuhr, wie streng der Märtyrer der Wahrheit im Kerker von Gottlieben bewacht sey; hörte sogar, daß seine eigne Ankunft in Constanz verrathen sey. Er floh in Eil davon, ohne in die Herberge zurückzukehren, wo er Degen und Reisebündel zurückließ. Aber er ward eingefangen, in Fesseln nach Constanz gebracht; von da, wie Huß, ins Burgverließ von Gottlieben, dann, wie Huß, zum Scheiterhaufen. Er setzte sich selber die Papiermütze mit Teufeln aufs Haupt, nachdem er seinen Hut unter den Haufen der umherstehenden Bischöfe und Prälaten geschleudert hatte. Er ging den Todesgang (30. Mai 1416) voller Heiterkeit, und sang mit lauter Stimme den Triumpfgesang seines Glaubens. Er warf sich auf die heilige Stätte betend nieder, wo, elf Monate vor ihm, sein Freund den Heldengeist aufgegeben hatte. Dann, als der Holzstoß um ihn aufgethürmt stand, und die Henkersknechte hinter ihm anzündeten, rief er: »Hier vorn zündet an, vor meinen Augen! Hätt' ich das Feuer gefürchtet, ich stände nicht auf diesem Platz!" — Da schlugen die Flammen über ihn 188 zusammen; und unter dem Flammengewölbe stimmte er von neuem einen Lobgesang an. Aus der Asche dieser Märtyrer erwuchs der vielzweigige Stamm der großen Kirchenreform des sechzehnten Jahrhunderts, wie einst aus dem Senfkorn des Evangeliums die Verklärung des menschlichen Geschlechts in folgenden Jahrtausenden; oder aus dem Blute des verfolgten Christenthums, dessen Weltherrschaft. Aber alle Zeitalter haben ihre Pharaonen gehabt, welche gegen das Göttliche durch materielle Mittel zu siegen wähnten, und aufstrebenden Meinungen und Ueberzeugungen mit Kerker und Kette, Schwert und Flamme begegneten. Sie beschleunigten die Ueberschwemmungen eines Stromes, dessen Gewalt sie nicht erkannt hatten, und dessen Lauf sie mit Dämmen zurücksperren wollten. Pabst Johann XXIII., welcher den Bekenner Huß in die Kerker Gottliebens hatte führen lassen, befand sich bald (3. Juni 1415) selbst, als Gefangner der Kirchenversammlung, mit ihm unter gleichem Dache. Ein neapolitanischer Edelmann, Namens Balthasar Cossa, verschanzt und verwegen, gewaltthätig und grausam, hatte lange Zeit auf den Meeren das Gewerbe eines Corsaren getrieben. Des wechselnden und gefährlichen Looses der Seeräuberei müde, oder dem Rächerarm der Justiz zu entkommen, floh er in ein Kloster. Da sah er in der Kirche bequemern Weg zu Reichthum, Gewalt und Ruhm. Des Seeräubers gewissenloses Talent, in den Glanz scheinheiliger Tugend verschleiert, wußte bald die Stufenleiter der Hierarchie zu ersteigen. Ein Mann, wie dieser, war dem römischen Hofe jener Tage brauchbar. Cossa ward mit dem Purpur der Kardinäle bekleidet, und als Legat des heiligen Stuhls nach Bologna versetzt. Gemächlicher und sichrer, denn ehemals auf dem Kvrsarenschiff, füllte er da seine Kisten mit Gold, welches er, im rechten Augenblick, wieder zu verschwenden und zu spenden verstand, als Alexander V., der Oberhirt der europäischen Christenheit gestorben war. Er gewann, als Nachfolger desselben, die dreifache Krone, und nannte sich Pabst Johann XXIII. Aber der heilige Vater verläugnete auch auf dem Throne den Charakter des Corsaren nicht. Er bereicherte seine Schatzkammer mit Gelderpressungen, und trieb öffentlichen Handel mit Prälaturen, Bischöfsmützen, Reliquien und Sacramenten. Am Altar glich er einem rohen Cavalier; nur an der schwelgerischen Tafel einem gaum- seeligen Mönch. Er vergeudete die Kirchengüter für seine Wollüste. Weder Unschuld der Jungfraun, noch Keuschheit der Gattinnen 18 S war vor seinen Begierden geschirmt, die selbst im Nonnenkloster ein Harem fanden. Ich will das wüste Bild dieses Mannes nicht vollenden, wie es in der Anklage vor den frommen Kirchenvatern zu Constanz entworfen ist. Es ging sogar das Gerücht, er habe seinen Vorfahren auf dem heiligen Stuhl durch Gift aus dem Wege geräumt. Als er mit Pomp und Geräusch zur Kirchenversammlung reisete und Konstanz erblickte, regte sich in ihm leichte Gewissensangst. »Ich sehe wohl, hier steht eine Fuchsfalle!" sagte er zu seinen Begleitern. Er hatte es errathen. Die heilige Versammlung wollt' ihn zur Niederlegung seiner entweihten Würde nöthigen. Er aber entwischte aus der Stadt in gemeiner Reitertracht, während eben ein prachtvolles Turnier gehalten wurde. Auf einem Fischerboot, das bereit lag, schwamm der päpstliche Abentheurer den See und den Rhein abwärts nach Schaffhausen; von da nach Laufenburg und Freiburg im Breisgau. Hier eingefangen, ward er nach Constanz geführt und der päpstlichen Hoheit entkleidet, in das Schloß Gottlieben gesperrt. Etwa vierzig Jahre später schleppte der Fanatismus den edlen Felir Hemmerlin von Zürich dahin (Februar 1454). Dieser tugendhafte Gelehrte hatte sich keines Verbrechens schuldig gemacht. Aber in zorniger Verzweiflung über die endlosen Entzweiungen, Bürgerkriege und Laster der Zeitgenossen glaubte er an kein Heil der Schweiz mehr, als in der Ausrottung Aller. Empört über die Sittenlosigkeit der damaligen Geistlichen, entlarvte er deren Heuchelei und ergoß sich sein bittrer Witz über die Unzucht der Nonnen und Mönche. Darum mußte er vier Monden lang im Thurm von Gottlieben,' neben einem aussätzigen Mörder, in Ketten liegen. Darum ward er seiner Stellen und Würden beraubt. Die Beischläferinnen des Bischofs von Konstanz konnten ihm nicht verzeihen; und er, der lebenslang die Wahrheit gelehrt, für sie soviel erlitten hatte, selbst schon einmal auf offener Landstraße von gedungnen Meuchelmördern verwundet worden war, konnte nicht widerrufen. Darum ward er, von Gottlieben aus, seinen heftigsten Feinden, den Barfüßern in Luzern, zur härtesten Behandlung übergeben. Und sie erfüllten das Werk der Rache und Qual, als furchtbare Meister in dieser Kunst. „Schön sind die Tage bei Morgarten, bei Laupen, bei Sem- pach, bei Murten," sagt Johannes Müller, wenn er vom Meister Felir Hemmerlin redet: „Viele sind in schweizerischen Jahrbüchern der schönen Tage in Frieden und Krieg: aber, das wisse die 190 Schweiz, jeder Fürst, jedes Volk, daß Unterdrückung eines gerechtenManneseinFleck in allen Geschicht- büchern ist!" Heutiges Tages haben sich die Gemächer des alten Schlosses von Gottlieben in gefällige Wohnzimmer einer Bürgerfamilie verwandelt. Die Burg ist Eigenthum des Herrn Rittmeisters Hippemeier. Seiner und seiner Gattin Bekanntschaft dank' ich die Kenntniß einer wunderbaren, unerklärlichen Erscheinung in der Natur, die wohl der Besprechung würdiger ist, als alle Barbarei der Vorwelt. Des wackern Rittmeisters Gemahlin nämlich war, schon von Kindheit an, Rhabdomantin, das heißt, sie empfing vom Daseyn unterirdischer Gewässer, Metalle, Salze, Steinkohlen und andrer Fossile Kenntniß durch körperliche Empfindungen; durch krampfhafte Bewegung in einzelnen Muskeln; durch entstehende Kälte oder Wärme, oder Feuchtwerdung einzelner Theile des Körpers; durch Bangigkeit, oder Schwindel, oder plötzliches Erscheinen eines Geschmacks auf der Zunge. Am längsten beobachtete sie Hr. Ebel in Zürich. Der achtbare Beschreiber des Baues der Erde, des Alpengebirgs und der Schweiz zeichnete seine Bemerkungen und Erfahrungen sorgsam auf. Mir ist unbekannt, welches Schicksal sein schriftlicher Nachlaß gehabt hat. Aber gewiß sind die Wirkungen unterirdischer Minerale und Flüssigkeiten, welche Ritter und Amoretti an dem jungen italienischen Landmann Campetti vor einigen Jahrzehenden beobachteten, nicht außerordentlicher, als die Gefühlserscheinungen der jetzigen Eigenthümerin vom Schlosse Gottlieben. Ich lernte sie als blühende Jungfrau kennen. In Fülle und Frische der Gesundheit zeigte sie nichts weniger, denn kränkliche Reizbarkeit und Nervenschwäche. Sie bedurfte keiner Wünschel- ruthe. Die Natur der Unterwelt, ich weiß nicht bis z» welcher Tiefe, verkündete sich in ihrer Empfindung. Ich führte sie durch ihr völlig unbekannte Juragegenden, in welchen keine äußere Spuren den mir schon bekannten Inhalt des Gebirgs verrathen konnten. Sie bezeichnete mir die Stellen großer Ablagerungen von Bohnerz mit eben so vieler Bestimmtheit, als sie den Umfang und das Streichen des Steinkohlenslötzes bei Elgg im Kanton Zürich angegeben hatte. Gypslager bewirkten ihr ein krampfig- tes Zusammenziehen der Halsmuskeln. Steinsalz in der Tiefe erregte ihr den Geschmack desselben auf der Zunge; neben demselben, wie vom Pfeffer, ein Stechen. Letzteres hatte sie schon einmal am Thunersee empfunden, ohne erklären zu können, von 191 welchem Fossil es bewirkt sey. Als ich, um dieß zu erforschen, verschiedne in Papier verhüllte Mineralien ihr nachmals unmittelbar unter die Fußsohlen gelegt hatte, empfand sie dieß Stechen bei einem beträchtlichen Stück Anhydrit. Es ist bekannt, daß das Steinsalz von diesem wasserfreien Gyps begleitet zu seyn pflegt. Mein größtes Erstaunen aber verursachte sie dadurch, daß selbst einzelne Sterne des Himmels, — sie nannte mir Venus, Jupiter und den Polarstern, — auf ihre Empfindungen einwirken sollten. In abendlicher Finsterniß und dichtem Nebel war ich einst mit ihr und ihrem Gemahl zur gastfreien Wohnung eines Landpfarrers im Aargau gekommen. Das Gespräch wandte sich, nach dem fröhlichen Nachtessen, auf ihr Sterngefühl. Des Nebels wegen ließ sich die Stelle keines Sterns am Himmel ausmitteln, als, mit Beihülfe der Magnetnadel, die des Polarsterns. Der Pfarrer brachte, ohne ihr Vermissen, um mich zu orientiren, die Bussole, während ich der wunderbaren Fühlerin ihren Merinv- shawl um den Kopf wand und in einen Knoten schürzte. Nachdem ich sie lange genug im Zimmer nach aller Richtung umhergeführt und mehrmals um sich selbst gedreht hatte, blieb sie stehn, hob den rechten Arm himmelwärts mit vorgestrecktem Zeigefinger, und wandte sich, die Hand, als suche sie am Himmel, auf- und niederbewegend, langsam herum nach jeder Gegend des Horizonts. Plötzlich ging ein Zucken vom Zeigefinger durch den aufwärts gehobnen Arm. »Dort!" sprach sie, und zeigte auf Norden und die dortige Höhe des Polarsterns. Sie wiederholte später nachher bei mir, in einer Abendgesellschaft, denselben Versuch mit demselben Erfolg. Aber ich schweige, um mich nicht dem Verdacht von Aberglauben oder getäuschtem Leichtglauben ganz und gar Preis zu geben. 1SL XI Kanton Schaffhausen. i. Der NheinkaU. Nein, den mächtigsten, den prachtreichsten Wasserfall von Europa, den tausendmal beschriebnen und besungenen, will ich hier nicht wieder beschreiben mit seinen Donnern, von denen die benachbarten Felsen erdröhnen, und stundenweite Fernen in nächtlicher Stille den Nachhall vernehmen; mit seinen Regenbogen, die in grauen Wolken aufwirbelnden Wasserftaubes über dem Brodeln der Wogen blitzen; mit seinen malerischen Einfassungen, die rußige Hammerschmiede links, den alterthümlichen Schloßthurm im Wörth rechts, und die Burg Laufen drüben auf dem Felshügel. Wer dieß gigantische Naturspiel nicht selber sah, kennt es wenigstens aus zahllos davon gegebnen Abbildungen, ohngefähr so gut oder schlecht, wie man einen Unbekannten aus dessen schwarzen Schattenrissen, hinter Glas und Rahm, erkennt. Man muß dabei nur die Gefälligkeit der Einbildungskraft um Nachhülfe bitten, daß die silbernen und blau- grünen Wellenstreifen des Rheins in ewiger Beweglichkeit wechseln, und der wolkige Wogensturz der sechszig bis achtzig Schuh tief fallenden Wassermasse nicht, wie gefroren, behängen bleibe, in unwandelbarer Gestaltung. Die Nebenbuhler unsers Rheinfalls, die Catarakten des Niagarastroms an Kanada's Gränzen, des Bogota in Colom- bien, des Pyrl in den indischen Rajemahalgebirgen, mögen ihn an Größe, nicht aber an Ruhm übertreffen. Indessen dieser Ruhm ist auch noch nicht alt. Es scheint fast, die welterobernden Römer kannten den Rheinfall gar nicht; denn keiner ihrer Schrift» 193 steller spricht von ihm. Und doch kundschafteten die Römer auf ihren Feldzügen jedes Land mit Sorgfalt aus; freilich nur in militärischer Hinsicht. Dazu war der Rheinfall ihnen wahrscheinlich ohne Wichtigkeit. Landschaftliche Naturschönheiten hatten überhaupt, scheint es, keinen besondern Reiz für sie; wenigstens ließen sie sich, selbst ihre Dichter, selten in Beschreibungen derselben ein. Vielleicht aber war auch der Rheinfall noch nicht vorhanden. Daß dieser Strom einst, bevor er durch den Bodensee ging, den Weg durch den Wallen- und Zürichsee in das Aarebett genommen habe, ist kaum zu bezweifeln. Der venetische und akro- nische See des Alterthums (wie sonst der Bodensee hieß) hatte damals also keinen andern Abfluß von Gewässern, als von denen, welche ihm durch einzelne Bäche der schwäbischen und schweizerischen Seite zugeführt worden waren. Dieser Abfluß war unbedeutend; ward mithin nicht beachtet, zumal wenn die jetzige Felswand, über welche das Wasser niederstürzt, noch nicht durch den Wogen- fall hervorgewühlt war. In Schaffhausen unter der Brücke, also eine halbe Stunde vvm Rheinfall entfernt, ist die Oberfläche des Flusses um achtzig Fuß höher, als die Fläche desselben unterhalb dem Rheinfall. Das Wasser konnte daher zwischen den Felsenufern den Weg lange Zeit ohne Geräusch zurücklegen. Anders aber ward es, als der Rhein endlich seinen Lauf gegen den Bodensee durchbrochen hatte, und er die Fülle seines ganzen Wasser- schatzes in denselben ergoß, die er von 150 Gletschern und zahllosen Waldftrömen und Gießbächen des rhätischen Gebirgs empfängt. Dieß war freilich schon zur Zeit der Römer der Fall. Allein vielleicht gehörte noch ein Jahrtausend dazu und mehr, um die allmählige, schräge Verflächung des Flußes so auszuwählen, daß unter den Felsen von Laufen ein senkrechter Wogensturz von 70 — 80 Fuß entstand. Wahrscheinlich bohrt er sein Becken fort und fort tiefer. Wenigstens füllt er dasselbe nicht mit Geschieben aus. Denn was der Rhein von Schutt und Schlamm aus den Gebirgen und Thälern Graubündens fortreißt, setzt er im Bette des Bodensees ab. Dafür ist in diesem noch Platz genug, weil er nicht nur einen Raum von zehn Geviertmeilen einnimmt, sondern stellenweis, wie z. B. zwischen Lindau und Bregenz eine Tiefe von 2300 Fuß, also eine größere hat, als die Nordsee und das baltische Meer. Wie würde der alte Ammian Marcellin erstaunen, wenn er heut die Gestade des Bodensees oder des Bri- gantinischen Sees, wie er ihn nennt, mit Städten, Dörfern, 13 194 Fruchtfeldern und Gärten umkränzt erblicken könnte. Zu seiner Zeit, also im dritten Jahrhundert, starrten diese Ufer noch von wüsten dichten Waldungen, durch welche Rom blos eine Militärstraße gebahnt hatte. So mag der Rheinfall bei Schaffhausen ein Gebilde späterer Zeit seyn, von welchem die Römerzeit nichts kannte, wie hinwieder der Niagara fall in Nordamerika wahrscheinlich nach tausend Jahren auf einer ganz andern Stelle gesucht werden muß, als heutigen Tages. Denn nach neuen Beobachtungen rückt derselbe, durch fortwachsende Anhäufungen des Schutts und Geschiebes, immer mehr dem Ontario-See entgegen. Aus Strichen und Zeichen, die man im Felsen dicht neben dem großen Fall angebracht hat, ersieht man, daß der Wogensturz in den letzten 25 Jahren um 19 Fuß 7 Zoll vorgerückt ist. Ursprünglich mag er in der Nähe des Erie-Sees gewesen seyn. Es ist in unsern Tagen nichts Seltnes, das Schöne dem Nützlichen aufgeopfert zu sehen. Selbst die Pracht des Rheinfalls zu zerstören, kam jemand auf den Einfall, vorzuschlagen, damit man stromabwärts schiffen könne. Der Entwurf ging von einem Tausend- künstler aus, der auch sogar Gletscher, mit darüber zu streuendem Kohlenstaub, wegzuschaffen hoffte, wo sie den Nachbaren lästig wären. — Zum Glück blieb das Colossale an diesen Gedanken ihr Bestes. Man ließ dem Rheinfall sein schönes Spiel, und den Gletschern ihre Ewigkeit. 2 . öchakshausen. Unstreitig dankt dem Rheinfall auch die Schweizerstadt Schaffhausen ihren Ursprung. Sie trägt Schnitt und Form einer ehemaligen, kleinen Reichsstadt. Wegen des Wassersturzes beim Felsen von Laufen wurden hier die vom Bodensee kommenden Waaren in alter Zeit umgeladen. Man nannte den Ort von den Magazinen und Wohnungen der Schiffer Scaphhusen, Schaffhausen, (Schiffhausen). Das Gewerb der Schiffer und der Waarenverkehr verwandelte den Ort zu einem Flecken mit Jahrmärkten. Adel wohnte auf den Schlössern des Hegau's nnd Klettgau's in der Nähe. Bald kam auch eine Abtei aller Heiligen dazu (im Jahr 1052) *1 Horrors silvarum »gunloutium. Lmm. MarevII. XV, 4. « 4 k ^ M . ch O 195 und dreißig Jahre später ein Agnesenkloster. Im dreizehnten Jahrhundert umgürtete sich der Flecken mit Ringmauern und ward eine Stadt, und sogar eine Reichsstadt, deren rührige Bürger Wirren und Fehden des Mittelalters zu benutzen verstanden. Sie machten sich nach und nach von der Oberherrlichkeit der Abtei, nach und nach von den Lasten des Reichs los; erweiterten, durch Kauf vom verarmenden Adel, ihr Gebiet bis zu einer Größe von acht Geviertmeilen und traten endlich mit diesem (im Jahr 1501) in den Bund der Eidsgenossen. Das Städtchen mit seinen 7000 Einwohnern, seinen Ringmauern, alten Thürmen und bemalten Häusern wird seine mittel- alterische Physiognomie sobald nicht verlieren, welche besonders durch eine Art Burgfeste, auf dem Hügel an der Ringmauer, etwas Eigenthümliches bekömmt. Es ist schwer zu sagen, wozu dieser weite, runde, aus großen Quadersteinen erbaute Thurm mit seinen achtzehn Schuh dicken Mauern, eigentlich dienen sollte, der doch erst seit 1564 fertig dasteht. Eben so schwer ist mir zu sagen, ob er Münnoth, oder Uunoth, oder Munvth heißt, und warum er so genannt ist? Lassen wir aber das Romantische beiseite. Den Glanz des Klassischen empfing die Stadt von einigen ihrer weitberühmten Bürger; dem herrlichen Bildhauer Trippel und dem großen Geschichtschreiber Johannes Müller. Aber mehr Verdienste hat Schaffhausen nicht um diese Männer, als daß sie da geboren wurden. Der eine lebte und starb in Rom; der andere lebte und starb in Deutschland, auf daß erfüllet würde Matth. 13, 57. Man steht hier an den Schwellen der Schweiz. Aber donnerten nicht die silbern-grünen Wogen der Rheinkatarakte ihren Gruß dem Wandrer entgegen, er würde glauben mitten in Schwaben zu stehen, nicht in der Schweiz. Sprache, Kleidung, Sitte, Menschenschlag, Bauart und Lebensart des Volkes, —> alles ist schwäbisch; aber auch biedermännisches, treuherziges Wesen, Gastfreundlichkeit, etwas Schwerfällig - Gemächliches in Wort und Wandel und eine gewisse Scheu vor allem Aufsehen-Erregen. In den Geschichten der Eidsgenossenschast spielten die Schaffhauser gewöhnlich die Stillen im Lande. Sie giengen mit; halfen aber, und das gereicht ihnen zur Ehre, immer am liebsten zur Ruhe. Sogar in den letzten politischen Bewegungen der Schweiz dauerte die Aufwallung des Kantons Schaffhausen kaum einige Wochen, und Stadt und Landschaft waren wegen ihrer Rechte bald genug mit einander ausgeglichen. Nur in den Bewegungen des stattlichen 13 * 196 Marktfleckens Hallau, der am Fuß eines vom Randenberg flammenden Gebirgszweiges, und im Schoose der fruchtbarsten Gefilde, ruht, regte sich, wie schon in frühern Tagen, heißeres Schweizerblut. Hier hatten auch schon zu Thomas Münzers Tagen, im sechzehnten Jahrhundert, Wiedertäufer ihr wildes, schwärmerisches Spiel getrieben. Ja Thomas Münzer selbst wohnte, aus Deutschland verjagt, in Hallau und dem benachbarten Flecken Schleitheim ein halbes Jahr lang. Auch war's in eben diesem Hallau, wo sich zuerst im Innern der Eidsgenofsenschaft, und zwar schon im Jahre 1790, der erwachte republikanische Geist gegen die sogenannte alte, gute Zeit regte, welche das Zutreffe des Landvolks und des ganzen Staates, neben dem Vortheil der Stadtfamilien, oft genug vergaß. Das rührige Völkchen hier und in der Umgegend wollte schon damals nicht länger die harten Willkuhren und Neckereien beim Bezug der Zehnten und Bodenzinse, noch weniger die eben so gefährliche, als alberne Staatseinrichtung dulden, daß Oberbeamte durchs blinde Loos erwählt wurden. Nur mit Mühe ward ein bewaffneter Aufstand verhindert. — Und wieder war es hier, wo im Jahre 1833 das wachsame Volk seine Obrigkeit an vergessene Pflichten mahnte. Die schaffhauser Regierung hatte nämlich gestattet, daß eine Abtheilung Großherzoglich Badenscher Truppen mit zwei Kanonen durch den Klettgau, über Schweizerboden, nach Konstanz ziehen dürfe, hatte aber vergessen, davon den einheimischen Behörden an den Gränzorten Anzeige mitzutheilen. Als daher eine Abtheilung Badenscher Dragoner unerwartet einrückte, traten plötzlich die Haüauer unter Waffen; die Milizen des ganzen Landes waren schlagfertig. Zwei Offiziere von Hallau begaben sich warnend zum Badenschen Commandanten, und vermogten ihn, das Schweizergebiet zu vermeiden, um Blutvergießen zu verhindern. Die ganze Eidsge- noffenschaft zollte dieser Wachsamkeit der Hallauer Beifall. Es mangelt dem Ländchen, mit seinen zwei und dreißig tausend Einwohnern, nicht an mancherlei Arten des Gewerbsleißes; doch ist der Landbau auf diesem fruchtbaren Boden die Grundlage allgemeinen Wohlstandes; und die neue Staatsordnung, auf politischer Rechtsgleichheit begründet, sichert den Einwohnern zur Entfaltung ihrer materiellen und geistigen Kräfte eine Freiheit, wie sie alle Kantone der Schweiz itzt, außer den altdemokratischen, katholischen Hirtenländern im Hochgebirg, irgend genießen können. Die Staatsverfassung, die wir daher hier nicht näher bezeichnen wollen, hat indessen auch ihre Eigenthümlichkeiten, oder man 197 könnte sagen, Schweizerlichkeiten, welche vielleicht des Ausländers Verwunderung oder Lächeln erregen mögen. Zum Beispiel ist im Kanton Schaffhausen, wie ehemals schon, auch itzt noch den Advokaten die Zulassung bei allen Gerichtstellen untersagt. Aber nicht das Urbild der vollkommensten Verfassung, welches aus dem Geist des größten Denkers hervorgeht, ist immer das beste Grundgesetz jedes Volks; so wenig jedes Kleid, wär es auch der edeln Gestalt eines Antinous angemessen, jedem Menschen gerecht und bequem seyn kann. Wie Herkunft, Schicksal, Gewohnheit, Klima, Beschäftigungsweise und Gemüth den menschlichen Leib gestalten zum Wahrzeichen und Werkzeug der Seele; so gestaltet sich auch der Staat, als des Volkes äußere Form - aus dessen Leben, Oertlichkeit, Denkart und Bedürfniß. 1S8 XII Kantor; Basel. i. St. Jakob. Man komme vom Elsaß oder vom Schwarzwald daher in den Kanton Basel, — die landschaftlichen Gebilde verwandeln sich jählings. Der weiche Zauber des Schönen verschlingt sich seltsam mit majestätischer Wildheit. Die spröde Unfreundlichkeit der Natur ist von der Menschenhand gezähmt. Es begegnen uns andere Bauarten, andere Trachten, andere Sitten- Man steht im Vorhof der Schweiz. Wir sind von großen historischen Erinnerungen umgeben. Ein Kirchlein, ein Siechenhaus, Stiftungen aus den Tagen der Kreuzzüge; einzelne ländliche Wohnungen darum hingebaut mit umhägten Gemüsegärten, — dies Bild der Ruhe, der Einfalt, der Zufriedenheit; es ist St. Jakob, am Strom der Birs, eine Viertelstunde von der Stadt Basel. Diese Gefilde, sind die Ther- mopylen der Schweiz geheißen. Hier war es, wo sich am 26. August 1444 anderthalbtausend Schweizer unerschrocken dem Tode fürs Vaterland weihten, als Karl Vlk. von Frankreich an der Spitze von 60,000 Mann in das Gebiet der Eidsgenossen eindringen wollte. Mit eben so geringer Schaar, mit eben so furchtbarer Entschlossenheit, warf sich ohngefähr zwei tausend Jahr früher der Sparter-König Leonidas dem Perser-Schach Terres für Griechenlands Rettung entgegen, der mit größerer Macht, als Karl Vlk. gekommen war. Aber St. Jakob hatte keine Engpässe, wie die Thermopylen, wo Leonidas focht, links von schroffen Gebirgen, rechts vom Meer und Sumpf geschützt, und auf einem Wege, kaum 100, oft kaum 20 Schuh breit. Wie die Griechen .'lÄ.Wl NWW NAH M-M 199 starben die Schweizer, im blutigen Ehrenfelde. Alle, bis auf wenige Einzelne. — Beide, die Griechen wie die Schweizer, erschütterten mit ihrem Heldentode die Entschlossenheit des übermächtigen Feindes, dessen Sieg einer Niederlage glich, indessen der Untergang der Besiegten ihr ewiger Triumph in den Geschichten des menschlichen Geschlechts geworden ist. Ueber den Gräbern der gefallenen Freiheitskämpfer baute Griechenland dankbar ein Denkmahl; und die Bürgerschaft Basels errichtete, erst in diesem Jahrhundert (1824) ein solches den Eidsgenossen von St. Jakob am Wege zum Schlachtfeld. — Nicht St. Jakob allein in der Nähe Basels, hier an der Schwelle des eidsgenössischen Bodens, auch vhnweit davon die Waldhöhe des Bruderhvtzes und das Feld von Dornach wurden ein halbes Jahrhundert später Zeugen dessen, was Schweizer einst für ihr Vaterland wagten. Ihrer Tausend vernichteten am Bruderholz eine vierfach größere Schaar des Schwabenbundes; und ihrer sechstausend schlugen bei Oornach sechszehntausend Feinde, deren Feldherr Heinrich von Fürstenberg mit 3000 seiner Krieger umkamen. Doch diese Siege werden von dem ruhmreichen Unglück bei St. Jakob noch überstrahlt. Ein eidsgenössischer Schlachthaufe stand belagernd vor der Beste Farnsburg, als Nachricht kam, der Dauphin von Frankreich rücke mit unzählbaren Schaaren an Basel vorüber, ins Schweizerland; er sei kaum noch fünf Stunden Wegs entfernt. Niemand bei Farnsburg erschrack; aber jeden ergriff flammender Zorn gegen die eindringenden Fremdlinge. Während die Hauptleute Kriegsrath hielten, ob man den Feind in den Engpässen des Juragebirgs erwarten, oder ob man Verstärkungen herbeirufen müsse, erhob das gemeine Kriegsvolk wildes Geschrei, man solle nicht zaudern, vorwärts fliegen; schlagen; es gelte des Vaterlands Heil, und wäre des Feindes Macht zehnmal größer. Die Hauptleute wurden überschrien, und waren froh, es wenigstens dahin zu bringen, daß nur etwa 1500 Mann zum Dorfe Prütteln vorangehn sollten, nicht um ein Gefecht anzuheben, sondern nur Stärke und Gang des französischen Heers zu beobachten. Die Fünfzehnhundert zogen fort, im Herzen keineswegs gewillt, den Bedenklichkeiten ihrer Feldhauptleute genüge zu thun. Zween Chorherr» von Basel begegneten unterwegs der fröhlichen kriegerischen Jugend. Sie mahnten, behutsam zu gehen, in der Nähe eines so furchtbaren und überlegenen Heeres. »Nichts da» rief einer 800 der Eidsgenossen: »Es muß gehen, und gehts nich.t, so hab' Gotc unsere Seelen, der Feind unsere Leichen!» In der Morgenfrühe standen sie vor dem Dorfe Pratteln. Dort in den Wiesen hatte sich der französische Marschall Graf von Dammartin mit einigen tausend Mann Fußvolks und Reiterei aufgestellt. Die Schweizer stürzten vor, brachen durch, sprengten den Feind, der mit Hinterlassung einiger hundert Todten, in die Verschanzungen beim Dorfe Muttenz zurückgeworfen ward. Hier stand er bei zwölftausend Mann stark. Die Verschanzungen wurden erstürmt; die Zwölftausend über den Strom der Birs gejagt. Die eidsgenössischen Hauptleute riefen halt! Die Birs sollte nicht überschritten werden; jenseits stand die französische Artillerie: die ganze Armee; voran eine Masse von 8 — 9000 Mann Reiterei. Aber die Birs ward durchwatet und durchschwömmen, nicht ohne Verlust mehrerer Hundert Todten; nicht ohne Unordnung. Alle Feuer- schlünde der Franzosen spien ihren Donner gegen die Schweizer; alle Streithaufen wälzten sich gegen sie an, sie zu erdrücken. Sie wurden von den ungeheuren Massen erdrückt, umringt, vereinzelt, niedergemacht. Vergebens sandte Basel 3000 Mann aus seinen Thoren, sich mit den Eidsgenossen zu verbinden, um sie in die Stadt zu ziehen. Es war zu spät. Der Feind trat zwischen die Eidsgenossen und die 3000, und drohte diese von der Stadt abzuschneiden. Die Schweizer kämpften fort, und fanden siegesmüde über Leichen- hügeln ihrer Feinde hin den Tod. Noch war ihrer ein Häuflein von fünfhundert Tapfern übrig. Der warf sich zu St. Jakob in das Siechenhaus und dessen ummauerten Garten; schlug drei Stürme ab, brach zweimal zum Ausfall hervor. Des Todes und des Ruhmes für's Vaterland gewiß, nahm und gab er keine Gnade. Mann fiel neben Mann durchbohrt. Stückkugeln zermalmten die Gartenmauer; das Siechenhaus brannte. Wer nicht durch Pfeil und Kugel, Schwert und Lanze umkam, starb in den Flammen. Zehn Stunden lang war gestritten worden. Die Leichen von mehr denn tausend Rossen, von achttausend französischen Kriegern, und von andcrthalbtausend Eidsgenossen unter ihnen, bluteten auf dem weiten Wahlplatz. Nur zehn Mann der Letzter», schon an der Birs von den Brüdern zu früh getrennt, retteten ihr Leben. Ludwig der Dauphin schwor, im Kreis seiner Räthe und Marschälle, ein heldenmüthigeres Volk sey nimmer gesehen worden. Er wollte es nicht weiter versuchen. Zu Ensisheim schloß er Frieden, die Schweizer mehr bewundernd, als fürchtend. Der Dauphin scheint in den Schrecken dieser Thermopylen-Schlacht 201 Höheres, als gemeinen, soldatischen Muth erblickt zu haben, indem er aus Staatsklugheit oder Edelsinn die Besiegten ehrte, welche seiner eignen Macht so tiefe Wunden geschlagen hatten. Im vollen Gegensatz von ihm athmeten andere seiner Hauptleute nur Wuth ohnmächtiger Rache, wenn sie das Leichenfeld übersahn, das mit Blutftrömen gefärbt war. --Heut baden wir in Rosen /-< rief trium- phirend der Herr von Landskron, Burkhard Mönch, indem er durch die erschlagnen Tausende ritt. --Friß eine davon!-< rief unter den Todten ein sterbender Schweizer, der seine letzte Lebenskraft zusammennahm, den Hohn zu strafen, und dem Höhner das Haupt mit einem fortgeschleuderten Stein zerschmetterte, daß er bald davon den Geist aufgeben mußte. — Hier war nicht Heereskrieg, sondern Volkskrieg; hier nicht Gehorsam und Dienst um Sold, nicht Vertilgungskampf für eine Ehrensache, sondern Nothwehr fürs Vaterland , Begeisterung für Heiligthümer freier Bürger. Dieser Mannsmuth, diese Begeisterung ist das Erbtheil der Schweizer bis zu unsern Tagen geblieben. Wer erinnert sich nicht der einzelnen mörderischen Gefechte des Jahres 1798, wo eine kleine Bernerschaar bei Neuen egg die überlegne Macht der französischen Brigaden besiegte; oder wo bei Rothenthurm kaum 2000 Schweizer den dreifach so starken Feind schlugen; oder, wo beim Kampf gegen die geringe Schaar der Unterwaldner, General Schauenburg seiner Todten und Verwundeten im sechsfach größern Heer wenigstens doppelt mehr zählte, als Feinde ihm bei Stansstaad gegenüber gestanden waren. *) Wenn Frankreich sich dennoch im Jahr 1798 nach wenigen Treffen der ganzen Schweiz bemächtigen konnte, ward das damals nur möglich durch die groben Gebrechen des eidsgenössischen Bundes, durch die Zwietracht der Regierungen mit den Unterthanen; durch die blinde Eifersucht der Kantone untereinander; durch die vollkommenste Verwahrlosung des Heerwesens seit einem Jahrhundert; durch Vereinzelung Aller im Kampf, indem jedes Ländchen an seinen eignen Gränzen den Streit für sich allein ausfechten wollte. *) General Schauenburg selbst sagte in einem Schreiben vom Sten September 17S8 an den General Zordy: dious uvons psrdu -te moMs, 06 gui 6toit illövitllklv llveo I'llloroz-rMv obstioatioll U6 068 Iiommes nudsoieux gu8gu'st In ruK6. — O'öluid uns joui-uos <>08 >>Iu8 0lmud68, gll6 j'aio gllnilli8 VU6. Oll 86 battoit N.V60 dos i»ll88U68. Oll 8'60r»8oit UV 60 «>68 ooI.'Us d68 roolior8. Oll ooillblltloit 8UV I'6llu. Lll Ull Illvt, oo einploz-oit pour s'oxtermiller tous 168 ilwz-608 possidles. 202 Zwar noch gegenwärtig nährt ein mangelvoller Bund der Kantone diese politische Selbstsucht, Nebenbuhlerei und Vereinzelung. Aber vom Unglück der Vergangenheit gewitzigt, ist ihr Heerwesen tüchtiger ausgebildet, und darin bei ihnen allein Einheit der Kräfte Aller. Jeder Schweizer ist Soldat und kampfpflichtig; jeder Waffenfähige bewaffnet. Mehr denn 100,000 Mann eingeübter Milizen stehen schlagfertig, denen noch wenigstens 50,000 folgen können, die Neutralität ihres vaterländischen Bodens und ihre Freiheit zu vertheidigen. Ihre ungestüme Tapferkeit zu leiten, fehlt es ihnen nicht an gebildeten und geistvollen Befehlshabern, oder an Vertrautheit mit den Fortschritten der neuern Kriegskunst. Aber nicht dies, nicht ihre Gebirge, Seen, Ströme und Engpässe allein sind es, was ihnen, in Kriegen der europäischen Mächte, künftig zum Selbstschutz Stärke gewährt; auch die Eifersucht ihrer großen Nachbarstaaten, und deren militärischer und politischer Vortheil, die Schweiz nicht zu verletzen, wird ihnen zur Hülfe. Es scheint immer mehr Grundsatz der Eidsgenossenschaft zu werden, gegen den ersten, der ihres Bodens Neutralität verletzt, Bundesgenoß von dessen Feinde zu werden. Und nicht gleichgültig mag es seyn für jede Macht, die Stärke ihres Feindes durch ein Heer von 100,000 Tapfern vergrößert zu sehen. Und mehr noch, auch die Fahnen der Freiheit sind heutigen Tages eine Macht, sey es auf welscher, oder deutscher Erde. 2. Lasel dir Stadt. An ihren Rheinufern liegt großartig die edle, altberühmte Schweizerstadt ausgebreitet, heute noch wie vor Jahrhunderten ein Marchstein auf der Gränzscheide Helvetiens, Germaniens und Galliens. Dieser Lage, wie dem rührigen Gewerbfleiß ihrer Bürger, dankt sie einen glänzenden Wohlstand, den in früheren Zeiten weder Schrecken der Natur durch Erdbeben, Pest oder schwarzen Tod, noch in spätern Tagen Kriege und Revolutionen benachbarter Staaten vernichten konnten. Ihren Ruhm aber unter den europäischen Städten dankt sie mehr noch der Pflege der Wissenschaften, die sie schon in Zeitaltern übte, als der größte Theil Europens in Nacht der Barbarei begraben lag. Hier lehrte einst >! - , » LMA ,^K--sH >- -r ^8 ÄNSS ->sAW MW ^.sKWMSU^ W^U 203 Erasmus von Rotterdam; hier ist die Heimath der Bauhine, der Jseline, der Euler, Bernoulli's und andrer erleuchteten und weitleuchtenden Männer. Hier ist fast jede Straße Trägerin irgend einer geschichtlichen Denkwürdigkeit; so wie die Stadt selbst und ihr Name an mehr, als ein dem Welttheil wichtiges Ereigniß mahnt, an Kirchenversammlungen, Friedensschlüsse u. s. w. Wie alle Schweizerstädte, ist auch Basel nur eine Stadt von mäßiger Bevölkerung. Sie mag bei 17,000 Einwohner, und gegen 2200 Gebäude enthalten; ihr Umfang ließe auf das doppelte der Seelenzahl schließen. Aber stolz auf ihr Bürgerthum, oder eifersüchtig auf den Genuß ihres von der Vorwelt ererbten Gemeingutes, ist sie in Aufnahme neuer Mitbürger karger geworden, als sie es vordem gewesen. Man zählt schon seit einem halben Jahrhundert unter den Bewohnern der Stadt fast eben so viele fremde Anfassen als Ortsbürger. Im siebenzehnten Jahrhundert ward es Fremden sogar gesetzlich untersagt, Haus und Hof in der Stadt eigenthümlich zu besitzen, „um allerhand wichtiger Ursach willen." Obwohl die Bauart der Straßen und Häuser noch das nicht leicht zu verwischende Gepräge der mittelalterischen Reichsstadt trägt, deuten doch auch hier schon viele Wohnungen, in edlerem Styl aufgeführt, öffentliche Lustgänge und andere Verschönerungen den verwandelnden Geist des neunzehnten Jahrhunderts an. Es liegt in des Schweizers Gemüthsweise, an Art und Brauch seiner Altvordern fest und treu zu hangen, sei es aus kindlicher Ehrfurcht vor deren Weisheit oder aus jener süßen Behaglichkeit, welche in aller Gewohnheit liegt, und ihren Zauber durch nichts, als durch Gewalt der Umstände oder mächtiger Leidenschaften lösen läßt. Unter Gebirgsbewohnern ist dies, bei Einfachheit ihrer Verhältnisse, bei Armuth und Geistesruhe nichts Seltenes. Aber merkwürdiger ists in einer Stadt, durch deren Thore die Handelsstraßen Italiens, Frankreichs und Deutschlands ziehen; wo von jeher sich großer Verkehr der Fremden regte; wo Reichthum, Wissenschaft und Gewerbe ihre Früchte trugen. Basel widerstrebte unter allen Städten der Schweiz vielleicht am längsten und hartnäckigsten den Veränderungen in Sitte, Brauch und Lebensart; und zwar, was nicht unbeachtet gelassen werden darf, mehr in geringfügigen Nebendingen und Kleinlichkeiten, als in allgemeinen und größern Angelegenheiten. Denn durch den Gemeinsinn der Bürger, wurden hier wichtige Verbesserungen alter, oder Begründungen neuer Einrichtungen ohne besondere Schwierigkeit durchgeführt, die anderswo fromme Wünsche bleiben mußten. Basel wetteifert mit den vornehmsten Städten der 204 Schweiz in der Menge und Vortrefflichkeit öffentlicher Anstalten. Es herrscht hier ein Reichthum von Bibliotheken, Sammlungen von Manuscripten, Alterthümern, Gemälden, Kupferstichen, physikalischen Apparaten, Münz- und Naturalienkabineten, deren weit größere Städte entbehren. Hier ist für Alles gesorgt, was zur Veredlung oder Veranmuthigung des Lebens hilft; selbst Caffino und Theater fehlen nicht, noch weniger eine Menge nützlicher und wohlthätiger Stiftungen, Werke edelmüthiger Bürger, die sich seit mehr, denn einem halben Jahrhundert, zu einer Gesellschaft des Guten und Gemeinnützigen verbunden. Neben so vielen Vorzügen sieht man gern manchem Sonderlingshaften nach, welches durch Gewohnheit seine Rechte bis in unsere Tage behauptete; wie z. B. daß die Uhren der Stadt im Gang ihres Stundenzeigers von allen in Europa (mit Ausnahme Italiens, das noch 24 Stunden zählt) von jeher abwich. Die Basier Uhr nämlich mußte immer eine Stunde früher gehen, als die der übrigen Welt. Niemand weiß, woher Verwunderliche Brauch stammt; noch wozu er nützt? Als man versuche» wollte sich auch hierin den übrigen Europäern gleich zu stellen, und gesetzlich befohlen ward, damit am 1. Jänner 1779 den Anfang zu machen, gab es der Parthei- ungen und Verwirrungen so viele und ernstliche, daß man schon vierzehn Tage nachher, das Gesetz wieder aufzuheben genöthigt ward. - - Es versteht sich, daß eine Stadt von diesem eigenthümlichen Charakter, in ältern Zeiten noch weit mehr solcher Seltsamkeiten auszuweisen hatte; und eine Sittengeschichte Basels wäre gewiß reichhaltiger und anziehender, denn diejenige irgend einer andern schweizerischen oder deutschen Stadt. Immer wandelten gern hier Frömmigkeit, selbst übergroße, mit Ueppigkeit des Wohllebens, die größte Mildthätigkeit mit kaufmännischer Knauserei, und der empfänglichste Sinn für das Große und Gute mit starrer Sprödig- keit der Denkart, Hand in Hand. Ich will einige Züge mittheilen. Die innere geheime Religion bildungsarmer Völker ist deren Aberglaube. Davon war in frühern Zeiten das Volk des Kantons Basel besonders reich; und noch itzt findet man dessen in der Landschaft mehr Ueberbleibsel, als fast in sämmtlichen Gegenden der nördlichen Schweiz. Auch die Bürger der Stadt waren damit wvhl- begabt, und wegen der Namensverwandtschaft spielten die Basilisken, die Schildhalter des Stadtwappens, Geschöpfe halb Hahn, halb Schlange, wichtige Rolle darin. Im Jahr 1474 ward feierlich durch Henkershand ein Hahn, der ein Basilisken-Ei gelegt L05 hatte, in der Stadt verbrannt. Die Fortschritte der Wissenschaften klärten viele auf, aber nach der Kirchenreformation trat an die Stelle jener Vorurtheile eine gemüthliche, oft schwermuthsvolle Andächtigkeit, eine Religion des Gefühls und schwärmerischer Einbildungskraft, eine Frömmigkeit^ die sich oft sonderbar zur Schau stellte. Z. B. las man noch im vorigen Jahrhundert über den Thüren der Häuser, deren Namen in eigenthümlichen Zusammenstellungen und Versen: „Auf Gott ich meine Hoffnung bau, Und wohne in der alten Sau." Oder: „Wacht auf ihr Menschen und thut Büß, Ich heiß zum goldnen Rinderfuß." Im siebenzehuten Jahrhundert führte man außer dem üblichen Gottesdienst, noch besondere öffentliche Betstunden ein. Ja, sogar für die Stadtwachen, wenn sie aufzogen, oder abgelöst wurden, waren (im Jahr 1666) eigne Gebete vorgeschrieben, welche die Soldaten hersagen mußten. In den Dörfern wollte man Sonntags, außer Morgenpredigt und Kinderlehre, die Landleute noch, statt des Zielschießens und Kegelns, mit Abendgebeten und biblischen Vorlesungen unterhalten. Es ward aber des Guten zu viel; man kam damit nicht zu Stande. Jahre lang war sogar obrigkeitlich verbothen, Bürger an Sonn- und Festtagen aus den Thoren der Stadt zu lassen. Man trieb sie mit aller Gewalt zur Andacht. Selbst das berühmte Gemälde des Todtentanzes an einer Kirchhofmauer, welches auf Befehl der Basler Kirchenversammlung, zur Zeit der Pest, von einem Schüler Holbeins gemalt war, sollte dazu mitwirken. Jetzt ist das Bild verschwunden, nicht der Frömmigkeitseifer. Schon in der Mitte des vorigen Jahrhunderts begannen Pietismus, Herrenhuterei und Andächtelei überhand zu nehmen, nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Lande, wo früher schon auch Schwärmerei der Widertäufer großen Beifall gefunden hatte. Vergebens erschienen gegen diese Wiedertäufer wiederholt obrigkeitliche Verordnungen, selbst gegen „Umgang mit Sektirern und Jrrgeistern." Ueberzeugungen und Gefühle gehorchten nie dem Machtspruch des Gesetzes. Noch bis auf den heutigen Tag ist Basel die Hauptstadt des Pietismus in der Eidsgenossenschaft. Der melancholische Geist religiöser Ansichten, welcher zur republikanischen, oder christlichen Sittenstrenge führen sollte, kämpfte fort und fort gegen alle öffentliche Lustbarkeiten des Volkes, gegen Tanz und Spiel, und hätte, wär es möglich gewesen, das ganze Land in ein protestantisches Kloster verwandelt. Aber die mensch- so« lichen Neigungen zur Lebensfreude, gewaltsam zurückgedrängt ver- arteten nur in gefährlichere Sünden, in geheime Ausschweifungen. Pietismus oder dogmatischer Eifer, führten auch zeitig genug in Basel eine Bücher-Censur ein, die manchmal mit lächerlicher Strenge gehandhabt ward. Im Jahr 1531 ward verbothen, nichts zu drucken, «was einer Stadt Basel nachtheilig sein mögte;« im Jahr 1553 in keiner andern Sprache zu drucken, als in der hebräischen, griechischen, lateinischen und deutschen. Da nun in demselben Jahre zwei Basler Gelehrte um Erlaubniß baten, eine französische Uebersetzung des alten Testaments in die Druckerei zu geben, bewilligte es der Rath: «sofern man keine Schmutz- Schand - und Schmachwvrte darin finden würde!» Mit dieser religiösen Gewissenhaftigkeit vertrug sich aber der Geldwucher ganz vortrefflich; ja fand in ihr die beste Unterstützung. Man nannte einen Zins zu 5Prozent »einen christlichen Zins." Er ward obrigkeitlich mit so frommem Ernst befohlen (im Jahr 1682 und 1684), daß diejenigen, welche ihr Geld bei Landleuten zu vier oder wohl gar 3^ Prozent anlegten, «eigennützige, Vortheil- süchtige, schädliche Leute genannt wurden;" 'ja, daß man sogar die zu niedrigem Zins angelegten Capitalien konfiscirte. Man wird fragen, warum? Man antwortete: Weil diese Leute «durch ihren unersättlichen Geitz Nachtheil der Gotteshäuser, Spitäler, Kirchengüter und unausbleiblichen Schaden vieler armen Wittwen und Waisen befördern.« Ein solches kaufmännisch-religiöses Gesetz hat man wohl in keinem andern Lande auszuweisen, und steht vielleicht in der Geschichte der europäischen Staatsökonomie, als einziges in seiner Art. Wie alle Schweizerstädte hatte auch Basel seine Aufwandsgesetze und Sitten-Mandate; aber nirgends trat man tiefer in das Einzelne und Kleinste ein über Stoff und Schnitt der Kleider, Art und Anzahl der Speisen und Weine bei Gastmälern, Zahl der Gäste und Kutschen u. s. w. als hier. Im Jahr 1758 verbot die Regierung das Frisiren der Frauenzimmer «durch Mannsbilder, als höchst unanständig und unehrbar.« Im sechszehnten Jahrhundert waren eigne obrigkeitliche Sittenrichter angestellt, die »Unzüchter- herrn" genannt wurden. Sie hatten damals besonders mit den modisch gewordenen geschlitzten, oder wie es in den Gesetzen lautet, zerhauenen Kleidern, zu kämpfen. Als man im folgenden Jahrhundert aber die »Baselhüte« mit hohen Köpfen selbst von Seiten der Obrigkeit sehr geschmackvoll fand, ward ein spaßhafter Major mit S07 einer Geldstrafe von 50 Gulden belegt, weil er sich einen Baselhut "fünf Werkschuh hoch" hatte machen lassen. Hingegen hatte man lange nichts dagegen, daß sich zu jener Zeit in der frommen Stadt zwei "Frauenhäuser" für feile Dirnen befanden, die ihr Gewerbe öffentlich trieben. In noch früherer Zeit (1482) mußten die Freudenmädchen von Basel, als Kennzeichen, Mantel tragen, die nicht länger seyn durften, denn eine Spanne tief unter dem Gürtel. Auch waren die, welche dergleichen Mädchen hielten, gehalten, sie an Sonn- und Festtagen fleißig in die Kirche zu schicken. Uebrigens nahm man es mit den Sünden gegen das sechste Gebot nicht allzustreng. Eine Jungfrau z. B. war laut Verordnung, noch immer für züchtig und ehrbar anzusehen, obschon sie mit einem Manne allzuvertrauten Umgang pflog, wenn nur der Mann ihr vor zwei gültigen Zeugen Ehe versprochen hatte. Damals ward die Stadt noch »die ehrwürdige Stadt Basel» geheißen; Straßburg hingegen die »ehrsame». Es scheint nach diesem Unterschied, Basel müsse eine höhere Stufe des Ranges eingenommen haben. Der Pomp breiter Titel ward bald, wie im übrigen Deutschland, Haupt- und Staatssache. Der Rath von Basel erließ sogar (1501) das Gebot: »wann uns etliche, vielleicht aus Verachtung und Neid, an unserm Titel abbrechen und nicht schreiben, wie von altem Herkommen und unsern Vordem geschehen ist, daß Boten und Briefe unvernommen wieder zurückgeschickt werden sollten.» Die vorgeschriebene Anrede an den Rath lautete (nach der Verordnung von 1546): »Edle, strenge, fromme, feste, fürsichtige, ehrsame, weise Herrn!» und die Staatshäupter wurden »Eure Weisheit» angeredet. Es ist schwer zu entscheiden, ob nur Bescheidenheit solche Benennungen forderte, um an die obrigkeitlichen Kardinaltugenden erinnert zu werden, die man besitzen sollte; oder Eitelkeit, daß man schon, als Eigenthümer derselben, gelten wollte. — Der Rath selbst, in Zuschriften an einen Edelknecht betitelte diesen »den Festen,» einen wirklichen Ritter »den Strengen», dutzte beide und redete sie blos bei ihren Taufnamen an; einem österreichischen Landvogt, oder einem Freiherr« gab man den Titel »Eure Edelkeit» , und einem römischen König zwar schon den der »Majestät", aber seiner Gemahlin nur den »Ihrer königlichen Würde.» Man muß gestehen, daß noch immer mehr Verstand in diesen Rangbezeichnungen lag, als in denen, welche von der Eitelkeit der spätern Zeit erfunden wurden. Doch genug von Curiositäten und Antiquitäten, zu denen wir S08 heut lächeln, wie einst unsre Enkel über unsre Weisheiten lächeln werden. Das heutige Basel ist natürlich ein anderes, als das mittelalterische, obgleich auch dieses noch zuweilen zwischen allem Bessern der neuern Zeit sehr unpassend die zur Thorheit gewordene Weisheit hervorstreckt, wie der Kopf des Lallenkönigs unter der Uhr des Rheinbrückenthurms, bei den Bewegungen des Pendels seine Zunge zum Ergötzen des Publikums. Vielleicht verdient Basel itzt den Beinamen der „Ehrwürdigen" mehr, als in der etwas lockern Vorwelt. Statt jener steifen, äußerlich angenommenen Ehrbarkeit und Zucht, waltet in der Bürgerschaft ein richtiges, reines Gefühl des Guten und Anständigen; statt trockener, unfruchtbarer Schulgelahrtheit, ziemlich allgemein verbreitete Bildung und Kenntniß des Wiffenswürdigen; und an wohlthätiger Freigebigkeit kann ihr nur Zürich gleichgestellt werden. Die beibehaltenen Charakterzüge ihrer Altvordern, jener Hang zur Ueberfrömmigkeit und Pietisterei; jene durch Gcwerbs- und Handelsgeift bewirkte Werthung des Menschen nach Maasgabe seines „Habens und Sollens"; jener ungelenke Starrsinn einmal gefaßter Meinungen und Vorurtheile sind eben Schatti- rungen, vermittelst welcher der sonst edle Charakter dieser Schweizerstadt seine Eigenthümlichkeit behauptet. Besser ifts doch, einen Charakter zu haben, als keinen, wie es unter Menschen, Städten und Völkern unserer Tage schon zu häufig Fall ist. Es scheint mir Ungerechtigkeit, Basel nachdem zu beurtheilen, wie es sich während der letzten Unruhen der Schweiz darstellte in der Trunkenheit politischen Partheigeistes. Auch den Ehrenmann kann wohl ein Räuschchen überraschen; aber niemand würdigt das Leben desselben nach einer Ausnahme von der Regel. 3. Fiesta l. Der Künstler stellt uns im Bilde dies Städtchen, wenn auch nicht von dessen schönster, doch bedeutsamster Seite dar. Bis zu dieser Brücke über den Bach vom Oristhal, bis zu diesem Eingang in den jetzigen Hauptort des Kantons Basellandschaft, drangen im August des Jahres 1831 die Truppen der Stadt Basel, um ckz M WWM LMK 8-M W8M NS! MW LNtL» S09 den kleinen, kaum von zweitausend Seelen bevölkerten Ort, wegen seiner Widersetzlichkeit zu züchtigen. Acht Stück groben Geschützes standen gegen diese bescheidnen Wohnungen aufgepflanzt, deren einige die auf sie geworfenen Kugeln heut noch, als Zierde, Ehrenzeichen oder Denkmale der Zeit, eingemauert tragen. Aber die Sturmglocke des Thurms, die aufgestiegene Rauchsäule eines vom Geschütz in Brand gesetzten Gebäudes, hatte weit umher das Volk der übrigen Landschaft zur Vertheidigung oder Rache herbeigerufen. Die Truppen Basels wurden zum Rückzug gezwungen. Die Volksfreiheit feierte hier und an diesem Tage ihren ersten Triumph. Ueberhaupt herrschte im Leben und Wesen dieses Landvolkes immer schrofer Gegensatz zu dem der Hauptstadt Basel. Vergebens suchte man einst auch in den 74 Gemeinden des Kantons den düster- müthigen Geist des Pietismus herrschend zu machen; er ließ sich nicht vollständig einbürgern. Er erzeugte Partheiung und Zwietracht in Dörfern und Haushaltungen und rohe Herabwürdigung des geistlichen Berufs. Vergebens versüßte die oberherrliche Stadt durch reiche Wohlthaten nnd Unterstützungen das bittre Gefühl dienstbarer Unterwürfigkeit oder Niedrigkeit, welches in der Brust des Landmanns durch städtischen Geldstolz und Gebieterton rege blieb. Dies Volk, obwohl es noch die Narben ehemaliger Leibeigenschaft trug, hatte bei aller Unwissenheit, bei allem Aberglauben, worin es gelassen war, einen zu lebhaften Geist, einen zu tüchtigen Verstand, ein zu reizbares Gemüth von der Natur, um nicht das freiere Loos des Landmanns in den «»gränzenden Staaten der Fürsten zu erkennen, und sich seiner unschweizerischen Zustände zu schämen. Mehrmals schon in frühern Jahrhunderten erhob es sich in gewaltsamer Bewegung wider die Machtsprüche der Stadt, und jedesmal war Liestal Mittelpunkt der allgemeinen Aufwallung gewesen. Aber jedesmal büßte es, unterliegend, statt zu gewinnen, von seinen Rechten ein. Zwar nach dem Aufstande von 1525 empfing es urkundlich Lossprechung von der Leibeigenschaft; aber schon sechs Jahr nachher mußten die »armen gehorsamen Unterthanen" ihre Urkunden, und zwar wie vorgegeben wurde, »freiwillig" an die Stadt zurückliefern und sich wieder in den Stand der Leibeignen einsetzen. — Von dieser Zeit an erbte Groll und Widerwille des Landmanns gegen die städtische Hoheit fort von Geschlecht zu Geschlecht. So darf man sich nicht wundern, daß dieses Volk schon im Jahr 1797, da der Eroberer Italiens, Bon aparte, durch die 14 210 Schweiz reisete, ihm mit stürmischer Begeisterung, als dem Helden der Freiheit, als dem Erlöser unterdrückter Völker, cntgegenjauchzte und ihn mit Ehrenbezeugungen umringte, die es nie der oberherrlichen Stadt gewährt haben würde. „Votre luestul e8t bien pa- trioto!" sagte Bonaparte damals zu den Basler Rathsherrn mitLächeln. Er hatte nicht geirrt. Liestal war's, wo in derSchweiz der erste Freiheitsbaum (am 17. Jänner 1798) aufgepflanzt wurde. — So geschah es, daß auf demselben Strich Landes, auf welchem in der Eidsgenoffenschaft die Schmach des Leibeigenthums am längsten beibehalten worden war, der Grundsatz staatsbürgerlicher Rechtsgleichheit, diese Basis der Republiken, am frühesten Sieg gewann. Noch im fünfzehnten, und selbst im sechszehnten Jahrhundert wurden im Kanton Basel die Leibeignen einzeln gekauft, verkauft, geliehen oder vertauscht. Wenn sie auch an andern Orten wohnten, mußten sie sich ihrem Leibherrn von dorther versteuern, und ihn, wenn sie starben, aus ihrer Hinterlassenschaft das beste Stück Vieh erben lassen. Als sie im Jahr 1525 ihren kaum empfangenen Freibrief wieder an die Stadt ausliefern und erklären mußten, derselben »mit Darstreckung des eignen Leibes und Gutes unter- thänig zu dienen," ward ihnen zuerst aus Gnaden gestattet, sich unentgeltlich von einem Landesbezirk in den andern zu ver- heirathen. So sehr waren sie der Scholle Angehörige. Es mag auch wohl selbst noch im neuesten Entwurf der Staatsverfaffung, welche Basel dem gesammten Kanton ertheilen wollte, der beschränkende Grundsatz, Ueberbleibsel jener Uebungen, oder Ansichten, in gemilderter Form seyn, daß niemand gleichzeitig ein Bürgerrecht in mehreren Gemeinden besitzen dürfe. Ein Gesetz um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts verbot den Unterthanen, sich in Amtsbezirken, die anderer Herrn Leibeigengut waren, niederzulassen, »es wäre denn, daß sich solche Personen von ihren Halsherrn zuvor der Leibeigenschaft ledig gemacht haben, wie auch, daß sie dem Rath der Stadt Basel schwören würden, wie andere seiner eignen Leute, hoch und nieder, zu dienen.» In den Kämpfen der Kircheutrennung und mit den Fortschritten der Gesittung wurde freilich das Loos der Landleute in Vielem erträglicher. Aber sie blieben die zinsbaren Dienftleute der Stadt; und diese gab ihnen Vögte, Richter, Geistliche, Hauptleute aus der Zahl ihrer eignen Sohne. Der Landmann konnte nur auf dürftig besoldete untere Stellen Anspruch machen, deren sich der Stadtbürger schämte. Die öffentlichen Aemter wurden zwar nicht versteigert, aber was nicht so ehrenlos, dochAächerlich 2l1 genug ist, an die Stadtbürger verloost; sogar die Lehrstellen an der Hochschule, wie die Pfarreien. So geschah, daß das Spiel des Schicksals einen Professor der Mathematik plötzlich zum Rechtslehrer, einen Lehrer der Geschichte zum Orientalisten verwandelte. Man kann wohl denken, wie wunderlich das Verhängniß zuweilen in einer so bestellten Staatsverwaltung schaltete; und mit welchen weltlichen oder geistlichen Obern sich oftmals das Landvolk be« gnügen mußte, dessen Freiheit und Glückseligkeit man dann und wann entschieden genug pries. „Ihr genießet", sagte im Jahr 1710 der Oberstpfarrer von Basel zu den Bauern von Klein- hüningen, als er ihr neuerbautes Kirchlein mit einer fast drei Stunden langen Predigt einweihte: „Ihr genießet, neben der leiblichen Freiheit auch der geistlichen und Gewissensfreiheit!" — Ich weiß nicht, ob die armen Bauern, die doch Leibeigne waren, an ihre leibliche Freiheit glaubten; oder sich wirklich ihrer Gewissensfreiheit rühmen konnten, während man ihnen bei Leibesstrafe verbot, dem Gottesdienst eines Pfarrers vom lutherischen Glaubensbekenntniß beizuwohnen. Von jener salbungsvollen Predigt des Oberstpfarrers an die Leute von Klein hüningen, führ' ich nebenbei noch eine charakterische Stelle an : „Das Gebet", rief er, „ist um so kräftiger, wenn ihrer Viele zugleich dem Himmelreich Gewalt anlegen. — Wenn ein ansehnlicher Mann von einer Menge Bettler umringt wird, so kann er nicht anders, er wirst ihnen ein Stück Geld dar, nur damit er ihrer los werde; also umringen wir gleichsam unsern Gott, wenn wir in der Gemeinde den anrufen und nöthigen, daß er uns erhören, und seinen Seegen hinter sich lassen muß." Erst im Jahr 1780 wagte es ein Bürger von Basel, sein Name verdient genannt zu weiden, Abel Merian, in der Mitte des großen Rathes, auf Entlassung der Unterthanen vom Joch der Leibeigenschaft anzutragen. Solothurn hatte die seinigen schon im Jahr 1785 leibfrei gemacht. Die Basler entschlossen sich nicht ohne Sträuben erst im Jahr 1790 dazu, als das ferne Wetterleuchten der französischen Revolution sie warnte,, und das Landvolk sich seiner Menschenrechte lebhafter erinnerte. Der erschütternde Gang der französischen Staatsumwälzung, unter welchem fast alle Nationen Europens zum Bewußtseyn ihrer selbst erwachten, und eine Menge neuer Ideen in der dunkeln Welt der politischen Vorstellungen aufleuchtete, blieb wie in der ganzen Eidsgenosscnschaft, so im Kanton Basel, nicht ohne bedeutsame Einwirkung. Nicht nur in der Landschaft, sondern selbst in 212 der herrschenden Stadt, forderte man Grundverbesserung der mittel- alterischen Formen der öffentlichen Verwaltung; forderte man die Republik, nicht für die Stadtbürgerschaft allein, sondern auch für die Bürger desganzen Landes, damit sie den Namen freier Schweizer nicht in ironischem Sinn tragen müßten. Das Waffenglück Frankreichs, endlich auch die unzweideutige Absicht dieser Macht, den stillen Feindseligkeiten der schweizerischen Aristokratien gegen sich, durch Vernichtung der letztem, ein Ende zu machen, beschleunigte in Basel den Schritt zur unausweichlichen Abänderung der Landesverfassung. Schon näherte sich ein französisches Heer den Schweizergränzen ; da ertheilte die gesammte Bürgerschaft der Stadt, in ihren Zünften versammelt, und der souveräne Rath des Staats, den Bürgern der Landschaft die ungestüm verlangte Entlassung von der Unterthanenschaft und gewährte Gleichheit staatsbürgerlicher Rechte mit den Einwohnern der Hauptstadt. Die am 20. Jänner 1798 ausgestellte Freiheitsurkunde wurde den Ausschüssen des Landes, zween Tage nachher, zu Lieftal feierlich überreicht. So ward die merkwürdige Prophezeiung eines der edelsten Eidsgenossen, und zwar eines Baslers, erfüllt, mit einer Bestimmtheit, wie selten sonst bei Prophezeiungen der Fall ist. Schon im Jahr 1770 nämlich hatte der menschenfreundliche Weltweise Jsaak Jselin geschrieben: „die Unterthanen der Schweizerregierungen aller Kantone werden nicht eher glücklich werden, bis ein mächtiger Nachbar einmal die Güte haben wird, die Schweiz zu erobern." *) Stadt und Land waren nun vereint. Sie blieben es, im Genuß gleicher Freiheit, während der ephemeren, helvetischen Repu- blick; sie blicken es, während der schönen Friedenstage unter der napoleonischen Vermittelung und Herstellung eines verbesserten Föderativsystems der Kantone. Aber Zufriedenheit und Eintracht verschwand wieder, als es im Jahr 1814 einer mißvergnügten Faction von Aristokratisch-Gesinnten, beim Ourchzug des Heers der gegen Frankreich verbündeten Mächte, gelang, eine neue Staatsumwälzung durchzusetzen, und den ehemaligen Patriziaten und Hauptstädten mehr oder weniger die ehemaligen Vorrechte zurück zu ge- *) »Je mehr ich nachsinne", schrieb Jsaak Jselin am 1t. April 1770: „je abscheulicher finde ich den Zustand und die Verfassung unseres Vaterlandes." Dann fügt er die denkwürdige Weissagung hinzu: „8slau mal, los «uget« es, cio les ovnguerir. (Pet. Ochs Geschichte der Stadt und Landschaft Basel. VHI. Band. sss, S3v.) 213 winnen. Wie in fast allen Kantonen der Schweiz äußerte sich auch im Kanton Basel unzweideutige Mißstimmung des Volks, Sehnsucht nachWiedereroberung dereinst feierlich beurkundeten, nun entwendeten Rechte. Aber erst nach den Pariser Julytagen, im Jahr 1830, als das Schweizervolk ohne Furcht vor Einmischung der heiligen Alianz, seine innern Angelegenheiten ordnen konnte, forderte auch die Landschaft Basel Zurückstellung ihres Rechts und Verbesserung der Verfassung des Staats. Es geschah dies anfangs in ehrerbietigen Bitten, die sich, beim Zögern oder Unwillen der Stadt, bald in einen Ernst verwandelten, welcher das Selbstgefühl Basels verwundete. Hier entwarf der souveräne Rath, in seiner Machtvollkommenheit unmittelbar selbst, eine verbesserte Staatsverfassung, welche neben den freisinnigsten Grundsätzen, dennoch die Bürgerschaft der Hauptstadt mit Vorrechten begünstigte. Die Landschaft bewaffnete sich zum Widerstand; die Stadt dämpfte den Aufruhr mit Waffengewalt, (Jänner 1831) und legte, vom eben verbreiteten Schrecken Gewinn ziehend, dem Volke die Verfassung zur Annahme vor. Die Annahme blieb zweifelhaft; das Volk der Landschaft unruhig, in sich selbst entzweit; in der großen Mehrheit gegen die Stadt. Als diese, Gehorsam zu gebieten, Truppen zur Besetzung Liestals, zum andernmal aussandte (2 l. August 1831) erlitt sie blutige Niederlage. Gekränkt durch diese, aber mehr noch durch den Geist der Eidsgenoffenschaft, der die Stadt ihrem Schicksal überließ, stieß der große Rath fünfund vierzig der widersetzlichen Gemeinden von der öffentlichen Verwaltung des Staates aus. Eine vielleicht in Europa noch nie gehörte Maßregel! Die verbannten Gemeinden, nun sich selber hingegeben, wachten für sich. Und als heimlich und auf Umwegen die Stadt eines Nachts (April 1832) in ein ihr treu gebliebenes Dorf, Gelterkinden, starke Besatzung geworfen hatte, wurde auch diese mit Verlust von den Landschaften zurückgejagt. Bei der Unaussöhnbarkeit beider Theile blieb das Verhältniß derselben lange feindselig und unentschieden. Die Eidsgenoffenschaft, durch Zwieträchtigkeit in sich selber gelähmt, ließ es abwechselnd bei militärischen Besetzungen des unglücklichen Ländchens, oder bei fruchtlosen Vermittlungsversuchen bewenden. Als aber einige Kantone endlich, geleitet von aristokratischem Geist, in Sarnen sich enger gegen die übrigen verbanden; als Trennung des Bundes und Bürgerkrieg in der Schweiz drohten, als die Schwyzer schon mit bewaffneter Faust Feindseligkeit begannen, und die Stadt Basel gleichzeitig (3. August 1833) anderthalbtausend Mann mit S14 zwölf Feuerschlünden gegen Liestal sandte; als dieser Ausfall mit großem Verlust, durch die Tapferkeit der Landschafter, zu den Stadtthoren zurückgetrieben ward: da schritt die versammelte Tagsatzung entschlossener ein; besetzte die unruhigen Kantone mit 20,000 Mann; stellte allgemeine Ordnung her, und schied (1/. August 1833) den Kanton Basel in den Stadttheil mit einigen Dörfern am rechten Rheinufer; und in den Landtheil von 75 Gemeinden, deren Hauptort die Stadt Liestal blieb. Das ge- sammte Staatsvermögen ward durch schiedsrichterlichen Spruch zwischen die zwei Gemeinwesen des Kantons vertheilt. Somit hat die Eidsgenossenschaft einen Doppelkanton mehr empfangen, wie Appenzell Inner- und Außerrhoden, und Unterwalden ob und nid dem Wald es schon seit früheren Zeiten waren. Es fehlt der neuen Republik mit ihren 40,000 Einwohnern nicht an materiellen Mitteln und Kräften ihren Staatshaushalt wohl zu führen, oder ihren Bundespflichten Genüge zu thun; desto mehr aber fühlt sie den Mangel an wissenschaftlichge- bildeten, kenntnisreichen Bürgern, welche an der Spitze der öffentlichen Verwaltung neue Schöpfungen großsinnig durchführen sollten. Jene erdrückende Schmach der Leibeigenschaft, in welcher die Stadt Basel dies der Freiheit so würdige Völkchen seit der Barbarei des Mittelalters bis zu den letzten Tagen des achtzehnten Jahrhunderts festhielt; — jener Pietismus, welchen die Pfarrer in der Landschaft herrschend zu machen getrachtet hatten, der nichts weniger, als Gemüth und Geist des Volks zu erheben geeignet war; dann der mangelhafte Jugendunterricht in den meisten Dörfern, endlich die unvermeidliche Verwilderung der Sitten, die in einem mehrjährigen Zustand der Gesetzlosigkeit und des Bürgerkriegs eintreten mußte,— dies Alles ließ das Schlimmste fürchten, wenn die Bewohner der Landschaft ein selbstständiges Staatswesen bilden wollten, zu dessen Geschäften kaum erst ein halbes Dutzend geeigneter Männer vorhanden war. Und doch besteht dieser Staat ziemlich wohlgeordnet in' allen Zweigen der Verwaltung, unter welchen Verbesserung der öffentlichen Unterrichtsanftalteff einer der wesentlichsten ist. Dies mag man mit Recht zu den Wundern der Freiheit zählen. Es ist das Werk republikanischer Bürgertugend, der Ehrfurcht vor dem sich selbst gegebenen Gesetz und einer Vaterlandsliebe, die dem Gemeinwohl das Theuerste opfern kann. Register zu den Classischen Stellen der Schwer? von Heinrich Zschokke. I. Land. i. Rhätien oder Graubünden. Seite. Der Ursprung des Jnnstroms im Lugni - See am Maloya - Berg 25 Madulein und die Ruine von Gardovall ..30 Vereinigung der drei Quellen des Vorderrheins.33 Die Kapelle bei Trons ..36 Das Kloster Disentis.43 Die Stadt Chur.48 n. Uri. Das Grütli.51 Die Tellenplatte.51 Teils Kapelle in Bürgten. 53 Die St. Gotthards - Straße.59 Die Teuselsbrücke. 63 Altdorf. 64 - in. Schwytz. Der Hauptort Schwytz .. 66 Goldau vor dem Bergsturz .. 74 Gvldau nach dem Bergsturz.... . 78 Die Insel Schwanau. 79 Maria zum Schnee auf dem Rigi ..81 Einstedeln . 90 Die Kapelle bei Morgarten ... . 92 IV. Unterwalden. Im Melchthal .................. 95 Kirche zu Sächseln ................ 96 Seite. . 100 . 105 Sarnen .... Stans in Nidwalden V Zug. Zug. .109 Kapelle bei Küßnacht.. VI. Luzern. Luzern, die Stadt. HO Die Kapelle bei Sempach. 124 VII. Glarus. Der Flecken Glarus.128 Das Stachelberger - Bad.izz Das Klönthal. 137 viii. St. Gallen. St. Gallen, Abtei und Stadt .146 Das Bad Pfäffers. 152 Der Tamina - Schlund. 154 Zwinglis Hütte bei Wildhaus . ..156 ix. Appenzell. Der Flecken Appenzell. 162 Trogen.165 Die Kapelle am Stoß. 171 Das Wildkirchlein. 174 x. Thurgau. Die Kapelle bei Schwaderloch. 181 Das Schloß Gottlieben ... ........... 186 xi. Schaffhausen. Der Rheinfall.192 Schaffhausen.194 XII. Basel. St. Jacob.198 Basel, die Stadt . .. 202 Das Münster in Basel ..203 Liestal.. 208 i> d ."«L.-E WWK^/^ -s, ! «-» ' >- -/ r» ^ .. / ' <4:. " .. 7'--V ten Nengriechinnen der ägeischen Inselgruppe, als den Bewohnerinnen eines rauhen Alpenthals, znzugehören. Die Baukunst in den höher« Gegenden des Landes scheint noch aus den ersten Zeiten ihrer Erfindung zu stammen. Die niedrigen, engen Hütten, welche nur auf Schutz gegen den Frost halbjähriger Winter und gegen ungeheure Lasten des Schnees berechnet sind, zum Theil von Tannenstämmen zusammengezimmert, zum Theil von Kieselsteinen gemauert, gleichen schlechten Viehställen; hingegen die Mehställe oft bewohnbaren Häusern. Die enge, unreinliche Wohnstube, durch Fenster, theils von altersblindem Glase, theils von Papier, matt erleuchtet, wird noch mehr durch eindringende Rauchwolken und berußete Wände verdunkelt. Denn die Küche, vom Feuer des Heerdes erleuchtet, ist ohne Rauchfang und Schornstein. "Kein deutsches Schweizerschwein," sagte Bonstetten im I. 1797, „würde in einige dieser Menschenwohnungen gehn." Nicht so zartfühlend ist das Schwein des Tessiners, welches gern zuweilen nachbarlich in die Stube seiner Herrschaft einkehrt. Indessen dringt allmählig die Civilisation auch tiefer in die bewohnbaren Bergschluch-- ten dieser Hochgegenden, wo ehmals die Nahrung der Menschen fast elender, als ihre Behausung war. Wenigstens versichert uns der neueste Beschreiber des Tessin, Stefano Franscini, Staatsschreiber zu Lugano, wenn auch der Bauer und Handwerksmann im Kanton noch weit davon entfernt sei, wie Heinrich IV. seinen Unterthanen wünschte, jeden Festtag ein Huhn in seinem Topfe zu haben, doch selbst im Valmaggia die tägliche Mahlzeit von ,/Panau" nicht mehr in Uebung sey. Dies Gericht, eines der einfachsten von der Welt, bestand aus Mehl, welches man in bloßem Quellwaffer, oder auch in Molkenwasser, umgerührt hatte. Daß sich in so ganz von der übrigen Welt abgeschicdnen Ortschaften des Gebirgs die wunderlichsten Uebungen der Vorzeit, die oft den Gebräuchen der Halbwilden in den amerikanischen Wäldern, oder denen der schalkhaften Eskimo's nicht ganz unähnlich sehn, dauerhaft bewahrt haben, läßt sich leicht denken. Aber wer kennt sie alle? — Ich will einige bezeichnen. Hoch im Gebirg der Leventina liegt das Pfarrdorf Sobrio. Hier ists keine Kleinigkeit für den Jüngling, an seinem Hochzeitstage die junge Braut zum Altar zu führen. Er muß sie aus ihrem Vaterhause dazu abholen, und begibt sich an der Spitze seiner Verwandten und Freunde dahin. Aber er findet, statt freundlichen Willkommens, verschlossene Thüren und höhnende Gesichter am Fensterlein. Lange pocht und bittet er vergebens um Einlaß, bis man sich endlich be- 221 guemt, nach seinem Verlangen zu fragen und wer er eigentlich sey? Die Frager thun fremd und verwundert über seine Person und seine Forderung; wissen von keiner Hochzeit, von keiner Braut. Nach vielen Neckereien und gegenseitigen Erklärungen, verspricht man ihm endlich, im -Hause eine liebenswürdige Schöne zu suchen, wie er sie geschildert. Bald öffnet sich auch wirklich die Pforte. Der Bräutigam stiegt der Geliebten entgegen; aber es ist die unrechte; ein steinaltes, verschrumpftes Grvsmütterlein! — Unter Gelächter und Lärmen fängt der Wortwechsel, das Bitten des Einen, die Weigerung der Hansgenossenschaft von neuem an, bis sich diese noch einmahl bewegen läßt, dem ungeduldigen Liebhaber die Braut zu suchen, wie er sie näher bezeichnet hat. Sie selbst tritt ihm aus der Thür entgegen. Es ist ein kleines, buckligtes, altes Ding, welches mehr Runzeln im Gesicht, als -Haare auf dem Kopf trägt. So wird der Getäuschte mehrmahls betrogen; oft, wenn es an wirklichen, dazu gemietheten Hexengcstalten im Dorfe fehlt, thun's große Stroh- Puppen in Weiberkleidern, bis man ihm den Eintritt ins -Hans gestattet, die verborgne Schöne selbst aufzusuchen, welche sich von ihm sehr gern finden läßt. Dann zieht die Schaar, vergrößert durch die Verwandten der Braut, zum Hochzeit-Altar mit feierlichem Gepränge. Nicht selten geht es bei Beerdigungen fast eben so lustig in verschleimen Ortschaften zu, wenn, was auch in manchen Gegenden der deutschen Schweiz noch üblich ist, die Verwandten des Verstorbenen nach vollbrachtem Leichenbegäugniß, ins Trauerhans zum Todtenschmaus zurückkehren, und bei vollen Bechern den tiefen Schmerz und Gram um den Verlornen zu mildern bemüht sind. Im Livinerthal wird häufig dem Todten, so lang er im Sarge liegt, Wache (vibiss) von Freiwilligen gehalten, meistens von andächtigen jungen Burschen und Mädchen, welche Rosenkranz und andere Gebete stundenlang hersagen. In den zur Erholung nothwendigen Pausen aber müssen reichliche Spenden von Wein und Branntewein die Inbrunst der frommen Jugend erfrischen. Die ehmahls fast allgemeine Uebung, die Leichname offen, mit unverhülltem Gesicht, zum Grabe zu tragen, vermindert sich immer mehr. Leichenbegängnisse sind, auch für den ärmsten Tessincr, mit Ausnahme des Bettlers, ziemlich kostbar. In der Riviera wird selbst die Stimme der hochwürdigen Geistlichkeit dabei, je nach dem stärker« oder schwächer» Ton in Absingung der üblichen Litaneien, taxmäßig, theurer oder wohlfeiler bezahlt. Am wenigsten kostet halblautes, hastiges Hermurmcln der Gebete; mehr das förmliche Singen; 2LS am meisten das laute, feierliche Jntom'ren (das bis «autark) des Gesangs. Längs den großen Hauptstraßen des Landes werden dergleichen Ueberbleibsel alten Wesens und Unwesens nur noch selten, und in den Städten fast gar nicht, wahrgenommen. Sogar das alterthüm- liche Städtchen Bellinzona (oder Bellenz) mit seinen fünfzehnhundert Einwohnern, weicht täglich mehr dem sanften Zwange des Zeitgeistes, und läßt, während es sich im Innern verschönert, jene hohe lange Mauer mit den drei Felsenburgen verfallen, durchweiche von einer Bergwand zur andern, im Mittelalter der Eingang Italiens den kriegerischen Nachbarn im Norden versperrt wurde. Aber diese dicken, verwitternden Gemäuer und festen Schlösser links und rechts, geben dem Engthal zwischen hohen, steilen Bergen ein malerisches, ritterthümliches Ansetzn. Italienische Geschichtsklitterer suchen hier jene caninischen Felder, auf welchen Constantius gegen Germanien und den brigantinischen See zog; eine Behauptung, welche ihnen durch rhätische Geschichtsforscher, zu Ehren der Ebnen von Chur, streitig gemacht wird. Andre wollen sogar, mir unbekannt durch welche Offenbarung, wissen, daß schon Julius Cäsar hier einen gewaltigen dreieckten Thurm aufgeführt habe. Liebhabern neuern Baugeschmacks mag der Anblick der prächtigen Brücke alla Torretta, ohmvcit des alten Thurms, mehr Genuß gewähren. Eine frühere Brücke war schon im Jahre 1515 von einer ungeheuren Ueberschwemmung fortgerissen worden; im Jahre 1815 ward endlich die neue durch die Regierung des Kantons im Bau vollendet. Auf zehn weiten Bögen behauener Granitquadern schwingt sich das Werk 714 Schuh lang über den Strom des Teffin, welchen sonst benachbarte Gemeinden, wollten sie gen Bellinzona, oft nicht ohne Gefahr, in elenden Nachen überschiffen mußten. Jenes altersgraue Mauerwerk, welches über den Hügeln, mit seinen zahnförmigen Absätzen und bemoosten Burgen, wie ein Invalide in verblichner Uniform und mit unbrauchbarem Gewehr, Schildwacht hält; dann daneben dieser stolze Brückenbau, der, zum öffentlichen Nutzen, die Verzierung der Landschaft fügt, bilden vollkommen den Gegensatz alter und neuer Zeit. Aber derselbe, oft schneidende Gegensatz, wird fast überall in der Schweiz, besonders in ehmahls unterthänigen Gebieten, und vielleicht nirgends auffallender, als im Kanton Teffin erblickt. Dieser, erst seit der Revolution selbstständig gewordne, Staat gleicht übrigens in seiner ganzen Haltung noch keinem Freigebornen, sondern nur einem Freigelassenen, der von den Verlornen Ketten der Leibeigen- 223 schaft die Narben und Wundenmahle an seinen Gliedern zeigt, und Schmutz und Gewohnheit der Knechtstage vergebens mit dem Prachtmantel bedeckt. Neben dem Aufstreben zu höherer Bildung ziemlich allgemeine Unwissenheit; neben dem Freiheitsstolz im Hause demüthige Kriecherei draußen; neben Vaterlandsphrasen gemeiner Orts- und Familien-Egoismus; neben der Fruchtbarkeit des Bodens unter italienischem Himmel die Nachlässigkeit der Armuth. Wer in den Städten ein Vermögen von 50 bis 60,000 Franken besitzt, gilt als reicher Mann; auf dem Lande verhelfen schon 20 — 36,000 Franken zu solchem Titel. Dürftige Haushaltungen miethen für ihren Bedarf die nöthigen Ziegen, Schaafe oder Kühe für einige Jahre und zahlen dem Eigenthümer wucherischen Zins dafür. Handwerke werden nur wenige getrieben, sondern Fremden überlassen; dagegen wandern jährlich 10 bis 12,000 Arbeiter nach Italien, Deutschland und Frankreich, als Maurer, Gypser, Kaminfeger, Chocolade- fabrikanten, Lastträger, Kastanicnbrater (marroiiuj) Ziegelbrcnner u. s. w. aus. Was sie in der Fremde gewinnen und mit den schwersten Entbehrungen ersparen, geht des Winters wieder im heimathlichen Wohlleben drauf. So wandelt auf einem fruchtbaren Boden, zwischen Alpen und Kastanienwäldern, zwischen Weingärten und Aeckern, die zahlreich doppelte Erndten gewähren, ein im allgemeinen dürftiges Volk. Seine Armuth ist Folge eigner Unbeholfenheit, und diese die Frucht ehmaliger elender Gesetzgebungen und der Bevogtung durch Kantonsregierungen, deren Unterthanen die Bewohner des Tessin beinahe 300 Jahr lang' waren. Drei Jahrhunderte lang ward nichts Wesentliches für Bildung und Wohlstand eines Landes gethan, welches nur vorhanden zu seyn schien, einzelne Familien in Herrscherkantonen zu bereichern. Die hieher gesandten Statthalter oder Landvögte, und Commissarien, die ihre Stellen gewöhnlich, besonders in den Urkantonen, um baares Geld gekauft hatten, verhandelten hier wieder untergeordnete Aemter und Stellen, Ehre, Freiheit, Recht und Gut der Unterthanen um baares Geld; machten Gesetze und Ordnungen, um desto mehr Straffällige zu bekommen; ertheilten Straflosigkeit um Geld, und um Geld verderbliche Monopolien und Privilegien; zettelten Prozesse an und schlichteten sie so spät, als möglich, nach Willkühr. Um eine Vorstellung von der Raubgier und Verworfenheit der meisten Beamten zu erhalten, genügt es, den gültigsten aller Zeugen, den edeln Karl von Bonstetten, anzuhören, der selber hier einer der letzten Syndicatoren war, und die Schmach eidsgenössischcr Verwaltung dieser Untcrthanenlande auf- 224 deckte.*) In der einzigen Landvogtei Locarno, und bei ihrer Bevölkerung von 17,000 Seelen, fand er im Durchschnitt jährlich 1000 Prozesse im Gange, und darunter vier bis fünfhundert Kriminalfälle. Welches civilisirte Land hat ähnliche Beispiele auszuweisen ? **) Nachwirkungen dieser traurigen Zustände sind noch heutiges Tages die leidenschaftliche Streit- und Prozeßsucht der Gemeinden gegen Gemeinden, der Familien gegen Familien. Zahllose Haushaltungen sind dadurch schon zu Grunde gerichtet worden, und die Einkünfte vieler Gemeinden gehn zum Theil für Bezahlung von Advokaten, Reisegeldern und Deputationen auf. Es sind wenig Thalschaften oder Dörfer, in welchen nicht Advokaten wohnen, oder Leute die deren Geschäft treiben.***) So ists kein Wunder, wenn die Tessi- ner selber gestehn, daß Neid aller unter einander und Zwietracht das moralische Erbübel ihres Volks sey. Nicht wenig auch befördert der kirchliche Glaube und Aberglaube, und die Menge der Feiertage, Geistlichen und Klöster, die öffentliche Armuth. Der Kanton mit seinen 230 Pfarreien (durchschnittlich also je für 474 Seelen eine besondre), 12 Mannsklöstern (mit 119 Mönchen) und 9 Weiberklöstern (mit 165 Nonnen), besitzt Anstalten zur Pflege der Andacht im Ueberfluß, ungerechnet die vielen Einsiedeleien auf Bergen, deren Bewohner von Almosen der Frommen leben. Die Klöster besitzen im Allgemeinen beträchtliches Eigenthum, das größtenteils in liegenden Gütern besteht. Minder freigebig ausgestattet sind die 520 Weltgeistlichen des Landes; aber Taufen, Hochzeiten, Begräbnisse, Messen, Prozessionen, Beschwörungsseegen, oder besondre dreitägige Andachten der Gemeinden, um Netzen oder trocknes Wetter vom Himmel zu erbitten, tragen um so reichlicher ein. Die Religion kostet den Tessinern viel. Auch 200 bis 250 sogenannter Brüderschaften wären hier wohl noch mit anzurechnen, die alle ihre eignen Vorrechte, Auflagen, Einkünfte und Andachtspflichten haben. *) In seinen neuen Schriften, 3- und 4. Theil. Copenhagen 1800 . Seit Befreiung des Kantons aus der Knechtscbaft der Eidsgenossen- schaft bat eben dieser Bezirk Locarno. der jetzt SO.ovv Seelen zählt, kaum noch 180 gerichtlich anhängig gemachte Klagen wegen Vergebungen gegen Personen und Eigenthum. ***) Im Jahr 4833 zählte man in dem kleinen Lande 18S Advokaten und Notare. Bonstetten fand allein im Städtlein Locarno, zu seiner Zeit, 33 Advokaten ansäßig und nebenbei 37 Wirths- und Schenkhäuser. Treffliche Mittel den Volkswohlstand zu befördern! W« 2S5 Besseres ist allein von größerer Volksbildung zu erwarten. Allein dazu findet sich, aus sehr natürlichen Gründen, die Geistlichkeit schlecht geneigt, Hand zu bieten. Und wer kann es ihr, bei dem ihr eingeschärften blinden Gehorsam gegen den heil. Vater zu Nom, verargen, da Gregor XVI. in seinem bekannten Hirtenbrief an sämmtliche Patriarchen, Erzbischöfe und Bischöfe der katholischen Welt, gegen die für die Kirche so gefährlichen Fortschritte der Völker in wissenschaftlicher Bildung geeifert hat? —Erst im Jahr 1831, also dem achtundzwanzigsten seiner Unabhängigkeit, gab der gesetzgebende Rath des Kantons ein Gesetz über Einrichtung des gesamm- ten Schulwesens. Das Gesetz ist nicht übel, und paragraphenreich genug, aber leider nicht vollzogen, sondern vergessen. Eine Bildungsanstalt für Schullehrer ist nicht vorbanden; die wenigsten Gemeinden haben einen Schulfond. Viele nicht einmal eigne Schulhäuser; nicht einmal eigne Schulstuben, sondern man spricht dafür Platz im Hause des Pfarrers, oder Kaplans an. Die Lehrerbesoldung in den Dörfern übersteigt selten 30 bis 40 st. jährlich. Gemeinnützige Privatleute versuchten da und hier, selbst mit Opfern aus ihrem Vermögen, bessern Unterricht der Volksjugend zu bewirken: sie wurden verspottet, verläumdet und verdächtigt. Schon im Jahr 1826 versuchte man in einigen Schulen wenigstens den gegenseitigen Unterricht einzuführen; aber der Bischof von Como, wie die Chorherrn von Lugano und Locarno, schlugen sogleich Lärmen dagegen, wegen Gefahr der Religion. So unterblieb es. Besser, als für die große Masse der Volksjugend, ist für den Unterricht der Kinder wohlhabender Familien in Klöstern, Seminarien und Collegien Sorge getragen. Aber es herrscht darin mönch- hafter Geist. 2. Lugano. An den Seebusen des schönen Cerisio geschmiegt, in an- muthiger Nachläßigkeit, ruht Lugano, das schönste Städtchen des Landes, schon mit ganz italienischer Physiognomie. Erblickt man es zuerst vom See her, vom Halbmond seiner duftigen Hügel umkränzt; die Küste mit Dörfern malerisch bestreut, und mit Landhäusern und Gärten, wo Mandel- und Olivenbäume, Pfirsich- und Citronen- bäume ihr mannigfaltiges Grün vermengen, und Weinlauben längs den Ufern ihre üppigen Zweige über dem stillen Wellenspiel ranken lass;», während westwärts, gleich einem erloschenen Vulcan, der 226 SanSalvatore den Gipfel seiner Pyramide zn den Wolken streckt, — man mögte mit Bertoletti glauben, das niedlichste Kleinbild von Neapel zu finden. Die Stadt selbst, mit nur fünf und einem halben hundert Gebäuden und fünf und einem halben tausend Bewohnern, sechs Klöstern, mehreren Kirchen, Paliästen und öffentlichen Plätzen, trägt, bei der Mäßigkeit ihres Umfanges, das Gepräge einer gewissen großartigen Behaglichkeit. Auch pflegen sich gern hier reiche Fremdlinge während der Sommermonde anzusiedeln, um die Naturpracht der Umgebungen in ihrer ganzen Fülle zu genießen. Der Irrgarten dieser Thäler wetteifert im Wechsel der Reize mit dem See, welcher acht Stunden lang im großen Zickzack umherschweift um bald einer einsiedlerischen Hütte im Schatten des Kastanienwaldes, bald einer prächtigen Villa, bald finstern Felsenmaffen, bald freundlichen Dorfschaften zwischen Weinlauben und Maisfeldern, bald andern Uferbildern, den Spiegel vorzuhalten. Die Nähe der borromäischen Inseln, die Nähe des Comersecs in seiner wollüstigen Schwermuth, der lombardischen Ebnen und Mailands, sind, neben der Luganesen gefälligem und geselligem Treiben, allerdings lockend genug, bei ihnen zu verweilen. Fast hätt' ich unter den nachbarlichen Schönheiten das kleine Paradies von Mendrisio vergessen, einem Flecken mit andert- halbtausend Einwohnern. Jeder Fußsteg führt da zwischen den weichen Umrissen der Hügel zu Landschaftsgebilden, welche an Lieblichkeit der Formen und Farben, an Fruchtbarkeit des Bodens und üppiger Vegetation, Alles übertreffen, was diese Gegenden darbieten können. Sie umringen, wie ein Blumengarten, den erhabnen Rigi der südlichen Schweiz, den Monte Generoso, welchen die Anwohner auch Gionnero und Galvaggione heißen. Er, 5670 Fuß über dem Meerspiegel mit seinem Gipfel erhaben, (also 120 Fuß höher, denn der Rigi am Waldstättersee) gewährt über die Südseite der Alpenkette und ihre strahlenden Firnen, wie über die Umgegenden von Como und Mailand, durch die lombardischen Gefilde unermeßliche Fernsichten. Fast zu seinen Füßen schimmern rings um die Seeen von Lugano, Como, Varese und der Lago maggiore. In ungezählter Menge ruhn Städte, Flecken und Dörfer ausgestreut auf dem grünen Teppich der italienischen Ebnen, die, neben und hinter ihm nordwärts sanft aufschwellen, wie ein ungeheurer, im Winde wallender Schleier, dessen ferner Saum zuletzt himmelwärts flattert, und, mit seinen zerrissenen Kanten und silbernen Franzen, Gebirgsspitzen und Gletschergefunkel bildet. — Der Weg zum Gionnero hinauf ist überall leicht, gefahrlos und 227 mit einer Mannigfaltigkeit des Pflanzenreichthums bekleidet, wie ihn kein andrer Schweizerberg darbietet. Während drunten die ellenlange Traube Palästina's reift und der Feigenbaum wild zwischen dem Gestein mit seinem breiten Laube hervorquillt, begegnet man in den Kastanienwäldern aufsteigend, höher in den Buchen-, dann in den Tannenwäldern, endlich in den hohen Alpenwiesen, Kräuter in Fülle, die in der übrigen Schweiz selten, oder nirgends erblickt werden; droben die zarte Alpencrepis, die wermuth- undreinfarn- blättrige Achillee, das dreilappige Laserkraut neben dem blendenden Blau der kleinen Gentianen und den fröhlichen Rhododendern. Hie- her wallfahrten vor Allen die italienischen Botaniker. Wir zweifeln nicht, der prächtige Gionnero würde binnen wenigen Jahren die Eifersucht des Rigi erregen, wenn die Tessi- nesen jene Aufmerksamkeit und gewerblustige Berechnungskunst der deutschen Schweizer besässen, die für Schirm, Bequemlichkeit und gesellige Freuden der Lustreisenden, selbst rauhere und höhere Berge mit wirthlichen Gebäuden versehen. An Merkwürdigkeiten und Seltsamkeiten der Natur und Kunst ist die nächste Umgebung des Gionnero überreich. Ich dürfte nur das sich an ihm hinaufziehende Alpenthal Val Mara, oder Muggiothal nennen, dessen blumenreiche Abgründe keinen andern Thalboden, als die Wellen eines kleinen Baches, haben, von dem sich die Berghalden sogleich links und rechts, wie ein aufgeschlagenes Buch, aus einander legen. Tiefer abwärts in diesem Thal sah man im Dorfe Monte, vor wenigen Jahren noch, neben dem ärmlichen Pfarrhause, einen jener gigantischen Bäume, dergleichen auf dem Aetna einer berühmt ward, weil in dessen Schatten hundert Reiter Raum fänden. Der Nußbaum von Monte weicht dem Kastanienbaum des Aetna nicht an Majestät. Seine Zweige breiten sich über einen halben Morgen Landes aus. Eine Viertelstunde von da abwärts liegt das Dörflein Bruzella; merkwürdig durch seine treppenförmige Lage am Berge, und daß, auf dem geschlängelten Wege an der steilen Halde des Gebirgs, es eine volle Stunde Zeit kostet, jene Viertelstunde bis Monte zurückzulegen. Was könnte diese reizende Landschaft, die man kaum besucht und kennt, die an Fruchtbarkeit jede andre des Tessins übertrifft, aber an Wohlstand weit von Lugano und dessen Umgegenden übertreffen wird, — was könnte sie, unter den Händen eines bildungs- vollern Volks, bei höhcrm Gewerbsfleiß desselben, im Schirm der gegenwärtigen Verfassung des Staats werden! Aber Licht und Wärme der nämlichen Sonne rufen nicht überall auf dem Erdboden 228 die nämlichen Pflanzen und Thiere ins Leben; und dieselbe republikanische Freiheit, unter welcher Römer und Griechen, Britten und Nordamerikaner, mit entfesselter Kraft, allen Glanz des Wissens und der Kunst, des Reichthums und der Bürgertugenden errangen, gab auch Wilden und Barbaren das Recht, nach ihrem Gefallen Barbaren und Wilde zu bleiben. Die Völkerschaften der italienischen Schweiz hatten während der Jahrtausende ihres dunkeln Daseyns nur das Loos der Knechtschaft gekannt, und selbst in den Zeiten des Mittelalters, bei der Ohnmacht ihrer Tyrannen, nicht gleich andern Städten und Landschaften Italiens und Deutschlands, oder der Schweiz gewagt, das schimpfliche Joch zu brechen. Zerstückelt unter vielerlei Botmäßigkeiten, wie ehmals der lombardischen Machthaber, so nachmals der Schweizerkantone , hatten sie nie an einen Verein ihrer Kräfte gedacht. So blieben sie fort und fort der Unterdrückung und der Plündcrungs- lust ihrer wechselnden Herrn, weltlicher und geistlicher, preisgegeben. Von Kind zu Kindeskindern erbte knechtischer Geist fort, der an der Stelle des Muthes nur feige List, an der Stelle des sich für Gemeinwohl hinopfernden Großsinns, nur eigennützige Selbstsucht kennt, welche den Menschen vom Menschen, die Familie von der Familie, die Ortschaft von der Ortschaft scheidet und durch Auslosung und Entkräftung Aller, das Spiel des allgemeinen Unter- jochens erleichtert. Als im Sturm der französischen Staatsumwälzung auch das morsche Gebän der mittelalterischen Eidsgenossenschaft zusammengestürzt lag, wurden die tessinischen Landschaften nur herrenlos, ohne frei zu werden. Ortsintressen und persönliche Zutreffen, Ehrgeiz der Reichern, Habsucht der Aermern, bildeten Partheirotten, bewaffneten Thäler gegen Thäler, Dörfer gegen Städte, zogen die Einen zur Vereinigung mit der cisalpinischen, die Andern zur Vereinigung mit der helvetischen Republik. Die Freilassung dcS Volks entfesselte blos die rohen Leidenschaften des Sklavensinns, den alten Groll neidischer Eifersucht, die Wuth der Rachbegier für unvergessene Beleidigungen; während mit wechselndem Glück bald französische, bald österreichische Heerschaaren Meister dieser Landschaften waren. Wenn auch in der übrigen Schweiz die Erbitterung der politischen Partheien groß war, sie verlor sich doch nirgends zu so schauderhaften Rasereien, wie hier. Hier predigte der Fanatismus der Priester Aufruhr im Namen der Religion, die Raubsucht des Pöbels Plünderung der Reichen, der gegenseitige Haß Meuchelmord. In diesen Tagen der Gesetzlosigkeit ward Lugano (28. und 29. April L29 1799) vom wilden Landvolk mißhandelt, ausgeraubt und mehr denn ein Schuldloser ermordet auf offnen Straßen und Plätzen. Es war mehr denn ein Jahr nach den blutigen Ereignissen, als ich, (im Juny 1800) mit proconsularischer Gewalt ausgestattet, von der helvetischen Regierung in diese Gegenden gesandt wurde, sie verfassungsmäßig, als zwei Kantone, Bellinzona und Lugano, zu vrganisiren. Das mehrjährige Elend, welches Gesetzlosigkeit der Einwohner, und Zuchtlosigkeit fremder Kriegsheere über ein Land verbreiten können, hatte keine Versöhnung der Gemüther, keine Verbindung Aller zum Selbstschutz bewirken können. Ich fand das Ländchen in acht bis neun kleine, souveräne Republiken aufgelöst, die fast ohne Zusammenhang unter sich, zum Theil sogar Sperren und Zollstätten gegen einander errichtet hatten, und sich mit feindseligem Mißtrauen beobachteten; jede der vielen Repn- bliketten wieder in sich selbst zerrissen durch den Egoismus der Ortschaften , und in jeder Ortschaft wieder die Familien in kleine Fac- tionen auseinander getreten. Ich ward vom Klagegeschrei aller Par- theien umringt und betäubt. Vor allen Gerichten waren Prozesse wegen Entschädigungsfvrderungen und politischer Verbrechen im Gang. Wenn es mir gelang, gesetzliche Ordnung und öffentlichen Frieden herzustellen, ward es mir nur durch strenge Unpartheisam- keit und durch die Gewohnheit der Menge möglich, lieber dem Machtgebvt eines Befehlshabers von der Nordseite der Alpen, als den eignen Gesetzen Gehorsam zu leisten. Erst unter der napoleonischen Vermittlungsurkunde gewöhnte sich dies Volk allmählig an die empfangne Freiheit; die aufgeklärter» Männer des Landes sahn einer freundlichern Zukunft entgegen. Aber das Jahr 1815 und der »»glückbringende Bundesvertrag dieses Jahrs, löschten die glänzenden Hoffnungen schnell aus. Im Schutz dieses Bundes der Kantonalregierungen erhoben sich dieselben eigenmächtig zu Landesherr». Im Teffm, sagt Franscini, wurde bald wieder alle Oeffentlichkeit geächtet; die freie Presse verfolgt; die Repräsentation des Volks verfälscht; das Finanzwesen zerrüttet, die Staatseinnahme verpfändet; die Schuldenlast vermehrt, und die Bestechlichkeit derBeamtenRegierungssystem. Da erhob sich, zum erstenmal in wunderbarer Eintracht, das ganze Land voll Unwillens gegen die neuausgebrütete Aristokratie einzelner mitbürgerlicher Geschlechter, im Sommer des Jahrs 1829. Die Reform der Verfassung ward begonnen und glücklich durchgeführt, und lockte bald auch zwölf andre Kantone der Eidsgenossenschaft, im folgenden Jahre, unter S30 ähnlichen Beschwerden, zur Nachahmung des vom Tessin gegebnen Beispiels. 3. Focarno. Italienische Bauart, italienische Luft, italienische Naturpracht und italienische Nachläßigkeit! Weinreben, die wild und üppig über zerrissenes Gemäuer und verfallene Gestelle ranken; Kapellen zwischen Lorbeergebüschen, die sich hangend im See spiegeln; ein warmblütiges, regsames Völkchen voller Lebelust und Andacht unter einem Himmel, dessen Winter selbst den Citronen-und Pomeranzenbäumen, bei nur weniger Fürsorge, nicht gar gefährlich ist. Das Städtchen Locarno (deutsch Luggarus) am Lago maggiore, obgleich es in kaum 300 Häusern nicht volle 2000 Einwohner hat, ist dennoch, neben Lugano und Bellinzona, eine der drei Hauptstädte des Kantons Tessin, wo, abwechselnd mit jenen beiden, die höchsten Behörden des Landes, sechs Jahr nach einander ihren Sitz haben. Denn einer einzigen Ortschaft diesen Vortheil oder diese Ehre zu gönnen, wie in den meisten andern kleinen Staaten der Schweiz, dazu hätte sich neidischer Eigennutz, oder stolze Eifersucht der Teffinesen nimmermehr bereden lassen. Zudem ist die Stadt, in reizender Lage am Seehafen und Fuß des Gebirgs, in neuerer Zeit um Vieles verschönert worden. Es fehlt ihr nicht an prächtigen Kirchen neben vier Klöstern; und alle vierzehn Tage wird sie durch einen Markt, den bedeutendsten des ganzen Landes, belebt, wozu alle Gebirge und Thäler des Tessin, und das benachbarte Piemvnt und Lombardien, Käufer und Verkäufer in ihren bunten Landestrachten in Fülle senden. Ein Markttag zu Locarno ist wirklich eins der sehenswürdigsten Schauspiele, wo Männer und Weiber aus abgelegnen , nie von Fremden besuchten Thälern, in ihren oft geschmacklosen , oft malerischen Nationalgewändern, erscheinen und wie im Karneval durch einander schwärmen; hier halbnakte, braungelbe, schreiende Fischer, dort im neuesten Modegeschmack elegante Zier- linge; hier cretinenartige Geschöpfe, dort griechische Göttergestalten aus einem Piemonteserthal, oder die mit Gold- und Silberfransen geschmückten Schonen des Vegezzathals. Eine andre Merkwürdigkeit dieses Städtleins oder Marktsteckens ist der unsterbliche Spießbürgergeist seiner Bewohner. Man sollte es nicht glauben, und doch ist es Wahrheit, daß sich in dieser dünnen Bevölkerung noch immer, in siebenfacher Abstufung, ein Unterschied der Stände behauptet, oder vielmehr der Volksklassen, wie man, ,S ' 23t seit dem Mittelalter, nicht leicht anderswo in einem solchen Erdwinkel findet. Oben an stehn die Signori Nobili; ihnen folgen die Berghesi oder Bürger und die Terrieri oder alten Land- saßen. Sie haben den Vortheil der Weidgangsrechte auf übelbenutzten, vcrwahrloseten, weitläuftigen Bergwiesen, die den Antheil- habern im Jahr wenige Lire abwerfen, und durch bessern Anbau große- Geldsummen eintragen könnten. Minder beglückt durch solche Privilegien sind die Oriondi (Eingewanderte aus den Dörfern), die Sessini oder Hinterfüßen, die Quatrini und dieMen- sualisti, oder hier angesiedelten Ausländer. Vor Zeiten war Locarno größer und reicher, als in unsern Tagen. Noch im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts, wie man versichert, zählte der Ort fünftausend Einwohner. Der düsterste Fanatismus half ihn entvölkern und des alten Wohlstandes berauben. Ein frommer und freisinniger mailändischer Priester, Beccaria, hatte schon ums Jahr 1534 den Geist der Kirchenverbesserung nach Locarno gebracht. Wie still sich der Reformator mit den übrigen Neugläubi- gcn verhielt, ward er doch für den aufgewiegelten Pöbel der Gegenstand des Fluchs. Seines Lebens nicht mehr sicher, mußt' er sich in das Misorerthal der freien Bündner flüchten. Aber auch seine kleine verlassene Gemeinde hatte kein besseres Loos. Durch Beschluß einer Tagsatzung der Kantone ward entschieden, daß die reformirten Lvcarner, wenn sie nicht zur katholischen Kirche zurückkehren würden, ihre und ihrer Väter Heimath mit Weibern, Kindern und all ihrer Habe auf ewige Zeiten verlassen sollten. Am 16. Jänner 1553 ward ihnen das schwere Urtheil verkündet und die Frist ihres Abzuges auf den dritten Tag Märzes angesetzt. Allein folgendes Tages traf der päpstliche Nuntius OctavianRiperda, in Begleitung von zwei Mitgliedern der Inquisition, ein. Dieser Mann Gottes überhäufte erst die Gesandten der Herrscherkantone mit Vorwürfen wegen ihrer Menschlichkeit und Milde; forderte dann die Austreibung der Abtrünnigen ohne längere Verzögerung; auch sollte man den Eltern ihre Kinder entreißen, um wenigstens die Seelen der Letzter» zu retten. Zwar blieb es im Ganzen beim frühern Beschluß; indessen bewirkte der Nuntius doch, daß ein längst eingekerkerter Reformirter hingerichtet werden mußte, weil ihm Schuld gegeben war, die heilige Jungfrau gelästert zu haben. Der dritte März erschien. Es lag, bei scharfem Frost, tiefer Schnee. Aber ohne Erbarmen wurden Männer und Weiber, Greise und Kinder, zur Abreise versammelt, über anderthalb hundert an der Zahl, die von ihrem Glauben nicht lassen wollten. Da trat ein 232 Geistlicher gegen den traurigen, zitternden Haufe» und rief: »Es fehlt einer von ihnen, Antonio Trevano!» — Erlag gefährlich krank. Aber man riß den Mann aus dem Bette, und schleppte ihn zu den Uebrigen. Der Priester schrie abermals: »Auch ein Weib fehlt, die Frau des Giovanni de Riva!" Sie war in derselben Nacht niedergekommen. Priester und Pöbel eilten dahin, rissen die Wöchnerin aus dem Bette und schleppten sie mit ihrem Säugling zu den Uebrigen hin. Der lange, jammervolle Zug der Verstoßenen trat durch Schnee und Frost die Wanderung an. Man warf ihm Steine und Schneebällen nach, Flüche und Spottnamen. An demselben Tage starb unterwegs die junge Wöchnerin, und ihr Säugling und der unglückliche Antonio. Der Zug mußte bis in die dunkle Nacht noch bis ins Misoxerthal fortgesetzt werden. Diese Auswanderung der Loca^ner, dies Werk der Priester, im Namen des Gottes der Barmherzigkeit und der Religion der Liebe vollbracht, bildet ein finstres Seitenstück zur Emigration der Salzburger. Im Mai kamen 116 der Ausgestoßenen über den See gen Zürich. Unter ihnen befanden sich wissenschaftliche Männer, Künstler, Handwerker und die alt adlichen Geschlechter der Ore lle, Muralte und Duno's. Ihre Ankunft war ein Fest- und Freudentag der edelmütigen Züricher, welche die Vertriebnen mit rührender Liebe und Gastfreundlichkeit aufnahmen und behielten. Diese siedelten sich hier an; gründeten Seidenfabriken und andre Gewerbe. Locarno's Wohlstand aber ging niederwärts, und hat sich nach beinah 300 Jahren nicht wieder erheben können. Weder Fülle und Fruchtbarkeit des Bodens half, noch der Vortheil des bequemen Hafens am vielbe- schifften Lago maggiore, der sich in einer Länge von mehr denn 15 Stunden, zwischen der Schweiz und Italien dem Handel als Wasserstraße anbietet, welche westwärts mit dem Verkehr von Genua, ostwärts durch den Tessin, durch den großen Kanal und den Po, mit dem adriatischen Meer in Verbindung setzt. Seit 1826 durchkreuzt diesen schönen See auch ein Dampfschiff von 16 Fuß Breite und 90 Fuß Länge, mit der Kraft von 14 Pferden. Was ehmals Locarno war, hat zum Theil ein vordem unbekannter, kleiner Ort, am gleichen Seeufer, in der Nähe des lom- bardischen Städtchens Palanza errungen. Er heißt Jntra. Er gleicht einer schön gebauten Stadt, mit großen Plätzen, weitläuf- tigen Gebäuden, Fabriken, Manufakturen, Bleichen und Färbereien. Er hat sich des großen Transithandels bemächtigt und selbst viele Schweizer haben mit ihrem Gewerbsteiß hier Niederlassung gewählt, weil sie auf dem Boden einer Monarchie größere Freiheit fanden. 233 als auf der Schweizererde von Locarno, wo sie von republikanischer Spießbürgerei des Orts, von priesterlicher Bigoterie und Unwissenheit des Volks überall beschränkt wurden. Auch ists in der Nähe von Jntra, nur eine Stunde von da, wo aus dein Schoos des Sees die Gneis- und Glimmerfelsen der dreiborromäischen Inseln emporsteigen, deren Gärten die Seegegend weit umher mit dem Wohlgeruch ihrer Blumen füllen. Wer kennt sie nicht aus den zahllosen Beschreibungen und Abbildungen ? Und doch ists mehr die Pracht und stille Hoheit der Gebirgs- umgebung, und die zwei Stunden weite Dehnung von der Breite des Wasserspiegels hier, welche auf das Gemüth des Wanderers zauberhaft einwirkt, als das steife Gartenwerk der Inseln selbst. Zwar ihre Palläste, ihre Umbüschungen und die sie umschwebenden Blüthendüfte machen in einer gewissen Ferne wunderlieblichen Eindruck. Aber bald wird er in der Nähe der Jsola bella, durch ihre starre Terrassen - Pyramide gestört, welche dem geschmacklosen Kunstwerk eines Zuckerbäckers ähnelt, das er zu einem Tafelaufsatz bereitet hat. Zwar die Jsola bella und madre mit ihrer mannigfaltigen und üppigen Vegetation, mit ihren Lauben von Citronen, Oliven, Rosen und Myrthen, mit ihren Cypressen - und Lorbeerhainen und den zwischen Felsen und Gemäuern wuchernden Agaven, Kaper- und Jasminsträuchen erregen eine Zeitlang Erstaunen und Bewunderung. Allein das erste Entzücken verfliegt nach wenigen Tagen, da man überall in dem Gedränge der Herrlichkeiten Ueber- ladung und Künstelei findet, bei der zuletzt nur das Interesse des Botanikers und Gärtners anhaltender beschäftigt werden kann. L34 XIV Kanton Wallis. 1. Dir örürke von öl. Mauricr. Eins der merkwürdigsten Thäler, nicht der Schweiz, sondern des gesammten Eurvpa's, steigt in einer Strecke von 36 Stunden, selten oder nie eine Wegstunde breit, vom obern Theil des Genfer- sees bis zu den Rhonegletschern, an der Furca empor. Zur Rechten und Linken ist es von den allerhöchsten Gebirgen des Welttheils umfangen, zwischen welchen sich, von den Alpenhöhen herab, sechs- zehn Seitenthäler niedersenken und ausmünden. Im Hintergründe, ostwärts, wird es vom St. Gotthard und dessen Ncbenbergen verrammelt. Durch die Tiefe wälzt, zwischen Felshügeln und verheerten Ufern, der Rhonestrom seine weißgrauen Wellen, mit Steinschutt. Einzelne hohe Schuttkegel und Felsenhügel erheben sich, zum Theil schon wieder vom Strom zerfressen, im Thalbvden, als Ueber- bleibsel furchtbarer Ueberschwemmungen und Erdbeben. Die Menschen haben sich mit ihren Städten, Dörfern und Weilern dicht an den erhabnen Rand der Berge zurückgezogen, oder auf deren Höhen. Mehr, als ein halbes Hundert alter Burgen und Schlösser hängt an und auf schroffen Felsen umher, grau und schwarz wie sie, meistens in Trümmern. Alles stellt eine ungeheure landschaftliche Ruine dar. Aber die Natur hat diese Ruine freundlich in Wiesen und Wälder gehüllt und in eine Mannigfaltigkeit von Pflanzen, deren schon Albrecht Hall er 3400 Arten zählte. Hier blüht die reichste Flora der Schweiz nordwärts der Alpenkette. Zwischen den Klippen von Sion wuchert der Granatbaum hervor, und weit jenseits droben, über die Lärchtannen der Alpen hinaus, wandelt man unter den Gesträuchen und Blumen Islands. MMM .MWW M'M MM » S35 Das ist das Wallis, mit einer Volkszahl von 70 — 80,000 Seelen. Die Ausdehnung seines Flächenraumes ist unbekannt: Wer weiß die Gränzen der Lander auf Gletschern und Firnen, die bei zwölf Stunden Wegs weit zusammenhängen, oder in unbewohnbaren Felsenwüsten zu finden? Es genügt, sie zu kennen, wo Stras- senzüge über den Rücken der Hochgebirge laufen; oder ivv Alpen- dörfer, die ein halbes Jahr im Schnee vergraben liegen, ihrem Vieh zwischen Kulmen und Zinken der Berggräthe Sommerweide suchen müssen. Wiewohl sich längs dem linken Rhoneufer die Walliser Berge bis zum Genfersee erstrecken, tritt der Reisende auf der Landstraße doch erst beim Städtchen St. Maurice in das wunderbare Land ein. Hier drängen die einander gegenüber aufragenden Klippen und Felswände des Deut de Morcle und de Midi so eng zusammen, daß der Rhone kaum Raum bleibt sich hindurch zu pressen, und man vor Zeiten mit einem Schlüssel des Brückenthvrs den ganzen Kanton Wallis auf dieser Seite zuschließen konnte. Denn die Brücke, aus gehauenen Steinen, verknüpft beide Berge. Der Strom, der Engpaß, die Brücke, ein alterthümliches Schloß daneben, zum Theil bewohnbar, zum Theil nur zerfallendes Gethürm und Gemäuer, und an himmelhoher Felswand droben eine in dieselbe eingeschnittne Einsiedelei, bieten ein romantisches Bild dar. Das alte Rom hielt hier schon Militärposten; Kaiser und Könige des Mittelalters beschenkten die Abtei von St. Maurice mit Kleinodien und Reliquien, als einen der gesammten Christenwelt hochheiligen Ort. Denn ohnweit der Stadt selbst soll die thebäischr Legion den Märtyrertod erlitten haben; auf dem mit ihrem heiligen Blut geweihten Platz Verollat sieht man heut noch gläubigen Wallfahrter« eine Kapelle geöffnet. St. Maurice und der gesammte untere Theil des Wallis bis zum Fluß Morse, war ehmals unterthänigesGebiet der sieben freien Bezirke oder »Centen» des obern Wallis; und jeder dieser Centen war , was er auch izt noch ist, eine eigne selbstherrliche, mit den andern Bezirken verbündete Republik, unter selbstgewählten Obrigkeiten und selbstgegebnen Gesetzen. Auch heut noch ist das Land ein Fvderativstaat, ohngefähr wie Graubünden; nur mit dem Unterschiede, daß jetzt das weiland herrschende Oberwallis in acht Centen zerfallen ist, und daß die ehmaligen Landvogteien imUnter- wallis zu 5 eben so freien »Centen» oder kleinen Republiken erhoben sind, welche in allgemeinen Angelegenheiten des Kantons, ihre Gesandte so gut, wie jene, zum Bundesrath, der aber »Land- L36 rath" geheißen wird, jährlich zweimahl nach der Hauptstadt Sivn schicken. Inzwischen ist wohl dafür gesorgt, daß das freigelassene Unter- wallis, vbschvn es im Besitz einer großern, gewerbigern und zum Theil gebildetem Bevölkerung ist, im Landrath nicht den Meister spielen könne. Seine fünf Centen haben nur das Recht 20, hingegen die acht Centen des Oberwallis, 32 Stimmen in jener Staatsversammlung hören zu lassen. Dies ungleiche und, wenn man will, unbillige Verhältniß hat schon zu Zwisten und bürgerlichen Unruhen Anlaß gegeben. Ohnehin sind beide Landestheile von Nachkömmlingen zwei verschiedner Völkerstämme bewohnt, ungleich in Sprache, Charakter und Gesittung. Denn während in der obern Hälfte des Landes die Einwohner der Thäler deutschen Ursprung beurkunden, erscheinen die der untern als Kinder galischer oder romanischer Abkunft. Sie sprechen französisch, oder im Allgemeinen vielmehr ein wirres Welsch, welches aus Wörtern so vieler Nationen zusammengeschüttet worden ist, als sich jemahls in die Klüfte dieses Hochlandes auf Irrfahrten verloren haben mögen. Man hört da römisch und deutsch, neufranzösisch und galisch, hunnisch und arabisch durcheinander klingen. Denn sowohl von den Hunnen Attila's blieben hier zwischen Felsen sitzen, als im achten Jahrhundert von den Saracenen, oder »Jsmaeliten«, wie sie in Mönchschroniken heißen, zurückgeblieben seyn mögen, deren kriegerische Horden die Dörfer und Klöster ohne Unterschied damals ausplünderten. Hier wäre für Alterthums - und Sprachforscher reiche Ausbeute zu machen. *) Das biderbe, ungelenke > bedächtige Wesen der deutschen Wal- liser sticht gegen das lebendigere, redseligere und gefälligere der romanischen sehr ab. Wenn die Letztem streit - und prozeßluftiger sind, als jene, ist dies wohl eine Erbkrankheit, die ihnen, eben so gut, wie den Tessinem, von ihren ehmaligen gnädigen, aber gewinnsüchtigen Herrn und Landvögten eingeimpft worden ist. Eine Art Nationalphysiognvmie, wie man in vielen andern Kantonen findet, unterscheidet man hier nicht. Die Bewohner der seitwärts aufsteigenden Hochthäler sind im Ganzen kräftiger, frischer *) Ein neuerer Reisender gibt davon ein Prvbchen. Als er in eine Hütte des Thales Herens trat, befahl der hochbetagte Eigenthümer derselben, einer jungen Frau, dem Fremden einen Stuhl anzubieten, mit folgenden Worten: „dteurL, treioUo dretscki on oadö u --u sah»!" Wörtlich sollte dies heißen: »Schweizertochter, spring, bringen einen Stuhl dem Herrn." 237 und größer, als die des Rhone-Thals; Schönheiten jedoch in beiden Geschlechtern selten, oder durch ««gestalte Kleidertrachten entstellt. Die Männer (ich spreche von Landleutcn) wandern in ihren Jacken, Westen lind Kurzhosen von grobem, braunem, oder schwarzem oder blauem Landtuch, meistens ziemlich unreinlich, einher; eben so unzierlich die Weiber, und nachläßig, in ihren Wämsern, Schnürbrüsten, das kleine runde Hütchen auf dem Kopf mit alten verblichenen Bändern verziert. Man findet hier so wenig als im Tessin, jene sonst bei Schweizer-Landleuten übliche große Sauberkeit, oder Eigenthümlichkeit der Tracht, vorherrschend. Eben so vernach- läßigt und schmutzig find in der Regel auch die ländlichen Wohnungen; selten nur von Stein und dann halbverfallen; mehrentheils von Holzstämmen, klein und niedrig, schwarz geräuchert, mit kleinen, alters - oder schmuzblinden Fenstern. Hin und wieder sieht man auch noch die alten Gemeindshäuser an ihrer Vorderseite grauenhaft mit Köpfen und ausgestopften Fellen von Bären, Luchsen, Wölfen und andern Raubthieren geschmükt, wie in einigen Berggegenden Grau- bündens. Den traurigsten Anblick aber gewähren in den tiefern Rhone- landschaften des Unterwallis die zahlreichen Cr etinen. Man kann im Durchschnitt in Ortschaften, die dem Cretinismns unterworfen sind, noch immer, auf hundert Einwohner, eins dieser elenden Wesen rechnen, die mit erdfahlen Gesichtern, schlaffen Mienen, dumm- ftierenden Augen, Hals und Brust ekelhaft von ungeheuren Kröpfen belastet, zuweilen kaum Spuren der Vernunft verrathen. Manche sind sprachlos; ihre Stimme gleicht nur dem Blöcken eines Thiers; ihr grinsendes Lächeln jagt Furcht und Grausen ein. Noch immer bleiben die Ursachen dieser entsetzlichen Verzerrung der menschlichen Gestalt Geheimniß. Thatsächlich aber ist, daß der ausgebildete Cretinismus hauptsächlich nur in Gebirgsländern (aller Welttheile) und dann nur in den tiefern Gegenden derselben bemerkt wird, die durchwässerten sumpfigten Boden und feuchte Luft haben, auch (wie an Schattseiten der Berge) eine zeitlang im Jahre der Frühstrahlen der Sonne entbehren. In ebnen Ländern, in hochgelegenen Thälern, an trocknen sonnigten Seiten tiefliegender Thäler, erblickt man keine, oder nur selten, dergleichen unglückliche Geschöpfe. Unreinlichkeitund schlechte, wenig abwechselnde schwerverdauliche Nahrungsmittel, mögen bei Menschen, mit Anlagen zu scrophulösen Krankheiten, das Uebel bedeutend befördern. Die benachbarten, moorigten User des Genfersees und dazu die von Zeit zu Zeit eintretenden Ueberschwemmungen der Rhone, 238 tragen ohne Zweifel nicht wenig zum Verderben einer Athmosphäre bei, die mit Snmpfluft geschwängert, in Hochthälern, sonnigtcn Gegenden und Ebnen etwa blos Wechselfieber erzeugen wurde. Zwischen den riesenhaften Felswänden und über einander gelagerten Bergen erzeugt der Sommer wahrhaft italienische Hitze, worin sich eine südliche Pflanzenwelt, zwischen Kastanienwaldungen und Weinreben, ausschließt. Oft aber wird durch die aus Thalschluchten vorstürzenden Bergwinde die Luft plötzlicher abgekühlt, als es der menschlichen Gesundheit immer zuträglich seyn mag. Merkwürdig ist dabei, daß der gewöhnliche trockne und kühle Ostwind im großen Rhonethal von Westen kömmt, und der Südwestwind sich von Osten her mit seinen Regenschauern thalabwärts wälzt. Die sonderbare Erscheinung erklärt sich durch die Lage des Wallis, indem es sich von Nvrdvsten nach Südwesteu senkt. Morgenwärts wird der Ostwind von den hohen Gebirgen des Gries, des Gott- hard, der F u rc a, G r i m se l u. s. w. aufgefangen und wieder himmelwärts geworfen, und wenn er abendwärts wieder zum Thal niederfährt, prallt er von jenem Gebirgswall zurück, welcher vom St. Bernhard bis zum Deut de Midi das Thal dort zu verrammeln scheint. Hingegen die Süd- und Südwcstwinde ergießen sich durch die Seitenthäler au den piemontesishen Gränzen und werden von den gegenüber aufragenden Mafien der Hochalpen längs den Bernergränzen aufgefangen, dem Lauf der Rhone nach, abwärts gegen Westen hin gelenkt. Ich danke diese Beobachtung, die wenigen Reisenden bekannt ist, einem Mitgliede des wallisischen Staatsrathes, welches zugleich Arzt und Naturforscher ist. Es wäre unrecht, im Unterwallis des Städtchens Martigni, oder Martinach, oder wenn man will des altrömischen Octodurnm, zu vergessen. Es entfaltet am Fuß des St. Bernhardberges eben so romantische Ansicht und prachtvollere Aussichten, als St. Mau- rice, besonders von der Felshöhe, auf welcher die bemooseten Trümmer der Burg Labatie, oderBaftida, mit dem hohen, runden zerfallenen Wartthurm über die Thalwelt hinschauen. Von da erblickt man unter sich die freundlichen Wohnungen des Städtleins und weit hinauf das lange Wallisthal, wie eine Riesengasse, deren Palläste, links und rechts, Alpen und Gletscher sind, bis zum fernen Hintergrund, wo Alles im blaffen Licht der Firnen verdämmert, die den St. Gotthard umringen. Man übersieht die lange Reihe von Verwüstungen der unbändigen umherschwärmenden Rhone, > und jene einzelnen, sonderbaren, in der Ebne von ihr aufgethürmten Schnttkegel, wenn etwa einmahl da und hier herabgestürzte Lauinen oder Felsen ihren Laus unterbrachen und ihre Wildheit steigerten. Zum Beispiel im Jahr 1505 schwoll, so gehemmt, der Strom bis Martinach empor und fluthete da Menschen, Vieh und einige Hundert umherliegende Wohnungen mit sich hinweg. Was vermag der Sterbliche mit aller Kunst gegen dergleichen Naturgewalten? oder wer im Gebirg weiß immer, von welcher Seite ihm der Tod droht? Ohnweit der Stadt mündet sich der Bergstrom der Dranse in die Rhone aus. Er rinnt aus den zehn Stunden langen Bagnegletschern zusammen. Im Frühling des Jahres 1818 waren, wo sich das freundliche, alpenreiche Bagne- thal eng gegen den mehr, als 13,000 Fuß, erhabnen Berg Cumbin ausspiyt, ungeheure Eismaffen von den Getroz-Felsen hcrab- geftürtzt. Sie verrammelten, 400 Fuß hoch und 3000 Fuß dick, den Ausgang des schmalen Hochthals, und den Ablauf des Dransestroms, der endlich dahinter zu einem beinah 200 Friß tiefen See anschwoll, 650 Fuß breit und über drei Viertel Stunden Wegs laug. Tausende in den untern Thalgeländen, in Dörfern und Weilern, zitterten jede Stunde des Tags und der Nacht vor dem Augenblick, wenn der Druck einer so gewaltigen Wassermasse den Gletscher- wall plötzlich durchbrechen würde. Die Gefahr zu mindern, wurden kunsterfahrne Männer zu Hülse gerufen. Man schlug durch den Eis- damm einen Stolln, den See allmählig abzuzapfen; gefährliche Arbeit; Menschen hingen und kletterten, wie Ameisen, an den schlüpfrigen Schneemasscn und glatten Eisklippen umher. Das Werk aelang. Das Gewässer begann allgemach abzufließen. Aber eines Nachmittags (am 16. Junn) sprengte mit Donnergetöse der Druck des Sees den Eiswall aus einander. Der sich überwälzende Schwall der Fluth ftnrtzte brausend von Alpen zu Alpen nieder, durch Wälder und Dörfer, Alles zerreißend, was nicht jählings flüchtete. Bei fünfzig Menschen verloren in den Wogen das Leben. Ein Schaden von 1,109,759 Franken, nach amtlicher Schätzung, ward in einer Menge von Ortschaften beklagt. Zu Martigni allein wurden mehr denn 80 Gebäude verwüstet; und mehr, als eine halbe Million reichte nicht hin, hier das angerichtete Verderben zu ersetzen. Fast alljährlich wiederkehrende Ueberschwemmnngen der Rhone versumpfen und verpesten Boden und Luft der Umgegenden von Martinach, in denen Kretinen und Kröpfe, mit allen Abstufungen des Uebels, am häufigsten angetroffen werden. Indessen verbreitet der Waaren-Paß, welcher Italien mit dem Norden hier über den großen Bernhardsberg verknüpft, dennoch einen gewissen Wohlstand und einen Arbeitssteiß, welcher, als wollt' er die Wildheit 840 der Natur durch Schmeichelei versöhnen, ihre Verwüstungswerke mit immer schönern Gebäuden, Fruchtfcldern, Anlagen, Gemüse- und Blumengärten umkränzt. In Erwähnung des St. Bernhardsberges mögt'ich die zahlreichen Schilderungen desselben hier nicht vermehren. Man kennt die Schrecken dieses rauhen Weges, im Winter durch tödlichen Frost, im Frühling durch Herabsturz der Schneelauinen, im Sommer durch Gewitterstürme, verführerische Nebel und plötzliche Schneegestöber gefährdet. Man kennt die menschenfreundliche Stiftung des HospizeS auf der Höhe des Uebergangs, 7680 Fuß über dem Meere, wo in allen Jahrszeiten 8 — 12 Augustinermönche Wohnung haben, um Reisende, und wären es ihrer 2 — 300 zugleich, gastfreundlich zu verpflegen; oder mit Hülfe ihrer klugen Bernhardshunde Verunglückte zu retten; kennt das Todesthal im wüsten Chaos zusammengefallener Berge, wo die Todtenkapelle eine Leichenherberge der von Frost und Schnee getödteten Wanderer ist. Von jener Kapelle an, bis zum kleinen See jenseits dem Kloster, predigt hier wie vielleicht an keinem andern Ort, Kunst und Natur, zwischen Eis und Himmel, nackten, starren Klippen und jenem Kirchlein, welches das Mausoleum des Feldherrn Oesair aus weißem Marmor bewahrt, alles nur Tod, Entseelung der Natur, Untergang. Ob vor 2000 Jahren schon Hannibal mit seinem Heer sich über dies Gebirg nach Italien Bahn gebrochen habe, wird wohl ein Räthsel für Alterthümler bleiben; aber in frischer Erinnerung ist, wie in neuerer Zeit ein neuer Hannibal seine Tapfern zur Eroberung Italiens hinüber geführt hat. Mehr denn 150,000 Mann des französischen Heers unter Napoleon überstiegen nach einander, binnen drei Jahren, den Berg. Als Cäsar Berthier (im Anfang Novembers 1810) mit seinen Heerhaufen , die er dem Kaiser Napoleon zuführte, über den Bernhard zog, ward die Kälte so furchtbar, daß einer Menge der Krieger Hände, Ohren, Nase und Füße ersteren. 2. öion oder öittcn. Die Hauptstadt des kleinen wallisischen Bundesstaates, nicht unzierlich gebaut, doch kaum von drittehalbtausend Seelen bevölkert , liegt am Fuß des Gebirgs, hinter welchem das zehntausend Schuh hohe Wildhorn die beschneiten Zinken verbirgt. Um zwei Felsenhöhen voller Klippen, aus den Wiesen der Ebne hervorsteigcnd. !:/ W MiiW r S41 lagern sich malerisch Wohnungen, Kirchen und Klöster des Städtchens; und auf jedem jener Felsgipfel, 4 und 500 Schuh hoch, schauen zerfallene Burgen und Tempel über die fruchtbaren Flächen des Grosthals, welches sich hier am breitesten ausstrekt. Ein Bergstrom, dieSionne, oder der Sittenbach, dem Gletscher desGeltenhorns entsprungen, stießt da vorüber, dem Bett der Rhone zu. Bald steht er wafferlos, bald schwillt er über seine Ufer hinweg und verödet die Nachbarschaften; am gefährlichsten aber dann, wann zugleich die ebenfalls angewachsene Rhone seine Gewässer gegen die Stadt zurückstauet. Dann wird das Land umher zum See, und Wellen rauschen durch die Gaffen des untern Stadttheils, welche mitBerg- schutt und Sand überfüllt werden. Im Jahr 1778 lagerte der her- untergcwälzte Schutt so hoch auf dem Straßenpstaster, daß er das Thor gegen Leuk vollkommen verschloß. Wer nach Ablauf des Wassers zum Thor hinauswollte, mußt sich gefallen lassen, auf dem Bauch hindurch zu schlüpfen. Das Hinwegräumen der angeschwemmten Grien- und Kieslager verursachte einen Aufwand von 150,000 Franken, ungerechnet den Schaden an Gebäuden, Geräthen, Wein- und andern Waarenvorräthen. Die beiden roiiigllkisKktl, mit Trümmern gekrönten, Anhöhen neben der Stadt heißen Tourbillon und Valeria. Auf jener stand vorzeiten eine bischöfliche Burg aus dem dreizehnten Jahrhundert. Sie ward (erst am 24. Mai 1788) ein Raub der Flammen, als zugleich zwei drittel der Stadt von einer Feuersbrunst in Asche gelegt wurden. Binnen vier Stunden waren dreihundert Familien ohne Obdach; 126 Wohnhäuser, nebst mehr denn hundert Scheuren und Ställe, Staub und Kohle. Auch auf dem hohen und langen Felsen von Valeria, der an drei Seiten senkrecht in die Tiefe geht, war vorzeiten eine Burg zu sehen, deren gothischer, vierekter Thurm, ein Denkmal ihrer Stärke, den Jahrhunderten trotzte; und nur 40 Schritt westwärts, das Schloß Majoria, der Bischöfe von Sion alter Wohnsitz. Dies Alles, mit seinen alterthümlichen Herrlichkeiten ging an jenem Schreckenstage in den Gluten unter. Mancher andere Unfall früherer und späterer Zeiten schmälerte aber besonders die Macht des Mächtigsten in diesem Hochlande Der Schweiz, nämlich des Bischofs, der sich des heiligen Röm. Reichs Fürst, Graf und Präfect des gesammten Landes hieß, und ehmahls nicht nur geistliche, sondern auch weltliche Gerichtsbarkeit über alle Völkerschaften im Wallisgebirg ausübte. Indessen gilt auch heut noch jeine Stimme im allgemeinen Landrath des kleinen Bundesstaates soviel, als die Stimme jedes der dreizehn Centen oder 242 Zehnten; und weit wirksamer noch ist sein Einfluß auf die unwissende, glaubensvolle Bevölkerung der 112 Pfarreien und Kapla- nei-Oerter geblieben, und auf eine zahlreiche Welt- und Kloster- geistlichkeit, die in jedem Zehnten von einem seiner Statthalter oder „Supervigilanten" bewacht und geleitet wird. Das Ansehen weltlicher Beamten in einem Volksstaate beruht auf der oft unsichern Autorität der Gesetze, und auf den wandelbaren, materiellen Interessen der Familien. Der Beamte selbst ist das Geschöpf der Volkswahl. Nicht also der Priester. Er steht unabhängig in der bürgerlichen Gesellschaft, als Diener und Geweihter einer fremden und höhern Gewalt, mit deren Geheimnissen er vertraut ist. Die Zutreffen , welche die Volksmenge an ihn knüpfen, sind die feierlichsten der Menschheit, Erwartungen von Ewigkeit, Strafen und Belohnungen nach dem Tode, die Stimme der Kirche tönt weit über das Grab hinaus. Der bürgerliche Gesetzgeber, der Richter und Regent straft nur den Leib, berührt nur das Haus und äußere Gut. Der Priester ergreift das innere, geheime Leben seiner Gläubige», leitet sie damit nach seiner Ansicht. Der Staatsmann, wie der Vorsteher des kleinsten Dorfes, unterwirft sich der, nicht im Namen des Priesterthums, sondern im Namen Gottes und seiner Heiligen, geübten Herrschaft; wenn auch nicht immer auS religiöser Ehrerbietung, doch aus furchtsamer Weltklugheit. Denn wer mit der Geistlichkeit bricht, von dem weicht das überfromme Volk zurück, Religion s- gefahristden katholischen unwissenden Hirtenvölkern eine furchtbarere Drohung als Vaterlandsgefahr. Alle kleinen katholischen Republiken der Schweiz, nur mit wenigen Ausnahmen, sind heutiges Tages wahre Thevkratien, in denen sich die priesterliche Hoheit, zwischen aristokratischen und democratischen Elementen, beide durchwuchernd, beide verdeckend, emporgedrängt hat. Weltliche Obrigkeit, ohne Beistimmung der geistlichen, steht machtlos. Die eine, wie die andere, sind sich dieses Verhältnisses bewußt; aber der Clerus, mit schlauer Bescheidenheit, gesteht nur ein, daß die Kirche neben dem Staat, nicht über ihm sey; und die weltlichen Magistrate fühlen sich durch dies Zugeständniß, wenn auch nicht geschmeichelt, doch getröstet. Mit gleicher Eifersucht, wie die irdische Regierung den Gränz- umfang des Landes gegen die Nachbarstaaten hütet, bewacht die priesterliche, Grund und Boden ihres geistigen Gebiets gegen weltliche Eingriffe. Dieser Boden, auf welchem ihre Macht ruht, und aus dem sie erwächst, ist die fromme Unwissenheit der Volksmenge. Darum behält die Pricsterschaft sich die Besorgung des öffentlichen 243 Unterrichts und Leitung des Schulwesens in Wallis vor. Sie will für den Geist des großen Haufens keine Erleuchtung, die zum Selbstdenken verführt, keine höhere Belehrung. Denn mit des Volkes Mündigkeit würde des Priesters Vormundschaft enden. So bleibt dies Land in angestammter Geistesarmuth, deren Gefolge, neben zäher Anhänglichkeit an Uebung und Aberglauben der Vorwelt, häusliche Verarmung in Dörfern und Städten ist. Zu Sion und Brieg haben auch die Jesuiten seit zehn Jahren wieder Collegien, in welchen die Söhne vornehmerer oder reicherer Familien ihre Geistesrichtung empfangen. Fabriken und Manufakturen oder öffentliche Bibliotheken sucht man da nicht. Doch zur Bcgünstb gung des Waarendurchgangs unterhält der Staat gute Hochstraße» durchs Hauptthal, die nicht mehr, wie vorzeiten, mit den schauerlichen Jnsignien der wallisischen Justizpflege geschmükt sind. Vorzeiten nämlich sah man, längs allen Landstraßen, Hochgerichte und Schnellgalgen, an welchen die verwesenden Leichname der Gehenkten Jahrelang zur Schau blieben. Jeder der kleinen Bezirke, oder Centen, besaß seinen eignen Galgen, wie sein eignes Blutgericht, wodurch er selbstherrliche Macht beurkundet. Man muß eS, als Fortschritt der Gesittung betrachten, daß jetzt diese ekelhaften Schauspiele abgeschafft sind, an welchen besonders der Zehent von Lenk übermäßiges Wohlgefallen zu haben berühmt war. Eben so findet längst auch eine andere, zwar minder grausame, aber nicht minder widerliche Strafart in Wallis nicht mehr statt. Wer ehemals außer Stand war, seinen Gläubigern die Schuld zu zahlen, ward nach empfangenem Urtheilssprnch, vor das bischöfliche Schloß geführt, begleitet von allein schaulustigen Volk. Hier, in Gegenwart der ehrbaren Versammlung beiderlei Geschlechts, mußt'er die Beinkleider abziehen und mit entblößtem Hintern, den Zuschauern gegenüber, auf einen Stein sitzen. An einemmahle war's nicht genug; die Feierlichkeit mußte noch zweimahl wiederholt werden. Am berühmtesten ist durch die Geschichtschreiber der Schweiz die Ausstellung und das Umhertragen der so genannten »Matze" geworden, welche Bischöfen und Herrn gebracht zu werden pflegte, gegen die sich der Volkszorn entladen wollte. Man muß sich nicht wundern, wenn geistliche und weltliche Herrn einträchtig bemüht waren, diesen uralten, ihnen allein gefährlichen Brauch der Democratie zu vertilgen. Die Matze (italiänisch Keule) war ursprünglich nichts anders, als eine hölzerne Keule gewesen, die als Zeichen des Auf- standes ausgestellt ward, und in die, wer Theil daran nehmen wollte, einen Nagel schlug. In spätern Zeiten flocht man eine Art 244 menschlicher Gestalt aus jungen Baumstämmen, mit Rebreisern und Wurzeln zusammen, und verzierte den Obertheil derselben mit Hahnen- und Kapaunenfedern. Nachts stellte man den Popanz an einen Baum oder Hag. Morgens versammelte sich bald herum neugieriges Volk von Vorübergehenden, bis der Haufe zahlreich genug war. Irgend jemand nahm die Figur dann und trug sie zu einer Wiese, wo die Menschenmenge Raum hatte, sie im Kreise zu umringen. Der Träger blieb bei der Matze stehn, um sie aufrecht zu halten; andre fragten, was sie begehre? oder wer ihr Leides gethan hätte? Der Träger schüttelte den Kopf, als wäre er stumm. Man wählte jemanden aus der Menge der Anwesenden, der im Namen Aller fragen mußte, und sich unwissend über die Ursach stellte, weßwegen die Matze erschienen sey. Er rieth auf diesen, auf jenen Herrn, der das Volk bedrücke, oder gegen das Vaterland handle, bis endlich der rechte Namen genannt ward. Dann nickte der stumme Träger plötzlich und machte Freudensprünge in der Luft. Nun ward berathschlagt, ob man der Matze Beistand leisten wolle, um die alten Uebungen und Rechte des Landes zu schützen. Erklärte sich die Mehrheit der Stimmen dafür, so ward der Tag zur Ausführung festgesetzt und der Ruf ging schnell durch alle Zehnten des Landes. Wer irgend unter den Herrn kein heiles Gewissen hatte, floh aus dem Lande, oder setzte sich mit seinen Anhängern in Vertheidigungsstand, oder beschwichtigte die Leute mit guten Worten, Versprechungen und Geldspenden. Gelang dies nicht: so zogen die Volkshaufen vor die Häuser der durch die Matze Verklagten, erbrachen die Gebäude, plünderten sie und verzehrten oder schleppten, als gute Prise, hinweg, was an Wein und Lebensmitteln vorräthig war. Man kann sich vorstellen, daß den Plünderern diese Art der Freiheit lieb und theuer war. Doch, wie gesagt, die barbarische Sitte besteht nicht mehr. Die Walliser sind eins der frömmsten Völkchen geworden; fleißig zur Beichte und Messe, zum Rosenkranz, zu Prozessionen u. s. w. Für Pflege der Andacht fehlt es überall nicht an zahlreichen Festtagen, Klöstern, Kirchen, Kapellen, und Wallfahrtsorten oder Einsideleien. Einige der letztern sind wahrhaft romantisch, besonders die Einsiedelei von Longeborgne, Sion gegenüber, am linken Rhoneufer, hoch am Berge, auf einem kleinen Absatz der Felsen. Man gelangt dahin nur auf steilem, im Zickzack laufendem Pfade, der an der Bergwand, neben furchtbaren Tiefen, unter dem Brausen benachbarter Wasserfälle, zu nackten Klippen und kahlen Felsmauern empor- kriecht. Es gehörte wohl die größte Verwegenheit der Andacht dazu. 245 sich neben einem Vorsprunge des Gesteins, über einem entsetzlichen Abgrund schwebend, Schlafkammern, Zimmer mit Ofen, Kapelle, Weinkeller u. s. w. in die Masse des Urgebirgs hineinzumeißeln, welches allmählig verwittert und zerbröckelt. Man hauset da nicht ohne Lebensgefahr. Vor 30 oder 40 Jahren brach ein gewaltiges Stück vom Felsen der Einsiedelei ab und stürzte zermalmend in die Tiefe. Und doch horsten dort immer noch zween Waldbrüder. Selbst ihr Trinkwasser, wenn es im nahen Brunnen fehlt, müssen sie, an den Felsen hinankletternd, aus einer höhern Quelle suchen und das Leben daran wagen. Einer der Eremiten hat es gewagt und verloren. Berühmter, und bequemer dabei, ist ein andrer Wallfahrtsort, nahe beim Städtchen Sion. Es ist eine artige Kapelle neben den Ruinen von Valeria, in welcher seit dem 1.1006 die Gebeine eines großen Teufelsbanners und Wunderthäters, des Chorherrn Matthias Will, ruhn. Er hat durch Intervention seines Gebets mehr Krankheiten geheilt, als der Fürst von Hohenlohe, und weit mehr noch nach seinem Tode, als im Leben. Es gibt wenige Wochen im Jahr, in denen nicht Kranke und Lahme, oder »vom Teufel Besessene» zu dieser Kapelle Zuflucht nehmen. Das Bild des himmlischen Günstlings sieht man in allen wohlhabenden Häusern des Landes; und so groß ist Ehrfurcht und Vertrauen der Walliser zu ihm, daß sie darüber fast die Schutzheiligen des Landes Theodul und St. Mauritius ganz vergessen haben. In der That ist auffallend, daß der Chorherr, der im Himmel soviel durch sein Wort vermag, doch eben so wenig, als Niclaus von der Flue, durch die römische Curie canonisirt und im Kalender zu höhern Ehren gehoben worden ist. Wenn beide, oder ihre irdischen Verehrer in der Schweiz, Geldes genug besässen, beide wären, ohne Zweifel, Heilige des ersten Ranges geworden. Hier vielleicht wäre der Ort, von berühmten Männern des Wallis ein Wörtchen einzuschalten; aber auch sogar für ein Wört- chen sind derselben zu wenig. Was würd'es helfen, einen Kardinal Matthias Sch inner, Bischof von Sion. zu nennen, der seiner Zeit that, was viele Kardinäle nach ihm und vor ihm, indem er, voll schlauer Ränke, im Namen, aber nicht aus Auftrag, Gottes, Könige und Völker zum Blutvergießen gegen einander aufwiegelte. Wer, außer alten Geschichtforschern kennt ihn noch oder mögte seine Bekanntschaft machen? Bekannter selbst, als er, ist manchen der heutigen Zeitgenossen wenigstens aus öffentlichen Blättern, der General Rotten, jener tapfre Waffen- 246 geführte Mina's in Catalonien und Vertheidiger Barceloua's. Raron im Wallis ist die Heimath dieses kenntnißvollen, im Umgang liebenswürdigen, auf dem Schlachtfeld furchtbaren Feldherrn. Er hatte sich, nach der Besetzung Spaniens durch französische Heere unter dem Herzog von Angvuleme, in sein Vaterland zurükgezogen, wo er Theilnehmer einer neugeftifteten Handelsgesellschaft zu Sion wurde. „Ach!" rief er mir einst mit komischem Jammer zu, als ich ihn in seinem Comtoir hinter dem Schreibetisch antraf neben Debet und Credit: „wie ist meiner armen Hand, der das Schwerd so leicht war, diese Feder so schwer!" Die Eidsgenossenschast ehrte den Mann, und reihete ihn, als eids- genössischen Obersten, *) in die Zahl ihrer Armeebefehlshaber ein. Mit scheuem Blick hingegen, und dies gehört zur Charakteristik seiner wallisischen Landsleute, betrachteten diese, ihren aufgeklärten Mitbürger als der Ketzerei im hohen Grade verdächtig. Sie erzählten mir im Vertrauen von namenlosen Greueln, die er in Spanien an allem Heiligen verübt haben sollte, und von unermeßlichen Schätzen, die er aus zerstöhrten Klöstern im Besitz hätte. Er kannte diese, von den Priestern verbreiteten Sagen, und schwer ists dem Manne von Bildung, das Leben unter dergleichen Umgebungen erträglich zu finden. Er kehrte wieder nach Spanien zurück (1835), als ihn sein Freund Mina zum Kampf wider die Karlisten rief. 3. Visp. In trunkner Bewunderung malte Rousseau, in seiner „He- loise", das prachtvolle Gemenge des Anmuthigen und Entsetzlichen der wallisischen Landschaftgebilde. „Felsentrümmer, unermeßliche, hingen mir über dem Haupte;" schrieb er „bald benetzte mich dichter Nebel von hohen donnernden Wasserfällen. Bald riß neben mir, mit ewiger Gewalt, ein Waldstrom den Abgrund auf, dessen Tiefe die Augen nicht zu entdecken wagten. Zuweilen versank ich in der Finsterniß dichter Gebüsche, und trat ich aus einer Schlucht, lächelte mich plötzlich eine reizende Wiesenflur an. Ueberall wunder- *) Die eidgenössischen Obersten tragen unter diesem bescheidnen Namen Generalsrang. Ohne Unterschied, werden aus ihnen General- inspeckoren, Divistonsgeneral und Oberfeldherrn gewählt. ^ - M. DIM 247 bare Mischung der wilden Natur mit Anbau von der Hand des Menschen, wo man ihn nie erwartet haben würde; neben einer Höhle ländliche Wohnungen; Weinreben, wo Man nur Brombcer- gestrüop gesucht hätte; Rebenhügel auf Bergfällen; edle Früchte auf Klippen; Ackerfelder in jähen Abgründen. — Zu Allem noch die Täuschungen des Auges, in der mannigfaltigen Beleuchtung von Gebirgsspitzen; das Helldunkel der Schatten und des Sonnenscheins; alle Zauberspiele des Lichtes, besonders in Abend- und Morgenstunden. Welch ein Theater, diese Perspektive von Bergen an Bergen, wo die hohen senkrechten Gestalten das Auge unendlich mächtiger beschäftigen, als flache Ebnen, in denen ein Gegenstand den andern verdeckt!" Es wäre wahrlich kein ganz leichtes Geschäft, die lange Reihe von Merkwürdigkeiten herzuzählen oder zu schildern, welche, von Sion hinauf bis zu den Quellen der Rhone, sich für den Beobachter malerischer Gegenstände, oder der Sitten, Verfassungsformen, Alterthümer und Eigenthümlichkeiten aller Art im obern Wallis mit unaufhörlichem Wechsel darbieten. Und doch fühl' ich mich in Versuchung , den Leser im Geist durch das wunderbare Thal entlang zu führen, um zur Physiognomie des Landes noch einige Züge liefern zu können. Unter den wilden Gebirgen, im Süden von Sion, jenseits der Rhone, gehören die grünen mit ländlichen Wohnungen bedekten Vorberge and Maiensässen (Is8 zu den schönsten des Landes. Man rennt in der Schweiz die ersten Stufen des Gebirgs, zu denen im Frühling die Heerden hinaufgeführt werden, ehe sie Nahrung in den untern Alpen finden können, „Maiensäffe". Schon Echasseriaur, ehmahls französischer Minister in Wallis, beschrieb die Pracht dieser Mayens, welche sich bis zum Walde Thjoung emporstrecken. — Berühmter aber sind die Bader von Leuk. Das Dorf dieses Namens selbst, am Fuß des Gebirgs, vor der Ausmünduug einer Bergschlucht, ist mit seinen zwei halb- oder ganz-öden Schlössern, mit seinen baufälligen Hütten und unreinlichen Straßen, nichts weniger, als lieblich zu nennen; vielleicht eben darum desto pittoresker, wozu auch die nächste Umgebung mitwirken kann. Denn auch hier steigt ein Paar jener gewaltigen Schuttkegel, gegen 200 Schuh hoch, aus der Thalebne auf, zwischen denen die Rhone hinrauscht. Vermuthlich ist ihre Grundlage aus Felsentrümmern gebaut, die einst vom Hochgebirg niedergestürtzt sind. Dergleichen Felsstürtze verwitternder Bergkuppen, gehören auch 218 heutiges Tages zu nicht ungewöhnlichen Erscheinungen. Noch sind die Jahre 1714 und 1749 im Andenken, als ungeheure Massen der Diablerets in die wallisischen Alpen niederfuhren; Menschen, weidende Heerden, und Hütten unter dreihundert Schuh tiefem Schutt, eine Stunde Wegs weit vergruben; den Lauf der Ströme änderten und den tausend Schritt langen Deborence-See entsteh» machten. Von den durch den ersten dieser Bergfälle verunglückten Hirten rettete damals nur Einer wunderbar genug sein Leben. Es war ein Mann des Bergdorfes Aven, in heitrer Höhe oberhalb Sion. An einem schönen Nachmittag (25. Septcmper) befand er sich eben in seiner Sennhütte, als ihn ein Donnerschlag betäubte, und das Licht des wolkenlosen Himmels in Nacht verwandelte. Eine breite Felsplatte des eingestürzten Berges war so über sein Hütten- dach gefallen, daß sie halbaufrecht, mit dem Obertheil an die Bergwand gelehnt, stehn blieb, und die ärmliche Wohnung gegen den immerfort nachprasselnden Schutt von Steinen und Erdhaufen schirmte. Der Verzweiflung und dem unvermeidlich nahen Tode preisgegeben, saß er Tage lang in seinem schauerlichen Grabe voll tiefster Finsterniß. Tröpfelndes Wasser, welches durch Steine her- absickerte und seinen brennenden Durst löschte, war endlich der erste Laut den er vernahm, und der ihn zum Versuch ermuthigte, in die Welt der Lebendigen zurückzukehren. Er entschloß sich rasch zur Arbeit. Noch in der Sennhütte befindliche Käse konnten ihn einige Zeit vor dem Verhungern bewahren. Aber ungewiß, wie lange er durch den zusammengefallenen Berg werde arbeiten müssen, nahm er von dieser Nahrung alltäglich nur wenige Bissen. Rastlos arbeitete er fort. Es vergingen aber Wochen; es vergingen Monate. Der Winter kam. Seine Kräfte verschwanden allgemach. In der Welt war er schon vergessen. Da, nach einem Vierteljahr, kurz vor Weihnachten, trat er endlich zwischen den Felstrümmern ans Tageslicht. Rings um ihn schweigende Einöde von Schneefeldern, Wolken und Felsen. Geblendet vom Glanz, entkräftet von Hunger und Anstrengung, übermannt von Entzücken, sank er ohnmächtig nieder. Als er sich selber wieder gewonnen hatte, richtete er seine Schritte durch die Schneewüste zur Heimath. Aber, als er ins Dorf Aven trat, floh Jeder voller Entsetzen vor seiner Erscheinung. Bleich, abgezehrt, mit wankenden Füßen, glich er einem umherwandelnden Todten. Alle Thüren wurden dem Gespenste verschlossen. Ein zu Hülfe gerufener Priester näherte sich zuletzt schaudernd, die wandernde Leiche oder das Gespenst zu 249 bannen, bis es dem Unglückseligen gelang, die Erschrocknen zu überzeugen, daß er wirklich lebe, Vom Dorfe Lenk bis zum Bade dieses Namens, am Fuß der Gemmi, ists noch ein Weg von beinah drei Stunden Bergauf. Wo man dem Ende desselben naht, treten die hölzernen und steinernen Wohn - und Gaftbäude im geräumigen Alpenthal dem Auge freundlich entgegen; im Hintergründe die zerklüfteten, kahlen Wände derGemmi, zwischen deren Klippen und Schluchten, neben senkrechten Abgründen, der Steg in Felsen gehauen über die Berghohe (7,160 Fuß über das Meer erhaben) zu den Thälern des Berner Oberlandes leitet. Es wäre überflüssig von den berühmten Heilquellen zu erzählen, die hier, 4500 Fuß hoch über dem Meeresspiegel, mit 40 Grad (Reaumur) Wärme, an unzähligen Stellen des Thals, dampfend dem Erdboden entspringen. Wie übel immerhin auch für die Gäste, deren Bequemlichkeit oder Vergnügen, gesorgt seyn mag; wie beschwerlich für Kranke und Leidende der Weg bis dahin, und wie mangelhaft die Bad- einrichtung selbst seyn mag, wo man, im weiten Raum des Gebäudes, buntgemischt Personen beiderlei Geschlechts und jedes Standes, Kapuziner und Kriegsleute, Bauern, Banquiers, ehrbare Matronen und empfindsame Damen traulich beisammen im Wasser erblickt: dennoch führt jeder Sommer eine Menge der Gäste herbei, die hier Genesung suchen. Das Kleinod der Gesundheit ist so edel; das Leben so süß! Je weiter man das große Rhvnethal mvrgenwarts, über Raron gen Visp, hinan kömmt, je kräftiger wird der Menschenschlag des Landes. Visp selbst, der Hauptflecken eines der Centen, liegt ungemein reizend am Gebirg, vor der Mündung eines Nebenthals, welches sich wieder in Seitenthäler zerspaltend, und in einer Länge von zehn Stunden zu den Gletschern des Monde rosa zieht, an den Gränzen Italiens. Am Berg, hoch und niedrig, auf mannigfaltigen Stufen, liegen ordnungslos die Wohn- gebäude des Fleckens. Auf einem Felsenvorsprung ragt die schöne St. Martinskirche großartig mit ihrem hohen Thurm über das Thal hinaus. Drunten rauscht der Waldstrom des Visperthals dem Ufer der Rhone zu. Im Hintergründe, wo weithin die finstern Bergkolosse ihre Füße durch einander verschränken, lagert das Weis Horn seine breiten Gletscher aus, die weit über die ganze Gegend leuchten. Im vorigen Jahrhundert (1720) stürtzte auch hier eine große Masse des Gletschers herab. Nur durch den Druck der zerrissenen Luft, welcher von dem Fall des Eises bewirkt 17 2 »» ward zerstob, wie Spre», die Hälfte des Dorfes Ran da, daS am Fuß des Gletscherberges einsam ruht, und ein Dutzend Menschen nebst vielem Heerdenvieh kam zerschmettert um. Das Schlimmste von Allem ist, daß der fürchterliche Nachbar, öfters schon durch ähnliches Unheil berüchtigt, es immerdar zu wiederholen droht. Das arme Dorf Ran da, wie gefahrvoll und hoch es auch liegt, ist noch nicht das letzte in dem Hochthal. Viel weiter hinauf, wo der Sylvio, (oder das Matterhorn) aus unübersehbaren Gefilden ewigen Eises seine schwarzen Granitkulmen in die Lüfte streckt, ruht gefahrlos ihm gegenüber, das Dörflein Zermatt inmitten grasreicher Wiesengründe, umringt von Alpen und Wafferfällen; und mehr denn taufend Fuß höher, abermals ein Weiler am kleinen Görnersee, 6270 Fuß über dem Meere. Die Leute dieses Weilers gehn, auch während ihres neun monatlichen Winters, zur Kirche von Zermatt, doch vorsichtig mit breiten Schneeschuhen von Holz und langen Stäben ausgerüstet. Wer die einfachen Sitten der Hirtenwelt in ihrer Reinheit erblicken will, muß in die Abgeschiedenheit dieser Seitenthäler dringen. Dahin gelangt selten oder spät Kunde von den Schicksalen der übrigen Welt. Ueppigkeit und Armuth sind da gleich unbekannt. Jeder hat, soviel er bedarf, und er bedarf zu seiner Zufriedenheit wenig. Niemand verriegelt, Tags oder Nachts, da das Haus; die Thüren sind ohne Schlösser. Alles ist sicher vor Allen. Rechnungen und Verträge werden noch durch ein Paar in Holz geschnittne Kerbe bezeichnet, und diese Kerbe haben so viel Glaubwürdigkeit, als irgend eine gerichtliche Urkunde. Streitigkeiten werden von erfahrnen Greisen geschlichtet. Dem Alter wird Ehrfurcht bezeugt. Gastfreiheit ist hier noch, wie in den Wüsten Arabiens, der Haupttugenden eine. Erscheint ein Fremdling, umringt ihn mit herzlichem Willkommen das Dorf. Mit deutscher Gutmüthigkeit bietet ihm jeder das Beste der Hütte an, und was die Heerde gewährt, und jeder schämt sich angebotne Bezahlung zu nehmen. So findet man hier die letzten Spuren des goldnen Zeitalters der Dichter, doch nicht inmitten des ewigen Lenzes, sondern des ewigen Winters. Es ragen da von allen Gebirgen des Wallis die höchsten und wildesten auf, deren Krone und Knoten, an der Gränze Italiens, der Monte Rosa ist. Er, 14,740 Fuß erhaben, will selbst an den Küsten Genuas auf den Appenninen, gesehn sevn. Von den neun Felshörnern desselben ist das höchste noch von keinem Sterblichen erstiegen, während der Gipfel des Mont- V - UKW '.s-. S51 blanc, seit dem Jahre 1786, schon vierzehnmal von kühnen Schweizern, Engländern, Polen, Kurländern und Amerikanern glücklich erklimmt wurde; immer mit Lebensgefahr, oft mit Lebensverlust Einzelner aus den Wandergesellschaften. Wie unübersteigbar auch und graunvoll die lange Scheidewand der Hochalpen zwischen Wallis und Italien ist, führen dem ungeachtet fast aus allen südlichen Seitenthäler» im hohen Sommer über die ewigen Firnen Bergpässe: freilich nur für Fußgänger voll Muthes. Indessen werden manche selbst von Saumrossen, zum Waarentransport, wenige Monate des Jahres hindurch betreten. Es bleibt eine meiner schönen Erinnerungen, als ich, vom wallisischen Egin entha laus, die Höhe des Griesgletschers erreicht hatte, zwischen den Granitgipfeln des Albrun und des Novcna; und mir durch die Todtenstille der leblosen Eiswelt plötzlich freundliches Geläute von Schellen und Halsglocken entgegen- klang. Ein langer Zug schwerbelasteter Pferde, eins dem andern folgend, von wenigen Führern begleitet, erschien aus der Ferne xüber der Schneefläche, indem sich die Umrisse desselben scharf am Himmel hinter ihm zeichneten. Eine Handelskaravane in der stummen Einöde der Gletscher, eine Handelsflotte in der unsicher« Einöde des Oceans, gleicher Bewunderung würdige Schauspiele, zeugen mit gleicher Kraft von der Macht des Menschengeistes, der, gegen alle Hindernisse der Natur, Völker durch den Verkehr mit Völkern verknüpft, die von Weltmeeren und himmelhohen Schneegebirgen geschieden sind. Unter allen Bergpässen des Wallis aber ist die prächtige vierzehn Stunden lange Straße des Si m p lon s der vornehmste. Dies Riesenwerk, welches auf Napoleons Geheiß, mit einem Aufwand von 18 Millionen Franks, binnen vier Jahren (seit October 1802) vollendet ward, kann hier nur genannt, nicht beschrieben werden. Unter den 22 Brücken über Abgründen ist die Ganth enbrücke eine der am wenigsten genannten, und doch durch ihren soliden und kunstvollen Bau und durch die wilde Umgebung der Vor- alpen eine der bemerkenswerthesten. Es ist in dieser Gegend weit um ein wunderbares Aufwallen der Berge, als hätte sie der kochende Erdengrund, wie Schaumblasen über Schaumblasen, aufgeworfen, bis der weiße Gischt sich über alle in Gletschern, Firnen und Schneefeldern ausbreitet; — links das silberne Bortel- horn, in der Mitte die hohe Pyramide des Fürken-Baum- horns; rechts Alle übergipfelnd in hoher Kuppe abgerundet, das M äsen Horn. — Unter den sechs durch's Urgebirg gesprengten 17* S5S Gallerien, diesen breiten, hochgewölbten Berghallen, ists unstreitig der Eingang zur großen über zweihundert Schritt langen Gal lerie bei Gondo, welcher den vermessenen Schöpfergcist des Barmeisters am meisten ins Auge fallen läßt. Eine schroffe, naktr, zerbröckelnde Felsenmasse verrammelte da jählings die Fortsetzung jedes Weges. Sie steigt senkrecht vor dem Wandrer himmelnoärti; ihr Fuß sinkt steil in einen entsetzlichen Abgrund; und vor ilr stürtzt brausend durch die zersressne Gebirgsschlucht, zwischen Klip pen zerschellend, ein Waldstrom, der Alpirnbach, nieder. Jr seinem heftigen Fall lösen sich, unter ewigen Donnern, seine Wellen zum Theil in Wassergestäube, Schaumstrahlcn und glänzende Flocken auf. Ueberhangende, finstere Steinblöcke, mit ihrm halberstorbnen Tannen scheinen, jeden Augenblick, dieser unbändigen Fluth nachstürzen zu wollen. Und nun, über der durchwühlter, kochenden Tiefe, schwebt itzt eine zierliche Brücke zur wüster Felswand, wie durch Zauber hingehaucht; Menschenhand hat dort die 500 Schuh dicke Gebirgsmaffe durchbohrt und deren Inneres« eine bequeme Kunststraße verwandelt. Vorzeiten hieß für den Reisenden, wenn er vom Genfersie ins Wallis trat, der Salanfefall, oder die Pissevache, und an andern Ende des Wallis, der Rhonegletscher die größte Sehenswürdigkeit. Heutiges Tages kennt man Wunder der Naturmaclt in diesem Lande, welche größeres Erstaunen erregen. Jenir Salanfefall, obgleich seine in der Luft schwebenden und zerfaller- den Wogen 120 Schuh senkrecht niederfahren, wird von vielen Wasserfällen der wallisischen Seitenthäler an Schönheit und Höle übertroffen. Pissevache dankt ihren größer» Ruhm nur, daß se sich dem Blick des Wanderes, nahe an der Landstrasse von St. Mar- rice gen Martinach, aufdrängt. Unwandelbarer bleibt, und seltner übertroffen, die Herrlicl- keit des Rhonegletschers, neben denjenigen Gletschern, welcher man sich wie denen vom Grindelwald - und Chamounythal, bequem und gefahrlos nähern darf. Er gibt mit seinen,^Schrür- den und Eisthürmen ein prachtvolles Bild, wie er vom hoher Galenstok, zerrissen und sich überwälzend, gegen das Rhom- thal niedergeht; ein breiter, blendender Strom, der unten siy plötzlich ausdehnt und erstarrt. Die im Thal vor ihm aufgeworfner, oder vielmehr zusammengeschobnen Schuttwälle, welche seiner Umfang umringen, sind Fustapfen, die er bei seinem Rückzug hinterließ, wenn er sich vor den schmelzenden Sonnen - Strahler aus der Tiefe entfernen mußte. Mächtige Steinblöcke liegem wet (VOMWO, ^ L-V -s. ! ^ ^ ' V" 'ÄÄ^ ^ ,'. ^ ^ '-^ . ^ E'^ " ^ . .^->v « ^ c- . ' ^-jS V Ä M 253 umher gestreut, die man in der Ferne für Hütten, und Hütten, die man für verwitterte Bergtrümmer halten könnte. Links zieht ein Pfad zum Grimselpaß, rechts ein Weg zur Furka und dem Gotthard hinauf. Der Baumwuchs ist hier schon verschwunden, obgleich man sich noch kaum 5500 Fuß über dem Meere befindet; vielleicht ist er mehr durch die Nachlässigkeit der Hirten, als durch die Strenge der Natur zerstört. 254 XV Kanton Genf. 1. Gent, mit Nousscau's Insel. Der Fremdling, welcher sich zum erstenmal»! der uralten Allo- brogen-Sradt naht, sey es von der Seeseite oder Landseite, mag sich etwas überrascht, und vielleicht in seinen Erwartungen getäuscht fühlen. Hier verkündet ihm nicht schon aus der Ferne ein Wald himmelanstrebender, großer und kleiner Thürme, in den verschiedenen Bauarten der Jahrhunderte aufgeführt, Stolz und Größe einer Stadt, welche bisher die volkreichste der Schweiz war; Genf gleicht einem berühmten Manne, dessen Namen alle Welttheile nennen, und der, wenn wir ihn selbst, in seiner bescheidnen Gestalt und einfachen Kleidung, vor uns sehn, uns einige Augenblicke verlegen und ungewiß macht, ob die Person wirklich zu ihrem großen Namen gehöre? — Auch das Innere der Stadt, mit ihren irregulären Straßen, wiewohl es nicht an vielen schönen öffentlichen und pallastartigen Privatgebäuden fehlt, gewährt nichts weniger, als den Eindruck des Großartigen. Im kleinen Umfang von 10 bis 11,000 Fuß durch Vestungswerke umspannt, drängen sich auf diesem Raum etwa 1400 Häuser zusammen, ohngefähr 30,000 Menschen zu beherbergen. Man mußte die Stadt luft- wärts vergrößern, weil erdwärts der Platz dazu fehlte. Die Häuser sind vier, fünf und sieben Stockwerke hoch getrieben, als wären sie, vom Gürtel der Wälle geklemmt, in die Höhe geschossen, wie ein Wald bei zu dichtem Bestände. Selbst die maaslose Menge von Schornsteinen, welche wie Stacheln den Obertheil der Häuserreihen bekleiden, scheinen vom Druck und Drang der allzuvoll- säftigen Körpermassen aus den Dächern hervorgetrieben zu seyn. -«M «M« LL^Sk'/^' L55 Doch das Alles verliert und vergißt sich eben so schnell, als man's gewahrt, unter dem Zauber erhabner Anmuth, von welchem die ganze Gegend überflössen ist. Südwärts, wo der Gebirgsstrom der Arve, zwischen Hügeln und krausen Gebüschen der Rhone entgegentanzt, schmückt sich ein üppiges Gelände gefallsüchtig mit allen Reizen, welche kleine Weiler und Dörfer, halb versteckt in Obstwäldchen, edle Landhäuser im Schatten lombardischer Pappeln, ferne Städtchen, an Felsen gcschmiegte Hütten, alle in lieblicher Vertheilung, zwischen Wiesengründen, Baumgruppen und Hügeln, dem Auge anbieten können. Rechts wird das Bild von den waldigen Halden des Juragebirgs und seinen starren Felsenkämmen umfangen; links von der hohen, farbiggestreiften, langen Bergwand des Saleve. — Hinwieder nordwärts stießt der weite Spiegel des lemanischen Sees aus einander; belebt von 3 oder 4 Dampfschiffen und Barken mit lateinischen Segeln; malerisch um- ufert von prächtigen Vllla's, Rebhügeln, Dörfern, Alleen, Wiesen, Thürmen, Gebüschen und Gärten, die, in lieblichem Gedränge, um die Bewunderung des Zuschauers zu buhlen scheinen. Das Schweizergestade erhebt sich stufenweis, ein ungeheueres Blumengestell, bis zu den letzten Höhen von stattlichen Ortschaften und Landhäusern, zwischen Weinbergen und Wiesen, blühend, die unter sich, wie von Bändern, durch Straßen, zusammengeknüpft sind. Alles verkündet da den Boden, die Frucht und das Glück der Freiheit. Gegen über aber am andern Gestade stehn wild und nackt die Felsen urd Eisberge Savoieus, mit dem Haupt über den Wolken; zu ihren Füßen die Armuth unansehnlicher Dörfer. Kein Wunder, daß Genfund die Ufer des Sees, bis Vevay hinauf, die sommerliche Niederlassung zahlloser Lustwanderer aus Frankreich, Rußland, Deutschland, Polen, England, Amerika und andern entfernten Weltgegenden sind. Der See selbst, größer als das gesammte Landzebiet des Kantons Genf, (man berechnet den Flächenraum von diesem auf 22, von jenem auf 26 Geviertstunden) ermüdet keineswegs durch Einförmigkeit des Schauspiels. Fast täglich ändert er chamäleontisch sein Farbenspiel und die Physiognomie seiner Umgebung. Bald schmücken tändelnd leichte Lüfte sein bläuliches Gewand da und hier mit silbernen, breiten Wellenstreifen; bald schillert er in bunter Färbung dort grün, dort golden, oder blaßroth oder blau, hier dunkler, dort blitzend; zumahl an schönen, sonnigen Tagen, wenn selbst die nahen Riesenberge Savoiens sich nicht erwehren können, ihre Wolkenschleier 256 abzuwerfen, und, der ernsten Majestät vergessen, ein wenig zu lächeln. Unter Regenschauern, oder wenn sich der ganze Himmel in Gewittern erdwärts senkt, hüllt der Leman sein Bild in düstres Grau; schwarz steht das Gebirg neben ihm. Er erwiedert den Ungestüm des Sturms mit hoch auffahrenden Wogen, und den Blitz mit zurückgeworfnem Flammenlicht. Aber ich will den vielbeschriebnen und vielbesungnen See nicht von neuem schildern. Wer weiß nicht von einer Pracht, welche selbst Voltaire und Rousseau, Matthison und Byron nur andeuten, nie darstellen konnten? Noch weniger mögt ich seine Naturmerkwürdigkeiten alle aufzählen, nicht die 30 Arten der Fische, die in seinen Tiefen, die 60 Arten Vogel, die 14 Arten Amphibien, die vielen hundert Arten Jnsecten, welche an seinen Ufern leben. Doch einer Erscheinung, die noch unerklärlich geblieben ist, will ich erwähnen, obwohl sie sich auch auf andern Seen zeigt, nur minder verspürbar, als auf dem Leman. Die Uferbewohner geben ihr den eigenthümlichen Namen der »Seiches", welchen die französische Sprache sonst nicht kennt; am Bodensee nennt man sie „Ruhs"; so anderswo, anders. Es erhebt sich nämlich, meistens im Sommer, der See bisweilen theilweis plötzlich, besonders in der Nachbarschaft von Genf, um vier und fünf Fuß; bleibt in dieser Höhe einige Stunden lang und läuft dann wieder ab. Die Einen suchen die Ursach davon in einem örtlichen ungleichen Druck der Athmosphäre auf den Spiegel des Sees; die Andern in der electrischen Anziehungskraft der Wolken. Jener hat sich aber, meines Wissens, noch nicht durch barometrische Beobachtungen längs den Ufern erwahrt; diese würde hinwieder doch auch die Wolken vermögen, sich dem schweren Wasser zu nähern, welches Gegenanziehung äußern müßte. Andre wieder schreiben die ftellenweisen Anschwellungen der Wassermasse den, durch ungleichen Wärmestand der tiefern Gewässer, erregten, Strömungen über dem Seegrund zu, zumahl dieser Seegrund selbst aus Hügeln, Längen- und Seitenthälern besteht, welche dergleichen Strömungen begünstigen, und an vielen Stellen eine Tiefe von einigen hundert, an andern von mehr, als tausend Fuß zeigt. Die römischen Welteroberer hatten sich auch an dieses Sees Ufern angerüstet; vermuthlich aber nicht wegen der Naturschönheiten. Man sieht noch heutiges Tages Ueberbleibfel von ihnen gebauter Kunststraßen an beiden Seiten des Leman, um das 257 wallisische Octodurum sMartinach), vielleicht auch den Bernhardspaß , mit dem uralten Aoenticum (Wiflisburg oder Avanches) und der Stadt der Allvbrogen am Engpaß des Jura, den die Rhone dort gebahnt hat, zu verbinden. So war Genf schon seit zwei Jahrtausenden, wenn auch nur durch seine Lage, ein wichtiger Punkt Europa's. Er ists geblieben, während der Strom der Jahrhunderte größere Städte und Staaten mit ihren Pallästen, Denkmalen, Thronen und Ueppigkeiten in den Abgrund des Nichts versenkte. Er ists geblieben durch den lebendigen wunderreich wirkenden Geist seiner Bürger, der von hier aus Lichtstrahlen über den Welttheil bis in die Steppen Rußlands warf. Von hier aus wirkte Calvin, wenn gleich kein eingebohrner Sohn Genfs, doch durch die Freiheit der Bürger hier mächtiger, denn irgendwo, erschütternd gegen die Allgewalt des römischen Stuhls. Von hier aus kamen Beza, Turretini, auch Franz Jakob Lefort, der an der Seite des großen Czaar Peter die ersten Saaten europäischer Civilisation im moskowitischen Norden streute. Hier war die Heimath jener herrlichen Reihe großer Geister, welche Wissenschaft und Kunst, Gesetzgebung und Gesittung des Welttheils beförderten, wie de Luc, Senebier, Bonnet, Rousseau, die Saussures, und Tronchins, die Say, Mallet, Neckers, die Frau von Stael und viele andre, welche europäische Namen tragen. Hier wohnen und wandeln noch heut Männer unsterblichen Verdienstes, wie, neben andern auch der große Pflanzenkundige Decandolle oder Sismonde- Sismondi, der Geschichtschreiber u. s. w. Genf hat fast keine Straße, in welcher man dem Fremdling nicht die Wohnung eines Bürgers zeigen könnte, dessen Ruhm die Geschichte zur Nachwelt getragen hat. Genf ist heut noch durch kunstreiche Industrie, durch seine Gold - und Juwelenarbeiten, ausgezeichnet. Jährlich werden da bei 70,000 Uhren verfertigt und ins Ausland verkauft. Noch immer geht diese Stadt den übrigen Schweizern mit Beispielen musterhafter Einrichtungen und Anstalten voran. Eisendrahtbrücken, wenn auch nur für Fußgänger, wurden in der Schweiz zuerst hier versucht; hier zuerst Dampfschiffe gebaut, die man nachher auf andern Seen nachbildete. Genf zuerst hatte unter den Schweizerstädten , nach dem Vorgang Nordamerika's, ein verbessertes Cor- rectionshaus für Sträflinge, als Musteranftalt aufgestellt. Von wie vielen weit größern Städten und Residenzen Europens läßt sich Aehnliches melden? Das ist die goldne Frucht, die Genf vom Baume seiner Frei- 258 heit erndtete; eine andre, als welche man in den katholischen Hirtenkantonen, unter priesterlicher Obhut, bei persönlicher Unge- bundenheit und geistiger Umschränkung, seit Jahrhunderten pflückt. Staatsverfassungen, republikanische oder monarchische, sind eben nur Formen, in denen Nationen, gegliedert zu einer einzigen Gestalt, als selbstständige Wesen gegen einander erscheinen und handeln. Die wilden Indianer an den Quellen des Oronoko und Missisippi haben auch ihren republikanischen Unabhängigkeitsstolz; sie sind frei, aber wild. Wer mögte zu ihnen gehören? Seit den frühesten Tagen des Mittelalters rang Genf um den Preis eigner Selbstständigkeit, hernach innerer Freiheit. Anfangs war die Stadt mit ihrem Gebiet nur Lehn der Bischöfe. Im Kampf der Kirchenfürsten mit dem weltlichen Adel, erweiterten die Bürger, klug und entschlossen, ihre kärglichen Rechtsame; erhoben schon im elften Jahrhundert ihre Heimath zu einer Reichsstadt, und die Gewalt ihres Rathes über die des Bischofs. Dann im langen und blutigen Hader mit den ländersüchtigcn Herzogen von Savoien, schlugen sie diese von ihren Mauern zurück, und vertrieben sie den Bischof selbst, sanimt seinen Mönchs - und Priesterschaaren, zur Zeit der großen Kirchenrefvrm. Nach diesen Siegestagen folgten im siebenzehnten und achtzehnten Jahrhundert, bei äußerer Sicherheit, die Zeiten der Ruhe, des friedlichen Erwerbs, des Aufstrebens in Kunst und Wissenschaft, des wachsenden Reichthums. Daneben aber entwickelte sich, mit dem Stillstand politischer Entfaltung, auch Fäulniß des Gemeinwesens, Vermoderung des alten, edeln republikanischen Zustandes zu aristokratischer Spiesbürgerei. Man sah, auf einem engen Gebiet von zwei geographischen Geviertmeilen, eine kleine Bevölkerung von kaum 35,000 Menschen, in schneidender Ungleichheit ihrer Rechte und Ehren aus einander scheiden und in ein halbes Dutzend wider einander eifersüchtiger Bürgerklassen gerinnen. Am tiefsten standen die Bewohner der Landschaft. Sie waren Unterthanen der Freien. Die Begünstigten der Unterthanen konnten in den Rang der Hintersassen (Vomioilivs) emporsteigen, das heißt in der Stadt wohnen und in der Miliz dienen, selbst untere Grade in derselben bekleiden. Aber sie hatten nicht einmahl das, wenn auch beschränkte. Recht, Handel und Gewerb zu treiben. Dies genossen erst die Mitglieder einer höhern Klasse, die in den allgemeinen Namen der Einwohner (Habitants) begriffen waren. Erst Nachkommen derselben, die in der Stadt Eingebornen (IVütiks) tonnten sich für ihre Industrie ausgedehnterer Rechtsame erfreun. S59 aber doch nicht alle Arten des Verkehrs treiben. Dies ward allein den eigentlichen Stadtbürgern (kourKeois) vergönnt, welche jedoch, als solche, noch keine Staatsbürger (vitalen«) waren, das heißt keinen Anspruch auf Bekleidung von Staatsämtern, oder auf Stimmrecht in öffentlichen Angelegenheiten machen, oder nicht den Vorzug genießen konnten, weniger Abgaben und Lasten zu tragen, denn alle Uebrigen. Die privilegirten Klaffen der Stadt- und Staatsbürger, welche zusammen kaum sechszehnhundert Mitglieder zählten, wurden im nebenbuhlerischen Hader unter sich, wie mit der Klasse der Einge- bornen, bald von der Menge der Letzter« bedrängt. Mißvergnügte von jenen vereinigten sich mit diesen. Man strebte wieder nach demokratischerer Gestaltung der Republik zurück, gegen den Stolz des Senats, der keine allgemeine Bürgerversammlung (6onseil- 6ei>eral) mehr, wie in frühern Zeiten, berief. Es entstanden wieder Partheien, Zusammenrottungen, Aufläufe. Die Einen (oder Koprb8entun8) hießen den Senat unbedingten, alleinigen Repräsentanten des Volks; die andern (jVsAkitisis) verneinten es. Mehrmals drohte Ausbruch blutigen innern Kriegs. Mehrmals mußten die mit Genf verbündeten Eidsgenossen, oder auch Frankreich, vermittelnd einschreiten, bis endlich Alles in den Greueln der Gesetzlosigkeit unterging und Mördereien, Hinrichtungen und Plünderungen, in Nachahmung der französischen Revolutionsgreuel, den Schluß machten. Genf verlor zuletzt sogar sein selbstständiges Daseyn, als es (1798) der französischen Republik einverleibt wurde; aber den Sinn für Freiheit, die Sehnsucht nach dem Verlornen Glück, ließ es sich nicht rauben. Die Wiedervereinigung mit der Schweiz, (im I. 1814,) nicht blos wie vorzeiten, als zugewandter, oder verbündeter Ort, sondern als wirklicher Kanton der Eidsgenossenschaft und in seinem kleinen Gebiet um einige Geviertmeilen Landes vergrößert, stellte endlich das tiefgesunkene, halbverloschene Leben mit wunderbarer Schnelligkeit, und glänzender, als je zuvor, her. Der rauhe, von Natur unfruchtbare Boden, hat sich durch Kunst und Fleiß, wie zum Garten verwandelt; und mehr denn 56,000 Bewohner desselben, im Genusse voller Gleichheit ihrer staatsbürgerlichen Rechte, freu'n sich blühenden Wohlstandes. Selbst jene traucrvollen Tage der innern Zerrüttungen und Kämpfe, und der Vernichtung des eignen Staatslebens durch Auflösung in das französische Reich, haben zum höher« Glück der Gegenwart und zum reinern Genuß desselben, wohlthätig mitgewirkt; gleichwie man, nach überwundener, schmerz- 260 voller Krankheit, das Kleinod der Gesundheit inniger zu lieben und umsichtiger zu hüten pflegt. — Dies die Geschichte des Ländchens. Es ist das Schicksal aller Republiken, von Zeit zu Zeit durch Dolkswankelmuth, Ehrgeiz der Partheiführer und bürgerlichen Zwiespalt, im Innersten zerrüttet, dem Untergänge entgegen geschleppt zu werden. Der Unterthan der Monarchie steht gegen diese Gefahren geschirmt; er ist hinwieder denjenigen ausgesetzt, welche, bei Erbfolge seiner Fürsten, das Auftreten einer Reihe schwacher oder bösartiger Gebieter an der Stelle großer Regenten und ausgezeichneter Staatsmänner, herbeiführt. So gleicht sich auch da, wie immer, Vorzug und Nachtheil der verschiedenen Regierungsformen aus; nur mit dem Unterschiede, daß dort ein Volk selbstthätig gegen Uebel ankämpft, die es sich selber geschaffen hat, während es hier mit leidender Geduld unverschuldete Uebel trägt, deren Abhülfe es von der Huld des Zufalls erwarten muß. Eine der reizendsten Stellen Genfs ist Rousseaus Insel. Zu allen Zeiten, selbst inmitten der bürgerlichen Unruhen des Freistaates, sorgten die Vorsteher desselben entweder für stärkere Befestigung, oder für Verschönerung der Stadt. Vor wenigen Jahren erst ward eine der Rhoneinseln dem Andenken des unsterblichen Mitbürgers gewidmet. Schon ehmals führten zwei Brücken von einer Insel, die fast im Mittelpunkt der Stadt gelegen ist, nach beiden Seiten der letzter». — Jetzt ist eine dritte Brücke da hinzugefügt, wo der See endet und die Rhone, in ihm gebadet und gereinigt, mit grünen, durchsichtigen Wellen aus ihm hervor rinnt. Dieser neue Bau ist großartig und geschmackvoll ausgeführt. Er lehnt sich an den geräumigen Quai des Bergues, dem jenseitigen Theil der Stadt gegenüber, wo, wie die Krone derselben, auf einer Hügelhöhe, die einst schon ein Sonnentempel der Allobrogen schmückte, nun die Peterskirche mit ihrem, der römischen Namensschwester nachgeformten, Peristyle, prangt. Ohnweit der Brücke steigt aus dem Schooße der klaren Flut eine kleine Insel. Sie gleicht einem Blumengarten. In ihrer Mitte erblickt man auf hohem Piedestal die bronzene Bildsäule des Jean Jacques Rousseau, ein Meisterwerk des Künstlers Cresatier zu Paris, desselben, der Napoleons Bildsäule auf dem Vendomeplatz 261 verfertigt hat. Der Weltweise von Genf, mit seiner melancholischgutmüthigen Miene, schaut sinnig vor sich hin; warum nicht mit wehmüthigem Lächeln auf eine Vaterstadt, die ihn einst im Leben unbarmherzig von sich ausstieß ? — Doch nein; nicht seine Vaterstadt verstieß ihn. Nicht sie schleuderte das Decret des Fluchs vom 18. Juni 1762 gegen ihn; nicht sie ließ durch Henkershand seinen eben erschienenen „Contract social" und »Emil" öffentlich verbrennen; sondern der Zorn einer beleidigten Aristokratie war's und der fromme Ingrimm einer protestantischen Geistlichkeit, deren Fanatismus , wo sie ihm die Zügel schießen lassen darf, dem Fanatismus der katolischen Priesterschaft nicht nachsteht. Bald zwar erklärte sich der Großtheil seiner Mittbürger laut für den Verfolgten. E» aber kehrte nie wieder nach Genf zurück. Im Jahr 1836 ward am 28. Juni von den Genfern das Jahresfest seiner Geburt feierlich begangen. Magdalena Meßmer, 85 Jahre alt, die ihn im Val Travers einst, als seine Magd, in den Tagen der Noth und Dürftigkeit treu besorgt hatte und ihm immer ergeben geblieben war, sagte: I-ss temps rie saut pas äilkerents, msis les komme«. Rousseau's Einfluß auf sein Zeitalter und das nachfolgende Jahrhundert war fast nicht minder groß, in Bezug auf die Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft, als derjenige der theologischen Reformatoren auf das kirchliche Leben im sechszehnten Jahrhundert gewesen war. Er hatte den Muth des Märtyrers gehabt, die verirrte Menschheit seiner Tage zu den einfachen und ewigen Grundsätzen der Natur und Vernunft zurückzuweisen, während die Völker, zwischen Lastern der Ueppigkeit und Armuth schwankend, den Will- kühren des Despotismus und der Aristokratie gedankenlos angehörten, gedankenlos vor den Gebilden stolzen Priesterwahns knieeten, und selbst Wissenschaften und Künste fast nur im Frohndienst eines entnervenden Luxus ihr Leben fristeten. Aber wahrlich, aller Zauber von Rouffeaus Beredsamkeit hätte das Wunder nie, oder nicht sobald verrichtet; seine Schriften wären, wie andre, gelesen, gelobt und vergessen worden, hätte ihm nicht die hochfahrende Unbesonnenheit damaliger Regierungen von Genf, Frankreich und Bern, hätte ihm nicht der Fanatismus oder die erschrockne Dummgläubigkeit der katholischen wie der protestantischen Priesterschaft, und das Gebell literarischer Nachkläffer, kräftig zu seinem guten Werke Beistand geleistet. Alle diese erhoben sich lärmend gegen den Weltweisen von Genf. Sie verfolgten ihn. Das machte Aufsehen; das sein Wort wichtig. Jederman las Rousseau. 262 Seine Schriften sandten Licht durch Europa. Wie viele ihn ver- wünschten, so viele vergötterten ihn. Das Uebertriebene und Unhaltbare in seinen Darstellungen flog endlich, wie leichte Spreu, in der Schwinge der Zeit vom Waizen ab; aber der Waizen blieb und trug seine Früchte. Die Verfolger der Wahrheit und Volksaufklärung sind zu allen Zeiten die thätigsten Verbreiter derselben gewesen. Auch Voltaire, der Nebenbuhler von Rousseau's Wirksamkeit und Ruhm, wohnte eine Zeitlang zu Genf, oder vielmehr in dem schön gelegnen Landhause „les Oelices» bei Genf, welches er in den Versen: 0 msison ä'^ri8tipp6, o ssarckin8 ü'Lpieure! so begeistert besang. Aber auch er ward durch die Intoleranz der damaligen Genfer Geistlichen und ihres Zeloten- Gefolges, bald von da vertrieben, worauf er sich nach Lausanne begab, bis er das arme Ferney mit dessen acht Strohhütten kaufte, und sich im Jahr 1759 daselbst anbaute. Ferney ist nur anderthalb Stunden von Genf entfernt. Durch Voltaire's Geist und Thätigkeit erwuchs das vorher unbedeutende Ferner zum ge- werbfleissigen Ort, der, als der große Mann (1779) starb, also nach zwanzig Jahren, schon 80 Wohngebäude und 1200 Einwohner zählte. Gegenwärtig erblickt man da einen artigen Flecken mit beinah anderhalbhundert Häusern, anderthalbtausend Einwohnern, einer evangelischen und einer katholischen Kirche. Das ehmalige Kirch- lein aber, welches Voltaire gebaut hatte, ist nun zu eng geworden und steht leer. Der Restaurationseifer des Jahrs 18 >4 riß auch über der Pforte des Kirchleins Voltaire's Ueo erexit ab. Aber sein von ihm gebautes Landhaus oder Schloß, wie mau's nennt, auf einer leichten Höhe neben dem Ort, steht noch; und das von ihm bewohnt gewesene Zimmer befindet sich in demselban Zustande erhalten, wie es ohngefähr zur Zeit des Dichters war, das heißt, wie es etwa 60 Jahre zu bleiben gestattet haben. Dies Haus, besonders des Dichters Wohnzimmer, wird noch immer fleißig von der reisenden Neugier besucht. Ich bin kein Liebhaber solcher Reliquien; nicht einmahl des Glücks, berühmte Männer in ihrem Leben persönlich kennen zu lernen, weil sie dabei für mich gewöhnlich zuviel einbüßen; allen Heiligenschein, mit welchem sie meine Verehrung umwebt hat. Gestalt, Kleidung, Stimme, Blick, Bewegungsweise, jede Art zu seyn, pflegt ihnen, nach Maasgabe ihrer außerordentlichen Geisteseigenschaften, unsre freigebige KM ME WM 263 Phantasie im voraus beizulegen. Es ist dann die widerlichste Empfindung von der Welt, den nngemeinen Mann, im Gegensatz von sich selbst, ganz gemein und statt des Hvchmenschlichen das Niedrigmenschliche zu erblicken. Und doch ließ ich mich, guter Gesellschaft zu lieb, verführen, Voltaires Zimmer zu besuchen. Ich trat in ein geräumiges, aber verwittertes Gemach mit verblichenen Möbeln. Alles im altfranzösischen Styl aus den Modetagen Ludwigs XV. Armsessel mit krummgeschweiften Rückenlehnen und eben so krummen Oachsbeinen; eine bauchigte, glanzlose Commode; ein Bett, mit zerlapptem Teppich bedeckt; darüber, in verschossenen Farben, ein Betthimmel, an Form den ehmaligen Kurfürstenmützen ähnlich, von welchem noch das obere Drittel der ehmaligen Umhänge zerrissen niederflattert. Die zwei übrigen Drittel sind entweder von Mäusen oder Ratten verzehrt, oder, was mir wahrscheinlicher ist, stückweis von Bewundrern des Sängers der Henriade, zum Andenken, in alle Weltgegenden verschleppt. Unter dem Betthimmel oder über dem Bett das Bild Lekains an der Wand; über dem Nachttisch daneben Voltaire's Bild aus jüngern Jahren; das Bild Friedrichs II. von Preußen auf der andern Seite. An einer andern Wand das Kopfbild von Catharina H., gegenüber die Marquise du Chatelet, als * Kniestück. Rechts, ohnweit der Marquise, ein breiter, alterthüm- licher Kamin; ihm gegenüber links in einer Mauerblende, statt des Ofens, eine steinerne, mit geschmacklosem Gesimswerk umgürtete Pyramide, die eine Art Mausoleum vorstellen soll. Wenigstens wird dies von der Ueberschrist in großen Buchstaben mit den Worten verkündet: muiies 8ont vonsolfis, pui8guo man voeur est au milieu cke vous." Das Nämliche erzählt auch in der Mitte der Pyramide, unter einer Urne, eine weit über die Seiten des winzigen Denkmals hinausragende Inschrift: „8on «8prit e8t psrtout, et 8oa voeur «8t ioi." Ich ging mit Reue, hineingegangen zu seyn, zum Hause hinaus, und entschädigte mich draußen, auf der Terrasse des Gartens, durch das Schauspiel, welches hier die weite, glänzende Umgegend darstellt — die blauen Gebirgswegen des Jura links, und in duftiger Ferne die Stadt Genf schwebend; dahinter der schimmernde See nur zum Theil sichtbar; rechts aus Eis und Schnee hoch zum Himwel auf- gethürmt der Mont Blanc, umringt von den Schaaren der Gletscher Savoyens, — Alles, wie durchsichtig, Alles wie ein zartes Gebilde von farbigen Lüften gemacht. » Der Anblick der ewigwunderbaren, aber sich unbewußten 261 stummen und von den Fesseln der Nothwendigkeit gebundnen Natur, neben kleinen, staubigen Denkmalen flüchtig erschienener, aber frei und göttlichwirkender Menschengeister, regr in jedem, dem dafür offner Sinn ward, die Gefühle bitterer Demuth neben denen des reinsten Stolzes auf. Mit widerlicher Zwerg- haftigkeit richten sich dann jene Denkmale zwischen den riesigen Gestaltungen der Natur und den großen Bewegungen der Geisterwelt auf, welche dieser oder jener Sterbliche, als Zeuge seines Daseyns, den Jahrtausenden hinterließ. Die Obelisken und Pyramiden auch der Pharaonen sind nicht mehr, und nicht größer, als das niedrige, hölzerne Kreuz auf dem Grabe eines Dorfmagnaten; nur einige Spannen länger sind sie. Und, wie der Dorf-Potentat, werden die Lander-Potentaten vergessen, früher, als das letzte ihrer Gebeine Staub ist. Die aber unter den Erdengöttern und Weltverwüstern, deren Namen bis zu uns gelangten, liegen für uns kalt und todt nur im Sarge der Geschichte. Nicht ihre Thaten sinds, die unser Gemüth mit Entzücken oder Abscheu füllen, sondern die Darstellungsweisen ihrer Sänger oder Geschichtschreiber. Ohne diese, wären jene nicht mehr. Ein Alexander von Macedonien, oder ein Weltherr Augustus, können uns heut so gleichgültig seyn, wie Shakespeares Hamlet, oder Wielands Hüon von Bordeaux. Wir haben nichts mehr von ihnen zu empfangen und mit ihnen zu schaffen. Aber wir und die uns folgenden Jahrhunderte haben noch immerwährend von großen Gesetzgebern und Gottoffenbarern, von hohen Denkern und Dichtern zu empfangen. Immer noch wirken lebendig auf uns Moses und Homer ein, Colombus und die Reformatoren, Tacitus und Gibbon, Franklin und Shakespear, und wie die Schaar der ewigen Häupter des Menschengeschlechts Namen tragen mag. Sie bleiben unsre Lehrer, Erzieher und Seelenvertraute; sie sind für unsre Nachwelt wieder dasselbe. Sie bleiben groß, unwandelbar und erregend, gleich der ewigen Natur selbst. Neben den tausendjährigen Thaten Voltaires sind die Thaten Ludwigs Xl V. und Karl XU. bunte, spurlos vergangne Seifenblasen; und der ganze Lebenswerth heut schon vergessener Aristokratien Genfs und Berns ist neben dem Wirken des von ihnen verfolgt gewesenen Rousseau, der Lebenswerth lästiger Eintagsfliegen. 265 Es giebt »bliche Städte, wie es »bliche Familien giebt. Eine lange Reihe berühmter Vorfahren zu besitzen ist unläugbar von sittlicher Wichtigkeit. Die Erinnerung an ihre Tugenden weckt im Gemüth des Urenkels stolzen Wetteifer mit ihnen, oder dochScbaam, ihrer unwürdig zu seyn. Wo dies, da ist lebendiger Adel. Ahnenstolz und nichts weiter, ist nur noch Verwesungsgeruch des Leichnams. Diplome und Stammbäume allein adeln ein Geschlecht so wenig , als hundertjährige Rheinwein-Etiketten auf Wasserflaschen, das Wasser derselben in Rheinwein umwandeln. In der Schweiz ist, wie Zürich, so Genf, eine abliche Stadt, obgleich hier. wie dort Geschlechtsadel von jeher in keinem hohen Preis stand. Der mehrhundertjährige Einfluß Genfs auf die Civilisation Europens ist bekannt. Die Stadt ist beut noch Nebenbuhlerin ihrer eignen Vorzeit; das Verdienst der Altvordern um Wissenschaft, Künste, Gemeinwohl und Veredlung der menschlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse blüht von Geschlecht zu Geschlecht ungeschwächt fort. Es wäre nichts leichter, als davon den Beweis zu führen, wenn ich den geduldreichen Leser mit einem weitläufigen Katalog aller Vereine für Vaterland, Wissenschaft, Wohlthätigkeit, Kunst, oder aller Anstalten für Waisen, Taubstumme, Verbesserung der Sträflinge, oder aller reichen Privatsammlungen und Bibliotheken, behelligen, oder die Namen aller ruhmreichen und ruhmwürdigen Genfer unsrer Zeit anführen wollte, wie, mitDecandolle und Sismondi, den Naturforscher Pictet, den geistvollen, gemeinnützigen Du, mont, Benthams Jünger, den Grafen de Sellon, Präsidenten der Friedensgesellschaft und unermündlichen Kämpfer für Menschlichkeit und Abschaffung der Todesstrafe; den Gricchenfreund Eynard, Capodistria's Freund, der mit Rath und That und freudig hingeopferten Geldsummen den Hellenen in den schwersten Stunden ihres Kampfes um Unabhängigkeit half; Töpfer, den vielleicht humorreichsten izt lebender französischer „Romanciers"; Prevost, den Physiker u. a. m. Ich ende die Anführungen; sie drohen in ein Namenregister auszuarten. 18 ras XVI. Kanton Waadt. 1. Lausanne. Äm Ufer deS Leman, eine Viertelstunde von ihm entfernt, liegt auf drei Hügeln das alterthümliche Lausanne, mit seinen zwölfhundert und mehr Häusern, engen hoch auf und absteigenden Gassen und mehr denn 11,000 Einwohnern. Aber die prachtvollen Umgebungen, die Bilder des freundlichen, rebenreichen Ufers links und rechts, die schimmernde weite Ebne des Sees, die noch 1150 Fuß über dem Meere erhaben liegt; dahinter die aus seiner Fluth gleichsam zum Himmel ausschwebenden Hochgebirge Savoyens; dann in der Stadt der Wohlstand, der natürliche Frohsinn, der gesellige, feine Ton, das wissenschaftliche Leben der Einwohner, machten von jeher Lausanne, wie Genf, zum Lieblingsweiler zahlloser Fremden und Reisenden. Die ganze Landschaft ringsum ist eine Verkettung von reizenden Anlagen, schattigen Luftgängen, Gärten, überraschenden niedlichen Wildnissen der Natur, und Landhäusern im edelsten Geschmack hingestellt. Hier, auf seiner Liebhaberbühne, führte einst Voltaire zuerst seine Zaire auf; hier legte Gibbon einst die letzte Hand vollendend an sein Meisterwerk vom Verfall und Untergang des Römerreichs. Die Stadt, jetzt (seit 1798) Hauptort des Kantons Waadt, und eines freien Volks von etwa 178,000 Seelen auf dem frucht, baren Raum von siebenzig Geviertmeilen verbreitet, war vorher, seit drittehalb Jahrhunderten, Sitz eines Berner Landvogtes, und noch vor ihm der tausendjährige eines Bischofs gewesen. Noch steht auf der Höhe der nördlichen Stadtseite die breite, viereckte Stein, Masse des bischöflichen Schlosses seit dem dreizehnten Jahrhundert. Diese alterthümliche Burg, mit Thürmlein an ihren Maucrwinkel» und späternAngebäuden versehn, bezog nach Entfernung des Bischofes, A L67 der Landvogt Berns; und ist nun den Dersammküngen einer republikanischen Regierung geweiht. In der Nachbarschaft erhebt sich mit ehrwürdiger Majestät, aus dem zehnten Jahrhundert, die Kathedralkirche, das bewundernswürdigste Bauwerk gothischen StylS in der gesammten Schweiz. In Kreuzesform, 316 Schuh lang, 120 breit, in der Kuppel des Chors 200 Schuh hoch, wird ihr Inneres vom gebrochneu Licht der hohen, buntfarbigen Fenster und von vier bis fünfhundert Säulen, in wunderbare Dämmerung gehüllt. Als ich mich an einem Sommerabend, plötzlich vom Anblick der Alpen Savvyons, die wie ein dunkler Vorhang am Himmel niederhangen, und vom zitternden Glanz des großen Wellenspiegels vor mir, und vom blendenden Malachitgrün der Gebüsche und Wiesen, all dem heitern warmen Leben der Außenwelt abwandte, und durch die Pforten des Doms in sein schweigcnvolles, kaltes Helldunkel trat, ward mir, als wichen die Jahrhunderte hinter mir zurück, und ich athme-die Luft eines andern Weltalters. Die Sage lehrt, bevor sich die graue Pracht dieses Tempels erhob, ward die Stätte, schon im fünften Jahrhundert durch ein Kirchlein der heil. Anna, frommer Wallfahrter Andachtsvrt. Beinahe ein halbes Jahrtausend früher stand tiefer abwärts gegen den See, das Kastell Tauretu- rum der kriegerischen Römer. Ehe diese noch hieher gekommen waren, soll schon, näher dem Ufer, als daS heutige Lausanne, eine der zwölf Städte, das alte Lausodunum, gestanden seyn, welche von den Helvctiern selbst verbrannt wurden, da sie mit Divico nach Gallien auswanderten. Und vor den Tagen Lausodu- nums, wer weiß von den Niederlassungen der wilden Galen oder Walen zu sagen, von denen Wallis und Waadtland fpg»u8tjVs1- rleusis, Pit)'8 äs Vaulx) noch jetzt die Namensspur tragen? Und früher? Wer waren die ersten Ansiedler am Leman und im Hochgcbirg, ehe die Galen erschienen? Rom ist jung neben Tyrus und Sidon. Aber Tyrus und Sidon kannten die Alpen schon aus den Erzählungen ihrer Seefahrer, und nannten deren Bewohner Titanen. Sollte wirklich der Oberst Pereira, in einem alten Schranke des portugiesischen Klosters Merinhao, des Philo von Biblos griechischen Auszug der Bücher Sanchuniath ons entdeckt haben, so wäre der ältesten schriftlichen Urkunde des Menschengeschlechts, nächst den mosaischen Büchern, uns neues Licht über die Erdkunde des Alterthums aufgegangen. Lange vor SanchuniathonsTagen, der ein Zeitgenosse des Propheten Ezechiel gewesen sepn mag, wären dann die Phönicier schon, wie gen Ophir 16 * 268 (Ceylan) und zu den Jmyrchakinen (den kanarischen Inseln), so auch zur Küste von Ligurien, am Fuß der Alpen, geschifft. Diese Gegend nannten sie Aereszaphan oder Ersiphom'a (Nordland); das Alpengebirg aber Libanon (oder Schneeberg). Hier war's, wo nach dem uralten Mythos, welchen Sanchuniathon, als Knabe, in den heiligen Gesängen zu Tyrus vernahm, der Entdecker unbekannter Länder, der vergötterte Melikertes (Griechenlands späterer Herkules) Schiffbruch litt, als er auf der abentheuervollen Fahrt zum Lande der Tarteffer, dem letzten auf Erden, begriffen war. Ais er hier, so lautete die Melikertes-Sage, vernahm, ein heiliges Gebirg sey es, und der Götter Sitz, sandte er seine Gefährten fort, längs der Küste. Er allein bestieg den heiligen Berg, um zu opfern und anzubeten. Vierzig Tage lang (wie Moses auf dem Sinai) verweilte er droben im vertrauten Umgang mit den Gottheiten und dann kehrte er zu den Genossen seiner Irrfahrten zurück. So ist er der Einzige gewesen, welcher die hohen unwegsamen Zinnen des Gebirgs erstiegen hat, wo, mit den Schrecknissen einer wilden Natur, sich andere Gefahren verbinden, den Sterblichen zurück zu scheuchen. »In den Sümpfen und Seen am Fuße des Berges leben Drachen von ungeheurer Größe, welche jeden der sich nähert, zu verschlingen drohn; und in den Wäldern sieht man schreckliche Gestalten unter den Bäumen. Die Mitte des Berges ist von Nebeln und Wolken eingehüllt; über die Wolken aber ragen die höchsten Zinnen hinaus, umstarrt vom ewigen Schnee. Und dort, über den Wolken, und jedem Sterblichen unzugänglich, ist der Göttcrsitz." *) Dies also die erste schriftliche Ueberlieferung einer Kunde und Vorstellung des Alterthums von den Alpen. Vielleicht steht der Gedankensprung vom gothischen Lausanner-Tempel zu den Sagen der Phönizier etwas sonderbar da. Mags immerhin seyn. Aber sind es nicht eben diese Gegenden Helvetiens, welche zuerst, unter allen andern der Schweiz, in Sage und Geschichte, aus dem ursprünglichen Dunkel, ans Licht traten? Gegenden des Waadtlandes sind es, welche selbst in den Liedern des Nordens erscheinen. In der, durch Karl v. Bonstetten bekannt gemachten, schönen Lod- brok's-Saga Skanziens wird z. B. der Heldcnzug der nordischen *) SanchuniathonS Urgeschichte der Phönicier, mit Bemerkungen von Fr. Wagenfeld und vr. G. F. Grotefend. Hannover 1836. B. 34. Beim Lesen regt sich gegen die Aechtheit des Ganzen mancher Argwohn, und doch wäre der Aufwand von Gelahrtheit und Grotefends Name für eine Mystifikation zuviel. 869 Krieger, längs dem Rhein gen Gallien und Italien, überliefert. Es sind zurückgebliebne Erinnerungen vom Zuge und Kampfe der furchtbaren Kymern und Theutischen gen Rem. Auf ihrem Wege zerstörten sie alle Besten. Sie vernahmen von der großen und mannreichen Stadt Wifilsburg. Noch steht dies Wifilsbnrg, heut ein unbedeutendes Städtlein, südwärts dem Murtnersee. Sie lagerten sich davor. Es war mehr denn hundert Jahr vor unsrer Zeitrechnung. Als sie nicht eindringen konnten, schlugen sie, lehrt die Saga, einen Wald ab, legten ihn um die Stadtmauern, zündeten ihn an, verbrannten den Ort und wanderten weiter bis gen Luna, einer alten, hetruscischen Seestadt, deren Livius einige- male gedenkt. Hier, auf dem Zuge nach Nvm, begegneten sie einem Greise. Er trug eiserne Schuhe. Sie fragten ihn, wie weit es noch sey bis Rom? Der Greis zeigte ihnen die eisernen Sohlen; sie waren abgelaufen und dünn, wie ein Mohnblatt. Da verstanden sie, der Weg sey gar weit. Erschrocken kehrten sie um. Der Greis der Nordlandssage, war er nicht das mythische Bild vom Marius? Am lemanischcn See geschah es, daß 107 Jahre vor unsrer Zeitrechnung, zum erstenmal die Helvetier den römischen Welteroberern begegneten, und der Kriegsmann Divico, vom Gau der Tigurer, den Consul L. Cassius schlug, und, wie die von den Römern selbst bewahrte Sage spricht, dessen Legionen unter das Joch gehen ließ. Ein vergeblicher Sieg. Fünfzig Jahr später ward ganzHelvetien römisch, und Wiflisburg, dann ^veiiticum geheißen (französisch jetzt ^venclies) eine von des Landes Hauptstädten.*) Zu Wiflisburg verlebte wahrscheinlich Kaiser Vesspasian, dessen Vater daselbst wohnte, die schonen Tage seiner Kindheit. Alle Lebensbequemlichkeiten und Ueppigkeiten des cäsarischen Roms waren hier vereint, Tempel, Säulenhallen, Bäder, Palläste, Theater. Die Wellen des Murtnersees bespülten die Ringmauern, an deren Ueberbleibseln man noch in unsern Tagen die Eisenringe sah, woran die Schiffe befestigt worden waren. Heut aber füllt das Städtlein kaum noch den zehnten Theil vom weiten Raum des ehmaligen Aventicnms aus. Man sieht noch in den Wiesen Reste der vierzehn Schuh dicken Stadtmauern und Thürme. Man findet noch Säulenstücke, zerbrochene Capiteele, Trümmer von Amphitheatern und Wasserleitungen, Standbildern, Inschriften *) llaxut Lelvotiooruw heißt sie TacituS. L70 und Grabmälern;*) viele in Bürgerhäusern, statt andrer Steine, zum Mauerwerk verbraucht. Im Boden der Gärten und Felder weit umher werden noch immer von Zeit zu Zeit Bruchstücke von Säulengesimsen, Altären, Bas-Reliefs, Statuen, auch Fußböden von mosaischer Arbeit, Münzen u. s. w. ansgegraben. Von den Allemannen erst, dann von Attila's Hunnen, ward Aventicum zerstört, welches früh schon christlicher Bischöfe Sitz geworden war, die sich damals nach Lausanne retteten. Jetzt ist dies Wiflisburg Hauptort eines waadtländischen Bezirks; ein Landstädtchcn, daS nur aus einer Straße besteht und etwa tausend Einwohner zählt. Das von Allemannen, Hunnen und andern wandernden Völkern verwüstete Land genas erst wieder unter der Herrschaft der menschlichen Burigunden (oder Bourguignons) und der mervingi- schen Frankenkönige. Unter ihnen ward Orbe die Hauptstadt des Landes und mit roher Pracht verschönert. Südwärts dem Neuen- burgersee ist sie auf einem Hügel inmitten einer weiten Thalgegend am Fuße des Jura gelegen. Hier stand die Königsburg. Hieher floh die schöne, aber im Alter grausame Frankenkönigin Brunehildis zu ihrer Enkelin Theudelane, von der Rache des Adels verfolgt. Sie ward von ihm hier ergriffen und zum märtervollen Tode geschleppt. Hier zuerst verhandelten die kaiserlichen Söhne Ludwigs des Milden, die Enkel Karls des Großen, über Theilung des weitläuftigen, großväterlichen Reiches. Hier feierte Kaiser Karl der Dicke manch prachtvolles Ritterspiel, bis er alle Kronen Karls des Großen verspielt hatte. Dann schuf Rudolf von Strät- lingen, mit dem Schwert in der Faust, aus dem Waadtlande, der Freigrafschaft Burgund und Savoyen, sein Königreich Klein- burgund. Auch dann noch blieb die hohe Burg von Orbe im alten Glanz. In ihrer Nachbarschaft baute zu Peterlingen die gute Königin Bertha ein Benediktinerkloster, wo sie auch begraben seyn wollte. Sie verdiente wohl den Namen der Guten. »Sie baute Mag auch hier noch einmal die schon oft von Andern angeführte rührende Grabschrift der jungen Julia Alpinula stehn, von der Lord Byron sagte: "Ich kenne kein rührenders Wort des Meißels, als dieses." Xlpinula Iiio säest, inksliei» putri» intelix prols», cisso /VvsutiW «acsrclus. Lxorurs >>Mrir neosm non potui; male innre in satt« Nie ernt. Vixi anno» XXlll. (Hier eines unglücklichen Vaters unglückliche Tochter, Julia Alpinula, der Göttin Aventia Priesterin, ruh' ich. Des Vaters Leben erfleh'n konnt' ich nicht. Trauriger Tod ward ihm vom Schicksal. Ich habe 23 Jahr gelebt.) Der Grabstein ist nach England verkauft worden! 271 Kirchen; sie befestigte Burgen ;" sagt der, auf ihrem, erst im Jahr 1817, nach vielen Jahrhunderten wieder entdeckten Grabe, liegende Marmorstein: „sie baute das Land und nährte die Armen." Noch lebt ihr Name im Gedächtniß des Volks und im Spruch- wort: "Zur Zeit, da Königin Bertha spann!" — Denn, mit dem Glück ihres Landes beschäftigt, reisete sie umher, zu Pferd, Alle- mit eignen Augen zu schauen und, unterwegs, nach einfacher Sitte des Zeitalters, spann sie Flachs und Hanf mit ihren Begleiterinnen. Noch zeigt man zu Payerne oder Peterlingen, Bertha's Sattel und das Loch darin, wohinein sie ihren Spinnrocken steckte. Mit dem Leben ihres unwürdigen Enkels verging das Leben des kleinburgundischen Königreichs; es lösete sich auf ins heilige römische Reich, bis auch dieses in der Anarchie des Mittclalters zerfiel und die Waadt großentheils der Herzoge von Savoyen Gut ward. Unter der milden Herrschaft derselben blühte jedoch das schöne Land fast dreihundert Jahre lang, reich an Freiheiten und Privilegien. Bündnisse und Friedensschlüsse, Abgaben und Aufgebot des Kriegüvolkes geschahen nicht ohne Einwilligung der versammelten Landstände. Aber diese Freiheiten, welche den Fürsten einen langen Zeitraum hindurch heilig geblieben waren, gingen unter der stolzen Eifersucht des republikanischen Berns zu Grunde, als diese Stadt (im I. 1536) den savoyischen Herzogen, mit den Waffen in der Faust, das Land entrissen hatte. Früher schon war die Königsburg von Orbe durch die Berner im burgundischen Kriege zerstört. Ihre Trümmer werden noch gesehn, und daneben, auf der erhabnen, breiten Fläche des Schloßhügels, die beiden einsamen Thürme, entfernt von einander stehend, und von wunderlicher Bauart des Alterthums. Sie geben dem heutigen Lustplatz droben, mit seinen Schattengängen und weiten Aussichten, einen fremdartigen, feierlich-ernsten Geist, der dem Wandrer vielleicht aus keiner andern Ruine im Schweizerlande so ergreifend entgegen tritt. Drittehalbhundert Jahre blieb die Waadt unter Berns Hoheit und Gewalt. Alljährlich flössen von hier 1,200,000 Franken in die Hauptstadt, welche davon nur 24,000 zum öffentlichen Unterricht, oder zwei Fünftel zu den Kosten des Bau's und der Unterhaltung von Straßen, welche nach Bern führten, dem Lande zurückgab. Das Jahr 1798 endete die Zeiten der langen Unterthanenschaft. Der Kanton Waadt kaufte sich mit einem Auswand von achtehalb Millionen Franken vom Druck der Feudallasten und fremden Herrschaft los. L72 Nun steht der junge Freistaat, einer der glücklichsten und wohlgeordnetsten, im Kreise der Eidsgenossen. Zum Schutz seiner Unabhängigkeit sind 30,000 Bürger unter Waffen bereit. Weise Verwaltung, strenge Gerechtigkeitspflege, vorzügliche öffentliche Einrichtungen sichern Freiheit, Frieden und Wohlstand des Volks. L. Vcoax DaS alte Vibiscum in Antom'a's Jtinerarium. an der Straße der Römerlegionen nach Italien gelegen, das Vi vesium des Mittelalters, (heut noch von der deutschen Schweiz Vivis geheißen) ist gegenwärtig eine der niedlichsten, gefälligsten Städte des Waatlandes. In nachläßiger Schönheit streckt sie sich am Fuß des Jorat, am Rande des Sees, mit ihren mehr als vierhundert meist zierlichen Wohngebäuden, Kirchen, breiten Straßen, großen öffentlichen Plätzen, Lustörtern, Gärten und Pavillons aus. Die weite Wasserfläche des Leman zieht sich hier enger zusammen, um das Gebirgsbild gegen über deutlicher sehen zu lassen in seiner ganzen schwermüthigen Pracht, und seitwärts den finstern Schooß der wallisischen Riesenalpen, die da verworren durch einander drängen, ihre Häupter in ewigen Winter verhüllt. Nicht umsonst wählte Rousseau dies Paradies zur Bühne Wolmars und Heloisens, und ihrer Leidenschaften und Verirrungen. Hier in der Nachbarschaft Clarens, malerisch an den Felsen gelehnt, und auf der heitern Höhe, Rousseau's Pavillon; drüben am südlichen Seeufcr, hoch über dessen Wellenspiel, Me i llerie, mit dem darüber ragenden schwarzen Kuppen der Deuts ä'Oolie! Dichtkunst und Natur haben diese Stellen klassischer gemacht, als es je Schlacht - und Siegesfelder halbvergesscner Eroberer durch daS Heldenblut ihrer kunst - und kriegsgerechten Schaaren von Menschen- Schlächtern werden konnten. Vevay, mit seiner freundlichen Bevölkerung von mehr denn 4000 Seelen, giebt Alles, was eine Stadt so mäßigen Umfangs irgend zur Veranmuthigung des Lebens, durch Geselligkeit und wissenschaftliche Genüsse, neben allen Reizen der Natur, anbieten kann. Auch manche alterthümliche Denkwürdigkeit zeigt es noch dem Fremdling. Bekanntlich lebte hier, verbannt als Kvnigsmörder, einer von den Richtern Karls I von England, Edmund Ludlow, vierzig Jahre lang, in seinem ihm von der Schweiz gewährten Asyl. UM! M» 'AH ^ 273 König Karl II hatte vergebens einen Preis von 300 Pf. Sterl. auf Ludlows Kopf gesetzt; vergebens seine Auslieferung begehrt. Er ließ ihn zu Vevay mit »»königlicher Rachsucht durch feile Banditen verfolqen, so daß dieser unbeugsame Gegner aller absoluten Gewalt gezwungen war, sein Haus gegen Uebersälle zu befestigen. Ward doch zu Lausanne in derselben Zeit ein andrer Königsmörder, wie er aus der Kirche kam, durch einen Pistolenschuß von einem Unbekannten getödtet, der dann schnell verschwand und auf einer am Ufer bereit gehaltnen Barke über den See entfloh. Ludlow setzte übe» die Pforte seines Hauses die Worte: „Omnv solum fort! patria czuin patris." (Dem Tapfern ist jeder Boden Vaterland, weil des Vaters.) Sein Grabmal ist in der St. Martinskirche zu sehen; da auch das des Admirals Andr. Brougthon, dessen Grabschrift rühmt, er habe dem Karl l. das Todesurtheil vorgelesen. Fröhlicher, als diese, ist eine Alterthümlichkeit andrer Art, die Feier des Winzerfestes von Vevay, dessen Ursprung wahrscheinlich aus den Tagen der Römer stammt, die hier an den Berghängen die ersten Reben gepflanzt haben mögen. Denn noch in unsern Tagen fand man beim Stadtlei» Cully, (Oollium), zwischen Vevav und Lausanne, Trümmer ihres dem Bacchus geweihten Tempels und die Inschrift eines Steins: I-idero patri Oollisnsi, (dem Vater Liber von Cully). Ohne Zweifel behagte den frommen Mönchen des Mittelalters der Wein desRyfthals (oder Lavaux, wie diese Küste zwischen Vevay und Lausanne genannt wird,) nicht weniger, *) als vorher den heidnischen Kehlen der Römer. Denn die Zellenbewohner der nun in Schutt liegenden Cisterzienser - Abtei Haut Ehrest trugen durchaus kein Bedenken, auch das alte Bacchusfest, von ihren christlichen Winzern und Leibeignen, lustig fortsetzen zu lassen, jedoch mit dem Unterschiede , daß sie den Prunkzügen und Cerimonien des Heidenthums einen billigen Zusatz von Christenthum beimischten. So sah man in den Prozessionen, wie sie bis auf uns gekommen sind, Bacchus mit Faunen und Thyrsusschwingern und einem hochwürdigen Abt einherschreiten; Ceres auf den Korngarben eines Wagens thronend und die Arche Noä; Silen auf seinem Esel, und die Traube Kanaans von Josua und Caleb getragen; schmunzelnde Mönche, *) Noch itzt wetteifert der Rykwein siegend mit dem hoch- gevriefenen La Cote-Wein. La Ccte heißt das Seegestade von Nyon dis Aubonne. 274 muthwillige Winzerinnen, und Opferthiere mit vergoldeten Hörnern und Blumenkränzen geschmückt. Noch ißt versammeln die Gutsbesitzer der ganzen Landschaft ihre Reb- und Ackerleute, sie gastlich bewirthend, zum Freudentag. Die Winzergilde (abbuve fies viKiierons) hak überdies ihr eignes gesellschaftliches Capital. Aber statt, wie ehmahls alljährlich, geht, wegen des dabei gewachsenen Aufwandes und der allseitig herzuströmenden Mengen lust- und schaubegierigen Volkes, die Prozession nur alle sechs Jahre durch die Stadt Vevay. Auch die Anordnung der Feierlichkeiten ist geschmackvoller, denn vormals; und den --nsgezeichnetsten Nebleuten werden aus den Zinsen einer eignen Kasse, Preise ertheilt. Ich sage nichts vou Vevay's Umgegend, den prachtreichen Aussichten auf den Stufen des Berg-Amphitheaters, über welches ein Teppich vonKastanienwäldern, Weinreben, Wiesen und Gärten gebreitet ist, hin und wieder durch einen Giesbach zerrissen, an dessen Ufern Lorbeern, Granaten und Feigen un Freien reifen. Doch nicht immer, was zu offner Schau steht, ist das Schönste. Das Reizendste idyllischer Scenerien liegt oft in kleinen Seiten- schluchten uod Thälchen, gleichsam in den Falten des weiten, grünen Gebirgsmantels versteckt, wie das Veilchen im Grase. Auch das Schloß Chillon ruht da in der Nähe, nur zwo Stunden von Vevay. Diese sechshundertjährige Burg, regellos, nach dem Geschmack oder Bedürfniß verschiedener Zeitalter zusammengebaut, steigt aus dem Abgrund der Seewellen mit ihren düstern, felsenstarken Mauern, Schießscharten, kleinen und großen Thürmen, hervor, ohnweit dem Ufer, wie ein Ungeheuer der Gewässer. Es ist ein großartiges Bild, dies gothische finstre Bauwerk mit seinem Hintergründe steiler Senkungen und fantastischer Umrisse des savvyi- schen Hochgebirgs. Der Mensch scheint hier, der Furchtbarkeit der Natur, seine eigne moralische Fürchterlichkeit entgegengestellt zu haben. Wie vielen Jammers und wie manches qualvollen Todes Zeugen waren die dumpfen Kerkermauern und Verließe drunten, in der Tiefe der Fluten! Byron, um das Elend eines hier verlassenen und vergessenen Gefangenen darzustellen, wählte dazu ein Geschöpf seiner Einbildungskraft Ihm war der arme Prior von St. Victor unbekannt. Es war dies Franz de Bonnivard, Herr von Lunes, der im ersten Jahrzehend des sechszehnten Jahrhunderts die Genfer Priorei St. Victor empfing; ein starkmüthiger, edelherziger, mit den großen Geistern des Alterthums wohlvertrauter Mann, der, MKZ .MM WÄL PUM EM ML? «7ä gleich ihnen, Freiheit und republikanische Tugenden über Alles ehrte. Darum ergriff er die Sache des Rechts für Genf, im Zwist mit dem Herzog von Savoyen. Der Muth, die Kenntnisse, die thätige und gewandte Feder des Priors wurden dem herzoglichen Hofe furchtbarer, als Genfs Waffen. Man stellte ihm nach. Er gerieth schon 1518 in Gefahr, zu Turin gefangen gehalten zu werden. Er entkam noch glücklich, wurde aber folgendes Jahr, auf einer Reise durchs Waatland, von zween falschen Freunden verrathen, ausgeliefert; erst nach Ger, dann nach la Grolve geschleppt, und auf Befehl des Fürsten zwei Jahr gefangen gehalten. Einer der Verräther gegen ihn war der Abt von Montheron gewesen ; und dieser entriß ihm auch diePriorei St. Victor. Doch empfing er endlich sie und die Freiheit wieder durch Theilnahme des Genfer Bischofs Pierre de la Baume. Was Bonnivard gelitten, hatte seine Grundsätze nicht erschüttert, aber seinen Eifer geschärft. Savoyens Rache verfolgte ihn daher wieder mit verdoppelter Anstrengung. Als eines Tags, im I. 1580, der Prior im Begriff war, seine betagte kranke Mutter in Seyffel, einem französischen Städtchen an der daselbst schiffbar werdenden Rhone, zu besuchen, ward er, obgleich ihm der Herzog von Savoyen sichres Geleit gewährt hatte, im Juragebirg überfallen, und gefangen ins Schloß Chillon geführt. Anfangs genoß er erträgliche Behandlung. Nach zwei Jahren aber wurde er in den tiefsten der Kerker gestoßen, wo er nichts, als das dumpfe Toben der Wellen zu seiner Seite vernahm, wenn sie im Sturm brandend gegen die Grundmauern stießen. Hier, in Finsterniß vergraben und vergessen, schmachtete er, bis die Berner im I. 1536 das Waatland eroberten und das Felsenschloß des Sees mit Sturm nahmen. Als dem unglücklichen Bonnivard, ihm, wie Andern, welche wegen Anhänglichkeit an kirchlicher und bürgerlicher Freiheit Genfs, hier geduldet hatten, die Kerkerpforten geöffnet wurden, sah er Genf frei von Savoyen, und die Kirchenverbesserung siegreich. Die Stadt empfing ihn mit Jubel; gab ihm ihr Bürgerrecht; lohnte ihn mit anständigem Jahrgehalt und wählte ihn in den Rath der Zweihundert, wo er, als Gesetzgeber, gegen den Fanatismus der Reformatoren die heilige Sache christlicher Toleranz und Milde vertheidigte. Er starb hochbetagt und geehrt, vier und siebenzig Jahr alt, im I. 1570. Zur Erbin seiner Güter setzte er dankbar die Republik ein, deren öffentliche Bibliothek seine, meist die Schicksale Genfs betreffende», geschichtlichen Arbeiten in Handschrift bewahrt. 276 Vielleicht hätt' ich nicht so lange von dem cdeln Bonnivard sprechen sollen. Aber ist der standhafte Heldensinn eines Dulders für Wahrheit und Recht, gegenüber brutaler Gewalt, nicht mehr werth, als das Schloß Chillon selbst? Eine lange Reihe alterthümiicher Burgen und Schlösser des Waatlandes, noch gegenwärtig bewohnt, ließe sich auszählen. Aber was läßt sich von ihnen Wichtigers melden, als ihre innere Ausschmückung, oder ihre reizende Umgebung und-Aussicht?— Tavernier, der berühmte Reisende des siebenzehnten Jahrhunderts, welcher die Herrlichkeit des halben Orients gesehen hatte, rief, als er das Schloß von Aubonne, das weitschauende, erkauft hatte, mit Entzücken: «Vierzigtausend Meilen macht' ich zu Land und zu Wasser; aber außer den Gegenden von Schiras und Stambul, fand ich Schöneres nicht in der Welt denn hier!" Viel hängt vom Geschmack ab. Auch der Pallast von Coppet, zwischen Nion und Genf, ruht anmuthsvoll in seinen zierlichen Gartenanlagen, ain See: und doch gab die Frau von Stabl, der Bac-Gasse in Paris den Vorzug. Als sie in ihrem herrlichen Eigenthum hier, von Napoleon aus Paris verbannt, wohnte, rief sie, wenn man ihr mit Begeisterung von diesem zauberischen Aufenthalt sprach: „Xb! roiilieri-nwi rus cku Lao!" —- Die Dame wollte lieber Bewunderung erndten, als Bewunderung zollen. Witzspiele der Salons, Kunstglanz des Hofes sagten ihrem Gemüth unendlich mehr zu, als die ewige Majestät der Natur im täglichen Prachtwechsel. Schon der berühmte Bayle lebte einst zwei Jahr (1672 — 1674) in diesem Schlosse. Aber auch ihn plagte bald Langeweile; und vertrieb ihn. Dem Philosophen war das großartige Schauspiel der Erde und des Himmels umher nur eine bunte Tapete. Er sehnte sich nach alten Büchern und bändereichen Bibliotheken, wie Frau von Staöl nach Beifall der Schöngeister. Doch das Schloß Coppet hat eine andre Merkwürdigkeit. Wenn man sich durch die breiten, langen Schattengänge der Gärten in den dunkeln Hain des Hintergrundes verliert, steht man unerwartet vor einem Grabmahl. Hier ruht die Asche Neckers. Zurückgezogen aus den Stürmen der französischen Staatsumwälzung, wohnte der ehmahlige Finanzminister des unglücklichen Ludwigs XVI in der prachtvollen Einsamkeit, seit 1760 bis zu seinem Todesjahr 1804. Er schien neu aufzuleben und sich unter der Wunderkraft der landschaftlichen Reize zu verjüngen. Der Mann der Rechnungen dichtete hier, noch in seinem sicbenzigstcn Jahre, einen Roman. 277 Hab' ich nun Coppets gedacht, so darf ich auch wohl Pran- gins erwähnen, das unweit davon, zwischen Nyon und Rolle, seine gewaltigen Mauern malerisch erhebt. Diese Burg alter Barone ward, nach mancherlei Schicksalswechseln endlich das Asyl eines Mannes, der, mit einem ihm geschenkten Zepter, erst zwei Jahr den schonen Boden Neapels, dann fünf Jahre das spanische Reich, als König, beherrscht hatte. Nicht lange verweilte'Jo sep h Napoleon in Prangin, da sein Bruder das Eril von Elba verließ. Ader der Bluttag von Waterlvs ließ ihn Prangin, Europa und alle königlichen Hoffnungen vergessen. Er floh, als Graf von Survilliers, in den Frieden der Nordamerikanischen Freiheit. Schönere Erinnerungen, denn diese, umschweben indessen noch das unschöne, gothisch aufgethürmte Schloß von Nyon. Hier lebte einst der gute Landvogt, der weise Karl von Bon- stetten, der Geliebte des Volks. Er verwandelte den alten Rittersitz in einen freundlichen Tempel der Musen. Hier lebten Salis, Friedrike Brun und die Weisen Genfs mit ihm glückliche Tage. Hier begann Jodannes Müller sein unsterbliches Geschichtwerk, und sang Matthison sein Lied an den Genfersee. 3. Grandson. Den berühmtesten Namen unter allen Burgställen des Pays des Vaud trägt Grandson, auf einem Hügel am südwestlichen Ende des Neuenburger Sees. Die schwerfällige Masse des Schlosses selbst, sein hohes finstres und weitläuftiges Gemäuer, mit kleinen runden, von Spitzdqchern bedekten Thürmlein, dieWalter Scott mit Pfefferbüchsen verglichen haben würde, stellet sich zwar, neben dem ruhigen See, »»gemein romantisch dar, zeigt jedoch keine andre Merkwürdigkeit. Eben so unbedeutend, oder noch unbedeutender, ist dabei das ärmliche Städtlein. Allein der Name Grandson mahnt an einen der schönsten Tage der Schweizergeschichte. Vor diesem Schlosse brach bekanntlich Karl der Kühne, Herzog von Burgund, sein fürstliches Wort gegen die tapfre Besatzung der Eidsgenossen, als sie sich, nach zehntägigem Widerstände, seinen Waffen übergeben hatte. Ihrer Hunderte ließ er an den Bäumen aufhenken; ihrer Hunderte an Seilen im Wasser des Sees umher- zerren, bis sie ertranken. Aber noch in der Nähe dieses Schlosses ereilte ihn die Rache der Eidsgenossen. Zwischen Gebirg und See 278 schlugen sie eine ihrer blutigsten Freiheitsschlachten (1476.) Mit 20,000 Mann vernichteten sie des stolzen Eroberers Heer, der ihnen 50,000 Mann entgegengestellt hatte, und machten sie eine unermeßliche Beute, deren Werth der Einfachheit der Ge- birgsmänner fremd und unbekannt war; jene großen Diamanten, welche heut in den Kronen Frankreichs, Oestreichs und der Nachfolger des heil. Apostels Petrus prangen. Einen di:ser edeln Steine, welchen ein Schweizerkrieger um ein paar Gulden weggab, erkaufte nachher Papst Julius!!. »der Knecht der Knechte Gottes», um 20,000 Ducaten. Aber warum das Vielbekannte wiederholen? — Der Spa- ziergang von einer Stunde längs dem See, im Schatten hoher Bäume, führt von Grandson zu einer nahen, freundlichen Stadt, die, eine der ältesten des helvetischen Landes, der Römer Ebrodunum, auch noch in unsern Tagen einen geachteten Namen führt. Ich spreche von Dverdon, oder Jferten, nächst Lausanne und Vevay, das gewerbigste und ansehnlichste Städtchen des Waatlandes, obgleich von kaum 3000 Einwohnern bevölkert. Hier lebte uud lehrte, in dem von den alten Herzogen von Zäh- ringcn erbauten Schlosse, Heinrich Pestalozzi zwanzig Jahre lang und machte die Stadt eben so lange zum Wallfahrtsort und zur Schule der Pädagogen Europens und Amerika's. Noch itzt besteh» da aus jener Zeit mehrere namhafte Privat-Erziehungsanstalten für Knaben, Mädchen und für Taubstumme. Am berühmtesten unter diesen ist itzt noch die Nicderersche Mädchenerziehungs- anstatt, welche von Zöglingen, nicht aus der Schweiz nur, sondern aus den meisten europäischen Ländern besucht ist. Der geistvolle Nied e r e r war einer von Pcstalozzi's Jüngern und Mitarbeitern. Es ist eine merkwürdige Sonderbarkeit, die aber gar keine Seltenheit ist, daß im Dienst unbedeutende Militärpersonen wesentliche Verbesserungen im Kriegswesen erfunden haben; daß zu Grunde gerichtete Landökonvmen vortrefflich über Vervollkommnung des Ackerbau's und der Viehzucht schrieben; daß bankerote Kaufleute die größten Ansichten im Finanzfach lieferten, oder doch die zwekmäßigsten Handelsinstitute errichteten, und daß Männer, die weder Erziehung hatten, noch selbst Erziehung geben konnten, die größten Reformen im Fach der Pädagogik schufen. Rousseau, der Bürger von Genf, schrieb seinen Emil, über Erziehung des Kindes von den ersten Lebensaugenblicken desselben an; er selber aber erzog seine Kinder nicht, sondern übergab sie dem Findelhause. Er hätte sie nicht erziehen können. Eben so wenig war Pestalozzi L7S dazu geeignet; er, der scharfblickende Weise, der zärtlichste Kinder- freund, der edle, reine Mensch, liebenswürdig und gutmüthig, wie ein Kind. Er war kein Mann der Welt, senden ein Mann der Ideen. Andre mußten seine Entwürfe in die Wirklichkeit hinaus gestalten: seine Ideen gleichsam verkörpern. Unter ihnen waren Hermann Krüsi, Niederer u. s. w. ausgezeichnet. Er selber konnt' es nicht. In Frankreich, Deutschland, Preußen, Rußland, Neapel, Spanien, Nordamerika u. s. w. wurden Schulen und Bildungsanstalten nach seinen Grundsätzen gestiftet; in der damaligen Schweiz, (denn sie ist gegenwärtig doch in Vielem eine andere und hellere geworden) folgte man dem von ihm aufgestellten Beispiel nur selten. Und seine Lieblingsidee, die er bis zur letzten Lebensstunde, und immer vergebens, verfolgte, Kinder nämlich der Aermsten >m Volk zu bilden, sie vom lebenslänglichen Elend, Bettelstab, vom Zuchthaus und Schaffst zu erretten, konnte nur erstem praktischer Mann, von Geist und Gemüth, wie der edle Fellenberg rea- lisiren. Ich mögte hier das Bild Peftalozzi's zeichnen, ganz wie ich ihn selbst, manches Jahrzehend lang, und in den verschiedensten Lagen seines Lebens, kannte. Ich kann es kaum anders, als wie ich es, in meinen Erinnerungen an ihn, schon anderswo that. Er lebte, wie gesagt, nur in seinen Ideen und nur für sie. Er gehörte nur durch sie der Welt an. Veredlung, oder wenigstens doch Entthierung der ärmern, verwahrloseten, größer« Volksmasse durch Unterricht war sein ewiges Ziel. Ein Mann von so seltner Geisteskraft und sich selbst hinopfernver Tugend mußte groß auf sein Zeitalter einwirken. Er hat in Europa, auch wo sein Name nicht dabei genannt wird, unstreitig die mächtigste Anregung zur Verbesserung des Volksschulwesens gegeben. Dies Verdienst um die Menschheit wird ihm die europäische Menschheit dankbar immer zugestehen. Sein Name ward im gesammten Welttheil, wie in Amerika mit Ehrfurcht oder Neid genannt. Nur in der Schweiz erkannte man den Außerordentlichen am wenigsten. Da sah man nur den schlichten Schulmeister, der weder Lebensart, noch Lebensklugbeit, besaß und weder seinen Anzug, noch sein Hauswesen in Ordnung zu bringen verstand. Hier wurden selbst seine Tugenden lächerlich, und er hatte sich glücklich zu schätzen, wenn man ihn nur für einen etwas überspannten Kopf, nicht siir einen gutmüthigen Halbnarreu erklärte. Man erzählte sich mancherlei Anecdoten von ihm, um sich von ganzem Herzen über ihn zu belustigen, z. B. wie er einmahl, auf dem Weg von 280 Solothurn nach Basel, eine arme Familie im bittersten Elend fand; helfen wollte, nicht konnte; keinen Heller Geld bei sich hatte; aber von seinen Schuhen die silbernen Schnallen lösete, sie hingab, fortrannte , die Schuhe mit Stroh festband und so zum Gelächter der Gassenbuben in die Straßen der reichen Handelsstadt einzog. Mit durchdringendem Scharfsinn und Alles vergegenwärtigender Einbildungskraft, sah er jede Schwäche, jede Stärke des Herzens. Er kannte den Menschen durch und durch; aber er kannte die Leute nicht. Kindlichgut, war er leichtgläubig, wie ein Kind. Ost von Andern, weit öfter noch durch sich selbst getäuscht, ward seine Leichtgläubigkeit eben so häufig zum unverdiente» Vertrauen, als zum unverdienten, hartnäckigen Argwohn; und, bei der Reizbarkeit und Lebhaftigkeit seiner Gefühle, ging er eben so schnell zur Liebe, wie zum Hasse, über. Er wußte sich im Allgemeinen verkannt. Die Ungerechtigkeit der Welt gegen ihn zerriß sein Herz; um so leichter gewann ihn jeder, der seine Eigenliebe schmeichelte, und ihn lenken wollte. Dies und seine unverhchlten freisinnigen Grundsätze in des Vaterlandes öffentlichen Angelegenheiten, wodurch er der Patrizier - und Geld-Aristokratie und deren dienstbeflissenen Anhängern verhaßt blieb, waren die Ursachen, daß nie gedieh, was er selber schaffen wollte, um seine Ideale in der Wirklichkeit zur Anschauung aufzustellen. Noch wenige Wochen vor seinem Tode trat der hochwürdige Greis in mein Zimmer. Bei aller Hinfälligkeit des Körpers erschien die Kraft feines Geistes ungebrochen. Mit jugendlicher Lebhaftigkeit entwickelte er mir seiner neuen Ideen eine, über Vereinfachung des Unterrichtens in todten Sprachen. Er wollte darüber noch ein Werk schreiben. Da kehrte sem Genius die Lebensfackel um. W .M 281 XVII Kanton Freiburg. 1. Freiburg. Dies Ländchen, in welchem etwa 86 bis 87,000 Menschen auf einem Raum von 26 bis 27 geographischen Geviertmeilen in 6 kleinen Städten, mehr denn 200 Dörfern, 300 Weilern, zerstreuten Wohnungen und Höfen, beisammen wohnen, bietet dem Beobachter eine so große Mannigfaltigkeit der Landschaftsbilder, der Sprachen, Sitten, Gesetze, Kleidertrachten, Gewohnheiten, der geschichtlichen und politischen Merkwürdigkeiten und Sonderbarkeiten zur Schau, als irgend ein andrer Schweizerkanton. Aber dem großen Haufen der Reisenden ist das Ländchen nicht namhaft genug; er kennt es nur, als Durchgangspunkt von Bern zum Genfer- see. Er staunt etwa die wunderliche Bauart der Hauptstadt an, wo hier Gebäude und Kapellen am Rande hoher, senkrechter Sandfelsen über dem wilden Strom der Saane schweben, dort sich in Bergschluchten verkriechen; hier der stolze Pallast des Jesuiten-Collegiums auf der Berghöhe die fromme Stadt dominirt; dort in der Luft, wie Fäden eines Spinngewebes, die neue Orathbrücke, 925 Fuß lang, von Berg zu Berg, über Strom und Thal, über Kirchen, Häuser und Thürme, 160 Fuß hoch, hinzieht. Vom klebrigen sieht und kennt er wenig. Eben von diesem klebrigen mögt' ich erzählen. Das ganze Land liegt hoch, doch fruchtbar; der tiefste Punkt noch mehr denn 1300 Fuß, der höchste noch mehr denn 7000 Fuß über dem Meere (der Dent de Brenleyre 7353 Fuß.) So viele Gießbäche und Waldströme von den Alpen und Jorat-Höhen niederstürzen, so viele Thäler lassen sich zählen. Ueberall verwandelt 1g S8S da die Natur ihre Gestalt und Stimme. Sie spricht immitten des Hochgebirgs, über schauerlichen Abgründen, zwischen Wolken und unerklimmbaren Felsgipfeln, unter dem Donner der Wasserfalle und dem Geläut der Heerdenglocken, die Sprache des Epos; zwischen den Hügeln, Gebüschen, Dörfern, Seeufern, Kapellen und romantischen Burgen der Thalwelt die Sprache der Idylle, und in den öden Mooren jenseits des Murten-Sees, die der Ibis, der schwarzgemäntelte Strandläufer und andres Sumpfgeflügel belebt, die ruhigste Prosa. Hier ist die Gränzschekde, wo sich die Nachkommen und Sprachen zweier Nationen, der Allemannen und Burgundcn, berühren, ohne sich in einander aufzulösen. Die Linie der Sprachentrennung zieht sich von Südost über Freiburg nach Nordwest, fast quer durch den Kanton. In der Stadt Freiburg selbst sprechen einige Straßen deutsch, und die andern französisch. Das Deutsche unterscheidet sich in verschiednen Gegenden des Landes wieder nach verschiednen Mundarten; das Welsche zerfällt in noch weit mehr Oialccte. Doch im Letzter« sondert sich am schärfsten das Gruverin - Welsch der Landschaft Gruyeres, das Broyar am Neuenburgersee und das Guntzoin des Landes mittlern Theil von einander. Eben so verschieden sind die bürgerlichen Gesetze dieser Landschaften. Sie entstammen den Bräuchen und Uebungen des hohen Alterthums, die nach und nach in Schrift aufgefaßt und nach den Bedürfnissen der Zeit, mit Zusätzen und Veränderungen, ausgestattet wurden. Das älteste schriftliche Gesetzbuch ist die sogenannte „Handfeste« aus dem I. 1249. Daneben bestehn in den 13 Bezirken des Landes über ein halbes Dutzend besondrer örtlicher Gesetzbücher, oder Coutumiers und Ordnungen; alle unter sich abweichend; alle nur noch in Handschriften; und die Abschriften eines und desselben Buchs wieder unter sich ohne Uebereinstimmung. Erst seit 1821 hat man angefangen, ein allgemeines Civilgesetzbuch zu entwerfen; aber auch nur angefangen. Karls V „Halsgcrichtsordnung", etwas gemildert, verrichtet noch den Dienst des Criminalcoderes. Ehe (am 7. Dezember 1830) die staatsbürgerliche Rechtsgleichheit im Staatsgrundgesetz anerkannt wurde , gab es in dem Ländchen auch, wie in andern Kantonen, eine lange, erbliche, von Geschlecht zu Geschlecht übergehende, Stufenfolge mannigfacher bürgerlicher Stände und ihrer Rechte und Unrechte und Vorrechte, wodurch die Menge der Gegensätze aus diesem Erdenfleck noch mehr vergrößert ward Oben an standen die Bürger der Stadt, das heißt der Hauptstadt. Denn wie in allen Aristokratien, trug diese allein. S83 vor allen übrigen Städten des Landes, den Namen der Stadt (urbs). Aber auch die Stadtbürgerschaft bildete in sich selbst wieder drei Kasten, die des Adels, die der Patricier, denen zu öffentlichen Aemtern ausschließliches Recht gehört, und der Bürger von Stadt und »alter Landschaft", welche außer dem Mitgenuß an gewissen Gemeingütern, auch das Recht zu gewissen Wahlen t atten. — Unter den Adlichen und Patriciern aber waren auch nicht alle, sondern nur bestimmte Familien berechtigt, in die obern Landesbehörden einzutreten, sondern nur diejenigen, welche zur Zahl der »regimentsfähigen Familien", oder der »heimlichen Bürger" gehörten. Auch diese unterschieden sich wieder durch Titel und Benennungen, bis im Jahr 1782 diese Lächerlichkeit, welche man aber nichts weniger als lächerlich fand, aufgehoben und volle Rangesgleichheit wenigstens unter den heimlichen Bürgern eingeführt hat. — In andern Städten des Landes fanden ähnliche Rangordnungen statt, aber nirgends die gleichen. Da gab es unter den Bürgern Patricierartige und Gemeine; ferner blos Angehörige des Orts, zu deinen auch die Unehlichgebornen zählten; ja, selbst endlich Pfarrgenoffen, die zu k e in er Ortschaft, sondern nur zum Kirchsprengel, gehörten. Das Banervolk, versteht sich, war am dürftigsten mit Rechten ausgestattet; als Unterthan zum Beten, Arbeiten und Bezahlen geboren. Aber die eigentlichen Pariah's des Landes waren denn doch, wie in der ganzen Schweiz, auch hier, die »Heimathlosen»; Menschen ohne Vaterland, die von allen Gemeinden ausgestoßen, sich nirgends ansiedeln konnten, nirgends bürgerliche Rechte besassen, kaum auf ihr Menschenrecht Anspruch machen durften. Die Anzahl dieser Unglücklichen in der Schweiz war groß. Sie stammten theils von verarmten Familien, die sich in ihrer Hei- math nicht erhalten konnten, als Landstreicher bettelnd umherzogen, in rechtmäßigen, oder wilden Ehen sich vermehrten und zuletzt nicht mehr wußten von wannen ihre Voreltern gekommen seyn mogten; — theils von Familien ausländischer, deutscher, französischer oder italiänischer Strolche, denen die Gastfreundlichkeit und fromme Milde der Schweizer, neben schlechter Polizei in ihren vielerlei Gebieten, wohl behagte; — theils von Nachkömmlingen derer, die zur Zeit der Reformation den Glauben verändert, und damit das Bürgerrecht in ihrer Gemeinde und ihrem Kanton auf immer verwirkt hatten; — theils von Personen, die aus ihrem Kanton, andrer Verbrechen willen, auf ewig verbannt worden waren; — theils von Nachkömmlingen derjenigen Schweizer, oder 19* 284 Fremden, die in Schweizerregimentern des Auslandes Söldnerdienst getrieben, sich Verheiratet hatten und in die Schweiz kommend, nirgends anerkannt wurden. Sie Alle, von allen Seiten zurückgestoßen, gezwungen, ein Vagabundenleben zu führen, scheu vor der Polizei der Nachbarstaaten der Schweiz, schwärmten nun einzeln oder familiemvcis, als Bettler, Kesselflicker, Knopfschneider, Korbmacher und dergleichen herum; paarten und trennten sich nach Belieben, ohne Ordnung, ohne Gesetz, ohne Religion; schliefen in Wäldern und Ställen, wahrsagten, stahlen und gefährdeten auf mancherlei Weise, doch selten und gemeinlich nur aus Verzweiflung, die öffentliche Sicherheit. Sie wurden in der Schweiz, was die Zigeuner in andern Ländern sind. Sie bildeten im Staatenbündel der ältern Eidsgenossenschaft einen eignen Freistaat; sie kannten sich unter einander; trafen ihre Verabredungen; und verweilten selten lange Zeit in einer und derselben Gegend, sondern machten, oft ganz regelmäßig, einen Umzug durch alle Kantone, den sie in zwei, drei Jahren vollendeten. Dem Unwesen ward erst nach Auflösung der alten Eidsgenossenschaft, im ersten Jahrzehend des gegenwärtigen Jahrhunderts, ein Ende gesetzt, als an die Stelle der faulen Aristokratien bessere Ordnung der Dinge trat. Doch nur zum Theil ward dem Uebel ganz abgeholfen. Die Kantone vertheilten die Familien der Heimathlosen unter sich. So wurden diese VerstoßnenwenigstensAnge hörige eines Kantons, der sie beaufsichtigte, bevogtete und im Nothfall vom Hungertode rettete. Allein schwerer ward es, sie in besondre Gemeinden heimathlich, und als Mitnutznießer des örtlichen Gemeingutes, einzubürgern. Theils schreckte ihre eingerostete Eent- sittlichung, theils ihre Anzahl ab. Dem Kanton Freiburg allein sind bei 500 solcher heimathlosen Familien zugefallen. Man berechnt, daß der Staat zu ihrer nothdürftigsten Unterstützung binnen 20 Jahren an 100,000 Fr. verwendet hat. Aber unsinnig, weil widernatürlich, ists, ihnen gesetzliche Heirathen zu verbieten, um ihre Vermehrung zu verhüten. Nichts romantischer, als der Anblick der Hauptstadt Freiburg, deren tausend Häuser mit einer Menge von Kirchen, Klöstern und Kapellen, hoch und niedrig, über steilen Felsen, tiefen Schlünden, Halbinseln und Berghängen wunderlich zusammen gedrängt liegen. Tritt man hinein, so wandelt man im Mittelalter unsrer Zeitrechnung; mit einem Anflug neuer Art und Kunst überhaucht, und Rom selbst 285 hat kein frömmeres Ansetzn. Selten eine Straße, in welcher wir nicht daß Kreuz, oder Häuser mit Heiligenbildern bemalt erblicken; wenig Leben darin, außer an Festtagen. Die geringe Bevölkerung von kaum 8000 Seelen verliert sich in der Menge der Gebäude, welche vorzeiten, als die Gerbereien allein bei 2000 Arbeiter beschäftigten, für eine größere Zahl der Bewohner berechnet war; ein andrer Theil ihrer Bevölkerung aber lebt in Zellen der Klöster verschlossen. Auf den stillen Gassen wandeln, von Morgens bis Abends, fast zu allen Stunden des Tages, Andächtige, besonders weiblichen Geschlechts , welche vom feierlichen Klang der Glocken zum Gebet und Gottesdienst , bald nach dieser, bald nach jener Kirche, gerufen werden. Nur an Feier - und Markttagen erschallen, neben der Andacht in den Tempeln, 50 bis 60 Wirthshäuser, Wein- und Bierschenken oder die Kaffeehäuser vom fröhlichen Leben. Die Stadt allein zählt, außer fünf Mönchs- und vier Nonnenklöstern nebst einem Priesterhai.se, zwölf Kirchen und neun Kapellen. Unter den Kirchen ragt die dem heil. Nicolaus geweihte vor allen hervor. Sie stammt aus dem zwölften oder dreizehnten Jahrhundert und ist im gothischen Styl erbaut; ihr Thurm, mit dem prachtvollen Geläute, dritthalb hundert Fuß hoch. In der Vorhalle am Haupteingang erblicken wir von Stein, in erhabner Arbeit, durch die Kunst der alten Meister, das Weltgericht dargestellt, eine blutige Satyre auf die Gewaltigen jener Zeit, auf die Herrscher vom Thron und Altar. Die Teufel zeigen sich rührig, die Verdammten in das höllische Feuer zu schleppen. Man sieht sie gebeugt unter der Last von Kaisern, Königen, Fürsten und Herrn, von Päbsten, Kardinälen, Bischöfen und dickwanstigen Priestern und Mönchen, die sie in Tragkörben zum Abgrund der Flammen bringen. » Victor Hugo, unter Frankreichs neuern Dichtern der genialste in Erfindung und Ausftirbung ekelhafter Zerrbilder und das sittliche Gefühl empörender Verknüpfungen der Charactere und Schicksale, hat in seinem Roman „Notre Dame von Paris" einen eigenthümlichen Gedanken, der mehr, als das ganze Werk werth ist. Ich kann mich nicht enthalten ihn zu wiederholen; denn er ist schön, weil ernicht ohne Wahrheitist. Bis zum sechszehnten Jahrhundert, sagt er, war die Architektur das Buch der Menschheit, worin sie den Nachkommen ihre Gedanken und Gefühle überlieferte. Die ersten Denkmale waren Felsstücke, von keinem Eisen berührt; aufrechte Steine, deren jeder ein Buchstabe, eine Hieroglyphe galt. Wir finden diese steinerne Sprache noch im Norden Asiens und Europens, wie in den Pampa's Amerikas. Später schuf mau 286 Worte; legte Stein auf Stein; verknüpfte Sylben von Granit. Das Dolmen und Kromlech der Celten, der hetrurische T n- mnlus, der hebräische Galgal sind Worte. Der ungeheure Steinhaufen von Kernak ist schon eine Phrase. Die Architektur entfaltete sich zugleich mit dem Reich menschlicher Gedanken; sie ward riesenhaft, tausendköpsig, tausendarmig und versteinerte in sichtbarer, ewiger Form den hin-und herschwebenden Symbolismus. Der Pfeiler ward zum Buchstaben, die Arkade zur Sylbe, die Pyramide zum Wort, der Tempel zum Buch, wie die Pagode von Eklinga, das Rhamseion Aegyptens. Der Tempel Salo- mons ward nicht blos eines heiligen Buches Hülle, sondern das heilige Buch selbst; alles daran und darin Geschichte und Psalm. So war in den ersten 6000 Jahren der Welt, von der ältesten Pagode Indiens bis zur Kathedrale von Köln, die Baukunst eine Schriftkunst des Menschengeschlechts. Am nächsten und uns am verständlichsten liegt den heutigen Tagen noch das Mittelalter. Im ersten Zeitraum desselben, als der Vatican aus den Trümmern des alten welteroberndcn Roms ein neues, die große europäische Theokratie, erbaute, spricht sich der Geist der Jahrhunderte symbolisch in der geheimnißvollen, romanischen Baukunst, Schwester der Architekturen Indiens und Aegyptens, aus. Jeglicher Gedanke der Zeit ist in diesem düstern romanischen Styl niedergeschrieben. Ueberall sieht man die unveränderliche Hieroglyphe päbftlicher Einheit, Unumschränktheit, Uner- forschlichkeit und Macht; überall den Priester, die Kaste; nie den Menschen, das Volk. — Dann aber bringen die Kreuzzüge einen neuen Geist in die Abendlande. Der Feudalismus will mit der Theokratie theilen. Der Adel durchbricht das Priesterthum; hin und wieder die Gemeinde den Adel. Die Hieroglyphe der Architektur , schmückt auch die hochgethürmten Felsenburgen. Unter den hohen Spitzbögen der Kathedralen spricht das Priesterthum nicht allein; auch der freiere Geist des erwachenden Volks durch seine Dichter. Diese Dichter sind Baumeister und Stnnhauer in den wiffenschaft- lichern Maurergilden. Größer, als ihr Jahrhundert, verewigen sie ihren Spott über dasselbe. Kapiteele und Hallen der Kirchen zeigen in ihren Schnörkeln die Tyrannei der Großen, die Sittenlosigkeit der Priester; Könige im Rachen des Satans; Nonnen und Pfaffen schaamlos verkuppelt. Ein baechischer Mönch mit Eselsohren, und den Weinbecher in der Hand, lacht der Gemeinde ins Gesicht. Nur in dieser Art war damals der Gedanke frei; er hatte in der Architektur ein Privilegium, das unsrer heutigen Preßfreiheit S87 gleicht. Hätte sich der Gedanke in einem geschriebenen Buche gezeigt, das Buch wäre mit dem Autor durch Henkershand aus öffentlichem Markte verbrannt worden. So war bis auf Gutten- berg die Architektur die allgemeine Hauptschrift. Das Mittelalter schrieb die letzte Seite dieses im Orient begonnenen, im griechischen und römischen Alter fortgesetzten Granitbuches. — Die allgemeinen Kennzeichen jeder priesterherrschaftlichen Sculptur sind: Unverän- derlichkeit, Abscheu vor Fortschritten, Erhaltung der überlieferten Linien, Weihe der ursprünglichen Typen; eine stehende Form des Menschen und der Natur. Dies ist das starre Gepräge der ägyptischen, der indischen, der romanischen Kunst. — Der architektonische Charakter des Feudaladels ist sein schmuckloser hartherziger Kriegerstolz, der sich in den durch's Land weit schauenden Wartthürmen, in den gewaltigen Burgställen vom Harnisch der Ringmauern umschlossen, auf ihren Felshöhen, in den unterirdischen Burgverließen, selbst in den engen Fensterlöchern offenbart, die, wie Augen des bösen Gewissens, mehr zum Lauern gemacht sind, als das finstre Geheimniß des Innern errathen zu lassen. Reicher, aber minder heilig, minder hochmüthig, ist die Architektur des Volks. In der phönicischen sieht man den Kaufmann, in der griechischen den Republikaner, in der gothischen den Bürger. Der Kanton Freiburg zeichnet sich unter den übrigen der Schweiz noch durch eine Eigenthümlichkeit aus, die bemerkenswert!) ist. Seiner bürgerlichen Verfassung nach gehört er zu den demokratischen Republiken, mit Stellvertretung des Volks, mit Gleichheit der politischen Rechte für alle Bürger, sogar mit Preßfreiheit, also, daß niemals weder die Censur, noch irgend eine andre vorgreifende Maßregel eingeführt werden kann. Bei dem Allen besteht jedoch dieser kleine Staat zugleich in seinem Innern, als ein, wenn auch nicht gesetzlich ausgesprochener, doch thatsächlich lebender Priesterstand, dessen moralische Macht die weltliche Obrigkeit vielmals überflügelt und beherrscht, wie sehr sie sich auch zuweilen dagegen sträubt. Die Hauptstadt ist zugleich Sitz eines Bischofs, der zwar noch den Titel eines Bischofs von Lausanne führt, aber seit der Reformation den größten Theil seines Sprengels verloren hat. Außer dem Kanton Freiburg, stehn nur noch die wenigen katholischen Geistlichen unter ihm, die sich in den Kantonen Waadt, 288 Genf und Neuenburg befinden. Desto zahlreicher ist die Priesterschaft im Lande, welches er bewohnt; und er freut sich dabei einer um so größer» Unabhängigkeit, weil ihn, nicht mehr wie vorzeiten das Domkapitel, sondern unmittelbar der Papst erwählt. Nach einer Zählung vom Jahr 1827 betrug die Anzahl der Weltgeistlichen 190; der Mönche 200; der Nonnen 204; so daß unter etwa 150 Einwohnern, immer wenigstens einer, geistlichen Standes ist. Schon daraus läßt sich der Einfluß ermessen, welchen die Priesterschaft auf das Volk haben kann, wenn sie ihn verlangt; und selten lehnt sie ihn ab. Um ihn zu erwerben oder zu behaupten, liegt es im Interesse der Hierarchie, die Masse des Volks in frommer Unwissenheit und im Gehorsam des Glaubens zu bewahren. Gleiches Interesse hatte aber auch die ehemalige Aristokratie, ihrer Natur gemäß. Zwar noch im fünfzehnten Jahrhundert trug die Verfassung, wenigstens der Hauptstadt und der sogenannten »alten Landschaft», eine demokratische Form. Aber diese ging allmählich in voller Aristokratie und auch diese endlich in wahrer Oligarchie unter. Ein blutiger Aufstand des Volks unter Anführung des Nikolaus Chenaur, im Jahr 178 l, suchte die verlernen Rechte gegen Willkühr und Eigennutz der Herrscherfamilien zu retten; ward jedoch, mit Hülfe Berns, bald gedämpft und führte nur wenig Milderungen herbei. Die geistliche und weltliche Gewalt unterstützten sich gegenseitig in ihrem wohlverstandenen Interesse, wenn auch nicht ohne Eifersucht einer gegen die andre. Der aristokratische Stolz der Patricierregierung gestattete der geistlichen Nebenbuhlerin keinen Vorrang; und mehr denn einmal fühlten die Bischöfe und übrigen Priester die Uebermacht des landesherrlichen Arms. Unter den französischen Bajoneten, in der Revolution von 1798, verschwand aber die freiburgische Aristokratie; der Clerus hingegen blieb in angestammter Hoheit. Napoleons Mediation stellte jene nicht wieder her, und ließ diesen unangetastet. So konnte die geistliche Gewalt ungestört, durch Einfluß im Volk, ihr frommes Reich befestigen und erweitern. Als sich im Jahr 1814, im Jahr der Reactionen, die Aristokratie von Freiburg wieder, wenn gleich mit einigen demokratischen Flittern geschmückt, herstellte (im großen Rath der Republik mußten 108 Mitglieder aus der patricischen Bürgerschaft Sitz haben, und nur 36 von den übrigen Städten und Dörfern), erschien sie nicht mehr als ehemalige stolze Nebenbuhlerin der Hierarchie, sondern als eine Hülfsbedürftige, welche Unterstützung von dieser suchen mußte, um sich in der gewaltsam angemaßten Würde 289 zu behaupten. Dies gab dem Priesterthum mit dem deutlichern Bewußtseyn eigener Überlegenheit, Zuversicht, die weltliche Hoheit selber in eine Dienerin verwandeln zu können, wenigstens von ihr nicht mehr den Widerstand zu befürchten, welchen sonst die alte Aristokratie von Zeit zu Zeit bewiesen hatte. Dies mußte um so tröstlicher in Tagen seyn, da sich, selbst in Freiburg, von ganz andrer Seite her, ein Gegner der priesterlichen Herrschaft zeigte, der furchtbarer drohte, als alle Macht eines eifersüchtigen Pa- triciats. Die sieben Revolutionsjahre der Schweiz hatten nämlich den morschen Formenbau des Alterthums gebrochen. Er, den man für unvergänglich gehalten, war beim ersten Berühren aschenhaft, wie ein mehrhundertjähriger Leichnam in sich zusammen gefallen. Eine Menge neuer politischer Staatseinrichtungen kam und verschwand vor den staunenden Augen des Volks, wie auf den Brettern einer Schaubühne deren wechselnde Decoration, die stets eine andre Welt hinstellt. Unter diesem unaufhörlichen Wandel der Dinge, worin eine Revolution die andre verzehrte, alte Gewohnheiten zerrissen, alte Vorurtheile verflogen, war, mit außerordentlichen Erfahrungen, eine Menge neuer Kenntnisse, Begriffe und Bedürfnisse in die Völkerschaften eingedrungen. Erleuchtete Männer, welchen bisher Aristokratie und Priesterschaft Schweigen geboten hatte, weihten ihre Kraft einer bessern Belehrung und Bildung der lange vern-ahrloseten Volksmaffe. Selbst einzelne Geistliche, selbst einzelne Mönche widmeten sich dem menschenfreundlichen und heiligen Geschäft. Die Franziskaner und Augustiner von Freiburg übernahmen den öffentlichen Unterricht der Jugend in den Primarund Secundarschulen. Wie in den protestantischen Kantonen Pestalozzi und Fellenberg, erwarb sich in den katholischen Gegenden der Schweiz, besonders in Freiburg, der Franziskaner, Pater Gregor Girard, unvergeßliches Verdienst um Verbesserung des Volksfchulwesens. Dies Alles hatte bessern Aufschwung im Jahr 1804 begonnen. Bis dahin konnte man in den Dörfern selten lesen und schreiben. Es hielt oft schwer, nur einen Viehinspektor zu finden, der die Register des Viehstandes führen und die Gesundheitsscheine ausfertigen konnte. Traf der Bauer jemanden lesend, so war seine gewöhnliche Anrede: «Gelobt sey Jesus Christ! Ihr seyd in der Andacht.« Dem Pfarrer gehörte in den meisten Haushaltungen der Gemeinde das schwere Denkamt selbst in bür gerlichen Angelegenheiten. Dieser lautgewordene Eifer für Volksbildung war nun der 290 neue, der furchtbare Gegner, der sich wider die Hierarchie erhob und mit unsichtbaren Geisteswaffen die Gewaltherrschaft angriff, welche der römischgesinnte Clerus im Namen der Religion, mit ihren Schrecken und Hoffnungen bewaffnet, über ein unwissendes Volk, über Hohe und Niedre, bisher ausgeübt hatte. Wie emsig die geistlichen Behörden, die Bischöfe Odet und Guisolan, immerhin auch zur Vertheidigung ihrer alten Domäne thätig waren, konnten sie doch die Fortschritte der cdlern Volksbildung nicht ganz hindern. Erst mit Restauration der Aristokratie im Jahr 1814 gewannen sie an ihr einen dienstfertigen Bundesgenossen. Zuerst ward (1816) den Augustinern, nachher (1823) den Franziskanern der öffentliche Unterricht entzogen; die- vom Pater Girard eingeführte Methode des gegenseitigen Unterrichts abgeschafft, und zum Hauptgegenstand der Schulen nur die Belehrung der Kinder im katholischen Glauben gesetzlich gemacht. Der Bischof allein hatte die Schulbücher zu bezeichnen. In der Mitte des patricischen großen Rathes erinnerte man sich schon im Jahr 1818 wieder der ehmaligen Verdienste des Jesuitenordens um die Schulen des Landes. (Er hatte hier einen Absenker, schon seit 1581 bis zu seiner Aufhebung, durch Clemens XIV. im Jahr 1773 gehabt). Durch einen Beschluß des großen Rathes der Republik (obgleich von 117 Mitgliedern nur 69 dafür stimmten) wurden die Väter der Gesellschaft Jesu, vier Jahre nach Wiederherstellung ihres Ordens, in Freiburg wieder eingeführt. — Der edle Pater Girard wandte sich traurig von seiner Heimath ab und suchte in Luzern seinen freiern und friedlicher» Wirkungskreis. Indessen war in die Hütten des Volks doch schon zu viel des Lichts gedrungen. In der Hauptstadt selbst lebten schon zu viel kenntnißvolle und selbstdenkende Männer. Die Vermehrung und Verbesserung der Schulen ließ sich nicht mehr plötzlich und ganz hemmen. Die weisern und freiern Männer in den ersten Behörden des Staats, wie die gebildeter» Bürger im Lande, rangen unermüdet vorwärts. Im Jahre 1829 zählte der Kanton schon 225 Primärschulen, von mehr denn 12,000 Kindern besucht. Die Hierarchie erkannte, daß die wieder auferstandene Aristotratie von 1814, welche dem Volke ohnehin verhaßt geblieben war, ihr nur geringere Dienste leisten konnte, als sie erwartet hatte. Sie sah daher den Sturz des Patriciats ohne besondere Betrübniß, als sich das Volk desselben im Jahr 1830 entledigte und die Demokratie verjüngte. DrS Pricsterthum konnte nicht ohne Grund 29t hoffen, dabei mehr, als je vorher zu gewinnen. Die katholischen Demokratien in Gebirg, wie Wallis, Uri, Schwyz, Unterwalden, Tessin und Appenzell-Jnner-Rhvden stellten angenehme Beispiele auf, daß ein unwissender, frommgläubiger Souverän durch niemanden leichter, als durch den Beichtvater geleitet werden könne. Die Priesterschaft, in allen Gemeinden zahlreich verbreitet, in die Geheimnisse der Haushaltungen eingeweiht, deren männliche und weibliche Genossen mit den Fesseln des Gewissens an Altar und Kirche geknüpft sind, konnte sich, durch den Grundsatz der Volks souveränetät, als Souverän des Souveräns betrachten, ohne den Namen zu tragen; konnte den Wahlmännern die zu wählenden Gesetzgeber, Richter und Obrigkeiten bezeichnen, welche der Kirche am meisten ergeben zu seyn schienen; konnte vor Andern, die zu fürchten waren, als vor Aufklärern, lutherischen Irrgläubigen, Freimaurern und dergleichen im „Namen der Religion" warnen; konnte durch ihre Begünstigten im großen Rath auf die Gesetzgebung, und durch ihre Getreuen im Staatsrath auf die Vollziehung einwirken. So ward die Demokratie zum eigentlichen Pricsterstaat, worin die weltlichen Obrigkeiten, nach den Eingebungen des kirchlichen Interesses, zu handeln und zu wandeln hätten. Wirklich stellte sich das freiburgische Gemeinwesen seit 1830 schon ziemlich in dieser Gestalt dar. Der Stamm des souveränen Volks, vom Epheu des Clerus umflochten und durchsponnen und von tausend kleinen Wurzeln desselben durchdrungen, Hab von seiner Kraft und seinem Leben diesem Frische und Höhe. Am reichlichsten gediehen dabei die Väter der Gesellschaft Jesu. Freiburg ward die wahre Hauptstadt und Pflanzschule des erneuten Jesuitenordens für Europa. Imposant, wie die Gebäude und Palläste des Jesuitencollegiums, des Pensionats und Semi- nariums in Freiburg, ist die Zahl der Jünger Loyola's und der unter ihrer Leitung stehenden 1200 Zöglinge, nicht aus der Schweiz nur, sondern aus beinah allen katholischen Staaten Europens. Vom freiburgischen Mutterstamm werden Absenker in andre Länder verlegt. Der erste grünte schon im Jahr 1836 im demokratischen Schwyz, wo ein neues Collegium errichtet ward; mit entferntem Reichen wird unterhandelt, und Hoffnung lebt, die Riesengestalt desjenigen Ordens wieder erscheinen zu sehn, der am Tage seiner Auflösung durch Ganganelli, die Welt in 40 Provinzen getheilt, darin 1,538 Collegien gegründet hatte, und 22,589 Mitglieder zählte, von denen 11,293 priesterliche Würde trugen. 2vr Denkt man aber an die schon vorhandne Masse unabhängiger, dabei freisinniger und gebildeter Männer des Landes Frciburg, an die, wenn auch langsamen und erschwerten, Fortschritte des öffentlichen Unterrichts; an die vorhandne Preßfreiheit und vermehrte Neigung des Volkes zum Lesen, an den wachsenden Verkehr mit den protestantischen Nachbarkantonen, welche Freiburg allseits umschließen: so mögte man kaum auf langes Leben des Priesterstaates inmitten der Republik eine Wette wagen. 2. Grünere. Für mich war und blieb die Gegend von Gruyere, oder Grey erz, besonders wenn man von Bulle her (dem gewerbigsten Städtchen des Kantons) in dieselbe eintritt, eine der anmuthigsten und lachendsten der Schweiz, und die anziehendste des Kantons Freiburg. Die heitern Wiesenebnen des Thals, mit einzelnen umbüschten Hütten durchsprengt, zeigen in der Ferne die wild her und hin durcheinander taumelnden Hochgebirge, und lassen sich in der Nähe nur von weich anschwellenden Hügeln schmeichelnd umfassen. Links, auf dem Gipfel eines derselben, schwebt zum Himmel aufgehoben, wie die Krone der Landschaft, die hochgethürmteBurg der alten Greyerzer Grafen; und den Berg hinunter hängt, wie eine Schleppe desselben, malerisch, fantastisch, das Städtlein gleiches Namells. Durchs Mikroskop betrachtet wird auch die schönste Mädchenwange , aus „Rosenglut und Lielienschnee gewoben" ekelhaft; und um die antike Pracht des Hügels schön zu finden, muß man sie nicht in der Nähe schaun. Denn das Städtlein, zum Theil halbvermodert, zeigt uns kaum 50 Häuser, und daneben die fromme Trägheit und Armuth der wenigen Einwohner, von denen eine gute Anzahl aus den Einkünften des reichen Spitals seine Tage bequemlich fristet. Das finstre, riesige Schloß, mit seinen vielen Wart - und Wohnthürmen und Wachtthürmlein, vierzehn Schuh dicken Mauern, Brustwehren, Zwingern, Schießscharten und an- denn Zubehör der Nothwehr, trägt in der That eine ganz van- dalische Physiognomie. Die Sage wenigstens geht noch itzt, der Häuptling einer Vandalenhorde habe im fünften Jahrhundert unsrer Zeitrechnung dies Land von seinem König Gundarich empfangen und sich hier angerüstet. Auch das Innere des ungeschlachten Bau'S entspricht dem Aeußern. Das Tageslicht sieht nur schüchtern durch L93 die engen Gitterfenster in die gewölbten Hallen, oder in die weiten, von steinernen, drei Schuh hohen Bänken umfaßten, Säle herein, um etwa noch ein ungeheures Kamin zu beleuchten, worin ein ganzer Ochs Platz fand, gebraten zu werden, während der Rauch der brennenden Holzscheiter mühsam durch den thurmartigen Schornstein in die Höhe stieg. Ein bekannter, geistvoller Schriftsteller, Hr. Franz Kuenlin von Freiburg, hat sich durch vaterländische Vorliebe bewegen lassen, die Geschichte der Grafen von Gruyere zu erzählen. Mir scheint darin nichts merkwürdiger, als daß der letzte der Dynasten, im sechzehnten Jahrhundert, schuldenhalber sein Habe verlassen und in der Fremde sterben mußte, er, dessen van- dalische Altvordern weit umher im Gebirg herrschten, auch im Charmey - Thäte und dessen Alpen, welche die gepriesenen feinen Gruyere-Käse noch heut zu den Tafeln europäischer und amerikanischer Gaumseligen senden. Nicht wegen seiner Käse allein, oder wegen seiner herrlichen Alpen allein, verdient das erwähnte abgelegene lieblich-wilde Charmethal gesehn zu werden. Es verbirgt manche andre Merkwürdigkeit. Hier lebe» noch wunderbare Sagen der Vorwelt; hier noch Töne und Wortk lkll MüllkT kes Volks, die keltischer oder van- dalischen Ursprungs seyn mögen und in andern Sprachen längst ausgestorben sind; hier noch Bräuche, die man nirgends sonst kennt. Entstand sonst unter der faustfertigen Jugend des Landes, aus der man vorzugsweis gern die durch ihre treuen Herzen und durstigen Kehlen wohlbekannten "Hundert-Schweizer" des allerchristlichsten Königs recrutirte, Schlägerei an einem öffentlichen Orte, so stellte sich der Friede plötzlich her, wenn einer der Zuschauer sein Messer in die Wand oder in die niedrige Zimmerdecke stieß, und, mit der Hand am Griff, rief: „Im Namen Gottes und der gnädigen Herrn und Obern gebiet' ich Frieden!" Das Messer war vorzeiten das Sinnbild des freien Mannes, welches der Lehnsherr dem Leibeignen gab, wenn er ihn freisprach. Seiner Aufforderung mußte man gehorchen. «Die alte Karthause Valsainte, aus dem dreizehnten Jahrhundert, liegt, wenige Stunden von da, im entgegengesetzten Thal, in melancholischer Einsamkeit des Gebirgs, am nördlichen Fuß des prächtigen Moleson, der das Kreuz seines Gipfels 6180 F. ü. M. erhebt. Zwar hob Plus VI die Karthause 1778 auf, und die Mönche zogen aus, unter des Volks, besonders der Weiber, lautem Wehklagen, wovon, wie der Abt vom Hauterive meldet, Felsen und Wälder wiederhallten. Aber schon im Jahr 1701 bevölkerten 294 sich die weitläuftigen Gebäude wieder mit Mönchen aus dem Orden der Trap Pisten, die Frankreich verlassen hatten, und auch hier nur sieben Jahre lang Zuflucht fanden. Denn beim Ausbruch der schweizerischen Revolution zogen sie sich bis in die Einöden Rußlands zurück; kamen jedoch, sobald der erste Consul Bona- parte die Ruhe hergestellt hatte, wieder in ihr »heiliges Thal» heim. Man kennt die herbe Regel dieses Ordens, dessen Glieder in stummer Weltentsagung, in elfstündigen Gebeten und Gesängen, bei kärglicher Nahrung, harter Feldarbeit, nur Buße und Tod, unter ihrem »Memento-Mori-Gruß" denken sollen. Indessen hinderte das Alles doch den Pater Augustin, Abt von Val Sainte, nicht, der feinste Weltmann zu seyn, und sogar für einen Spion Bonaparte's gehalten zu werden. Marschall Ney, damals Großbotschafter Frankreichs in der Schweiz, hatte mit diesem geheimnisvollen Büßer ein Begegniß eigner Art. Dem Marschall war nämlich einer seiner Grenadiere entlaufen, der inner den heiligen Mauern des Val Sainte Zuflucht gefunden hatte. Ney beschied den Abt vor sich und stellte ihn zur Rede. Pater Augustin ließ sich durch den General nicht einschüchtern, der in der Hitze des Wortwechsels aufsprang und schrie: »Unverschämter Mensch, ich lasse Sie zur Thür hinauswerfen!" Der Abt, mit unerschütterlicher Ruhe, verbeugte sich tief und sagte: »In dem Fall zieh' ich mich zurück, um Ihnen die Schande zu ersparen." Und er ging. — Doch acht oder zehn Tage nach diesem Auftritt befand sich der Marschall eben beim Landammann d'Affry in Freiburg, als ein französischer Courier mit Depeschen von Bonaparte für den Großbotschafter ankam. Dieser bat um Erlaubniß, einen Blick hineinzuwerfen und hatte es kaum gethan, als er in Helles Lachen ausbrach. »General, sagte der Landammann: Sie haben ohne Zweifel angenehme Nachrichten aus Paris? — »Ja", antwortete der Marschall: »Sie wissen, ich hatte neulich da mit dem Pfaffen von Val Sainte eine Geschichte; jetzt zieht mir die vom ersten Consul einen derben Wischer zu. Weiß der Teufel, was dahinter steckt!" Der hochwürdige Abt, der auch mit der Regierung zu Frcjburg von Jahr zu Jahr Händel hatte, besaß Vermögen genug, die Grundstücke seines Klosters beträchtlich auszudehnen; sogar in seiner Nachbarschaft ein Kloster von Trappistinnen anzulegen, denen er feine Schwester zur Vorsteherin gab; und sich endlich mit einer Colvnie von geistlichen Vrüdern und Zöglingen zu umringen, deren Zahl über 100 betrug, ungerechnet die erwähnten 48 geistlichen 295 Schwestern im benachbarten „Klein - Rie d er a." Der ehrwürdige Büßer, wer hätte es glauben sollen? der dem großen Napoleon gute Dienste geleistet haben mogte, diente aber auch, mit heiliger Schlangenklugheit, zugleich gegen ihn als Spion der Bour- bonen. Das wurde verrathen. Napo le on verlangte am 21. August 181 l seine Auslieferung von der Regierung von Freiburg, wegen eines an Frankreich begangnen Staatsverbrechens. Abt Augustin indessen hatte schon den Tag vorher durch eine Staffette aus Paris Nachricht von dem erhalten, was bevorstehe, und verschwand, niemand wußte, wohin? Die Regierung hob noch in demselben Jahr das Kloster von Val Samte auf. Das Haus der Trap- pistinnen zu Nieder« hatte dann im May 1812, das nämliche Schicksal. Allein kaum war Napoleon gestürzt und, im Jahr der Restaurationen , die Aristokratie von Freiburg so gut, als möglich, wieder hergestellt, erschien auch der unermüdliche Trappisten - Abt, im März 1815 abermals, um von neuem Besitz von Val Samte zu ergreifen. Seine Mühe blieb jedoch eitel, weil es an Geld gebrach. Vermuthlich ging er nach Frankreich. — Man sieht, heutiges Tages verstehn die Heiligen noch so gut, als jemals im Mittelalter, Romane zu spielen. Dergleichen Geschichtchen aber, selbst wenn sie auch häufiger wären, was sie jedoch, zur Ehre der Geistlichkeit sey es gesagt, keineswegs sind, vermindern nicht die angestammte Vorliebe und Ehrfurcht, welche die gutmüthigen und glaubensreichen Bewohner des freiburgischen Landes für Alles hegen, was priesterlich ist. Für sie ist der kirchliche Ritus und dessen unverstandnes Geheimniß, so wie die Gottverwandtheit des Priesterthums, die Religion selber. Und wenn ihnen im Licht des verbesserten öffentlichen Unterrichts Vieles anders erscheinen, ja, wenn die Geistlichkeit selber wagen würde, ihnen hellere Begriffe zu geben: sie würden in diesen nur Ketzereien, in jenem nur Verblendungen der gottlosen Vernunft wahrnehmen. Es gehören Menschenalter dazu, Völkerschaften vom Ueberlieferten abwendig zu machen. Die Gewohnheit des Irrthums ist mächtiger, als die Erkentniß desselben, selbst bei gebildetem Personen. Und wenn man noch heut da und hier eine mit dem Teufel vermälte Here verbrennen wollte, zweifle niemand, die fromme Menge würde heut noch dem Auto da F6 mit der nämlichen Andacht zuschaun, wie im I. 1634, als man die unglückliche Mia Varmy, welcher der Landvogt zu Rue das Gcständniß ihrer Zaubereien abgesoltert hatte, lebendig auf dem Scheiterhaufen 296 verbrannte. Noch vor etwa zehn Zähren konnte sich ein fröhlicher Bauchredner glücklich preisen, daß er den Bauern entwischen konnte, die ihn wegen seiner scherzhaften Kunst in den glühenden Backofen schieben wollten. Im Ganzen hängt das weibliche Geschlecht dem Altherkömmlichen viel treuer an, als das männliche, selbst im Herkommen der Kleidertracht. Und überzeugt von den Eroberungen, welche die Altmütter in ihrem Putz gemacht haben, versuchen es auch deren Urenkelinnen jn demselben Costume, und nicht ohne Glück. Man muß übrigens gesteh», die buntfarbigen Gewänder, Bänder, Verzierungen, selbst die ungeheuren Wülsten falscher, ausgestopfter Haarflechten, die sich um den Scheitel zusammenringeln, lassen den jungen schlanken, frischen, großäugigen Schönen gar nicht übel, wenn sie auch den ältern selten zierlich stehn. Rühmlicher, als der Geschmack in Putzsachen, ist aber die noch herrschende Sittenreinheit der ländlichen Schönen, ungeachtet hier, wie in der übrigen Schweiz die nächtlichen Besuche und Kiltgänge der Liebenden bei den Geliebten keineswegs aus der Mode gekommen sind. Unter 100 ehelichen Geburten zählt man indessen doch jährlich auch wohl 15 — 16 uneheliche; freilich noch nicht soviel, wie in Frankreich, wo das neunte, oder gar in Paris, ws das dritte Kind illegitim ist. Bei der treuen Vorliebe für Art und Weise der alten guten Zeit (don vieux toms) der Vater, ist im Ganzen der Wohlstand des Volks sehr mäßig. Großgewerbe wurzeln schwerlich an, wie in andern, zumal protestantischen, Kantonen. Doch hat sich in Semsales eine Glasfabrik aufgethan, die bei 150 Menschen beschäftigt; und die zarten Arbeiten des Strohgeflechts, dem sich ein großer Theil, besonders der weiblichen Bevölkerung, widmete, warfen dem Lande, ehe ringsum die Einfuhrzölle der Nachbarstaaten den Absatz um ein Drittel schwächten, einen jährlichen Gewinn von etwa 340,000 Fr. ab. Wiesenbau und Alpenwirth- schaft verloren durch jene nachbarlichen Zollerhöhungen nicht minder. Ehe sie erschienen, führte man jährlich bei 40,000 Centner Käse nach Frankreich und Piemont aus; seit dem kaum viel über die Hälfte. So in vielem Andern. Selbst die ehmalige Industrie der Patrizier-Familien trägt nichts mehr ein, nämlich die Leiber ihrer Söhne in fremden Kriegsdienst zu vermiethen. Noth wird endlich erfinderisch machen. Den Verkehr zu erleichtern werden wenigstens schon gute Landstraßen durch den Kanton gezogen. Man wird endlich andern Gegenden der Schweiz nachahmen, weil es nichts weniger, als angenehm ist, die Verse des Volksliedes (Ooruoulv) Wß-vA KÄM 2S7 singen zu müssen, die man an schönen Sommerabenden zuweilen von der Jugend des Städtchens Stäfis (Estavayer) hört, und in ihrem Patois lauten: Hau lo-s antrou meri6roii, no voitrin; Hsn 16-8 Lutrou riretron, no plioreriu. (Wenn die andern essen, werden wir zuschauen: wenn die andern lachen, werden wir weinen.) Die fleißigste Benutzung des Bodens zum Acker-, Wein - und Wiesenbau im Kanton, überhaupt eine sorgfältigere Landwirthschast, als in andern Gegenden des Landes, bemerkt der Reisende, sobald er in den Bezirk von Murteu (Morat) eintritt. Hier beginnt auch plötzlich andre Tracht, andre Bauart, andre Sitte, andre Mundart, andre Religion. Die Bevölkerung des Bezirks gehört zum reformirten Glaubensbekenntniß. Das alte Städtleiu, von welchem der angränzende See und der ganze Bezirk den Namen lieh, ist aus den frühern Freiheitskriegen der Schweiz, man könnte sagen , weltkundig. Es ist an sich klein und engf und mit seinen dumpfen, verfinsternden Arkaden oder Bogenhallen längs den Häuserreihen der Gaffen, unschön. Der Anblick des düstern Schlosses und seiner gothischen Mauer - und Thurmmassen aus dem achten Jahrhundert, versetzt uns in die Zeiten Karls des Kühnen zurück. Die Chroniken erwähnen hier schon im elften Jahrhundert eines Castells Muroalta. Der benachbarte „Heidenweg", oder die Römerstraße, die vom See (bei Montillier) gen Solothurn zieht, erinnert daran, daß auch hier vor 2000 Jahren die lateinischen Welteroberer gehaust haben. Aber das mag uns heut ziemlich gleichgültig seyn. Durch die Ucberbleibsel und Bruchstücke der barbarischen Zeiträume dringt auch hier das Licht edlerer Gesittung. Das Städtchen verjüngt sich unter der Gewerbthätigkeit und dem Wohlstand seiner anderthalbtausend Einwohner sichtbar. Schönere Gebäude erheben sich im Innern; zierliche Anlagen und Schattengänge schmücken die Außenseite. Während andre Städtchen des Kantons mit zahlreichen Kapellen, Kirchen, Klöstern prangen und die Früchte ihres Fleißes den Altären opfern, weiht Murten die seinigen mit gleicher Frömmigkeit gemeinnützigen Anstalten. Hier findet man, neben guten Schulen, eine öffentliche Bibliothek gegründet, neben einem neuerbauten Waisenhaus« und Spital, zar Abwehr der Verarmung, eine Ersparnißkasse. Die Lage der Stadt an ihrem See ist lieblich. Der See selbst so 298 ist klein, nur dn'ttehalb Stunden lang, mit der Breite von einer Stunde; er zeigt nicht das Großartige vieler Andern, aber auch nicht ihre Gefährlichkeiten in Stürmen. In stiller Freundlichkeit will er den Bewohnern seiner fruchtbaren Ufer nur Augenlust, oder nützlichen Dienst für Nahrung und leichtern Verkehr gewähren. Auch eine Naturmerkwürdigkeit bietet er dar. Zuweilen färben sich seine längs den Ufern spielenden Wellen blutroth. „Der See blüht!" sagt dann der Schiffer. Die Erscheinung dauert einige Zeit und verschwindet. Sie ist die Wirkung von röthlichen, faden - förmigen Aftermoosen, aus der Gattung der Oscillatorien *), welche, besonders wenn sie der Nordostwind in den bewegten Tiefen des Wassers losreißt, emporsteigen. Bekanntlich ist das Beinhaus, worin die von den Feldern gesammelten Gebeine der Murtner-Schlacht (vom I. 1476) bewahrt wurden, im I. 1798 von den Franzosen zerstört worden. Die Musikanten der 75 Halbbrigade, Burgunder von Geburt, wollten die Trophäe mit den Ueberbleibseln ihrer Landesleute nicht länger dulden. Jetzt aber erhebt sich, bei Murten, an der Stelle des zerstörten Denkmals, ein hoher Obelisk, welchen die Regierung von Freiburg im Jahre 1822 zum Gedächtniß der großen Frei- heitsschlacht errichten ließ, in welcher Tausende der Feinde in den Feldern erschlagen, Tausende in den See gesprengt wurden und umkamen. Napoleon Bonaparte, da er im I. 1797 durch Murten kam, um sich an den Rastadter Cvngreß zu begeben, stieg in der Nähe des Beinhauses aus dem Wagen und ließ sich das berühmte Schlachtfeld zeigen. Als ihm Alles erklärt worden, wandte er sich zu einem Officier der ihm gegebnen Ehrenwacht und sagte: „Mein junger Hauptmann, wenn wir jemahls in dieser Gegend eine Schlacht liefern, so seyn Sie überzeugt, mir nehmen unsern Rückzug nicht gegen den See.„ Die ganze Gränzgegend an d»r Nordseite des Kantons Freiburg ist durch Schlachtfelder merkwürdig geworden, wie in alter Zeit Murten, und nicht weit davon Laupen (im I. 1339), so in jüngrer Zeit (1798) Neuen egg, wo der Berner Oberst Grafen rieb den französischen General Pigeon schlug. Die Schlachten des Alterthums sind unzähligemahl beschrieben «ud Oscilliitorin ülis, tenuissimis, evukestissime aunulritis, bezeichnet sie Zecandolle. 299 vielbekannt. Ich mag das Vielerzählte nicht wieder geben. Aber einige Angaben über das Treffen bei Neuenegg, wie ich sie aus Mund und Feder meines verstorbenen Freundes Grafenried empfing, mögen vielleicht Manchem nicht ganz ohne Interesse seyn. Zwar liegt Neuenegg kaum eine Stunde von Laupen entfernt, auf Berner Grund, wird aber nur durch den schmalen Sensestrvm vom Boden des Kantons Freiburg geschieden; und auch letzterer gab seinen Theil zum blutigen Wahlplatz. Beim völkerrechtsmörderischen Ueberfall der Schweiz durch die Franzosen, unter dem Oberbefehlshaber Brune, hatte der General Pigeon am 2. März 1798 die Stadt Freiburg besetzt. Zwei Tage später stand er, mit 6000 Mann, auf dem Zuge gegen Bern, am linken Senseufer, während drei Berner - Bataillons mit 12 Stück Geschütz und einigen Scharfschützen - Compagnien die Höhe des rechten Ufers besetzt hielten, so wie das kleine, in der Tiefe, am Strom gelegene Dorf Neuenegg, durch welches die große Landstraße von Bern nach Freiburg über eine steinerne Brücke führt. Die damaligen Berner Milizen, in Eil zusammengezogen, waren ohne erforderliche Waffenübung und Kriegszucht; zwar voll wilder Begeisterung gegen die Feinde des Vaterlandes, aber auch voll Mißtrauens gegen ihre eigenen Anführer; die Anführer hinwieder unter sich selbst ohne engere Verbindung, und durch Befehle und Gegenbefehle irre. Ihr Zaudern und unentschlossenes Handeln steigerte den Argwohn des gemeinen Mannes. Zween Oberste, Stettler und Rychner, wurden von den Milizen selbst, des Verraths verdächtigt, niedergeschossen. Statt ihrer mußte der Oberst Grafenried, welcher die Truppen bei der Stadt Büren, an der Solothurner Gränze, befehligte, nach Neuenegg eilen, Ordnung herzustellen. Er kam Abends an und fand Alles in größter Verwirrung; nirgends Befehl; nirgends Gehorsam; die Meisten, von Wein und Branntewein berauscht, unter einander umherschwär- mend. Kaum gelang ihm noch, drei eben erst angekommene Compagnien zur Bewachung der Sensenbrücke im Dorfe anzuwenden. Finsterniß und Schlaf stellten endlich im Lager Ruhe her, während der Oberst in der Nacht Kriegsrath hielt, um des andern Morgens die feindliche Stellung anzugreifen. Dieser aber grauete kaum, als der Donner des französischen Geschützes schon die Schweizer aus dem Schlaf weckte und Stückkugeln durchs Dorf sandte. -Hartnäckig vertheidigten die drei Compagnien an der Brücke deren Uebergang, bis ihnen links und rechts feindliche Seiteukolonnen, die so «- 300 durch den Sensestrom gegangen waren, sie abzuschneiden drohten. Ihr Rückzug, und die von vorn und auf beiden Flügeln andrängende Uebermacht der Frauzosen, bewirkte die Flucht der Berner Milizen. Ihrer waren ohnehin nur kaum 2000 Mann. Viele, aus benachbarten Dörfern, stöhn in ihre Heimathen zurück; Viele waren schon am Abend vorher dahin schlafen gegangen, selbst Offiziere. In dieser Verwirrung strebte Grafenried vergebens die Ordnung zu erneuern. Nur mit einigen hundert Tapfern, einer Scharfschützen - Compagnie und zwei Feldstücken, deckte er den Rückzug, begünstigt von Wäldern, Gebüschen und Gehägen. Langsam, in ununterbrochenem Kampf, wich er eine Stunde Wegs zurück, bis ihm um 9 Uhr Vormittags ein frisches Regiment, nebst einem Bataillon Milizen, eine Jäger-Compagnie, zween Scharfschützen-Compagnien und drei Kanonen zur Hülfe kamen. Sofort verfuhr er wieder angriffsweis. Die Masse der Scharfschützen, in die Gehölze vertheilt, richtete eine furchtbare Niederlage an, während die Angriffskolonnen mit Bajonnet und Gewehrkolben die feindlichen Reihen durchbrachen und sprengten. Kriegsgewandt ordneten sich aber die Geschlagenen eben so schnell wieder zum erneuten Kampf, der, Schritt um Schritt, von Feld zu Feld, von Gebüsch zu Gebüsch fortgesetzt wurde, bis die zurückgedrängten französischen Schlachthaufen sich vor Neuenegg auf eben jenen waldreichen Höhen festsetzten, auf welchen die Berner zuvor ihren nächtlichen Lagerplatz gehabt hatten. Von da herab donnerte die französische zahlreiche Artillerie den Schweizern entgegen. Die feindlichen Bataillone, mit frischen Truppen verstärkt, in vierfacher Schlachtlinie, auf beiden Flügeln Reiterei, schienen wieder vorwärts dringen zu wollen. Grafenried, der ebenfalls seine Reserven an sich gezogen hatte, bildete auf seinen Flanken Haken, um nicht von den Seiten durch die Reiterei gefährdet zu werden, nnd schritt mit gefälltem Bajonnet aufwärts im Sturmmarsch. Uneingeschüchtert durch Artillerie- und Gewehrfeuer, und die Mehrzahl des Gegners, der um ein Drittel stärker an Mannschaft war, stürzten die Schweizer in dessen Schlachthanfen hinein. Tapferkeit rang mit Tapferkeit um den Vorzug. Es entstand Faustkampf und allgemeines Gemetzel, welches mit Niederlage und Flucht der Franzosen endete. Vergebens wollten sich diese drunten noch einmal im Dorfe Neuenegg und längs dem Strome halten. Die Schweizer-Milizen forderten gänzliche Vernichtung des Feindes. In furchtbarer Unordnung ward dieser im den Strom und über die Brücke geworfen, mit Zurücklassung 301 von 18 Kanonen, unter denen sich auch einige wiederfanden, welche die Berner beim ersten nächtlichen Gefecht im Stich gelassen hatten. Gefangne wurden wenige oder keine gemacht. Die Berner zählten unter den ihrigen, nebst vielen Verwundeten, 173 Getödtete. Den Verlust der Franzosen erfuhr man nie. Aber groß muß er gewesen seyn; denn ihre zahlreichen Leichname lagen oft doppelt über einander umher, und am folgenden Tage über tausend Verwundete in den Spitälern. Es war drei Uhr Nachmittags, das Volk noch immer schlacht- lustig. Grafen rieb rüstete also einen neuen Angriff Pigeon's, der denselben auf den Anhöhen jenseits Neuenegg erwartete. Schon waren die Schweizer im Begriff, sich vorwärts zu bewegen und das blutige Tagewerk in der Vertilgung des Feindes zu beenden. Da überbrachte ein Eilbote aus Bern die Nachricht von der Capitulation dieser Stadt, und den Befehl, sogleich jede Feindseligkeit einzustellen. Unwillig gehorchte der Sieger dem Gebot. Das Kanonenfeuer schwieg auf beiden Seiten. — „Aber unsägliche Mühe kostete es nun,« schrieb Grafenried, „meine Wehrmänner zu besänftigen. Ungläubig umringten mich ihre zornigen Haufen. Sie schälten mich bald Verräther, bald beklagten sie mich, wie sich; bald mußt' ich ihnen den eingelaufenen Befehl noch einmal vorlesen, inzwischen andre mit Bajonnet und gespanntem Hahn drohten.« Dies war der Tag bei Neuenegg, und diese kleine Darstellung lehrt hell genug, wie die alte Eidsgenoffenschaft, durch eigne Schuld, durch gänzliche Vernachläßigung ihres Militärwesens damals, bei aller Dolkstapferkeit, dem eindringenden Sieger, nach planloser Gegenwehr, so bald zur Beute werden konnte. LOS XVIll Kanton Bern. 1. Lern. tNer lediglich des Berufs ist, bei einigen hübschen Schweizer- bildern, als Erklärer zu dienen, muß in keine geringe Verlegenheit gerathen, von einem Kanton, der unter allen, und in allen Richtungen, am meisten von europäischen mid amerikanischen „Touriften« durchstreift wird, Neues, oder von dem größten Freistaat der Eidsgenossenschaft, im engen Rahmen eines Miniaturgemäldes, das Wesentlichste der vielen Merkwürdigkeiten zur Schau zu bringen. Denn von den vergletscherten Kulmen der höchsten Alpen herab, bis zur Nordseite des Juragebirgs, dehnt sich sein Flächen- raum mit 173 geographischen Geviertmeilen aus. Eine Bevölkerung von mehr als 400,000 Seelen belebt ihn, von welcher der achte Theil französisch spricht und meistens zur katholischen Kirche gehört, während die sieben übrigen Achtel deutscher Zunge und evangelischen Bekenntnisses sind. Der einzige Kanton begreift also beinahe ein Fünftel vom gesammten Umfang der Schweiz und ihrer ganzen Volkszahl in sich (jenen zu 875 Geviertmeilen, diese zu mehr als zwei Millionen gerechnet). Die erst ein halbes Jahrtausend alte Hauptstadt des Landes, beinah in dessen Mitte gelegen, ist unter den übrigen Städten der Schweiz am zierlichsten, wenigstens am regelmäßigsten, auf ihrer, von der Aare umgebnen Landzunge gebaut, aber schon so vielfach beschrieben, daß ich von ihren Alterthümern, Denkmalen, öffentlichen Gebäuden, Bibliotheken, gemeinnützigen Anstalten, Stiftungen für Kunst und Wissenschaft, prachtvollen Aussichten auf den Silberkranz der Alpen, Spaziergänger, u. s. w. billig schweiAen -W -«-i- ^'r>L SM-' UM LEÄ MLvü '«7^>! NW KWW ^^WTUWWAM^ UMNB UMMKAMr, "4 »r . - '» '^M. V LL^ M- » -,4 °^>L/ '-.. - > . ' ,1 'MÄ^».' » ' /! ."-; 303 darf, ohne Furcht eines Tadels. Sie ist, oder vielmehr war, das "Venedig der Alpen", wie Venedig mit gleichem Recht das "Bern der Lagunen" genannt werden konnte. Indessen ist sie itzt, als Hauptort einer Demokratie, und Wohnsitz der bei der Eidsgenossen- schaft beglaubigten Gesandten fremder Mächte, regsamer, gewerbi- ger und (mit 22,760 Einwohnern) bevölkerter, als sie jemals in den Zeiten der Aristokratie gewesen war. Statt also Vielgeschildertes wieder zu schildern, mag mir erlaubt seyn, ihre fünfhundertjährige nicht uninteressante Lebensgeschichte etwa in hundert Zeilen zusammenzudrängen. Man denke sich ins zwölfte oder dreizehnte Jahrhundert, in die finstern Tage des Faustrechts, zurück. Felsenburgen und Kirchen ragten herrschend im Lande über die Hütten und Höfe der Leibeignen und wehrlosen Freien hinaus. Ritter, Grafen und Herzoge lebten und glänzten vom Raube, welchen einer vom andern durch sein gesegnetes Schwert gewann. Die Herzoge von Zähringen, Reichsstatthalter im allemannischen und burgundischen Helvetien, kaum im Stande, das Land bei ewigen Fehden gegen die Freigrafen und den räuberischen Adel von Hochburgund und deren Anhang in Helvetien zu schirmen, befestigten Städte, legten neue Volksburgen an. So auch Bern. Auf der langen, schmalen Erdzuuge, welche der Aarstrom umfließt, konnte es leicht durch Mauer und Graben gegen die offne Landseite gedeckt werden. So erhob sich die Stadt (1)01) mit hölzernen Häusern auf »«gepflasterten Straßen und den Schutzwehren. Ritter und Edle aus der Umgegend bestritten die Baukosten. Hieher brachten Landleute und Handwerker das Ihrige in Sicherheit, und Alles trug Waffen. Der benachbarte Adel fühlte bald den Werth dieser Kriegergemeinde und verbürgerte sich in ihr. Das vermehrte in ihr Leben, Wohlstand und Stärke, obgleich ihr Gut, anfangs außer den Thoren, nur in einer Weide und zween Forsten bestand. Kaum dreißig Jahre nach ihrer Erbauung gab ihr der Kaiser Reichsfreiheit. Schultheiß und Rath führten die Verwaltung; über Frieden und Krieg, neue Auflagen und Gesetze entschied die versammelte Gemeinde aller Bürger. An die Spitze der Kriegs- und Friedensgeschäfte setzte man die Tapfersten oder Weisesten, auf Dauer einiger Jahre. So erblühte der kleine Freistaat schnell, der sich in den Fehden der Nachbarschaft bald durch Muth und Glück seiner Wehrmänner Namen machte. Kaum ein Jahrhundert alt geworden, hatte er sein Gebiet um die Stadt schon, einige Stunden weit, in einer rauhen, waldigen Gegend, ausgedehnt und den 304 umliegenden Ades und einzelne Landschaften zu Mitbürgern oder Bundesgenossen. Die Vergrößerung der Gemeinde und die zu wenig beschränkte Macht des Raths trieben die Bevölkerung der Stadt, die Mangel der Verfassung zu bessern. Die gesammte Bürgerschaft wählte also aus ihrer Mitte einen Ausschuß von zweihundert angesehenen Männern; der sollte ihr Stellvertreter seyn (im Jahr 1293). Mit dieser Repräsentation entwickelte sich aber der erste Keim einander widerstreitender Elemente von Demokratie und Aristokratie im Gemeinwesen. Doch die bürgerlichen Zwiste tödteten darum den Ge- meingeist nicht, wenn es darauf ankam, den zahlreichen und mächtigen Feinden der Stadt kühn entgegen zu zieh», oder das Gebiet durch Eroberungen oder Ankäufe nach allen Seiten zu erweitern, und, im Bunde mit Freiburg, Solothurn, den Ländern Uri, Schwyz und Unterwalden und andern, der furchtbaren Macht des eroberungslustigen Hauses Habsburg zu widerstehn. Jene zweihundert Stellvertreter der Stadtgemcinde wußten sich indessen bald so ungemessne Herrschaft anzueignen, wie sie die Freiheitsliebe der kriegerischen Bürgerschaft nicht lange ertragen mogte. Es kam (im Jahr 1384) zum vollen Aufstand. Es ward festgestellt, daß jährlich der Rath wenigstens zur Hälfte abgeändert, und jährlich, der ganzen Gemeinde zur Bestätigung, zweihundert ehrbare Männer aus den Handwerken vorgeschlagen werden sollten, die den gemeinen großen Rath bilden könnten. Zwar in den fortdauernden Fehden und Kriegen, in welchen Bern seine Herrschaft auch noch über die Alpenthäler bis zu den wallisischen Gränzen und über den größten Theil des Habsburgischen Aargau's verbreitete , wurden die besondern demokratischen Einrichtungen nach und nach wieder vergessen. Aber die Gemeinde gab darum ihre souveräne Gewalt nicht auf. Noch im Jahr 1536 mußte sie versammelt werden, um über den Krieg gegen Savoyen zu entscheiden, den sie beschloß und mit der Eroberung des schönen Waadtlandes endete. Doch von da an, sobald mit der Größe der Republik die höhern Aemter und Stellen einträglicher zu werden anfingen, entfaltete sich allmählig die Aristokratie siegreicher gegen die Demokratie; nicht durch Gewalt, sondern durch weises Handeln, milde Staatsklugheit und unbestechliche Gerechtigkeitspstege der Regierenden. Der Rath der Zweihundert, oder der große Rath, zog eins um's andre die gesetzgebende und höchste richterliche Gewalt an sich; bemächtigte sich des Rechts, sich selber zu ergänzen, und 305 ebenso aus seiner Mitte den kleinen Rath, als höchste vollziehende Gewalt, zu besetzen. Die Bürgerschaft fügte sich zufrieden. Sie brachte den Talenten und Tugenden ihrer Vorsteher den Tribut unbedingten Vertrauens. Auch schien sie die Verwandlung von den innern Verhältnissen der Staatseinrichtung kaum wahrzunehmen, so vorsichtig, so leise, Stück um Stück, gestaltete sich das Ganze im Laufe von zweihundert Jahren, um. Es blieb unbekannt, zu welcher Zeit diese oder jene Neuerung begann? Zuletzt, als man, unter weiser Verwaltung, den Verlust der politischen Freiheit gewohnt geworden war, glaubte man in vollem Ernst, es sey von den ältesten Zeiten her nie anders gewesen. Und die Regierenden betheuerten es den Regierten. Im achtzehnten Jahrhundert war diese Aristokratie aber schon zur vollendetsten Oligarchie ausgebildet. Zwar hießen noch alle ältere Bürgergeschlechter (die es vor 1635 gewesen waren) regi- ments fähig; aber nur eine kleine Zahl (im Jahr 1785 nur noch 69) derselben blieb wirklich die regierende. Diese Regierenden oder Patrizier im großen und kleinen Rath ergänzten sich und besetzten alle einträglichern, angesehenern Stellen aus ihren eignen Familien. So häufte sich bei ihnen alles Ansetzn, aller Einfluß, aller Reichthum. Man zählte über tausend bürgerliche Aemter. Die siebenundsechzig verschiednen Statthalterschaften oder Landvogteien trugen ihren Inhabern jährlich allein schon bei 700,000 Franken ein. Den Söhnen der Patrizier fielen die obern Offizierstellen der Schweizer-Regimenter in auswärtigen Diensten zu. Geringere Stellen überließ man den übrigen Bürgern, welche nur Gewerbe, Handel und Handwerke trieben. Zu ihren Gunsten beschränkte man die Aufnahme neuer Bürger. Hingegen das Recht, ewige Einwohner von Bern zu werden und Gewerbe jeder Art zu treiben, ward leichter gestattet, damit die Bevölkerung der Hauptstadt nicht mit dem Aussterben der bürgerlichen Familien allzu schwach werde. Doch diese ewigen Einwohner, wie alle Einwohner des Landes, in Städten und Dörfern, waren und blieben Unterthanen der Stadt Bern, oder vielmehr der patrizischen Familien zu Bern. Die Begierden des Eigennutzes und Stolzes hatten die Oligarchie geschaffen. Sie konnte sich nur durch Gerechtigkeit, Mäßigung und staaskluge Leitung der öffentlichen Geschäfte behaupten. Sie hatte nichts zu fürchten, als ihr eignes inneres Verderbniß, und anderseits ein Uebergewicht der Talente, Einsichten und Reichthümer in den Familien der Unterthanen. Das innere Verderben 306 riß bald unaufhaltbar ein, als die patrizische Jugend, ihrer künftigen Versorgungen und Ehren, kraft der Geburt, versichert, sich lieber müßigem Wohlleben, als dem Ernst der Wissenschaften hingab; als nun nicht dem Würdigsten immer das Amt ertheilt ward, sondern dem, welchem die Einflußreichsten gewogen waren; als gegenseitige Eifersucht die Patrizier unter einander selbst trennte und ihr Stolz die Ueberlegenheit irgend eines Talentes in ihrer eignen Mitte fürchtete. Der große Albrecht von Haller mußte erst die Bewunderung des ganzen Welttheils, die Beweise der Hochachtung von Kaisern und Königen gewonnen haben, eh' man ihn in den großen Rath von Bern aufnahm, der, ohne eigne Entwürdigung, ihn nicht länger zurücksetzen konnte. Der Unterthanen ehrgeiziges Aufstreben gegen die Oligarchie zu lahmen, wurde vor Allem Viehzucht und Landbau befördert, welche blos mäßigen Wohlstand gewähren können. Schnell bereicherndes Großgewerb und Fabrikwesen ward hingegen ungern gesehn und ohne Gunst gelassen. Man baute Kunststraßen durch den Kanton, aber nicht sowohl zur Erleichterung des Handels und Verkehrs, als zur Bequemlichkeit und Zierde der Hauptstadt, von der sie ausgingen, ohne die oft nah gelegnen, gewerblustigen Munizipalstädte zu berühren. Man legte die Ersparnisse der öffentlichen Einkünfte nicht im Lande zur Vermehrung des allgemeinen Wohlseyns und Nationalvermögens an, sondern in die Banken Englands, oder als todtes Kapital dem Umlauf entzogen, in die eignen Schatzkammern. Die Volksschulen blieben verwahrlost; Bildung und Kenntnisse der Unterthanen fanden weder Ermunterung noch einen Wirkungskreis. Nur die Jugend der Patrizier und Bürger der Hauptstadt sah sich mit zweckmäßigen Lehranstalten bedacht, zu welchen auch Jünglinge von Munizipalstädten Zutritt erhielten, die sich dem Prediger- oder Lehramt widmen durften. Man scheute die Freiheit der Presse in der Gewalt der Gebildeter», Waffen und Kriegsgewandtheit bei den Unterthanen, selbst Theilnahme der Bürger von Bern an jenen patriotischen Verbindungen und Gesellschaften, welche andre Eidsgenossen zur Bewahrung freien Schweizersinns unter sich gestiftet hatten. Diese und andre Kunstmittel, welche man in allen Aristokratien wiederfindet, waren zu ohnmächtig, neben dem Wachsthum der innern Gebrechen der Oligarchie, das Wachsthum jener allgemeinen Bildung im Volke zu verhindern, welche dasZeitalter herbeiführte. Wenn es auch gelang, inmitten der Bürgerschaft von Bern die Bitte Mehrerer zur Wiederherstellung der alten Rechte gegen das 307 Patriziat, oder eines Theils derselben sim I. 1744) durch Kerker und Verbannung zu unterdrücken, und späterhin (1748) die Verschwörung Henzi's durch Henkers Faust zu vergelten: konnte fünfzig Jahr später dennoch die Aristokratie ihrem Untergang nicht entrinnen, als, unterstützt vom Mißvergnügen vieler angesehenen Unterthanen, besonders des Waadtlandes, Frankreichs Gewalt das morsche Gebäu der ganzen Eidsgenoffenschaft zusammenstürzte. Erst beim Herannahen des Todes gab (5. Fcbr. 1798) der große Rath von Bern den freigelaffnen Unterthanen politische Rechtsgleichheit mit der Stadt, um Alle zu gemeinsamem Widerstand zu begeistern. Schon war's zu spät. Die fruchtlos aufgehäuften Waffen- und Geldschätze wurden fremder Sieger Raub. Nach den siebenjährigen Wirren der helvetischen Revolution empfing der Kanton Bern, in demokratisch - repräsentativer Form, eine neue eigenthümliche und feste Gestalt durch Napoleons Vermittlungsurkunde. Die ehemaligen Patrizier saßen, mit den Gebil- detern ihrer ehemaligen Unterthanen, in Behörden und Aemtern friedlich beisammen. Das Volk war allerdings zufrieden; nicht aber das Patriziat. Als Napoleon stürzte, als, unter Mitwirkung des hochverrätherischen „ Comite's zu Waldshut" ein österreichisches Heer, in seinem Zuge gegen Frankreich, einen Theil der Schweiz bedeckte (1814), versuchte das Patriziat seine Wiederherstellung. Es vergaß die dem Volke gegebenen Versprechen; zerriß die Vermittlungsurkunde; verdrängte gewaltsam die Regierung und nahm deren Stelle ein, sich mit dem Schutz der großen Mächte brüstend. Das Volk schwieg; aber nicht lange. Im Jahr 1830 brach es sein Schweigen; stellte sein Recht her und die Aristokratie verschwand, mehr verachtet als gehaßt. Konnte sie nun auch weder ihre Wiederauferstehung durch den Volkswillen bewirken, noch, wenn sie durch fremde Waffengewalt hergestellt wäre, an ihr dauerhaftes Daseyn glauben: mogte sie doch den Genuß der Rache oder Schadenfreude, selbst vielleicht nicht die süßen Selbsttäuschungen einer, wenn auch eitel» Hoffnung, so leicht aufgeben. Sie gestaltete sich, begünstigt durch die freien Institutionen des Landes, nicht nur zu einer Meinuugsparthei, sondern zu einer werkthätigen Faction gegen die bestehende Ordnung. Zwar eine angezettelte Verschwörung in der Hauptstadt, wo man schon Waffenvorräthe bestellt, 20,000 Patronen an verborgenen Orten aufgehäuft und geld- und gewissenloses Gesinde! geworben hatte, wurde (im August 1832) verrathen und vernichtet. Die Rädelsführer entfloh». Zwar die Hoffnung einer blutigen Reaction durch Bürgerkrieg, 308 beim Landfn'edensbruch der Schwyzer und Basier (im Aug. 1833) ward durch den Unwillen alles Schweizervolks und das entschlossene Einschreiten der versammelten Tagsatzung, schnell vereitelt. Aber schon die damit gestifteten Bewegungen und Unruhen glichen einer Art Gewinns. Man wollte den neuen Staatseinrichtungen keine Zeit zum Festwurzeln, den neuen Obrigkeiten keinen Frieden gestatten, Alles in der Erwartung, das Volk werde der immer- bcwegten Zustande müde, sich nach der alten Aristokratie Heimsehnen. Man gebrauchte die Freiheit der Presse, um die öffentlichen Behörden durch besoldete Zeitungsschreiber lächerlich oder verhaßt zu machen. Man verdächtigte die Magistrate. Man stellte dem Auslande in deutschen und französischen Journalen die Schweiz, wie in Anarchie versunken, zur Schau. Man umringte die in Bern wohnhaften Gesandten fremder Mächte mit falschen Vorspiegelungen und suchte, wo irgend ein Mißvergnügter im Lande war, ihn für sich zu gewinnen. Es kann aber in keinem Freistaat eine politische Parthei aufsteigen, ohne daß mit ihr zugleich ihre Gegnerin hervorgeht, und Troz und Wildheit der einen den Ungestüm einer andern in noch größer», Maaße erzeugt. Während in der ganzen Schweiz Friede, Frohsinn und Mäßigung zurückgekehrt war, haderten daher in Bern Ultraaristokraten und Ultraliberale fort. Die Regierung, fort und fort von jenen angefallen, denen dazu noch der Fanatismus einer Priesterparthei Hülfe bot, sah lange Zeit in den Radikalen ihre Verfechter. Als die letztem aber in der Hitze des Kampfs die Gränzen der Mäßigung überschritten; als die Regierung dem Haß derselben gegen die Aristokratie nicht Genüge that, wandten sich die Radikalen selber feindselig gegen die Regierung. So ward der Aristokratie die Freude, sogar Helfershelfer an ihren eignen unversöhnlichen, aber unbesonnenen Gegnern zu finden. Die Regierung, zwischen beiden und gegen beide, wider eignen Willen, mußte selber Parthei werden; in Ansichten oft schwankend, in Maßregeln oft übereilt wählend, bald zu weit voranschreitend, bald, dessen reuig, wieder zurückschreitend seyn. Das Uebel zu vergrößern, traten noch Zerwürfnisse mit dem Auslande dazu, welche von jenen Partheien, und von jeder nach ihrer Art, ausgebeutet wurden. Bekanntlich warfen sich einige hundert vaterlandslose Polen, aus Frankreich, bei Nacht und Nebel in den Kanton Bern. Frankreich verschloß hinter ihnen sogleich den Rückweg; die übrige Schweiz wies die Eingedrungnen von sich ab. Bern mußte sie behalten. Zusammengedrängt, müßig. 309 revolutionslustig oder um jeden Preis ein andres Loos suchend, brüteten sie den bewaffneten Einfall in Savoyen aus, der durch die Kantone Genf und Waadt aber vereitelt wurde. Nun Vorwürfe von sämmtlichen Nachbarmächten über etwas, das nicht zu verhüten gewesen war. Hatte doch die französische Regierung selber, trotz ihrer stehenden Heere und thätigen Polizeien, nicht einmal den gleichzeitigen Zug der Polen unter dem General Romarino, auf französischer Seite, nach Savoyen verhindern können! Die Schweizerkantone, mit ihnen auch Bern, hatten ferner mehrern verfolgten politischen Flüchtlingen der angrenzenden Länder Asyl bewilligt. Die Aufgenommenen waren undankbar genug, es zu revolutionären Verbindungen und Verschwörungen gegen deutsche Grenzstaaten zu mißbrauchen. Obgleich die Schweizerregierungen, nach Entdeckung der verbrecherischen Anschläge, mit Strenge gegen die Fehlbaren einschritten, wurden jene von deutschen Fürsten mit Vorwürfen und Drohungen überhäuft, den Unfug nicht früher verhütet zu haben. Und doch hatten diese Fürsten selber, trotz ihrer Polizeien und stehenden Truppen, weder revolutionäre Verbindungen, noch Hambacher Feste, noch den Aufruhrversuch in Frankfurt am Main verhüten können. Bekanntlich machte sich das französische Ministerium zum Für- sprecher der klagenden Nachbarmächte, man weiß nicht, aus welchem Grunde? Denn jene Flüchtlinge hatten gegen Frankreich keine Pläne gebrütet. Der Gesandte dieses Reichs zu Bern, Herzog v. Monte- bello, im geselligen Verkehr mit aristokratischen Familien, von ihnen und nach ihren Ansichten über die Zustände der Schweiz belehrt, berichtete vermuthlich seinem Hof in gleichem Sinne. Gestützt auf die vom Ministerium Thiers empfangnen Weisungen, erließ der junge Diplomat die von Frankreich und ganz Europa mißbilligten Noten, in welchen, mit gebieterischem Stolz und Drohen, wie sich Napoleon selber nie gegen die Schweiz erlaubte, aller Selbst- ständigkeit eines Staats, allem Völkerrecht, allem Ehrgefühl einer Nation Hohn geboten ward. Ein Schrei tiefer Entrüstung gegen Frankreich durchlief alle Gauen des Landes, von den Alpen bis zum Jura. Würdevoll, mit Aufstellung schlagender Thatsachen, antwortete die Tagsatzung im Namen der Eidsgenossen. Das Ministerium Tbiers trat aber von der Bühne ab, und das doktrinäre Ministerium Mole übernahm, noch eh' es die Lage der Dinge nur durchschaut hatte, die Verantwortlichkeit für die Mißgriffe seines Vorgängers. Den Knoten des politischen Drama's noch enger zu schürzen, spielte sich in den Ernst des Schauspiels ein komisches 310 Intermezzo ein. Ein gewisser Conseil nämlich, dessen Verhaftung und Auslieferung der Herzog von Montebello, NamenS seiner Regierung, verlangt hatte, ward von der bernischen Polizei ein- gefangen. Es ergab sich, — der Kerl sey ein französischer Spion, bestimmt nach England, gleich andern politischen Flüchtlingen, dc- portirt zu werden, um diese desto unverdächtiger auch dort beobachten zu können. Es ergab sich sogar, daß die französische Gesandtschaft selbst, mit Ertheilung von Geld und falschen Pässen zur Ausrüstung des Spions geholfen zu haben, mehr, als verdächtig da stand. Das Ministerium Mol«, durch das Gelächter des Welttheils verwundet, und um die Ehre seines Gesandten zu retten, läugnete Alles ohne allen Beweis; forderte Genugthuung von der Schweiz, und verhängte gegen sie, ohne weitere Erklärungen derselben abzuwarten, sogleich feindselig die berühmte »luftdichte Sperre» gegen Uhren, die Käse und Reisenden, welche aus der Schweiz nach Frankreich verlangten. Aber ich breche ab; sonst schwillt mir die kurze Notiz vom politischen Lebenslauf der Republik Bern unter den Händen zum Buch an. 2. Thun. Am Fuß deS nahen Alpengebirgs, an den Ufern seines schönen See's, steigt das Stabilem Thun, wie aus den Wellen hervor, und umringt mit seinen Gärten und Gebäuden malerisch eine siebenhundertjährige hochgethürmte Grafenburg. Gigantische Berg- reihen, die einen die andern i» allerlei Gestalten übergipfelnd, schweben wie Duft, links und rechts, und am Hintergründe des See's, um sich in dessen Hellem Spiegel zu sehn. Voran steht die Felsenpyramide des mehr denn 7000 Fuß erhabnen Niesen, und unfern demselben stellt sich das zerklüftete Stokhorn, düster und mürrisch, der glänzenden Schaar der Gletscher- und Alpen- kulmen voraus. Dem Wandrer, welcher an das von ihm gesehene Thun zurückdenkt, wird in der Erinnerung die ganze Pracht des berni- fchen Hochlandes oder »Oberlandes» wieder lebendig. Er übersieht sie da mit einem einzigen Blick, aber nur wie den zusammengedrängten Hauptinhalt im Register eines Buchs. Die himmel- wärtsstrebenden Zinken der Groß- und der Breit-, der Alt- und Weiß-, der Dolden- und Gelten-, der Jungfrau-, Eiger-, Schreck- ML!'r )'"^ V ^ MWÄi>.ü^v: L-MsMP 'ÄA'L MW * -^-V />E -v ' ^ 311 und Wetterbörner, und welche Namen sie alle führen mögen, stehn gleichsam nur als Zahlen da, die Seiten des großen Natur- Buches zu bezeichnen. Das ist der eigenthümliche Reiz, mit welchem die Natur, vor andern Gebirgsländern, die Schweiz schmückt, daß sie, mit sinnreicher Laune, ihre wollustathmenden Zaubergärten unmittelbar an den Rand gransenvoller Gebirgswüsten legt, und mit dem buntesten Farbenschmelz der Alpenflora den ewigen Schnee des Gletscherwinters umkränzt. So lagert sich, dicht vor den düstern Schlünden, durch welche der Eingang zu den oberländischen Hochthälern und zu den stummen Einöden der Eiswelt ist, das kleine Paradies von Unterseen oder Jnterlaken; — ein ebnes, idyllisches Thal, zwischen zwei geräumigen Seen, dem von Thun und Brienz; umarmt von ungeheuern Bergen, die hier aber ihre schreckhafte Größe mit Anmuth umhüllen. Der junge Strom der Aar rinnt von einem See zum andern durch das Gelände, welches mit seinen Gebüschen, ländlichen Hütten, Gärten, Prachtgebäuden und Wiesen, bei jedem Schritt ein neues Bild herzaubert. Trümmer der Burg Unspunnen strecken seitwärts aus verwildertem Gesträuch ihren grauen Thurm hervor, der, wie ein abgeschiedner Geist der Vorzeit, in das Leben des fröhlichen Thals fremd hineinschaut. Während der Sommerzeit sind die zwei kleinen Städte dieser Landenge von Reisenden aller Nationen übervölkert, sey es zum Genuß der Molkenkuren, oder von hier aus die Wunder des Hochgebirgs zu suchen. Wollt' ich die lange Reihe der letzter« aufführen, würd' ich diese Blätter zu einem dürren Katalog machen müssen. Hier ist die betretenste Heerstraße aller Lustwandrer, die das Oberland sehen wollen. Durch das Thal von Lauterbrunnen, von dessen Felsenwänden zwanzig Wasserfälle herabstattern, unter ihnen 900 Schuh hoch der vielgepriesene Staubbach, geht der gewöhnliche Zug der Gebirgswallfahrer zur Wengern-Alp. Denn dort, wo sie in öder Höhe ein wirkliches Haus empfängt, steigt, ihnen gegenüber, aus schrecklichen Abgründen, die Jungfrau empor in ihrem Eis-Talar, 12,852 Fuß hoch über dem Meer. Man steht jedoch von ihr durch eine gewaltige Schlucht geschieden, und sieht gefahrlos darin jene Lauinen verschwinden, welche die Sonnen- wärme fast täglich von ihren weiten, blendenden Firnen löst. Das Murmeln eines fernen Donners verkündet den Fall der mächtigen Massen, die dem Auge wie stäubende Schneebälle erscheinen, welche von beschneiten Dächern rollen. Vom Anblick des 31S außerordentlichen Schauspiels wendet sich der Zug der Bergpilger zu dem der Zwillingsgletscher, welche drunten im fruchtbaren Thal von Grindelwald zwischen zerrissenen und eisbelasteten Felswänden hervorzuquellen scheinen. Noch vor kaum dreihundert Jahren führte dort ein offner Paß mehrere Stunden wegs über das Gebirg ins Wallis, von wannen selbst Kindtaufen und Hochzeitsleute zur Kirche von Grindelwald kamen. Heut ist Alles von unvergänglichen Eislagern verrammelt, deren überfrorne, tückische Spalten das Grab des Kühnsten werden können. Nicht jeder kann vom Glück reden, wie der Grindelwalder Wirth Christian Bohren, im Jahre 1787, der, als er zum Gletscher zwischen dem Wetterhorn und Mettenberg hinaufging, das Eis unter seinen Füßen weichen fühlte, und in eine Spalte, 64 Fuß tief, hinunterstürzte. Mit gebrochnem Arm lag er unter dem ungeheuren Eisgewölbe am Boden, ein Lebendigbegrabner. Nur das abfließend Wasser zeigte ihm in der Finsterniß einen Weg der Rettung. Er folgte dem Lauf desselben, auf Bauch und Knieen, unter Todesangst und Schmerzen sich fortschleppend, und erblickte mit Entzücken das Tageslicht wieder. Das Thal von Grindelwald, mit seinen Hütten von Kirschbäumen beschattet, mit seinen dunkelgrünen Wiesen, da und hier von kleinen Beeten unterbrochen, die mit Roggen und Gerste besäet sind, mit der erhabnen Wildheit der Felsenberge und Firnen die sich in den Wolken des Himmels verirren, macht alle Schönheit des gefeierten Chamounythals vergessen. Mancherlei Fußwege führen hinauf in die höchsten der Alpen, auch zu der höchsten aller menschlichen Wohnungen unsers Welttheils. Bisher hatte dafür das Hospiz auf dem St. Bernhardsberge (7680 Fuß über dem Meer) gegolten; seit dem Jahr 1832 aber nicht mehr. Denn 8140 Fuß erhaben über dem Meer, am Gipfel des Faul- horn's, liegt auf verebnetem Platze, ein drei Stock hohes Gasthaus, mit allen Bequemlichkeiten für Reisende ausgestattet. Nordwärts verdämmert ihnen da in der Tiefe alles Land weit umher; südwärts, wohin die Fenster der Zimmer, des Gesellschafts- und Speisesaals, gerichtet sind, hat es das Auge nur mit Eismeeren und einsamen Felsgipfeln der höchsten Berge zu thun. Man sieht die aus dem Abgrund der Urmeere hervorgebrochnen, durch unbekannte Gewalten himmelwärts gehobnen Eingeweide des Erdballs, wie sie in schauerlicher Zerstörung erstarrt und leblos da- lieaen. 7>er Mensch verschwindet auf diesen Weltruinen, neben ^K^^^MMMASU'MÄW! iss'ÄME! '.-»' ^ äMOHM WUL-Ä!L UM? ^8 ^M^-- ^^8 AM Wtz^s 313 welchen drunten der Lämmergeier in den Lüften, wie ein Verlorner Käfer, schwärmt. Ein andrer Fußweg, und gewöhnlich schlagen ihn die Lustwandrer ein, leitet über die Alpen der großen Scheid egg, neben dem gewaltigen Gebirgsstock des Well Horns vorüber, welches in seiner blendenden Eisschaale fast zehntausend Fuß hoch ragt. Der Roselavigletscher, zackig und zerrissen, hängt zwischen ihm, dem Stelli- und Engelhorn, vom Kamm des Gebirgs herunter. Seitwärts, in wilder Waldschlucht verloren, rinnt eine Schwefelquelle neben einigen hölzernen Gebäuden, dem Badeort benachbarter Landleute. Jenseits der Scheidegg gelangt man, auf rauhem, oft jähem, bald von Giesbächen zerrißenem, bald von Bergfällen überschüttetem Pfade, zum Anblick des lachenden Has- lithales und seines majestätischen Wasserfalls. Dieser verbreitet seinen dumpfen Donner weit über das stille Gelände. Der Reichenbach stürzt in dreifachen Absätzen von Felsenbecken zn Felsenbecken. Den Abgrund, in welchen er sich schäumend verliert, umschweben ewige Gewölle. Der Haufe der Reisenden eilt mit flüchtigem Blick, die er den wilden Herrlichkeiten des Haslilandes gönnt, vorüber. Hier aber, wie irgendwo im Schweizerlande, wär' es der Mühe werth, zu verweilen und die einsamen Hütten und Dörfer des Gebirgs zwischen ihren Schneegebieten zu besuchen, so wie die Bergschlünde und die Stromstürze, die Irrgarten der Felsen, wo Alles dem Wandrer ein schönes Grausen anhaucht. Man lebt da unter den Nachkömmlingen der alten Einwandrer aus fernem Norden, einem biedern, schönen Volksschlag. Zwar die alten Sagen und Sänge des kalten Skanziens sind längst in diesem „Weißlande" verklungen; aber die Poesie des Volkes ist darum nicht ganz erloschen. Mit schauerlichem Glauben wird noch dort und hier von Wesen wunderbarer Art gemeldet, welche über den Firnen-Wüsten wandeln, oder in den Heimlichkeiten der Felsenschatten schleichen. Dort erscheint zuweilen noch dem Senn am Eisgewölbe des Gauli- gletscher - Doms das tückische Gauliweibchen, von einem schwarzen Hündlein begleitet. Dort kokt noch zuweilen ein überirdisches, reizendes Geismädchen, auf dem Grath des Hasliberges, den jungen Hirten mit ihrer Liebe. Aber seit einer der Jünglinge unter dem Saum ihres Gewandes statt der Füße, dünne Ziegen- beine erblickte, muß sie ungeliebt verschmachten. Dort wandelt im Hintergrund des hohen Gentelthals schwermüthig das holde Engst- si 314 lenfräulein. Es ruht ein Fluch auf ihm; wer ihn zu losen wußt?, wär ein glücklicher Sterblicher. Die Mythologie der Alpen hat ihren eigenthümlichen Zauber. Aus den einfachen Lebensverhältnissen der Jäger und Hirten des Gebirgs hervorgetreten, athmet sie deren Gemüthlichkeit, Fromm» sinn, kindliche Einfalt und Schalkheit. In den Ländern der Ebne mögen sich Riesen gestalten; aber neben tausend Klafter hohen Felswänden und Eiskoloffen würden die Gewaltigsten der Riesen kleinlich erscheinen. In den Bergen wohnen nur Elfen, oder weibliche Wichtlein, deren Tänze im Mondschein der Frühlingsnächte fruchtbare Jahrgänge, deren Wehklagen und Trauern Stürme, dürftige Erndten oder Unglück von Bergfällen und Lauinen verkünden. Ihre zarte, kleine Gestalt verhüllen sie in lange nachschleppende Mäntel, daß kein Sterblicher darunter ihre Gäns- füßchen entdecke. Die Bergmännlein oder »Schrätteli» sind winzige Zwerge, die sich gern mit Hirtenfamilien zu schaffen machen. Bald necken sie schadenfroh, bald leisten sie unerwartete Hülfe. Sie führen die Gemsen zur Weide, deren Milch ist ihre Nahrung; der Krystall der Hohlen ihr Schmuck. Ihr geheimes Treiben lassen sie ungern belauschen, und nie bleibt es ungestraft, wenn man ihre Gutmütigkeit durch Muthwillen überlistet. Furchtbarer aber denn Alles, ist Elternfluch oder Verwünschung des Landes. Der Fluch reißt Felsen von den Berggipfeln und begräbt mit ewigen Gletschern, Gefilde der Alpen, die sonst den Rinderheerden reiche Weide gaben. In abgelegnen Klüften brütet wüstes Gewürm. Da fährt der geflügelte Drache aus nach Beute, und reißt bei seinem Ausbruch Quellen auf, die, als Waldströme, Bäume und Steine in die Thäler niederreißen. Da nistet unterirdisch das schlangen- artige Unthier, „Stollwurm" genannt, mit dickem, wenige Schuh langem Schlangenleib und rundem Katzenkopf, vorn mit zwei kurzen Klumpfüßen versehn. Zuweilen trägt der Scheitel ein kronenartiges Gewächs. Nur in trocknen Sommern erscheint der Stollwurm; lagert sich auf das Heu der Alpenställe, oder sonnet sich auf Steinblöcken. Und nicht nur in den Alpen, sondern auch im entgegengesetzten Gebirg des Jura, und zwar nur in dessen höhern Regionen, wird er von Zeit zu Zeit gesehn. Merkwürdig ists,von dort, wie von hier, sind die Beschreibungen des fabelhaften Thiers so übereinstimmend, daß selbst Naturforscher fast in Versuchung ge- riethen, an das Daseyn einer unbekannten Thierart des Hvchge- birgs, an eine Art gigantischer Eidechsen zu glauben, die nur selten hervorschleiche. Indessen hat man vergebens beträchtliche Preise V ->rKHs«L 315 schon für den ausgeboten, der einen Stollwurm todt oder lebendig herbeischaffen könne. Des Hasli's Hauptort, Mayringen, in reinster, milder Luft, bei 2000 Fuß über dem Meere, in fruchtbarer, geräumiger Thalebne, zwischen Gärten, Fruchtfeldern und Wiesen und Wäldern und Wafferfällcn der Bergabhänge gelegen, verdient durch seine Anmuth Sommersitz des wandernden Gebirgsmalers, Sittenbe- obachters, Naturforschers, oder auch nur des Liebhabers der Seltsamkeiten und Herrlichkeiten des Alpenreichs zu sevn. Hier wohnt er dem ungeheuern Gebirgsknoten nahe, den der Gotthardsberg, von Granit, geschürzt hat, und von welchem, nach allen vier Weltgegenden, lange Bergketten ausstrahlen, die sich erst in Frankreich, Ungarn und Italien niedersenken. Hier ist der Mittelpunkt von acht bis zehn Fahr-, Reit- und Fußwegen, welche zu den umliegenden Kantonen und den merkwürdigsten Erscheinungen der Alpen führen. Am meisten wird die Grimselstraße bewandert und gepriesen. Darum will ich nicht den neben ihr gelegnen Aarfall bei der Sennhütte Handek von neuem schildern, der da seine Wasserfälle in einen finstern, mehr denn hundert Schuh tiefen Abgruud stürzt. Was ihn klstkNtllch wunderschön vor ähnlichen Katarakten auszeichnet, ist nicht seine Tiefe, oder sein erschütternder Donner, nicht das Gewoge und Gcbrodel des Abgrundes und die Wildheit seiner Umgebung. Wie gefahrlos man auch das große Schauspiel betrachten kann, sey es von oben, wo es beginnt, oder drunten, wo es zermalmend endet, — ohne Schauer des Schwindelns und Entsetzens sieht man es nicht. Aber einzig ist der Anblick, wie in den blitzenden Schaumbogen des Aarstroms ein zweiter Wasserfall, vom Aerlibach gebildet, seitwärts hereinfällt, und sich mitten in der Luft mit ihm zusammenschließt. Und beleuchtet die Mittagssonne das Spiel der schwebenden Wellen und der Wasserstaub- Wolken: so bilden die gebrochnen Strahlen des himmlischen Lichtes ein Feuerwerk von allen Farben des Prisma's brennend. Es züngeln purpurne, grüne und blaue Flammen an den verwitterten, schwarzen Klippen und zitternden Gesträuchen umher; es fallen Feuerflocken, erlöschen und sind wieder da. Von dieser Stelle sind's nur noch zwei Wegstunden vls zum Grimselhospiz, welches, gleich allen ähnlichen Gasthäusern der höchsten Alpenpässe, mit seinen kleinen Fenstern und dem steinbela- steten Dache, zwischen kahlen Klippen, frostiges Ansetzn gewährt; aber darum eine nicht minder angenehme Zuflucht gegen Sturm und Nebel und Schneegestöber dieser Regionen bleibt. Wirthshaus, ri * 316 Stallung und Waarenniederlage (denn Sommers zählt man oft wöchentlich einige hundert durchgehende Saumrosse mit ihren Führern von oder nach Italien) erheben sich an einem kleinen See, der die düstern, zerklüfteten Felsenthürme ringsum noch dunkler wieder- spiegelt, als sie sind. Einzelne Schneestecken und Schneefelder, die der Sonnenstrahl selten oder nie in ihren Felsenwinkeln sieht, bringen allein noch Mannigfaltigkeit in das todte Gemälde. Aus der Ferne glänzt das Finster-Aarhorn, dessen äußerste Spitze (13,234 Fuß über dem Meer) weit über die höchsten Kulmen aller Berneralpen hinausherrscht. Auch sie ward schon im Sommer des Jahrs 1812 durch RudolfMeyer von Aarau erklettert, begleitet von drei verwegnen Bergbewohnern der Nachbarschaft. Jeder seiner Schritte war eine Lebensgefahr, und außer der Ehre, seinen Fuß dahingesetzt zu haben, wo noch kein Sterblicher seit Erschaffung des Menschen stand, blieb das große Wagniß ohne Gewinn für die Wissenschaft. Denn nur wenige Minuten verweilte er in der grauenvollen Höhe, wo die Spitze der schroffen Granitpyramide, wie sie aus dem meilenweitcn Gletschermeer hervorgewachsen ist, kaum fünf bis sechs Personen Raum anbietet. Sie ist von einer mehrere Klafter dicken Eisdecke belegt. Der reine Himmel schien ein finstres Jndigoblau. Aber wohl nicht allein die Reinheit der Luft in diesen ist es, die das klare Blau des Himmels verfinstert, sondern auch, wenn sich der Blick vom weißblendenden Schnee zum Aetherraum erhebt, der Farbengegensatz, Schwarz gegen Weiß, welcher sich subjektiv in den Sehnerven erzeugt. Mir ward auf den Firnen des Griesgletschers die Bläue des Firmamentes allzeit Heller, wenn ich, statt des Schnees, eine Weile das schwarze Seidentuch angeschaut hatte, welches ich bei mir trug. Unter sich sah Rudolf Meyer, wie er mir erzählte, über ein Lanzenbeer zahlloser Bergkuppen hinweg, die Länder der Tiefe, wie ein nächtliches Meer, hin und wieder zu Hügeln aufwallend, un- unterscheidbar in Einzelheiten. Von jenen Bangigkeiten und Uebel- keiten empfand er nichts, über welche Andre klagten, welche zu solchen Höhen aufgestiegen waren. Dergleichen unbehagliche Emfin- dungen, so wie die schnelle Ermüdung und schnelle Wiederkehr der Kräfte, können allerdings Wirkungen der dünnen Gletscherluft seyn, durch welche sich die Poren, Blutgefäße und Muskeln des Leibes ausdehnen; vielleicht auch Wirkungen irgend einer dem Lebensprozeß minder zusagenden Gasart, die sich im Schnee entwickeln mag. Aber durch langsames Bewegen des Leibes beim Steigen und öfteres Ruhen desselben, wird der unbehagliche Zu- 317 stand ganz verhütet oder gemildert, der beim Niedersteigen von denselben Bergen kaum spürbar ist. Noch wären über das geheime Leben und Weben der Natur- kräfte in den hohen Regionen der Eiswelt viele Entdeckungen zu machen. Wie selten und wie flüchtig ist dort der Besuch uner« schrockner und geübter Beobachter! Kleine Nebelgestalten, welche plötzlich auf den Flächen der Schneewüste hervortreten, gespenster- haft darüber hinschleichen, und eben so plötzlich wieder unsichtbar werden, lassen sich aus der örtlichen, ungleichen Kälte der Eistiefen erklären, worin sich die Dünste bald zur Sehbarkeit verdichten, bald auflösen. Doch schwieriger ist der Stillstand jener Wolken zu enträthseln, die sich zuweilen aus einem Berg hervor zu spinnen scheinen, am Felsen festkleben und vom Winde nicht entführt werden, der unter und über ihnen den Schnee, wie leichten Staub davon weht. Ohne Vergleich mit allen andern Alpengletschern ist der Vorder-Aargletscher, zur Anstellung naturforscherischer Versuche der gelegenste, sicherste und ausgedehnteste. Links und rechts sich verzweigend, läuft er zwischen den Hörnern der Alpenkette fast eine Tagreise weit hin. Sein Gebilde zeigt auf der Oberfläche all die wunderbaren Erscheinungen, die man auf andern Gletschern anstaunt; jene großen, kreisförmigen, mit Wasser gefüllten Poren oder Kessel; jene Spitzsäulen und hohen Eispfeiler, welche Felsblöcke tragen; die blaugrünen Risse und Schründe geborstener Firnen, die Bewegung der gefrornen Massen, die seltsamen Phänomene der Luft in den Hochgegenden. Vom Grimselhospiz gelangt man in zwei Stunden, fast ebnen Bodens, zu diesem Eismeer, an dessen Gränze die Natur, mit stiller Thätigkeit fortwährend ihre eignen Schöpfungen immer zerstört und immer wie- derbildet; Felsblöcke von verwitterten Bergkulmen herabschleudert und sie wieder mit fruchtbarer Erde, Moosen, Gräsern und Kräutern überkleidet. Ist man einmal durch die mit Bergtrümmern bedeckte Fläche gedrungen, und die vorliegende Eishalde hinaufgeklettert, so breitet sich dann die einförmige, weite Winterwüste des Gletschers, fast unabsehbar und eben, vor dem Blick des Wanderers aus. Grabesstille empfängt ihn und ein kalter Hauch der Luft durchschauert ihn. Der Mann, welchem wir, nächst de Saussur-e, die meisten Entdeckungen in der alpischen Eiswelt zu danken haben, Professo, Hugi von Svlothurn, hatte diese Einöden im Jahr 1829 nach den verschiedensten Richtungen durchwandert. Im Sommer 1836 318 besuchte er sie abermals und fand Alles verändert. So leise und so gewaltsam sind die Bewegungen der Eisfelder. «Ich ging," schrieb er mir im September des letzter» Jahrs: «dießmal wie früher vom Standpunkt der Grimsel aus. Zuerst erstieg ich die ungeheuern Firnen, welche den Triften- und Rhonegletscher, wie kleine Schweife, zur Schau der Reisenden gegen die Thaltiefen stoßen. Jenes mächtige Firnenmeer, sein Zusammenhang mit den in die Urithäler niedersteigenden Eismaffen, ist aber noch ein unbekanntes Reich der Alpenkette. Die Formen sind ganz eigen, die Umrisse aber so gewaltig, daß ich wegen Mangels der Zeit, abstehn mußte, sie, zu untersuchen. Denn ich hatte mir dießmal nur zur Aufgabe gemacht, die Bewegungen des Un, teraargletschers zu beobachten." «Die von mir vor sieben Jahren auf dem untern Theil des Gletschers gezeichneten Granitblöcke zwischen den Zinken- und Berenlammhörnern, waren mit sammt dem Eise, längst hinab zum Thal geschoben. Der Gletscher selbst aber steht jetzt nur 380 Fuß minder weit im Thal, als damals; er war also ungemein unten weggeschmolzen. Zugleich hat er jetzt in seiner Höhe die Kristallhöhle erreicht, da er im Jahr 1829 um 40 Fuß niedriger war. Ich suchte nun die Hütte auf, die ich damals auf der Mitte des Gletschers gebaut, und in welcher ich schöne und schauerliche Tage verlebt hatte. Sie ist aber seitdem, durch das innere Wachsen des Gletschers, 2184 Fuß vorwärts gewandert. Die zwei Granitblöcke, zwischen denen die Hütte in den Eisgrund eingehauen war, stehen jetzt 17 Fuß auseinander, da sie damals nur 8 Fuß abstanden; Balken und Dachlagen zwischen die Blöcke gefallen, sonst in Allem unversehrt. Nägel und Eisen hatten nicht den geringsten Rost. Korkstöpfel dagegen waren mit einer weißen, wie es scheint, schimmelartigen Kruste überzogen; so auch, aber weniger, das weichere Holz, das noch in Menge daliegt. Ein 26,000 Kubikfuß starker Granit bei der Hütte lag damals unterm Firnenschnee begraben, der nun in Gletscher umgewandelt ist, und den Block nicht nur auf die Oberfläche gehoben, sondern auf zwei Eiskegeln hoch in die Luft gestellt hat, so daß unter ihm eine Menge Menschen Obdach finden könnten. Die gegenwärtig 4620 Fuß unterhalb meiner Hütte stehende Signalstange, die jetzt noch unversehrt auf einem ungeheuern Granitblock steht, wohin ich sie pflanzte, war damals nur 3860 Fuß von der Hütte entfernt. Sie hat sich mithin nicht nur, sammt der Hütte selbst, 2184 Fuß vorgeschoben, sondern die Gletschermasse zwischen beiden KGW MM8 'Wtzd 3lS hat sich zugleich um 760 Fuß ausgedehnt. Weiter abwärts fand ich ein Felsgetrümm vom rothen Erzberg, um 3250 Fuß vorgerückt. Die Gletschermasse, vom Beginn des Sturzes bis jetzt, war folglich nur um 206 Fuß gewachsen; weiter abwärts aber noch geringer. Am stärksten zeigte die Beobachtung das Wachsen dort, wo der kernige Firnenschnee sich in dichtes Gletschereis (wo die Hütte sonst stand) verwandelt hatte. Aufwärts, in die Firnregion nimmt das Wachsen wieder ab, bis es in den höchsten Gegenden ganz aufhört.« „Die Gletscher wurden von mir nun mit dem Maasftab gemessen. Von der Signalstange bis zu dessen Ende waren noch 19,500 Fuß; er hat mithin bis zum Abschwung 28,014 Fuß Länge. Vom Abschwung öffnet sich einerseits das Firnthal der Lauteraar, 19,500 Fuß lang bis auf den Kamm des obern Grindelwaldgletschers ansteigend; anderseits das Firnthal der Finster-Aar, das sich an der Strahleck umbiegt und eine Länge von mehr als 30,000 Fuß hat. Ich bezeichnete sofort für die Zukunft den Stand der alten Signale wieder ganz genau und errichtete eine Menge neuer, eine Arbeit, die für mich ziemlich mühvoll war. Ich unternahm daher diese letzte Reise, über den ganzen Gletscher bis zum Finster-Aarhorn, zu Pferde, — wohl die erste Reise dieser Art! Allein mit Pferden, wie sie der Spittler auf der Grimsel besitzt, ist's vollkommen sicher. Der Gletscher steigt ja nur um 5—10 Prozent. Auf mein Ansuchen macht nun der Spittler einen Weg, auf welchem nicht nur Fußgänger, sondern auch Reiter sehr leicht zum Gletscher hinan- gelangen.« »Der Freund des Wunderbaren oder Seltnen in der Natur wird kaum irgendwo in der Welt mit so unbedeutender Anstrengung und Gefahr eine Reise von größerer Annehmlichkeit und Belehrung unternehmen können, wie hier. Er verläßt Morgens das Hospiz der Grimsel, durchirrt die Ebne des Aarthals, wo . ihn eine Menge seltner Pflanzenformen des Hochgebirgs umringt; erblickt im wunderlichen Durcheinanderwurf die entsetzlichen Berggestalten, deren zahllosen ausgezackten Hörner und zwischen denselben kleine Gletscherstreifen, wie vom Himmel herabhängend. Er staunt dann bald die unzähligen mit Sand bedeckten Eiskegel an, die in einigen Wochen aus dem Eisboden hervorwachsen; die 20,000 Kubikfuß großen Granite, die wie Tischplatten auf Eissäulen hoch in der Luft schweben; die weit auseinander gähnenden Gletscherspalten, welche sich mit neuen Eiskristallisationen 320 anfüllen; es erbrausen unter ihm Bäche, die, anfangs in das Eis eingefurcht, fröhlich dahin rollen, bald aber senkrecht die Gletscher durchbrechen, mit schauerlichem Lärmen in unbekannte Abgründe niederfahren, um unter den Gewölben des Eises den Aarstrom zu erzeugen. Ueber zackigte Eismassen, über die Windungen und den Meerwogen ähnlichen Formen des Gletscherthals gelangt man endlich bis dorthin, wo das feste, tausendgestaltige Eis aufhört, und was bisher Gletscher war, in die körnige, glatte Firnmaffe übergeht, und das Auge sich links und rechts nach oben in zwei auseinander laufende blendendweiße Firnthäter verliert. Kehrt der Reisende hier um, kann er zu guter Stunde Abends wieder im Hospiz seyn. Hat er sichern Schritt und Muth, kann er, bis zum Finster-Aarhorn reitend vorgedrungen, auch von da zu Fuß über die Strahleck gehen und im Grindelwald schlafen." "Zu bemerken ist noch, daß der Unteraar-Gletscher, sowohl der Geschichte, als seiner Beschaffenheit nach, durchaus neuern Ursprungs ist." 3. Pierre Pcrluis. Das seltsame, ziemlich cyklopenartige Felsenthor, Pierre Pertius, dies rohe Naturspiel auf niederm Hügel zwischen Waldbergen, am Eingang des bernischen Münsterthals, dies 30—-40 Schuh hohe und 20 — 30 Schuh weite Loch durch ein mächtiges Kalkgestein, welches sich wie ein Querband zwischen den links und rechts zusammendrängenden Bergen spannt, — es gleicht beim ersten Anblick mehr einer hochgeschwungenen Höhle, als einem Thore. Es führt da eine der großen Straßen der Jurathäler hindurch, gen Basel. Eine alte, halberloschne Inschrift darüber, zwar im Römerstyl, aber von keiner kunstgeübten Hand eingemeißelt, hat den Alterthümern schon viel zu rathen gegeben und rührt vielleicht selber von einem alterthumslustigen Mönch des Mittelalters her. Sei dem wie ihm wolle, das Erscheinen der sonderbaren Berg- pforte überrascht beim ersten Anblick. Sie hat etwas Malerisches, besonders wenn man sie zum Rahmen des dahinter liegenden Bildes macht, welches die Anmuth des Tavannerthals dem Wandrer entgegenhält. Jedes Spiel der Natur hat darum viel M88 -WM WWW AÄÄ KM- ZWK MWWM. MW ^WW 331 Anziehendes, weil die Schöpferin ihr strenges Gesetz der Nothwendigkeit verlassen und spottend einen Einfall des freischaffenden Menschengeistes ausgeprägt zu haben scheint. Am Fuße eben desselben Hügels ein andres Spiel. In einer lieblichen Gegend, bei einer Mühle neben der Landstraße, entspringt der fünfzehn Stunden lange Waldstrom der Birs. Die Quelle geht still unter der Felsenplatte des Berges, hart über dem Wasserspiegel des entstehenden Bachs, hervor; aber so mächtig, daß ihre Wellen kaum ein Paar hundert Schritte weiter, das Räderwerk des Müllers umherjagen. Vermuthlich ist sie nur die Wiedererscheinung eines jener Bäche und Ströme, deren sich in den hochgelegenen Thälern des Kantons Neuenburg mehrere plötzlich in dortigen Klüften und Felsentrichtern verlieren und unsichtbar werden. Nach meilenlangem unterirdischem Laufe drängen sie jählings wieder zum Tageslicht hervor. Auch bei der kleinen, freundlichen Stadt Viel, zwei bis drei Stunden von hier, am Fuße des Jura, bricht eine ähnliche, sich immer gleiche Wasserfülle in einer Felsgrotte aus, und setzt sogleich mehrere Mühlen in Thätigkeit, während sie bei hundert Brunnen ernährt. Sie steigt säst senkrecht aus der Tiefe der Erde; das Senkblei fand kaum bei 400 Fuß einen Grund. Und so reissend ist der Bach, besonders wenn er unter Regenwetter anschwillt, daß im Jahr 1805 ein französischer Soldat, der hineinstürzte, durch den unterirdischen, gewölbten Kanal, unter der Stadt bis zum Süßstrom, das heißt 800 Schritt weit, in einer einzigen Minute geflutet ward. Der Verunglückte kam unversehrt zum Vorschein und wurde gerettet. Das Wasser der Quelle selbst ist unwandelbar rein und hell, wie Kristall. Nur einmal in Jahrhunderten floß sie trübe, als das fürchterliche Erdbeben von Lissabon (1755) die Eingeweide des Erdballs schüttelte. Wer kann aber von Viel reden, ohne an seinen See und dessen sanfte Umuferungen zu denken, und an die in dessen Schoos gelegene, von seinen klaren Wellen geliebkosete St. Petersinsel? Es ist ein hesperischer Naturgarten auf Calypso's Zaubereiland. Wer je sie unter ihren Blüten oder Früchten sah, weiß wohl, daß ich nicht zu viel sage. Der arme, kranke, von Genf Vertriebne Rousseau, welcher hier zwei Monden lang in verborgner Ruhe wohnte, — noch zeigt man seine Zimmer, deren nackte Wände von tausend Namen und Sinnsprüchen der Wallfahrter schwarz geworden sind, — nannte diesen Aufenthalt den schönsten seines Lebens, der ihm in späten Jahren noch Heimweh machte. Aber 3rr auch hier fand der Unglückliche kein Asyl. Nicht die rauhwerdenden Herbsttage, nicht seine körperlichen Gebrechen, nicht seine Unschuld, konnten die Brutalität des Fanatismus mildern. Die Regierung von Bern vertrieb ihn, weil Genf es wollte, aus diesem Paradiese. Wohl mehr denn Einer hätte, wie er, darin seine Lebensftunden gern verträumen mögen. Der Reiz des Eilandes wird durch die Pracht des Panorama's erhöht, welches den Spiegel des Sees umfaßt; ein Kranz von Fischerhütten und halb verschütteten Dörfern, drei, vier kleine Städte dazwischen eingeflochten; aus der Tiefe der Wellen der Jura stolz aufsteigend, mit Weinbergen, ländlichen Wohnungen, Wasserfällen und Wäldern behängen; am südlichen Horizont der Silberblick der Hochalpen aus der Ferne; nordwestwärts der Jura, über dessen wild durch die Luft geworf- nen Gipfel der Chasseral (5040 Fuß über das Meer) fast so hoch, als der Rigi, emporgeht. Ueberbaupt der Norden des Kantons Bern, der von breiten, fruchtbaren Längenthälern durchfurchte Jura, welcher erst im Wiener Friedenscongreß (1815) ganz zur Schweiz geschlagen wurde, ist nicht nur der schönste Theil des Juragebirgs, sondern eine der schönsten Parthieen der Schweiz. Man umfaßt diese ganze Landschaft, einst Großtheil des Gebiets vom alten BisthumBafel, gewöhnlich mit dem Namen der fünf leberbergischen Aemter Berns; denn Leberberg ist hier des Jura deutscher Name. Die Thäler sind etwa von 60 — 70,000 Menschen bevölkert, unter denen die meisten ein mit Altceltischem und Deutschem durchmeng- tes Französisch reden, und mehr denn zwei Drittheile zur katholischen Kirche gehören. Auch über hundert Familien der Wiedertäufer wohnen hier; und nirgends in der Schweiz so viel beisammen. Aber sie leben zerstreut auf einsamen Höfen in Wäldern und Bergen, und zwingen mit ihrer Arbeitsamkeit den unwirthbarsten Gegenden Fruchtbarkeit ab. Ein kräftiger Menschenschlag, vom schönsten Geblüt; treuherzig, friedsam, gewissenhaft und wohlwollend. Allen Nachbarn sind sie lieb. Katholiken und Protestanten -er Umgegend vertrauen ihnen mehr, als sich selbst unter einander. Und diese biedern Leute wurden von der Berner Regierung im siebenzehnten und achtzehnten Jahrhundert aus ihren Heimathen verjagt, weil sie keine Eide schwören, keine Waffen tragen wogten. Die Fürst-Bischöfe von Basel, weiser und duldsamer als jene protestantische Obrigkeit, nahmen die verstoßenen Jünger Menno's in ihr damaliges weltliches Gebiet auf. Ich weiß nicht, ob die Lehre der Wiedertäufer etwas Ketzerei mit sich führt, wie da und 323 dort ein Geistlicher vielleicht meint; aber der Herr spricht: »An ihren Werken sollt Ihr sie erkennen!" Und da scheints mir bei ihnen so übel nicht zu stehn. Man muß sie besuchen; unter ihnen leben; und man wird sie lieb gewinnen, ja sogar ein wenig bewundern , während man sonst wenig Christen wegen ihres Christenthums bewundert. Ich war. Neugier hatte mich dahin verlockt, im stillen Bergthal des Tschaywo, an den Solothurner Gränzen, im Wald auf Champoz, in andern freundlichen Einöden bei den Wiedertäufern. Es ward mir bei ihnen zu Muth , als lebt ich in den ersten, armen Zeiten des heiligern Urchristentums; so heiter, so gottesfürchtig, ohne alle Kopfhängerei, gastfreundlich und arbeitsam wohnen sie da, in patriarchalischer Einfalt und frommer Sitte. Unter ihnen sind keine Trunkenbolde, keine Spieler, keine Nachtschwärmer, keine Lügner, keine neidische Nachbarn. Entsteht unter ihnen , aber selten, ein Zwist: so wird er freundlich von einem ihrer Aeltesten geschlichtet. Sie nennen sich Bruder, Schwestern, Du und Du. Einer hilft dem Andern unentgeldlich bei der Arbeit, bei der Heu- und Kornernte und wo es noth thut. Ihre Mäßigkeit, ihre siWche Reinheit bewahrt ihnen feste Gesundheit, hohes frisches Alter. Ein Greis von mehr denn siebzig Jahren, der Einer ihrer Lehrer war (Pfarrer haben sie nicht), führte mich rüstig über Berg und Thal, wie ein lebensreicher Jüngling, zu den übrigen Brüderfamilien. Welche ächte Liebe der Eheleute, welche Zärtlichkeit der Geschwister unter einander, welche Aufmerksamkeit der Kinder gegen ihre Eltern, sah ich da! Ihre ganze Pädagogik beruht einfach auf dem Beispiel der Erwachsenen für die Jüngern und den Paar Worten: »Habe Gott vor Augen!» Und doch genießen sie eine Erziehung, die edler ist, als die feinste oft in der großen Weit. Welch ein Völkchen, welch ein Christenthum, das keine Advokaten, keine Pfarrer, keine Richter, ja kaum Aerzte braucht! Sonntags kommen sie abwechselnd bald zu diesem, bald zu jenem Lehrer, um im Freien oder in einer Scheuer, oder in einem größer» Zimmer, Gottesdienst mit Andacht zu verrichten. Der Lehrer spricht, wie es eben in seiner Stimmung oder im Bedürfniß der Zuhörer liegt, oder liest aus einem alten Erbauungsbuche vor. Er verrichtet die Taufe, reicht das Abendmahl, segnet die Ehen ein, und ist Landmann wie jeder Andere. Die Taufe geht meistens unmittelbar der ersten Communion, oft der Hochzeit eines liebenden Paars voran. Doch muß ich nebenbei gestehn, ihre Andachts-, Gebet- und Gesangbücher nebst ihren Märtyrerliedern, sind im 324 Geschmack veralteter Zeit und daher ziemlich geschmacklos. Ist der Gottesdienst vollbracht, werden die Entferntwohnenden von den Familien der benachbarten Höfe unentgeltich bewirthet, so wie diese ein anderesmal von jenen brüderlich eingeladen werden. Reinlich, doch schmucklos, wie die bescheidnen Wohnungen, sind ihre Geräthschaften und Kleidungen. Wie jedoch jede der Kirchpar- thcien in der christlichen Welt, hat auch die anabaptische ihre fromme Nebengrille und Eigenheit. Daß verheurathete Männer noch ihren Bart, der Mannheit Ehrenzeichen, wachsen lassen, wäre nicht übel, wenn nur die Tracht dazu so mittelalterisch oder so orientalisch und alttestamentlich wäre, wie der Name ihrer schonen Töchter. Aber der graue, kurze Rock, die kurzen Hosen und die über das Knie gezognen Strümpfe, stehen zur Majestät des Bartes unharmonisch. Auch Knöpfe sind von den Kleidern verbannt; sie werden durch Nestel und Hasten ersetzt. Eben so einfach erscheint das weibliche Geschlecht. Kein Gold, kein Sammet, keine Seide. Nicht einmal ein buntes oder hellfarbiges Seidenband darf den Strohhut des Mädchens umflattern. Aber ein Mädchen weiß trotz dem immer, im Punkt des Schönen, Mittel und Wege zu finden, ohne dadurch die Religion in Gefahr zu bringen. Man muß nur sehen, wie kek diese schlanken, blühenden Gebirgsbewohnerinnen den Hut zu setzen wissen, und wie die zarten Schleifen von Strohgeflecht, und die von Stroh geformten Blumen darumschweben und nicken. Und doch das Alles so bescheiden! Die Pierre Pertuis hat mich nun einmal in den bernischen Jura eingeführt. Man kennt ihn auswärts, ja selbst in der Schweiz, zu wenig. Drum will ich noch Einiges von ihm erzählen. Wer Liebhaber der romantischen Jahrhunderte und der Ritterwelt ist, trete von Basel her in dies altbischöflich-baselsche Land ein, und nehme seinen Zug durch das Thal von Laufen, gen Delsperg (Delemont) und Pruntrut (Porcntruy). Es wird ihm scheinen, er wandle in einem Roman; er hab sich aus seinem Zeitalter verirrt und athme in den Tagen des Fauftrechts, der ewigen Fehden und geharnischten Raubhelden. Selbst wer den Rhein entlang, an dessen Wechselreichen Ufern, die Menge der Ruinen des Mittelalters sah, wird hier von ganz andern Scenen, von einem wahren Gedränge alterthümlicher, noch bewohnter oder zerfallener Burgen, überrascht, mit denen das Land übersäet ist. Man 325 zählt deren mehr denn dreißig bis vierzig, nah beisammen gelegen in den Gebirgswinkeln; die einen stolz auf Berggipfeln, wie am Himmel hangend; die andern aus der Tiefe finstrer Schluchten lauernd. Jede derselben springt uns in andrer Gestaltung unter andern, meistens seltsamen Umgebungen entgegen. Gleich beim Eintritt in das ehmalige Bisthumsgebiet, wenn man von Basel ausgeht, ragen auf einem Hügel die Trümmer Reichensteins, zwischen zierlichen Gartenanlagen, empor; ohnweir davon die Trümmer von Birsek, neben einer Kapelle und kunstvoll verschönerten Wildniß. Den Rittersaal zieren noch Geräth- schaften des Alterthums; der hohe Thurm ist zum Belvedere verwandelt. Rechts der Straße rekt sich öde das Gemäuer von Fürsten st ein auf; weiterhin und bald, auf einem Felsen am Waldstrom der Birs, das in seiner wunderlichen gothischen Bauart mit Kunstsinn wieder hergestellte Schloß Angenstein, in prächtiger, wilder Umgürtung. Aber links und rechts auf den Höhen stellen sich noch andre Bruchstücke untergegangner Feudalherrlichkeit auf. Hier Bärenfels; dort Pfeffingen; noch in Trümmern Nebenbuhlerinnen bleibend. Eine Bergkluft, welcher die Birs entbraust, öffnet sich seitwärts und verschlingt die breite Landstraße. Wer ihr folgt, dem begegnen bald die vergraueten Ueberbleibsel des Schlosses der Mönche von Mönchsberg, und jenseits dem Städtlein Laufon schlagen und nagen die Birswellen rings um die gewaltigen Mauergründe der Burg Zwingen, aus deren Kreise der alte Thurm zwingherrlich das Thal überschaut. Das Thal selbst ließe sich sehr gut ein Thal der ,> schönen Schrecken" nennen. Es ist eine lange, vielgekrümmte Felsengasse. Drunten rauscht der Waldstrom, bald neben einzelnen Hütten, bald neben kleinen Dörfern und Weilern; droben, am zackigen Gebirgskamm, das schwarze Gezweige der Tannenwälder. Der unwissende Wandrer, wie der Geognost, sieht mit Erstaunen die steilaufragenden Kalkfelsen an seiner Seite von gewaltigen Wasser- stuten tiefausgefressen, über deren Ankunft und Verlauf keine Geschichte, keine Sage Meldung thut. Weite Höhlungen, wie am Fuß, so in der Höhe der kahlen Fluen. Wie hier, bemerkt man sonst auch in den übrigen Thälern dieses Jura-Theils zahlreiche ungeheure Grotten. Die meisten derselben scheinen von Wasser- wirbeln ausgewaschen worden zu seyn, in den Tagen, da die prächtige Ebne von Delemont oder die von Laufon, noch breite, hoch aufgedämmte Seen waren. Andre mögen Poren des Kalk- gebirgs seyn, deren manche zu jenen unterirdischen Wasserbehäl- 3S6 tern dienen, durch welche Jahr aus Jahr ein dies ewigrinnende Leben der Quellen unterhalten wird. Ohnfern dem Dorfe Cour- telary, am Fuße des Chasseral, zeigt man dem Freund der Naturseltsamkeiten eine dergleichen Höhlen, die man das Eisloch nennt. Man steigt in einen Abgrund nieder, an dessen Ende Winterfrost die Glieder des Neugierigen durchdringt. Die Hirten holen von da im Sommer Eis, wie sie es zur Kühlhaltung ihrer aufbewahrten Milch bedürfen. Seitwärts schließt sich in dem Abgrund noch eine zweite Felsenöffnung auf zu des Gebirgs tiefern Eingeweiden. Man hat sie weithin untersucht; aber bis jetzt nicht ihr Ende gefunden oder zu finden gewagt. Doch ich wollte von der Kette der mittelalterischen Schlösser reden, welche sich durch das ganze Laufenthal von Basel bis Delemont ausstreckt. Man sieht jenseits der Trümmer von Zwingen, dem armen Dörflein Soyvres gegenüber, auf den Zinnen einer schwarzen Felswand, zwischen düsterm Tannengestrüpp, die Zinnen der Burggemäuer von Sogern oder Soyeres, oder dem Nesselhof-Schloß (OIiLteau äes orties.) Fels und Mauer, in gleich senkrechter Linie, sind kaum von einander unterscheidbar. Einst wohnten dort die mächtigen Grafen von Sogern. Jetzt findet der Wandrer, zwischen Schutt und Gemäuern, ein Pavillon, worin Geräthe, Schmuck und Waffen des Alterthums aufbewahrt sind. Das schmale Thal zu dessen Füßen, wie schwermüthig es zwischen Felsenbergen und Tannen daliegen mag, ist darum nicht ohne Anmuth und Leben. Links der Birs erhebt sich, neben den Heilbädern von Bellerive, das freundliche Gasthaus; rechts dem Strom ein heitres Landhaus der Familie Quiquerez inmitten der Gärten; weiterhin das ehrwürdige, malerische Ueberbleibsel von Thürmen und Ringmauern der alten Vorburg auf den Felsterrassen neben der Landstraße; dabei die Wallfahrtskapelle zur heil. Jungfrau von Vorburg, noch jetzt fleißig von Pilgern besucht. Ich kenne kein Landschaftsbild, welches in der Bühnenmalerei fähig wäre, den Eindruck der finstern Nitterzeit lebendiger zu geben, als diese düstre Scenerie. Wer doch die Schicksale dieser Burgen alle wüßte und ihrer Bewohner in jenen Tagen roher Freuden und Verbrechen und heldenmüthigerTugenden! Herr AugustQuiquerez, der gründlichste Forscher der Geschichten und Alterthümer der ehemaligen Bisthumslande, hat uns im Lebensbilde „des Hans von Vienne" unlängst eine Ansicht der Sitten und Handlungsweisen des vierzehnten Jahrhunderts, seiner Bischöfe, Ritter, Mönche und Nonnen geliefert, welches ein schauerlicher Commentar zum Tort 3S7 der vielen Ruinen ist, die noch in der Wirklichkeit vor uns stehn.*) Es ist anziehend, wie ein Mährchen geschrieben; voll naiver Ironie eines Rabelais; aber dabei eine Mosaik, aus Chroniken, ältesten Handschriften und Urkunden kunstvoll zusammengefügt. Von Oelemont führt, durch die schöne Ebne, eine Straße gen Porentruy über den Berg des Rangiers. Indem man jenseits niedersteigt, breitet sich drunten ein geräumiges Thal, waldig und wild, zwischen den Rangiers und der Jurakette aus, die hinter dem Mont Terrible ihren Kamm erhebt. Inmitten des Waldgrun- des, aus dem Meere bewegter Baumgipfel und Zweige, schwillt ein einsamer Hügel auf, der die Ruinen des starken Thurmes von Asuöl oder der Hasenburg trägt. Zwanzig bis dreißig Hütten lagern sich um die zerfallenen Schloßmauern. Einst soll da ein Städtlein gestanden seyn. Innerhalb des achtzig Schuh breiten, viereckten Thurms, wird noch ein Loch im Felsenboden gezeigt; die Oeffnung des Burgverließes, worin mancher Unglückliche verschwand, welchen die Rache des Feudalherrn aus den Reihen der Lebenden verstieß. Die Sage der Landleute weiß von verrosteten Harnischen und Bickelhauben und menschlichen Gebeinen, die drunten gefunden worden sind. Das ganze Waldthal in dieser Bucht des Gebirgs, die weite, schweigende, verwilderte Einöde, die Ueberreste der ge- brochnen Beste Asuöl darin, um welche sich, wie Raben um ein verunglücktes Thier, die ärmlichen Hütten der Landleute gesammelt haben, erregen unwillkürliches Grausen. Es ist da unheimliches Wohnen. Man athmet freier und froher, wenn der Blick endlich die Hügel und Ebnen, die Ufer des Hallestroms und, im Hintergründe der heitern Landschaft, die zierlich gebaute Stadt Porentruy überstiegt, der alten Bischöfe von Basel Sitz mit deren halbzerfallenem, riesenhaftem Schlosse. Man sagt: "Unterm Krummstabe sey gut wohnen." Ich weiß nicht, welcher geistliche Höfling an irgend einer Prälatentafel das Sprüchwort erfunden hat, um damit ein Lächeln des Jnfulirten zu erschmeicheln. Aber sieht man heut noch die Dürftigkeit des Landvolks und die in Lumpen gewickelten Schaaren müßiger Bettler, welche die Klöster und Abteien umringen, selbst den Druck des Elendes und der öffentlichen Unsicherheit im Mehrtheil des römischen Kirchenstaats: so wird das Sprüchwort zur Lüge. Auch im ehma- *) 3eau 6s Visuos ou I'Lvßolis 6s Kalo au XIV. 8iöcls, i>ar X. tzuiyueror:. (korreutru^. 1836.) 328 ligen Bisthumslande von Basel, zumal in den katholischen Theilen desselben, schauen Armuth und fromme Trägheit noch häufig aus zerbrochnen Fenstern und zerrissenen Mauerwerken. Der Landbau ist noch in altherkömmlicher Einrichtung. Unwissenheit hemmt den raschern Aufschwung des Wohlstandes. Der verdüsterte Geist der Volksmenge schwebt nur über den Sümpfen veralteter Vorurtheile und frommen Wahnes unstät umher. Da hatte allein das Priester- thum freudiges Walten und Schalten; und dies zu bewahren, widersetzte es sich kühn den Bestrebungen der Bernerregierung noch in neuester Zeit, die Zustände des Landes durch öffentliche Bildung zu verbessern. Die Unruhen des katholischen Jura in den ersten Monaten des Jahres 1836 waren bloßes Werk der Priester. Sie sahn ihre Hoheit durch veredelten Jugendunterricht in den Landschulen untergraben; ihre Willkühr und Unabhängigkeit von weltlicher Obrigkeit, durch die zu Baden im Aargau von mehreren eidgenössischen Republiken über die Rechte des Staats in Kirchen- sachen genommenen Beschlüsse, gebunden und mit Untergang bedroht. Sie mußten das Aeußerste wagen und Aufruhr predigen. Sie predigten ihn. Ein bigottes Volk, dem die Vernichtung seiner Religion und der Verlust seines ewigen Seelenheils, in den Hütten, in den Beichtstühlen, von den Kanzeln und in Flugblättern furchtbar genug vorgespiegelt ward, war leicht zu fanatischen. Voran schritten überall in den Gemeinden die Weiber mit ihrem Geschrei. Man pflanzte Freiheitsbäume, zum Zeichen des Abfalls von Bern, unter Kirchenliedern und Freudensängen berauschter Bacchanten und Bacchantinnen. Zucht und Ordnung hörten auf. Die Wohlhabendem sahn ihr Eigenthum, die Freunde der Gesetzlichkeit ihr Leben bedroht. Sie bewaffneten sich zum Selbstschutz, dem fana- tisirten Pöbel gegenüber. Der Bügerkrieg war vor der Thür. Die Beamten standen ohne Gewalt. Man hörte nur die Befehle der Priester. Die Leitung des Ganzen hing vom Wink eines Pruntruter Dekans ab. Zu nachsichtig und zu lange hatte die Regierung dem Unwesen zugesehen. Sie sandte endlich einige Bataillone in die aufgewiegelten Gegenden, und plötzlich verstummte der Lärmen. Die neben den Kirchen gepflanzten Pfaffenbäume fielen unter der Hand derselben Menschen, die sie aufgerichtet hatten. Der rebellische Dekan mit seinen Helfershelfern entwich. Der ehrwürdige Bischof entsetzte ihn seines Amtes. Ordnung und Ruhe kehrten zurück, ohne daß es, bei der guten Mannszucht der Truppen, einen Tropfen Bürgerblutes gekostet hätte. — Es ist wahr, daß nicht alle Priester zu diesen Verwirrungen Hand boten; daß einige 329 sich dcm Sckom derselben muthvoll entgegenstämmten. Aber es ist auch wahr, daß nicht leicht in irgend einer Gegend des Schweizer- landeö unwissendere Geistliche und Geistliche von rohern und lockrer» Sitten gefunden werden konnten, als in diesen Thälern. Auch das mahnte sehr an die ,/gute. alte Zeit" des sürstbischöslichen Krummstabes. Fast in sämmtlichen Gegenden des Kantons Bern wird die Mehrheit der Bevölkern,,g in den Dörfern die Narben der Fesseln tragen, welche ihr Jahrhunderte lang, theils die Aristokratie, theils die Hierarchie, angelegt hatte. Beide konnten nur durch Unwissenheit der Unterthanen aufrecht gehalten werden; beide eiferten gegen bessere Volksbildung, gegen Reinigung des Gedächtnisses, wie des Verstandes, vom Schmutz des Aberglaubens und Vorurtheils. Man ächtete die, welche den Jugendunterricht zu veredeln suchten, mit dem Namen der Aufklärer, der Neuerer, der Ruhestörer. Die katholische Priesterschaft im Jura schalt, ver- nunftlos, gegen die Vernunft, als die gefährlichste der Gaben, welche der Sterbliche vom Himmel empfangen habe. Selbst die Bibel ward hier noch in unserm Jahrhundert von pn'esterkicher Hand feierlich verbrannt. Erst seit dem Jahr der politischen Reform 1830 thut der Kanton Bern entschiednere Schritte zur Verbesserung der Volksschulen. Vergebens ward längst dazu vom unsterblichen Pestalozzi der Aufruf gemacht. Die Aristokratie verachtete, die Hierarchie verketzerte ihn. Vergebens stellte der edle Emanucl Feilende rg in der Nähe der Hauptstadt seine Mufteranstalten zu Hofwyl auf. Er, obgleich selbst aus patrizischem Geschlecht, erndtete, statt Dankes, den Haß der Patrizier, während Deutschland, Frankreich, England, Amerika, selbst Rußland sein unläugbares Verdienst anerkannten, und ihre Söhne zu ihm sandten. Die Fellenbergi- schen Musteranstalten blühen noch in ungeschwächter Kraft fort; mögten sie es auch lange noch, wenn einst ihr Stifter nicht mehr waltend an deren Spitze stehen wird! Die Gebäude, welche, mit fürstlichem Aufwand errichtet, den Boden Hofwyls bedecken, und mehr denn 600 Personen bequem Raum gewähren, sind noch immer mit Zöglingen der verschiedensten Länder Eurvpens und Amerikas, und der verschiedensten Stände des Volks erfüllt. — Hofwyl ist ein wahres Erziehungsreich im Kleinen; eine Verknüpfung fast aller Lehranstalten, die ein Staat bedarf, für die höchsten, L2 330 wie für die niedrigsten Klassen des Volks. Neben einer Bildungsanstalt für Schullehrer und einer andern für Lehrerinnen, sieht man eine landwirthschaftliche Schule für die ärmsten, oft vom Straßenbettel hiehergenommenen Kinder — wem ist der Name der Wehrli-Schule fremd geblieben? — und eine andre landwirthschaftliche für reiche oder bemittelte Güterbesitzer, welche sich die Vortheile des vervollkommneten Landbau's aneignen wollen. Neben einer sogenannten Mittel- und Secundar- oder Realschule, besteht zugleich eine praktische Lehr- und Bildungsanstalt für Handwerker, so wie eine wissenschaftliche für diejenigen, welche sich zum Besuch der Hochschulen vorbereiten. Doch diese Blätter sind nicht der Ort, das Bild vom pädagogischen Leben Hofwyls auszuführen. 331 XIX Kanton Neuenburg. 1. Ncucnburg odcr Ucuchatel. Eine kleine Monarchie, deren souveräner Fürst der König von Preußen ist, steht seltsam genug in den Bund von 21 schweizer,'» schen Demokratien verschlungen. Das Fürstenthum liegt vereinzelt; fern von seinem Herrn, zwischen den Gränzen des konstitutionellen Frankreichs und der Eidsgenossenschaft. So macht es ein wahres Gegenstück zu jenem Freistaat Andorra, am südlichen Abhang der Pyrenäen zwischen den Königreichen Spanien und Frankreich eingeklemmt, mit einem bescheidnen Flächenraum von 9 Geviert- meilen und 15,000 Seelen. Das Fürstenthum im Schweizerbunde ist freilich, mit ohngefähr 16 Geviertmeilen fast um die Hälfte größer und mit seinen 55,000 Unterthanen zweimal volkreicher, als jene Republik. In ähnlichem Verhältniß stehn auch die Hauptstädte beider einander gegenüber. Zwar liegen Andorra und Neuenburg mit unebnen Gassen an Bergabhängen; aber das republikanische Städtlein, von größtentheils übelgebauten, zerstreut umhergelegenen Häusern, zählt nur 2000 Einwohner; das fürstliche dagegen in theils zierlichen, theils schönen Wohngebäuden, 4 — 5000. Jenes dehnt sich nur längs der Balira, einem wilden Bergstrom, aus; dieses aber an einem der größten Schweizer» seen, der über zwei Stunden Breite und über neun Stunden Länge hat. Im Schatten mehrhundertjähriger Linden auf der Schloßterasse, am Felsen oberhalb der Stadt, übersieht man diese und die weite Wasserfläche des Sees, von den Ufern Berns, Freiburgs und des Waadtlandes umspannt, und den Horizont rings mit entfernten Hochgebirgen bekleidet. Das Schloß selber, 22 * 332 einst der streitbaren Grafen von Neuenburg, jetzt eines preußischen Gouverneurs Sitz, ist minder sehenswerth; ein weitläustigeS, schweres Bauwerk des dreizehnten Jahrhunderts, dem noch gegenüber die alterthümliche Schloßkirche gelegen ist. Was für die Anmuth und Bequemlichkeit, für Wissenschaft, Kunstliebe, öffentlichen Unterricht und Armenpflege einer Stadt solchen Umfangs dienen kann, besitzt Neuenburg. Und wodurch sie am meisten einer Schweizerstadt gleicht, ist, daß sie die vortrefflichsten und kostbarsten ihrer Stiftungen und öffentlichen Anstalten nicht eigentlich der Sorgfalt oder Freigebigkeit ihrer Regenten, sondern vorzüglich dem Gemeinsinn ihrer Bürger dankt. So steht, dessen ein Denkmal, das große und schöne Gebäu des Spitals da, welches I. E. Pourtales (im Jahr 1808) für bedürftige Kranke gründete. Er eröffnete es den Leidenden jedes Landes und jeder Religion. Der Protestant baute sogar eine Kapelle, zum Behuf des katholischen Gottesdienstes, hinzu. In der ersten Hälfte vorigen Jahrhunderts wanderte von Neuenburg ein Jüngling nach Genf aus, um daselbst die Handlung zu lernen. Er war der Sohn unbemittelter Eltern und hieß David Pury. Seiner Wißbegierde und kaufmännischen Spekulation sagte aber Genf zuletzt nicht länger zu, und er begab sich nach London, sein Glück auf dem großen Stapelplatz des Welthandels zu suchen. Gewerbig, sparsam und in Berechnungen voll Scharfsinns, gewann er nach einigen Jahren genug, um aus eigner Kraft größere Unternehmungen zu wagen. Er ging, als Juwclenhändler, nach Spanien, endlich, um den Diamanten aus den Gruben der brasilischen Serra - do-Frio näher zu kommen, nach Lissabon. Hier ließ er sich zuletzt für immer nieder und betrieb, neben dem Diamanten- und Pretiosen-Handel, ansehnliche Bankgeschäfte. Sein Reichthum wuchs von Jahr zu Jahr an. Er verwendete ihn mit Edelmuth. Zu Lissabon ward er Vater der Armen, der Schutzengel der Nothlcidenden. Prunklos und einfach in seinem Leben, reizten ihn, wie angesehen er auch am portugiesischen Hofe war, weder Titel noch Orden. Auch seiner Vaterstadt blieb er eingedenk. Er sandte ihr im 1.1779 zur Erbauung eines neuen Armen- und Krankenhauses 100,000 Thaler und wiederholte in den beiden folgenden Jahren die gleiche fürstlichgroße Gabe. Jährlich schickte er zur Hülfe der Armen 300 Louisd'ors. Zur Pflege bedürftiger Predigerwittwen vergrößerte er den dafür bestehenden Fond beträchtlich. Ebenso Übermächte er große Summen Geldes, theils als Beitrag zum Bau eines neuen Rathhauses, theils zur Anlegung einer neuen und prächtigen 333 Handelsstraße nach Basel, theils zur Verbesserung der elenden Landstraßen in der Grafschaft Valangin. Und als er im I. 1786 hochbctagt, im sieben und siebenzigsten Lebensjahre, starb, vermachte er der Vaterstadt sein ganzes Vermögen von mehr denn drei Millionen Livres; die eine Hälfte davon für Kirchen, Schul- nnd Armcnanstalten bestimmt, die andre zur Verschönerung der Stadt und ihrer Umgebungen. Es thut dem Gemüthe wohl, wenn es sich an der Erscheinung eines so seltnen und großen Bürgers erheben kann. Die Neuenbnrger hatten dem Greise noch während seines Lebens ihren Dank bezeuget. Doch für sie gab es, so scheints, nichts Höheres, nichts Köstlicheres, als ein Ordensband oder eine Titulatur und ein Rang. Sie wendeten sich an Friedrich den Großen, König von Preußen, und bewirkten, daß er den kinderlosen, bescheidnen Mann in den Freiherrnstand erhob. Als wenn nun der Baron David von Pury etwas Höheres gewesen wäre, denn der Bürger und Jnwelenhändlcr David Pury! Aber eine steife Rangsucht ist dem Städtchen noch heutiges Tags unverkennbar eigen, und (wie gewöhnlich in kleinen Städten) breiter zur Schau unk spießbürgerlicher, als in großen Residenzen der Monarchen, wo sich aber überhaupt Männer von Bildung, adlich oder nicht, reich oder wenig begütert, mit einander geselliger zu verbinden und zu mischen pflegen. In Neuenburg mag wohl die Schuld davon darin liegen, daß es eben Hauptstadt eines kleinen Fürstcnthums ist, in welchem, nach der Natur monarchischer Einrichtungen, sich auch gern die Stände über einander bis zum Thron hinaufstusen wollen. Weil, seit länger denn hundert Jahren, kein Fürst in Ncuenburg selber residirte, bildeten die Hochbetitelten, Bebänderten oder Adlichen, die vom nahen Glanz eines Throns um so weniger verdunkelten Trabanten desselben den Gipfel der Gesellschaft. Eben so rannen reichere Gewerbsleute oder Gelehrte und Beamtete, in sich zusammen; eben jo Handwerker, Kleinhändler u. s. w.; alle voll gegenseitigen Stolzes oder Neides. Diese Zerstückelung des geselligen Lebens wird um so peinlicher oder lächerlicher, da sie, bei einer geringen Einwohnerzahl, jedesmal nur Kreise von wenigen Familien zusammenziehe» kann, und mehr auf Täuschung eitler Einbildungen, als auf dem natürlichen Bedürfniß des Staats, oder auf dem Grund ungleicher Gesittung und Geistesbildung beruht. Die Geschichte des Fürstenthums an sich ist unbedeutend. Hier erscheinen im Alterthum weder große Bürger, noch große Fürsten. 334 die auf das Lebenslvos des Landes oder der Nachbarreiche einwirkten. Als Arelat und Burgund vergangen waren, fiel das Gebiet an das deutsche Reich, ward ein Lehen von Grafen; kam durch Erbschaft an verschiedne Familien, endlich, als Fürstenthum an die Herzoge von Longueville, von denen es König Wilhelm IH. von England erbte, der seine lehensherrlichen Rechte dem König Friedrich I. von Preußen überließ. Als sich neben diesem ein Dutzend erbluftiger Mitbewerber zeigte, entschieden die Stände des Fürsten- thumes in ihrer Wahl für ihn und er bestätigte dagegen (1707) die alterthümlichen Freiheiten und kleinen Nechtsame der Gemeinden, Körperschaften, Herrschaften und Kastellaneien. Zum Theil besteht das Bunterlei dieser örtlichen Rechtsame noch. Man war in Ermangelung vollkommner politischer Freiheit, auf solche Brocken von Freiheiten sehr eifersüchtig. Jeder Fürst mußte sie beschwören, eh man ihm den Huldigungseid leistete. Als einst ein Herzog Heinrich der Zweite von Longueville (im Jahr 1617) nach Neuenburg kam, und, fast allzufürstlich, nichts von diesem Eid und noch weniger von den armseligen Rechtsamen des Volks hören wollte, die man ihm nicht einmal in Schrift vorlegen konnte: mußte er sich eine kleine, vierzehn Monate lange, Revolution gefallen lassen und sogar, um des Lebens sicher zu seyn, nach Frankreich zurückflüch- ten. Noch stürmischere Auftritte gab's, als die Finanzmänner Friedrichs des Großen (im Jahr 1768) die fürstlichen Gefälle großen Pächtern überlassen wollten. Es gab Aufruhr und Mord. Zwar die Unfugen wurden, wie billig, bestraft; aber der König war Friedrich der Große! Er bestätigte und erweiterte sogar die Rechtsame des Ländchens, dem er gern in unschuldigen Dingen nachgab, wie wunderlich sie dem hellgeistigcn Fürsten auch zuweilen vorkommen mochten. Als der gesammte reformirte Klerus des Für- stenthums einst das größte Aergerniß an dem Pfarrer Olivier Petitpierre nahm, der öffentlich gegen die ewige Dauer der Höllenstrafen gepredigt hatte, suchte sie der damalige Gouverneur Georg Keith vergebens zu besänftigen. Sie wandten sich um Entscheidung an den König, mit der Erklärung, daß ihnen eine solche, schon von Origenes gelehrte, Ketzerei durchaus unerträglich wäre. Friedrich fügte sich und antwortete: Wenn eS seinen sieben Neuenbürgern denn gar zu sehr am Herzen liege, ewig verdammt zu bleiben, so biete er gern dazu Hand, und genehmige, daß es der Teufel dabei an nichts fehlen lasse. Wie es indessen zu gehn pflegt, was des Guten die Fürsten großmüthig verschonten, ward von den eignen, inländischen Obrigkeiten mehrmals verküm- merk. Es war alte Klage, daß die Freiheiten der Körperschaften und Gemeinden bald da bald hier beschnitten und der Willkühr preisgegeben wären. Nach dem Frieden von Tilsit mußte sich der König von Preußen darin ergeben, sein Souveränetätsrecht über Neuenburg an Napoleon (1807) abzutreten, der damit dem Marschall Berthier ein Geschenk machte. Bemerkenswerth bleibt, daß dieser Marschall vielleicht der einzige Fürst des Ländchens gewesen ist, der von den 150,000 Livres Einkünften *) nichts für sich nahm, sondern Alles dem Lande selber wieder zuwandte. Die Brücke von Serviere, die er anlegte, bleibt ihm ein prächtiges Denkmal. Serriere ist, ohnweit der Stadt Neuenburg, ein kleines Dorf, welches mehr malerisch-schön, als bequem, im Abgrund eines schmalen Felsen- schlundes liegt. Es ist ein Dorf, fast nur aus Orahtzügen, Eisen- und Kupferbammerwerken, Papiermühlen und andern Fabriken zusammengesetzt, die von einer nahen, reich hervorstürzenden Quelle betrieben werden. Der Raum ist für sie so eng, daß man in die Felsen Gewölbe einhauen mußte, um darin Mühlwerke, Magazine und Werkstätten einzurichten. Ein von Gebüschen umschatteter Wafferfall des Serrierestroms, und in der Höhe das Schloß Beauregard, machen, mit dem Uebrigrn Allem, ein reizendes Landschaftsbild. Berthiers Brücke selbst, die einen 89 Fuß hohen Bogen bildet, gehört zu den schönsten Bauwerken dieser Art in der Schweiz. Der Marschall blieb aber nicht lange im Besitz seines Fürstrn- rgums. Die Siege der heiligen Allianz gaben es (im I. 1814) an Preußen zurück, indem es der Wiener Congreß zugleich zum ein und zwanzigsten Kanton der Eidsgenossenschaft machte. Ich weiß nicht, ob außer Preußen, die übrigen Mächte Europens durch die Einverleibung eines preußischen Gebiets in den Schweizerbund, dessen neutrale Stellung ihnen so wichtig ist, großen Vortheil gewonnen haben mögen? Gewiß aber machten sie sich dadurch selber die Neutralität der Schweiz unsicher. Denn in jedem Kriege Frankreichs gegen Deutschland, sobald Preußen darin verflochten ist, wird die nur zu gut bekannte französische Diplomatie Auswege finden, die schweizerische Neutralität unverletzbar zu erklären, und doch das souveräne, preußische Fürftenthum zu besetzen. Außerdem *) Sie bestehen in der sogenannten Handänderungsgebühr zu sechs Prozent; im Ertrag von Posten. Zölle», Salzverkauf, Zehnten und Bodenzinsen. könnten leicht Zeiten erscheinen, in denen es weder den benachbarten Mächten, »och den Schweizern, besonders angenehm seyn dürfte, daß ein preußischer Beamte Sitz und Stimme »nd Einfluß in der obersten Bundesbehvrde der neutral seyn sollenden Eidsge- nossenschaft hat. Auch mochte es sonst wohl kaum räthlich gewesen seyn, ein Fürstenthum in einen republikanischen Föderativstaat einzuklemmen. Weislich ließ man vorzeiten Neuenburg nur, als zugewandten Ort der Eidsgenoffenschaft, bestehn, ohne mehr z» fordern. In unsern Tagen politischer Glaubenskriege, wo das monarchische Prinzip mit dem der staatsbürgerlichen Rechtsgleichheit im noch nicht geendeten Hader steht, muß das Amalgam« einander entgegengesetzter Elemente unvermeidliche (Nahrungen und bürgerliche Unruhen aufregen. Ein erstes Beispiel davon gab schon das Jahr 1831. Es ist zu fürchten, daß es nicht das letzte seyn werde. Die Juliuswoche Frankreichs, dieß politische Erdbeben, dessen Erschütterungen sich durch einen großen Theil Eurcpens fortpflanzten, und nach welchen die Mehrheit der Schweizerkantone die ihnen aufgedrungnen aristokratischen Verfassungen wieder abstreiften, bewirkten auch im Für- stenthum Neuenburg Partheikampf. Selbst in der gesetzgebenden Versammlung der Deputierten, ober in den „Generalaudicnzeii" ward er laut. Gut und weise, sandte König Friedrich Wilhelm III. eiligst, größern Uebeln vorzubeugen, den General v. Pfuel nach Neuenburg. Dieser General, ein gewandter, entschlossener und mit Jedem einläffiger Geschäftsmann, war seiner Aufgabe vollkommen gewachsen; und diese schien darin zu bestehen, den Grund der Unzufriedenheit im Volk zu erforschen, und Alles, mit Recht und Würde Preußens Vereinbare, zu bewilligen, um die entlegne Provinz ihrem Souverän zu bewahren. Denn in Berlin zweifelte man damals nicht am Ausbruch eines Krieges mit Frankreich und daß der Bürgerkönig Ludwig Philipp, auch beim besten Willen zum Frieden, außer Stand sey, Heer und Volk zurückzuhalten. Dieses drohte die Giihrungen in Belgien, Deutschland, Polen, Italien ». s. f. zu benutzen, um an den Fürsten des heiligen Bundes Rache für die Schmach von 18! 5 zu nehmen. In solchem Fall wäre Nenen- bnrg das unsicherste Besitzthum Preußens an französischer Gränze geworden. Hier hatten sich die verworrenen Wünsche des Landes aber doch endlich in dem aufgelöst, daß die sogenannte Backsteuer und die Keltcrstener neben andern Lokalbeschwcrdcn aufgehoben, und eine gerechtere und freiere Wahl der Volksrepräsentation in den Landstände» gegeben werde. Für gänzliche Trennung des Lan- der von Preuße», um, gleich den übrigen Kantonen, als Republik, dem eidsgcnössischen Bunde anzugehören, sprachen nur wenige, schüchterne Stimmen; Bittschriften oder förmliche Anträge keine. Vielleicht, wenn sie als allgemeiner Wunsch gethan worden wären, hätten sie unter den damaligen Zeitverhältnissen, gegen eine an Preußen geleistete Loskausssumme, Erhörung gefunden. Der König bewilligte, was verlangt war. Er schaffte jene Steuern unentgeld- lich ab, und machte die Wahlart der Landftände volksthümlicher, so, daß auf fünfhundert Seelen immer ein Repräsentant war und der Fürst nur zehn Mitglieder zu ernennen hatte. Das Land schien beruhigt. Nur die Bewohner des Val Travers hingen fester an dem Gedanken einer Ablösung von Preußen. Dieser Gedanke faßte, als General Pfuel (im August 1831) Neuenburg wieder verlassen hatte, in mehrern andern Gegenden Wurzel. Man partheiete sich für und wider Preußen und Eids- genosscnschaft. Die Gährung schwoll an. Kaum vier Wochen nach Pfuels Abreise versuchte schon die republikanische Parthei durch einen Gewaltstreich die Losreißung von Preußen. Ein Lieutenant Alphons Bourquin, mit einigen hundert Bewaffneten von Val Travers, bemächtigte sich des Schlosses und der Hauptstadt. Die Regierung floh erschrocken nach Valangin und rief Vermittlung oder Hülfe der Eidsgenosscnschaft an. Die Schweiz, treu ihren Verpflichtungen, sandte in der Mitte Septembers Abgeordnete und Truppen dahin, welche, unter Zusage voller Amnestie, die Insurgenten nöthigten, Stadt und Schloß zu räumen. Die Ordnung war hergestellt; freilich die Ruhe nicht. Als der königliche Bevollmächtigte, General Pfuel, wieder von Berlin erschien, verließen die Schweizerbataillone das Land; er aber befestigte Stadt und Schloß und orgauisirte Bürgergarden. Nach solchen Ereignissen konnte es wohl kaum an rächenden Rückwirkungen der von ihm begünstigten königlichen Parthei fehlen, wodurch hinwieder die Erbitterung der republikanischen gesteigert werden mußte. Bvurguin rief abermals zum bewaffneten Aufstand. Einige achtzig Waatländer hatten sich ihm und seinem schwachen, übelgeordneten Anhang zugesellt. Doch ehe dieser Zeit gewann, sich zu organisiren, rückte ihm General Pfuel rasch mit 12 —1600 Mann entgegen; sprengte ihn auseinander (Bourquin selber entwich nach Frankreich) und nach Entwaffnung aller verdächtigen Gemeinden, ward die Ruhe, vermittelst d es Schreckens hergestellt. Harte, selbst grausame Behandlung der Gefangenen, empörte viele vorher friedliche Gemüther, und die umpolitische Stellung, welche der neuenburgische Staats- 3S8 rath und die königliche Parthei gegen die Eidsgenosscnschast annahm, besonders gegen die Kantone, welche ihre aristokratischen Verfassungen abgeändert hatten, reizte den Unwillen von diesen auf und vermehrte im Fürstenthum selbst die Zahl der Republikanischgesinnten und Mißvergnügten. Die öffentliche Ruhe blieb seitdem allerdings ungebrochen; aber weniger, denn jemals, ist Neuenburg ein zuverlässiges Besißthum. Der erste Krieg, in welchen Preußen mit Frankreich verwickelt werden könnte, wird, wie sich vorausberechnen läßt, das Band lösen, welches Neuenburg an das Haus des entfernten Fürsten knüpft und die Rache der republikanischen Parthei gegen den Stolz der Aristokratie entzügeln. Manchem Unheil im Lande selbst, welchem dann nicht zu wehren ist, wäre durch Neuenburgs Loskauf von den Rechten Preußens, vorgebeugt worden. Die dem mittlern Europa wichtige Neutralität der Schweiz wäre fester und sichrer gestellt worden, wenn kein politisches Amphibium zwischen den Schweizer- und französischen Gränzen läge, und kein Unterthan Preußens, als Repräsentant Neuenburgs, im Kreis der Tagsatzung den Jntressen seines Monarchen thätiger, als den Jntressen Europens und der Eidsgenossenschaft das Wort sprechen würde. Aber die Politik pflegt nur die Gegenwart ohne Zukunft zu kennen. 2. Ualangin. " Zwischen Kalkbergen, im engen Thal eingeschichtet, liegt an den Ufern des Seyon ein kleiner Ort von kaum 60 — 70 Häusern. Darüber erhebt sich, auf einem Felsenhügel an der Landstraße malerisch, ein alterthümlicher Burgstall, hoch und stark, aus der Mitte des zwölften Jahrhunderts. Die ganze Gegend trägt eine Miene voll sonderbarer Wildheit und Freundlichkeit. Das wenige Land um die Wohngebäude in der von Waldbergen und Felsklippen beschatteten Tiefe, ist für einigen Gartenbau und Viehfutter in Anspruch genommen. Dies ist der Hauptort der ehmaligen Graf- schaft Va langin. Wer erwartet hier Merkwürdigkeiten? Und doch ist da, wenn man von der Stadt Neuenburg her ins Land tritt, gleichsam der Vorhvf jener mannigfaltigen und rastlosen Ge- werbigkeit, die das ganze Land berühmt gemacht, bereichert und den unwirthlichsten Boden für ein Völkchen bewohnbar gemacht hat, welches sich im Allgemeinen einer Bildung freut, wie selten ein MKDI 339 anderes. Die „Bourcaderie", eine weitläuftige Jndi'ennenfabrik, bei Valangin, welche mit allen Maschinen arbeitet, die England ersann, macht mit ihren Gebäuden allein schon einen eignen Weiler aus. Je weiter man das Land hinauf kömmt, je höher hebt es sich, je niedriger sinken links und rechts die Bergketten, je unfruchtbarer oder unzahmer wird der Boden. Die Fruchtbäume verschwinden. Mitten im Sommer haben die Wohngebäude winterliche Vorfen- ster, zwischen denen und den innern Fenstern die Töchter des Hauses ihre Blumenflor erziehn, die in freier Luft ein Nachtfrost todten könnte. Das Gärtchen, neben der Behausung, kann nur für das Bedürfniß der Küche dienen; zur Zierde darin stehn doch aber zuweilen ein Paar gemeine Pappeln, von verkümmertem und verkrüppeltem Wachsthum. Man athmet in diesen Thälern bei 3000 Fuß über dem Meer erhaben. Oft sind sie tief verschneit, während man noch in den Rebländern längs den Ufern des Neuen- burgerfees Weinlese hält. Die Wohnungen sind in ihrem Bau gegen die Unbill der Witterung berechnet; aber sie verrathen im Aeußern, behaglichen Wohlstand; im Innern Sinn für geschmackvolle Veranmuthigung des Lebens. Selbst die Zimmer der Minderbemittelten glänzen von appenzellischer Reinlichkeit und Ordnung. Die Geräthschaften sind zierlich, zuweilen kunstvoll, oft prächtig. Nationaltracht des Landmanns, ist hier nicht, wie in den meisten andern Kantonen. Fast alles geht städtisch gekleidet und zeigt sich zuvorkommend, gefällig, mit städtischen Sitten. Man sucht die Rohheit des gemeinen Haufens in den Dörfern fast vergebens. Aber in vielen ländlichen Hütten findet man klassische Schriftsteller Frankreichs, auch Deutschlands, Erbauungsschriften, geographische und mathematische Werke, oder mehrere musikalische Instrumente zum geselligen Gebrauch. Die Winter dauern sieben Monden, und neben den stillen Freuden im Familienkreise, bei höchst einfacher Kost und Lebensweise, liebt man edlere Nahrung für Geist und Herz. In den meisten Thälern der sogenannten Hirtenländer, wie in denen von Uri, Unterwalden, Schwyz, Wallis, Freiburg und dem bernischen Oberlande, herrscht, unter milderm Himmel, weit größere Fruchtbarkeit des Bodens; dennoch aber kein Wohlstand, keine Gewerbthätigkeit, keine Aufklärung und Volksbildung, wie hier. So leisten diese Hochthäler den Beweis, daß Armuth eines Landes weniger Folge von der Unfähigkeit des Erdbodens zum Anbau, als von» Anbau des Geistes seiner Bewohner ist, und daß Stief- 340 Mütterlichkeit der Natur selten so verderblich, als die Stiefmütterlich- keit der Hierarchie oder Aristokratie wirke. Die Dörfer kieserJurahöhen sind theils von Familien belebt, welche Alpenwirthschaft treiben, theils von Familien sinnreicher Künstler, Handwerker, Fabrikanten und Handelsleute, die in fremden Ländern Waarcnniederlagen und Geschäftshäuser besitzen. Viele treiben im Sommer Landbau und Viehzucht; im Winter Uhrmacherei und Weberei von zarten Gespinnstcn, Spitzen, Strümpfen u. s. w. Diese rührige Gewcrbsamkeit der hohen Juralandc hat wahrlich, weder die Weisheit der Gesetzgebung, noch die Klugheit der Regierungen erzeugt. Gesetzgeber und Regenten leisten ibr Höchstes, wenn sie die Hindernisse des Guten nur selber nicht schaffen, sondern sie aus dem Wege zu räumen versteh«. Niemand weiß sich besser zu helfen, als Jeder sich selbst, wenn man ihm den Gedanken frei nnd die Hand ungebunden läßt. Dieses Glücks konnte sich wenigstens das Volk des neuenburgischen Hochlandes unter seinen entfernten Fürsten freun, welche der selbstsüchtigen Begehrlichkeit der Aristokratie entgegenwirkten. Eines Tags, es war im Jahr 1680, kam ein Mann des Tra- versthals von langen Reisen in seinem kleinen Geburtsort La Sagne an. Er hatte aus England eine Taschenuhr mitgebracht. Das ganze Fürstenthnm hatte dergleichen Wunderwerk nie gesehn; geschweige das Dorf. Man eilte viele Stunden Wegs weit herbei, das merkwürdige Ding anzustaunen. Aber leider, die Freude dauerte nicht lange; die Uhr war bald verdorben. Wer konnte das Zauberstück herstellen ? Jeder bedauerte den Besitzer, den man vorher beneidet hatte. Da trat ein junger Mensch, Daniel Jean Richard, hervor und gab Trost, er wolle das künstliche Geschöpf wieder heilen. Der dieß verhieß, war selbst aus dem Dorfe. Man kannte seine Ge- schicklichkcit wohl zu allerlei Arbeit in Holz, Stein nnd Metall. Ja, ohne in seinem Leben eine Uhr gesehn zu haben, hatte er sich einen Stundenanzeiger erfunden. Freilich ein sehr ungeschlachter Mechanismus; ein hölzerner Kasten, ein Paar Walzen mit Stiften darin und Schnüren. Eine Schiefertafel war das Zifferblatt; ein Stück Eisen der Zeiger. Die Uhr aus England begriff er aber, so wie ihren Fehler, auf der Stelle. Um sie in Ordnung zu bringen, mußte er gehörige Werkzeuge dazu besitzen. Er erfand sie; hatte sie in Jahresfrist fertig; nach einigen Monaten ging die Uhr vollkommen. Jetzt versucht' er selber Uhrmacher zu werden. Er hörte, man zähne in Genf die Rädcrchen vermittelst einer einfachen Maschine. Er machte sich sogleich auf und dahin zum 311 Erfinder der Maschine. Der arme Richard! Er war vergebens gegangen; hatte nicht an Kunst- und Brodneid gedacht. Der Erfinder verheimlichte ihm das wichtige Arcanum. Er untersuchte das Zahnwerk der Uhren auf alle Weise, bis er den Mechanismus errieth, durch den es am leichtesten zu schaffen war. Er versuchte; es gelang. Er war Uhrmacher. Er unterrichtete seine fünf Söhne; er nahm andre junge Leute von La Sagne zu sich, die ihm Hülse leisten mußten. Richard ward der Gründer des Wohlstandes in diesen Thälern, und des Anbaus der höchsten Gegenden derselben. Warlich, der Mann wäre des prächtigsten Denkmals werth! Doch er bedarf dessen nicht. Man muß denen nur Denkmale baun, die sonst vergessen werden würden; sie sind ein Ucberftuß für die, welche sich schon selbst in ihren Werken verewigt haben. Der von ihm eingeführte Fabrikationszweig verbreitete sich schnell. Richard half nach allen Kräften dazu. Er ließ sich späterhin in Locke nieder. Als er im Jahr 1741 starb, war sein sinnreiches Gewerbe schon außerordentlich ausgedehnt. Jährlich werden bei 130,000 Taschenuhren und bei Tausend Pendeluhren ausgeführt, von verschiednem Preise; in verschicdncm Geschmack gearbeitet; similorene, silberne, gvldne. Silberne, starke, breite für die Landleute der Schweiz und Deutschlands; stäche, zierlich geschnitzte für Frankreich und Italien; einfache, solide von Gold für die Kaufleute von Holland und England; andre, mit Perlen und Schmelzwerk geziert, für Madrid und Lissabon; andre, mit wunderlichen Arabesken und Schnörkeln für die Levante, von wannen sie ins tiefste Asien wandern. Der Mann kann im Winter bei der Arbeit in einem Tag auf acht Franken, der kleinste Lehrknabe wohl sechs Sous verdienen. Bei der höchst einfachen Lebensart des Künstlervolks kann der Landmann die Uhren wohlfeiler liefern, oder mehr daran gewinnen, als der Städter im aufwandreichern Genf. Das weibliche Geschlecht beschäftigt sich mit Spitzenklöppeln. Im Anfang des vorigen Jahrhunderts verfertigte man nur grabe Waaren dieser Art im Val Travers, und ließ sie in Frankreich durch Hausirer vertragen. In der Mitte desselben Jahrhunderts zählte man schon 3000, jetzt bei 8000 Spitzenklöpplerinnen jedes Alters. Man verfertigt die Elle zu 4 Sous bis auf 68 Franks. Man führt davon nach allen Weltgegenden aus. Man berechnet den Ertrag von diesem Luxusartikel jährlich auf 1,500,000 Fr. und den Gewinn der Arbeiter daran auf 800,000 Fr. 342 Sonst zählte das kleine Land sieben Jndiennefabrkken; jetzt nur sechs derselben; aber diese liefern weit mehr Waare, als sonst die sieben. Den ersten Versuch in dieser Fabrikation machte im Jahr 1730 ein Blaufärber im Val de Ruz. Man schlägt jetzt die Anzahl der jährlich verfertigten Stücke auf 120 —130,000 an, jedes zu 16 Ellen, und den Taglohn der Arbeiter durchschnittlich auf 7 Sous. Wahrlich ein geringer Lohn! Und doch leben die Leute dabei ganz anständig, ohne Mangel. Wie könnten die schweizerischen Fabriken überhaupt mit denen des Auslandes, selbst mit denen Englands, trotz allen verhängten schweren Gränzzöllen und Zollvereinen, concurriren, wenn der Taglohn theurer wäre; wenn hier nicht die Alles segnende Freiheit des Gewerbs und Verkehrs bestände; wenn hier nicht die Natur zum Betrieb der größten Maschinenwerke hülfreich ihre Wasserschätze in Fülle böte; wenn hier nicht die Kargheit des Bodens den menschlichen Geist zwänge, erfinderisch zu werden? Trotz der geringen Taglöhne, vernimmt man in der Schweiz nichts von jenen Zusammenrottungen, Ausschweifungen und Aufständen der Fabrikarbeiter, welche in den großen Gewerbsstädten Frankreichs, Englands und Deutschlands keine Seltenheiten sind. In der Schweiz wohnen die Arbeiter nicht in Städten massenweise beisammen, sondern zerstreut in benachbarten Dörfern und Weilern. Sie leben nicht blos von Beschäftigungen in den Fabriken; die Familien haben in den Dörfern Eigenthum, Haus, Wiese- und Ackerland, welches sie in Früh- und Spätstunden des Sommers anbaun. Der Gewerbsherr ist von ihnen eben so abhängig, als sie es von ihm seyn mögen. Beide stehn einander frei gegenüber. Die Fabriken selbst werden nicht blos in Städten aufgestellt, sondern in und neben Dorfschaften, wo ein Strom, ein Bach durch sein starkes Gefälle dazu einladet und Arbeiter um mäßigen Lohn zu haben sind. Doch Uhren und Spitzenklöppeleien sind beiweitem nicht allein die Beschäftigungsarten des neuenburgischen Volks. Da ist noch eine Menge der Werkstätten zur Verfertigung von mechanischen Instrumenten, Schnallen, Knöpfen, Messern u. s. w. Mit gleichem Eifer und Glück wird Alpenwirthschaft, Viehhandel und Viehmästung betrieben, meistens mit besserm Geschick als in den sogenannten Hirtenländern. Die neuenburger Käse haben Ruhm und Güte der besten Greierzer Käse. Das Val de Ruz widmet sich besonders der Landwirthschaft. Vier bis fünftausend Morgen Rcb- landes in den untern Gegenden längs den Seeufern erzeugen bei 4 ^ ' 4 ' 343 drei Millionen Maas trefflichen Weins, von welchem jährlich für mehr als eine halbe Million Franken außer Landes verkauft wird. Man fragt nun wohl: Was will dies Völkchen, um noch glücklicher zu seyn? — Ei nun, dies Völkchen hat, bei seiner Ausbildung, Ideen gewonnen; es fühlt sich; es will keine Aristokratie. Rede ihm die Zdeen aus, wer kann. 3. Die unterirdischen Mühlen bei Locke. Locke, wie das benachbarte La Chaur de Fonds, große Dörfer oder Flecken, oder wie man sie nennen will, tragen in Europa bekanntere Namen, und sind städtischer gebaut, als manche oder viele größere Städte Europens. Sie sind Zeugen dessen, was Geistesbildung, was Industrie im Volk vermag. Sie liegen da, in einem öden, steinigten, rauhem Jurathal; Chaudefonds 3070, Locke 2780 Fuß über dem Meere; jenes mit 6 — 7000 Seelen, dieses mit 5 — 6000 Menschen bevölkert, meistens Handwerkern, Künstlern, Fabrikanten, reichen Kaufleuten. Hier fehlt nichts, was zur Behaglichkeit des Lebens gehört: Privatbibliotheken, Concert, Schauspiel, selbst Freimaurerloge und manche andre schöne Stiftung. Die edelste Stiftung ist wohl die große Anstalt zur Erziehung armer oder verwahrloster Kinder des Landes. Ein Fräulein Salame gründete sie zu Locke; begann mit fünf Kindern. Unterstützt durch Wohlthätigkeitss>nn der Mitbürger, ward die Zahl über hundert vermehrt. Ein junges Frauenzimmer zu Colombier, Namens Dupaquier. vergabte im Jahr 1829 allein an die Anstalt 50,000 Fr. — Im Jahr 1833 verzehrte eine furchtbare Feuersbrunst zu Locke bei vierzig Häuser; sie stiegen in kurzer Zeit wieder aus dem Boden hervor, schöner denn zuvor. Nachdenken, Kunstgeschick und Gemeingeist nehmen es kek mit allen Schrecken auf, welche die Natur dieser Hochgegend bereiten kann. Der kleine Bergstrom der Bieds, welcher alles Wasser des zwei Stunden langen Locke-Thals aufnimmt, drohte den ganzen Thalgrund in einen weiten Sumpf zu verwandeln. Man gab ihm einen gefahrlosen Ablauf, indem man unter der Erde einen 800 Schuh langen Kanal oder Stollen (in den Jahren 1802— 1806) durch Felsen sprengte. Derselbe Fluß stürzt sich eine Viertelstunde von Locke in einen Abgrund von Felsen, zwischen denen er sich unterirdisch verliert. Er bildet drunten weit ausgewaschne Höhlen und Gewölbe, durch die 244 er m'ederfährt. Ein sinniger Mann von Lvcle ließ es nicht unbenutzt. Es fehlte noch der Gegend an Mahlmühlen. Jonas Sandoz baute, es mögen hundert Jahre seyn, vier Mühlen dahin, senkrecht eine über die andre. Man steigt bei zweihundert Schuh tief hinunter. Es ist der Mühe werth, das Schauspiel des schauerlichen Wassergrabes zu genießen, welches sich der menschliche Kunftfleiß dienstbar zu machen wußte. Keinem ahnet die Größe und Furchtbarkeit des Schauspiels, wenn er sich durch die einförmige Landschaft dem Orte naht. Man erblickt Mühle und Wohnung des Müllers, durch einen Fahrweg von andern Gebäuden getrennt. Links und rechts ragen hohe nackte Felszinken empor, wie phantastische Thürme gestaltet, da und hier durchlöchert zum Herausschaun; zwischen beiden eine siebenhundert Schuh hohe Felsenbank, die bequem zu ersteigen ist. Man nennt sie Culdes Röche s. Niemand betritt sie zum erstenmal, ohne droben von dem überraschendsten Anblick betroffen zu werden. Man sieht die Ebnen Frankreichs und weit in die Ferne hinaus. Zu Füßen strömt ruhig der Doubssluß zwischen grünen Wiesen. Einzelne Häuser mit kleinen Gärten ruhn am Ufer; Heerdenvieh irrt einzeln durch die Flur. Im Mühlgebäude selber führt, vom obern Mühlenwerk, eine in Fels gemeißelte Treppe, wie in einen Keller hinab. Aber der Keller erweitert sich. In der Finsterniß drunten arbeitet eine zweite, weit tiefer noch eine dritte, und noch tiefer eine vierte Mühle. Dasselbe Wasser, welches die obern Werke und Räder treibt, stürzt aus die untersten, wo dann ein Felsenrachen, den man, wie ähnliche andre, in der Landessprache Chaudivre nennt, zuletzt alle Fluten verschluckt. Das Stampfen, Rollen und Lärmen der Mühlen in diesem Abgrund, über und unter uns, welche die vorhängenden Klippen zu zermalmen drohn; das Durcheinandersausen, Pfeifen und Donnern der herabfahrenden Wogen, die sich zwischen den finstern Labyrinthen des Gesteins tausendfach zerschlagen; der trübe Schimmer der Lampen, ihr unheimlicher Wiederglanz von den feuchten Umgebungen, durch welche schaumweis die Hangenden Wellen wandeln und wo sich Alles, Flut und Fels, durcheinander zu bewegen scheint — es ist wie ein Vorhof der Hölle, worin, statt der Feuerflammcn, tanzende Wassersäulen gaukeln und rauschen. Die Chaudiöre, oder der Kessel, in welchem sich das Wasser zu den unbekannten Eingeweiden der Erde verliert, liegt noch 30 Schuh unterhalb der tiefsten Mühle. Aber das ist nicht das einzige Werk dieser Art im Lande. Fast 345 ein Aehnliches sieht man auch in der schönsten Gegend des Va Travers, und zwar bei Couvet, dem Stapelplatz und Hauptsis des Spitzenhandels und der Spitzenfsbrikation, einem Dorfe, wel ches mit seinen ansehnlichen Gebäuden eher einer Stadt gleicht Da hängt zwischen senkrechten Felsen, in dunkler Kluft, durch die ein mächtiger Bach fällt, über dem schauerlichen Abgrund, eine Mahl- und Sägemühle, Is moulin cio 1a koeko geheißen. Unter ihren Bewegungen und Schlägen erdröhnen alle Felsen. Ohnweit Lachauxdefonds verliert sich der Bach des Thales ebenfalls in Felsengrotten. Aber die Natur hatte da vergessen, sie für Anlegung von Räderwerken geräumig und bequem genug zu machen. Menschliche Kunst half nach. Ein Raum' von mehr denn 12,000 Kubikfuß ward in die Kalkfelsen eingesprengt und ausgemeißelt, ungerechnet den, wo doppelte Räderwerke, Kufen, Mehl- kasten ihren Platz haben. Vor dem Eingang der Höhle, und eins mit ihr, steht ein stattliches Gebäu aufgeführt. Das Wasser des Bachs, in einem eignen Teich gesammelt, wird, soviel als nöthig, zu den Rädern der Mühle geleitet, eh' es die Spalten des Gebirgs. aufnehmen. Westwärts im höchsten der Bergthäler von la Brevine liegt der kleine See von Etalicres, bei 3000 Fuß über dem Meere. Auf der Mittagsseite seines Ufers ergießen sich seine Gewässer in zerklüftete Felsen, und treten, wie man vermuthet, oder erforscht haben will, in ziemlicher Entfernung von da, wieder bei dem Dorfe ' St. Sulpice im Val Travers, als Quelle der Reuse, wie ein gewaltiger Strom, hervor, welcher sogleich dem Gewerbsfleiß dienstbar gemacht wird. Aber auch jener Abfluß des Etalieresees in einsamer Gegend ist mit ungemeiner Sinnigkeit benutzt, sehenswürdige Mühlwerke über dem Absturz des Wassers zu baun. Es sind fünf derselben beisammen in den Bergschlund hineingestellt, der durch starke Gemäuer von Quadern in eben so viele Kammern abgetheilt ist. Zu jeder derselben wird das Wasser in gewölbten Kanälen geführt, mit Schleusen versehn. Wenn die Frühlingssonne den Schnee schmilzt, oder anhaltende Regengüsse das Thal überschwemmen, werden jene Kammern oft mit weit mehr Wasser angefüllt, als die Felsenrachen der Tiefe verschlucken mögen. Aber so wohlgeordnet, so stark ist der kühne Bau, daß er nichts fürchtet und nichts leidet. Das ganze hiesige Gebirg ist voll ähnlicher Dnrchklüftungen, Schluchten und Höhlen. Seitwärts Lcs Verrieres, hart an der französischen Grenze, erhebt sich das Gebirg zur Cüte anr F6es. Die Felsen sind hier überall voll weiter Grotten. Die größte der- 346 selben erstreckt sich durch den ganzen Berg, und wird von Säulen aus Tropfstein in drei Hallen getheilt, deren bedeutendste einige hundert Schuh entlang zu einer Oeffnung führt, die über einem Abgrund von -4 — ZOO Fuß weithin das Thalgelände überschauen läßt. DieHöhle heißt Temple aur Foes. Wunderbar genug wäre sie für ein Feenwerk. Aber man thut wohl, den geifterartigen Zauberwesen nicht zu trauen, die darin nisten mögen. Man besucht ihren Tempel auch nur selten, in welchem der Neugierige durch herabstürzendes Gestein und auf schlüpfrigen Pfaden Gefahr läuft, von ihren Tücken zu leiden. —- In vieler Hinsicht würde der Name eines "Fcen-Tempels" wohl jener majestätischen Höhle mehr anflehn, welche neben dem Quell der Orbe, ohnfern den neuenbur- gischen Gränzen, beim waadtländischen Thaldorf Valorbe, am Ausgang des Jouxthals, zu sehn ist. Aber die Leute der Umgegend nennen sie nur schlechthin Feenhöhle, Cava di Faie. Und doch ist schon der Zugang so romantisch-wild, wenn gleich beschwerlich, wie nicht leicht zu irgend einem andern Feenneste der Schweiz. . Hat man die letzte der menschlichen Wohnungen im Thal hinter sich gelassen, so verrammelt zuletzt ein riesiger, halbrunder Berg den Weg durchs Dickigt, wie ein altgothischer Thurm. Eine schwarze Krone von Tannen sticht sich um sein Haupt. Sein Fuß ruht über der gewaltigen Quelle der Orbe, die sogleich als Waldstrom hervorbricht, um Eisenwerke und Hammerschmieden zu treiben. Vermuthlich sind sie der Abfluß des Brenetsees im Jourthal, der etwa 700 Schuh darüber im Gebirg liegt, und sich in den Spalten eines Felsentrichters verliert, nachdem er über dem Schlunde noch die Sägemühlen von Bonport getrieben hat. Die 500 Schuh weite Felskammer der Cava di Faie ist ein furchtbares Trümmcrwerk von stehenden und umgestürzten Säulen. Eine Felsenstiege führt zu einer Galleric oder Emporkirche hinauf, von wo man das Chaos übersieht, und zugleich in der Höhe die kegelförmige Auswölbung eines mehrere hundert Schuh hohen Doms. An den Wänden zeigen sich seltsame Charaktere, wie Schriftzelchen. Es wär' ein Wunder, wenn der ländliche Aberglaube des Alterthums nicht diese Seltsamkeiten alle zu einer mährchenhasten Sage gebildet hätte. Ja, ein Pallast, ein Tempel der Feen war dieß unterirdische, riesenhafte Bauwerk. Von da aus besuchten die kleinen, niedlichen Berggöt- tinncn ihre Nachbarschaften, und brachten sie den Hütten der Sterblichen Rath und Trost, oft köstliche Geschenke. Aber ein junger, verwegner Hirt schlich ihnen einst nach; man meiß nicht, ob aus Neugicr, oder von einem Liebcsrausch verführt. Da fand er die 347 rarten, üben,bischen Jungfraun alle schlafend. Der unbescheidnc schlich mit der Fackel von einer zur andern suchend. Sein durch die Hallen tönender Fußtritt weckte aber die Schlummernden. Schaam- voll und zornig sprangen sie auf. Ein Wink; Alles war Finsterniß; der Tempel stürzte zusammen und die Feen entflohn, indem sie den jungen Waghals mit sich nahmen. Man hat ihn nie wieder gesehn; aber auch die zarten Oreaden verschwanden seitdem aus der ganzen Gegend. Vielleicht die mächtigste aller Berghöhlen des Kantons Neuenburg mag die im Val Travers seyn; sie soll sich breit und hochgewölbt in einer Länge von 2 — 3060 Fuß durch den Berg strecken. Andere behaupten, wohl eine Stunde Wegs. Wer hat aber ihr Ende erblickt? Mondmilch und wundersam gestaltete Stalaktiten übrrkleiden ihr Inneres. Die Landschaft, beim Eingang, ist eine der reizendsten des Thals. In der Nähe ragen graue Thurmtrüm- mer einer Burg vom Hügel auf. Die Ruine ist unbekannter Abkunft. Dann stürzt neben der Höhle ein hoher Wasserfall, der „Sourdebach", aus dem Felsen hervor. Gegenüber liegt in der Ebne, von Fruchtfeldern umgrünt, die älteste Pfarrei des Thals, von Landleuten, Fabrikanten und Künstlern bewohnt, Mvtiers- Travers. Auch ist sie berühmt worden durch Jean Jacques Nous- seau's Aufenthalt, als er, vor dem Zorn des Genfer Senats, von Jfferten hinweg, hieherstoh, wo er seine ,'Briefe vom Berge« schrieb. Der Philosoph, welcher das sonderbare Schicksal hatte, mit gleicher Wuth von Schauspielern, Opernsängerinnen, Bischöfen, Schriftstellern, republikanischen und monarchischen Obrigkeiten, protestantischen und katholischen Geistlichen, Tonsetzern und Schulmeistern verfolgt zu werden, verlebte im Dorfe Moticrs einige glückliche Jahre. Theils die reine, gesunde Luft und die Anmuth der Umgebungen, theils die Nähe einer eisen- und schwefelhaltigen Heilquelle, locken noch heut in den Svmmermvnden Fremde her. Der gute Rousseau hatte, bei seiner Reizbarkeit, den kleinen Fehler, er konnte nicht schweigen, wenn man ihn, seiner Ueberzeugungen willen, mit einer Flut von Schmähschriften, Karrika- turen, geistlichen Bannstüchcn, Epigrammen, Hirtenbriefen, obrigkeitlichen Landesverweisungen und Spottliedern überschüttete. Seine Briefe vom Berge versetzten aber den rechtgläubigen Kalvinismus d:r Genfer Pfarrer und, durch diesen, Rath und Bürgerschaft d:r Stadt in die zornigste Bewegung gegen ihn. Er glaubte sich freilich unter dem Schutz des preußischen Gouverneurs, des Marschalls Keith, wohlgeborgen; und um so mehr, da selbst dessen 2Z» 348 großer König für ihn sprach. Allein damals, wie noch heut, konnten weder Marschälle noch Könige gegen rachsüchtige Wespenstiche des Fanatismus schützen. Die frommen Pfarrer zu Genf mahnten die fromme Geistlichkeit des neuenburgischen Landes zu kollegialischer Hülfe gegen den Ketzer auf. Nun träufelten von den Kanzeln Neuenburgs fortan nicht die liebreichsten Anspielungen auf den Freigeist von Genf, den gefährlichen Jrrlehrer, Volksverführer und Antichrist. Das gläubige Landvolk des Val Travers fing an für das Heil seiner armen Seelen zu zittern, und betrachtete den verketzerten Mann, wie einen wahren Wehrwolf. Man begriff, er müsse Heide oder Türke, oder noch Aergeres seyn; denn das zeigte die orientalische Tracht, in welcher ihm hier zu wandeln gefiel. Man ließ es nicht an den schlimmsten Ehrentiteln für ihn fehlen, die man beim kirchlichen Gottesdienst mit aller Andacht gelernt hatte, und ihm nachrief. Bald erfand man noch kräftigere mit Drohungen begleitet. Zuletzt, nach einem lustigen Markttag des Dorfes, begrüßte man Nachts sein Haus mit einem Steinhagel. Das Geklirr der zerbrvchnen Fensterscheiben weckte ihn und Alles, was im Hause war, aus dem Schlaf, unter andern auch die Magd eines alten Mannes. Diese rief den Kastellan; der Kastellan im Schlafrock die Dorfwacht. Die Nachtbuben verschwanden. Rousseau war gerettet; doch einen zweiten Besuch so stürmischer Art mochte er nicht abwarten. Er verließ das Thal. Aber welche Verwandlungen des Volksgeistes haben seit sieben- zig Jahren zu Motiers Alles geändert! — Man besitzt, man liest dort nun die Schriften des verfolgten Weltweisen. Kein geistlicher Zelot wagt sie mehr mit dem Bannfluch zu belegen. Man zeigt das Haus, welches er bewohnt hatte. Man bewahrt die von ihm bewohnt gewesenen Zimmer, wie ein Heiligthum, und tausend Namen derer, die das Heiligthum besuchten, bedecken die Wände. Man erstaunt nicht mehr über die Hochachtung, welche der Fürst von Neuenburg, König Friedrich H., einem Manne bewies, der des Königs Geschenke ausschlug, und von welchem der Monarch sagte: „Wenn jemals dieser Mann eines Königes bedarf, wünsch' ich, daß er mir den Vorzug gebe./-*) Wenn man das vorige Jahrhundert mit dem gegenwärtigen vergleicht; an die Zeiten jenes großen Friedrich und seiner gekrönten Zeitgenossen denkt, eines Joseph H., einer Katharina von Rußland, eines die Aristokratie Schwedens brechenden Gustav III. *) 8i junnus cet komme n besoiu s'un roi. je souluüte, gu'il ms sonne In prelersoco. 349 und andrer mehr; und dann wieder auf unser bewegtes Zeitalter, auf den wiederkehrenden Ultramontanismus und Mysticismus, auf die Wiedererbauung von Klöstern und Wiedererhebung der Jesuiten steht, mögte man beinah auf den unbescheidnen Argwohn gerathen, als wären jene Regenten damals viel zu hochgebildet für ihre Völker gewesen, und heutiges Tages viele Völker zu ausgebildet für ihre Regierungen geworden. » 5 » XX Kanton Solothum. 1. Die öladt öolothur». der Aarstrom, in seinem siebenzig Stunden langen Lauf fast immer wild und verheerend, schmiegt sich fromm und ruhig an die Mauern Solothurns, sobald er diese berührt. Der Calem- burg des Franzosen: ,,6'est I'art (l'^are) -/" DW 379 Hertenfteine in Luzern, die Erlache, Wattenwyle, Grafenriede, Bonstetten in Bern, und andre mehr.. Sei es Achtung für die ehrwürdige Ruine, oder für die Fremd« linge, welche alljährlich, sie zu sehn, hieher wallfahren, die Regierung des Kantons ließ die nächste Umgebung säubern und mit Schattenbäumen bepflanzen. Die Aussicht von der mäßigen Anhöhe dehnt sich großartig , bis zum schimmernden Silberbogen der Hochalpen. Im nächsten Vorgrund, zu Füßen des Hügels, liegen die Bäder von Schinz nach; eine halbe Stunde davon an der Aar, in fröhlicher Landschaft, die Gebäude des StädtleinsB r ug g. Dies war der Geburtsort des Ritters, Arztes, und weiland viel gefeierten Schriftstellers Zimmermann, dessen Schriften über Einsamkeit und Nationalstolz in fast alle europäische Sprachen übersetzt worden sind. — Dort bildet in der Nähe der Zusammenfluß der Aar und Reuß eine jener Landzungen, die, an zwei Seiten von Strömen umschlossen , den Römern zu Anlegung fester Plätze am geeignetsten schienen. Sobald von ihnen die offne Seite, der Zungenspitze gegenüber, mit Wallmauern und Graben verrammelt stand, bot das von diesen und den reissenden Gewässern umklammerte Dreieck dem stärksten Belagerer-Heer Trotz.Wirklich legten daselbst die Römer die gewaltigste Festung an , welche sie in Helvetien besaßen. Wall und Graben spannten sich, von Altenburgund der Aar, bis znm Reußufer bei Windisch, über das Land. Dahinter lag die reiche und mächtige Vindonissa wohl geborgen. Mehrere Cäsaren, zumahl Vespasian, schmückten sie mit Pracht. Tempel, Landhäuser, Grabmale, Triumphbogen und andre Bauwerke dehnten sich rings um die Stadt aus bis zum Wülpelsberg und bis Gebisborf, jenseits der Reuß. Eine unterirdische Leitung führte das reinste Trinkwasser vom Brauneggberg , eine Stunde weit, herbei. Auf dem Felsen bei B a- den, und bei Coblenz, am Zusammenfluß der Aar und des Rheins, sah man, als Vorhuten, Kastelle und Standlager. Doch, nach Untergang römischer Tugend und Mannhaftigkeit, schirmten weder Ströme noch Mauern und Thürme die prachtreiche Hauptstadt. Abwechselnd fiel stein die verwüsterische Gewalt wandernder Barbarenstämme des Nordens, der Wandalen und Allemannen und Hunnen. Die Ueberbleibsel alten Glanzes und Reichthums 'wurden zuletzt, (am Ende des sechsten Jahrhunderts) von den Franken geplündert und zerstört; der in Vindonissa errichtete Bischofsstuhl nach Constanz versetzt. — Wenn heut der Pflug des Landmanns die Erde aufreißt, findet er von Zeit zu Zeit noch Gold- und Silber - und Kupfermünzen jener Tage; Inschriften, Götterbilder, 380 Grabsteine, Grundgemäuer von Bädern, Gefängnissen, Amphitheatern und Thürmen. Eine kleine Stadt und vier Dörfer nehmen heut den Raum ein, welchen sonst Vindoniffa's Paläste und Villen allein bedeckten. Nichts ist geblieben, als jener Schutt, der Name des Dörfleins Windisch und die unterirdische Wasserleitung. Eine Stelle zwischen der Stadt Brugg und diesem Windisch ward später Schauplatz eines berühmten Ereignisses trauriger Art. Da war es, wo am ersten Maitag des Jahrs 1308Kaiser Albrecht l. zu Pferde seiner Gemahlin entgegen gieng, aber meuchelmörderisch vom eignen Vetter, Herzog Johann von Schwaben, und fünf Rittern überfallen und niedergestoßen ward. Wer kennt nicht die That Johannes von Schwaben? Nicht die Blutrache der herzlosen Königin Agnes? Des Kaisers Leichnam, nach Speier gebracht und mit großem Gepränge in der Domkirche der Reichsstadt beigesetzt, fand auch dort noch keine Ruhe. Oeun in der Verwüstung der Pfalz, unter Ludwig XIV. als seine Barbarenhorden die alte Stadt im Jahr 1689 zerstörten, die silbernen Särge der Kaiser und Fürsten sprengren, flog auch Albrechts Asche in alle Winde, und sein, von des Ritters Walter von Eschenbach Schwerthieb, gespalteter Schädel zeigte noch die alte Todeswunde. Auf jenem Wiesengrunde, wo er sie empfangen, wo er sein Leben im Schoos einer greisen Bettlerin ausgeblutet hatte, baute bekanntlich Agnes, die Königin, aus dem Gute der Tausend Unglücklichen, die ihrer entsetzlichen Rache Opfer geworden waren, das Doppelkloster (für Minoritenmönche und Klarisserinncn ,) genannt Königs fel d en. Sie selbst im Non- nenschleier hatte da, zwischen beiden Klöstern, über fünfzig Jahre lang eine Wohnung. Diese mußte, nach ihrem Tode, so war es von ihr selber urkundlich (im Jahr 1361) geboten, niedergerissen werden. Hätte sie der Welt kein andres Andenken, als dieses hinterlassen, ihr Name würde kein Grausen erregen. Noch steht Königsfelden, das Monument ihrer Mordwerke, inner seinen Ringmauern; aber seit den Tagen der großen Kirchenreformen nicht mehr als Kloster, sondern als Heilanstalt des Kantons für Wahnsinnige und unheilbare Kranke. Südwärts vom Schloße Habsburg und von Königsfelden breitet sich eine weite Ebene aus, genannt dasB ir rfe ld, bis zu einem andern auf der Berghöhe gelegenen Schlosse, Namens Braun egg, wo einst die Söhne desjenigen Geßler wohnten, der vom Pfeil des Teilen gefallen war. Ob, auf diesem Birr- felde, der Römer Aulus Cäcinna dieHelvetier geschlagen habe, 381 mag uns sehr gleichgültig sein. Aber auf demselben Felde steht das Wohnhaus des unsterblichen Pestalozzi, sein Neuenhof, und daneben das große, massive Gebäude, welches er, mit ihm kaum erschwinglichem Kostenaufwand, baute, eine Erziehungsstätte der ärmsten Kinder aus dem Volk darin zu gründen. Der lebens« müde, zwei und achtzigjährige Greis konnte sein Werk nicht vollenden, welches seiner Jugend Lieblingstraum gewesen war. Nicht weit von da, aus dem Begräbnißplatz des Dörfleins Birr, ruht seine Asche. Der Lebensausgang dieses außerordentlichen Mannes war für sein Gemüth höchst trauervoll. Alle Pläne sah er zerrissen; keine seiner Hoffnungen zur Erfüllung aufgegrünt. Er meinte vergebens gelebt zu haben. Nichts bezeichnet ihn und seinen tiefen Schmerz so klar, als jene rührende Stelle, in der er von sich selber schrieb: „Tausende gehn, als Werk der Natur im Verderben des Sinnengenusses dahin, und wollen nichts mehr. Zehntausende erliegen unter der Last der Gesellschaft, ihres Hammers, ihrer Nadel, ihrer Elle, ihrer Krone; sie wollen nichts mehr. — Ich kenne einen Menschen, der wollte mehr. In ihm lag die Wonne der Unschuld, und ein Glaube an die Menschen, den wenige Sterbliche kennen. Sein Herz war zur Liebe geschaffen; Liebe war seine Natur; Treue seine innigste Neigung. Aber — er war kein Werk der Welt. Er paßte in keine Ecke. Und die Welt, die ihn also fand, die nicht fragte: »ob durch seine Schuld oder die Schuld eines Andern?« zerschlug ihn mit einem eisernen Hammer, wie die Maurer einen unbrauchbaren Stein zum Lückeufüllen. Noch zerschlagen glaubte er an das Menschengeschlecht, mehr, als an sich selber; setzte sich einen Zweck vor und lernte unter blutigen Leiden für diesen Zweck, was wenige Menschen können. Er erwartete itzt Gerechtigkeit von dem Geschlecht, das er noch immer harmlos liebte, und erhielt sie nicht. Das war das Sandkorn auf der stehenden Wage seines Elends. — Er ist nicht mehr. Du kennst ihn nicht mehr. Was von ihm übrig ist, sind zerrüttete Spuren seines zertretnen Daseins.» Von Vindonissa's Trümmern bis zum Grabhügel Pastalozzi'S auf dem ländlichen Kirchhof von Birr, ist nur eine Wegstunde. Und in diesem engen Raum stehn, wie nirgends wo anders im Schweizerlande, fast alle Zeitalter desselben in hinterlassenen Denkmalen beisammen; Rom's Glanz und Macht in Helvetien, 382 wie der älteste Sitz eines christlichen Bischofs darin; beides von Schwärmen barbarischer Nationen Europa's und Asiens zerstampft; — des Habsburgischen Kaisergeschlechtes Stammhaus, zuerst durch die ritterlichen Tugenden Rudolfs I- glanzreich geworden. und nahe dabei die Mordstätte Albrechts, seines Sohnes, welcher die Freiheit harmloser Bergvölker vernichten wollte, und damit die Stiftung des Schweizerbundes veranlaßte; — dann die Gott geweihten Zellen einer blutdürstigen Fürstin des Mittelalters, jetzo in ein Irrenhaus und Asyl derer verwandelt, welchen die Kunst der Aerzte kaum noch Hülse bringen kann;— der Geßler Sitz auf der hohen Braunegg, im Angesicht des Gebirgs, wo ein Jüngling von Uri den Tod ihres Vaters zum Losungszeichen der Freiheit gemacht hatte; — und eben diese adliche Burg itzt der Lustsitz eines freien Bürgers. Dieser Bühne zahlreicher und großer Erinnerungen fehlen auch sogar nicht Gedächtnißstellen aus den Zeiten der Kirchenre- form und der Glaubenskriege, des Völkerrechtsmordes von Frankreich, zu Ende vorigen Jahrhunderts an der Schweiz begangen, und der Entwickelung demokratischer Freiheit in den neuen Staats» reformen der Kantone. Sie alle liegen in der Nähe von Braunegg selbst. Man erblickt da die nahen Höhen des Dorfes Hä g g lingen. Hier war es, wo (im Jahr 1531) die entzweiten Eidsgenoffen den ersten Religionskrieg, in welchem Zwingli bei Kappel gefallen war, durch Friedensschluß endeten; hier, wo die französischen Schlachthaufen (am 26. April 1798) den ersten Widerstand besiegten, den ihnen, als sie gegen das Herz der Schweiz vordrangen, Landleute von Z u g und dem Frei«mt vereinzelt entgegen geworfen hatten. Am Fuße derselben Höhen erblickt man hinwieder vor dem Städtlein Mellingen, die grünen Wiesen von Wohlen sch w y l, in welchen, zur Zeit des Bauernkrieges, (im J^br 1653) der Kampf des Landvolks gegen die Aristokratie der Städte, vergebens und blutig gekämpft worden war. Und, merkwürdig genug, auf eben diesen Wiesen des Schlachtfeldes ward die erste große Volksversammlung von 4000 Männern des Aargau's (am 7. November 1830) gehalten, welche Verbesserung der Staatsgrundgesetze und deren Reinigung von aristokratischen Einschmuggelungen forderten und errangen; — jene Freiheit errangen, für welche die Landleute des siebenzehnten Jahrhunderts dort vergebens ihr Blut vergossen hatten. Ein berühmteres Schlachtfeld, aus den brudermörderischen Glaubenskriegen der Eidsgenoffen, dehnt sich, nur eine Meile davon entlegen, in den Ebnen von Villmergen 383 aus. Zweimal floß hier, der getrennten Kirchen willen, daS Blut der Schweizer von Schweizern vergossen. Erst wurden die evangelischen Berner (24. Januar 1657) von den katholischen Kantonen, dann, ein halbes Jahrhundert später, (2H.Juli I7>2) diese von den Bernern geschlagen. Seit dem haben die Schweizer nicht mehr, ihres Glaubens willen, das Schwert gegen einander gezückt. Wenn aber die Völkerschaften, welche, am Fuß oder im Innern des Alpengebirgs, treu dem heiligen Stuhl zu Rom in frommer Unwissenheit wohnen, wenn sie nicht auch selbst noch in unsern Tagen das geweihte Banner zum neuen Religionskrieg erhoben haben, war das wahrlich weder Verdienst ihrer glau- benseifrigen Priester und Mönche, noch der Nuntiatur und des Papstes. Als im Januar des Jahrs 1834 sieben paritätische und rem katholische Staaten der Eidsgenossenschaft, zuBaden, in einer Cvnferenz, Bestimmungen über die Rechte des Staats in kirchlichen Dingen aufgestellt hatten, schrie der fanatischere Theil der Welt- und Klostergeistlichkeit über ketzerische Gewaltthätigkeit und Gefahr der heiligen Religion. Wiewohl die Regierungen jener Staaten nur Rechte sicher stellten, welche die Schweiz von jeher, vor und nach der tridentinischen Kirchenversammlung, ununterbrochen, gehabt und geübt hatten, und von anderen Regenten des katholischen Europa's geübt worden, schrie man dennoch das Anathema. Der Papst verdammte die Artikel von Baden; die Nuntiatur verlegte ihren Sitz von Luzern in den altgläubigen Flecken Schwyz; die Klöster spendeten Geldsummen, Volksbewegungen zu stiften; in Flugschriften, öffentlichen Blättern, in Beichtstühlen und von Kanzeln wurde die Regierung verdächtigt, gelästert; es wurden den Gläubigen Winke zum Aufruhr gegeben und katholische Volksvereine und meuterische Volksversammlungen organisirt. Als, nach aufgenommenem Vermögenszuftand der fünf Klöster im Freiamt und bei Baden, deren üble Haushaltung ans Licht gekommen war; als die Regierung des Aargaus, das Klostergut daher unter Aufsicht und Verwaltung des Staates setzte, um größere Vergeudungen zu hindern, und als eben diese Regierung den katholischen Geistlichen, gleich den evangelischen, einen Eid des Gehorsams gegen Gesetz und Verfassung abforderte: drohte, von Mönchen und Priestern aufgewiegelt, ein Theil der Gemeinden im Freienamt, zumahl in der Klosternachbarschaft von Muri und Wettingen, sogar Ausbruch bewaffneten Aufstandes (1835). Aber plötzliche Erscheinung einiger 384 aargam'schen Bataillone und Truppenbewegungen Zürichs, selbst des katholischen Luzerns, machten dem Lärmen schnelle Endschaft. Die Priester leisteten, nach Mißlingen ihres Versuchs, den Eid der Treue und die öffentliche Ordnung blieb sortan ungestört. Unter den Klöstern des Aargau's (man findet sie längs der Reuß, von einer Stunde Wegs zur andern, nachbarlich beisammen,) ist die weiland gefürstete Benedictiner-Abtei Muri, das älteste und reichste. Jdda, die Gemahlin des Grafen Ratbvt, welcher die Habsburg auf dem Wülpelsberg baute, hat dies Kloster gegründet. Frommsinn und Aberglauben mehrten im Lauf der Jahrhunderte die Einkünfte des Gotteshauses in solchem Maaße, daß die Jünger des heiligen Benedikt, der andachtsvoll in einer Höhle der Wüste Sübliaco gewohnt hatte, itzt in einem Palaste leben, und den Vermögensgenuß von drei Millionen Franken haben, obschon sie durch die Jncamerationen ihrer Güter, und ritterschaftlichen und österreichischen Lehen in Schwaben, bei anderthalb Millionen eingebüßt hatten. Armuth und Dürftigkeit, neben großer Bildungslosig« keit, herrscht hingegen unter dem Landvolk der nächsten Umgegend. Es ist im ganzen Kantone gegen Verbesserungen des öffentlichen Unterrichts am gleichgültigsten, oder widerspenstigsten. Vormals pflegte man im Kloster nur eine Person aus jeder Gemeinde vorzugsweise zu unterrichten, die Haushalt und Rechnungswesen der Dörfer, wie der Familien darin, unter Leitung des väterlichen Gotteshauses, führen mußte. 3. Lchlnznach, Sad. An der Abendseite des Wülpelsberges und seiner Ruine, liege«, neben den umbüschten Niederungen des Aarstroms, durch deren Gehölze labyrinthische Schatten - und Lustgänge streichen, die Bäder von Schinz nach. Sie. so wie die drei Stunden davon entlegenen Heilquellen zuB a d en sind noch immer die besuchtesten und berühmtesten in der an Gesundbrunnen und Heilbädern überreichen Schweiz. Lange Zeit stand in Schinznach nur ein einfaches, aber weitläufiges Gebäude zur Aufnahme der Gäste. Jetzt schließt sich ihm geschmackvoll in einem großen Halbzirkel ein neues an, mit dreißig zierlichen Zimmern, sechzig Badkabineten, Tropf- und Dampf- j^M- W«L- ML »ZML'A, 385 und Gasbädern; Alles mit gewärmter Luft heizbar, Zimmer, wie Bäder. Mächtige Maschinen - und Pumpwerke treiben die Wasser der tief und aarwärts gelegnen, reichen Quelle zu den Gebäuden, in denen sie, vertheilt, aus ihren Leitungen, kühl oder gewärmt, hervorsprudeln. Weit ältern Namens und Rufes sind allerdings die heißen Quellen von Baden. Schon dem alten Helvetien bekannt, wurden sie von dessen Eroberern mit den Ueppigkeiten Roms geschmückt. Tacitus gedenkt der Anmuth und des Besuchs der helvetischen Thermen. In den Tagen der allgemeinen Kirchenversammlung von Con- stanz war hier der Sitz der Wollust und Freuden, wo selbst viele der Prälaten und Herrn nicht verschmähten, sich von den heiligen Mühen zu erholen, mit denen sie Päpste und Fürsten entthront, und Huß und Hieronymus zur Ebre Gottes lebendig verbrannt hatten. Wenn man aber das enge Städtchen, mit schmucklosen Gebäuden und russigten Mauern, in seinem tiefen Bergkessel an der Limmat erblickt, und nirgends Spuren großen Reichthums oder hohen Wohlstandes wahrnimmt, so kann man sich kaum des Erstaunens und der sehr natürlichen Frage erwehren: wohin jene unermeßlichen Geldsummen gekommen seyn mögen, die seit fast zwei Jahrtausenden alljährlich von Nähen und Fernen hier zusammenströmten und zurückgelassen worden sind. Noch vor wenigen Jahren war selbst der Weg von dem Städtchen nach den Bädern nicht ohne Lebensgefahr im Wagen zu machen, und die Mehrheit der Kurgebäude von außen unansehnlich, verwittert; von innen unbequem, zuweilen armselig. Es gibt keine Antwort auf die Frage, als, deS Sommers goldne und silberne Erndten, wurden im Winter von den Schnittern in ergötzlicher Muße verschmaußt. Mehrere der Gasthäuser mit ihren Bädern giengen , als Fideicommiffe einzelner Familien , von Hand zu Hand. Der jeweilige Nutznießer freute sich des Gewinns, aber hütete sich wohl, davon an Verschönerungen zu verwenden, die nicht immer seinen unmittelbaren Erben zu statten kamen. Wer von den Bürgern verarmte, konnte sich der Steuern aus dem reichen Spitalgut von einer halben Million Gulden getrösten. Sogar die reichhaltigste der Quellen, die in jeder Stunde mehr denn 6000 Maas heißen Heilwassers, ohn- weit dem Ufer, unter den Wellen des Limmatstroms, aufstößt, verkündete vergebens ihr Daseyn seit Jahrhunderten durch ewige Dampfwolken, welche über sie im Flusse schwebten. Erst seit dem Jahre 1830 ward diese Quelle, auf Anordnung der aargau'schen Regierung, gefaßt und dem öffentlichen Nutzen übergeben; und 386 zu den Bädern auch eine schöne Kunststraße geführt. Neue palastartige Gast - und Badehäuser wuchsen nun am Stromufer auf, und weckten die Eifersucht der ältern sich nebenbuhlerisch zu verschönern. Es wurden neue Lustgänge und gartenähnliche Anlagen in der romantischen Umgebung gepflanzt, und Bequemlichkeiten, oder Gelegenheiten zu geselligen Freuden für die tausend Gäste erweitert. Die Zahl der letzter« nimmt mit den Behaglichkeiten zu, die ihnen geschaffen worden sind; und weder hier, noch in Schinznach, genügt ihrer anschwellenden Menge kaum der, zur Aufnahme beinahe verdoppelte Raum. Schinznach aber ist, für die neuere Schweiz, in einer andern Hinsicht, klassisch geworden. Hier ist der Stammort jener h elv etisch en G ese lischa st, zu der sich immer noch, einIah- ums andre, achtbare Männer aus allen Kantonen ihres eidsgcr nössischen Vaterlandes versammeln, neue Freundschaften schließen, oder alte verjüngen; sich zu wohlthuender Wirksamkeit ermuntern, und ihren, durch kleinliche Kantonalpolitik, Oertlichkeitsinteressen, Abstammungen, Sprachen, Sitten, Schicksalen und Kirchen getrennten Völkerschaften der Schweiz eine Art geistige Einheit zu bereiten. Ich will wohl glauben, daß, dies zu bezielen, nicht gleich Anfangs klar im Bewußtseyn der Männer lag, welche sich seit dem Jahr 1761 in Schinznach regelmäßig zusammenfanden, undihre aufgeklärtesten Freunde mit sich brachten; aber es ergab sich Alles sehr bald von selber. Schinznach wurde ein neues Grütli für die Schweiz; und in Männern, wie die Jselin von Basel, Z ellw eg e r von Appenzell, UrsBalthasar vonLuzern, Hirzel von Zürich, u. a. m. erschienen die neuen Teile. Diese waren jedoch nichts weniger, als Verschwörer oder Staatsumwälzer. Sie wollten nur das Licht der Wissenschaft, das Gefühl der Vaterlandsliebe und Gerechtigkeit allgemeiner machen. Aber schon das war damals hinreichend, Argwohn und Unwillen in den spießbürgerlichen Majestäten der kleinen Stadtaristokratien zu entzünden. Man ließ gelegentlich den Ehrenmännern Ungnade fühlen. Man setzte sie zurück, neckte sie, warnte Andre unter der Hand, an der »superklugen» Gesellschaft Theil zu nehmen, und hielt abhängige Personen zurück, die Versammlungen in Schinznach zu besuchen. So blieben nur die Unabhängigen und Selbstständigen beisammen. Ihr Kreis erweiterte sich mit der Zeit nach allen Richtungen. Im Verkehr mit den weisesten und verehrtesten Männern des Volks, bildete sich nacheifernd eine hellsinnigere Jugend aus, welche später, in Tagen großen Unglücks, für ihr Vaterland und dessen Rettung aus den Stürmen, sich ruhmwürdig auszeichnete. 387 Ausser der helvetischen, ist auch dieGesellschaft für vaterländische Cultur im Aargau jährlich einmal in Schinznach versammelt. Dieser Verein gebildeter Bürger, welcher seit beinah dreißig Jahren besteht, ist freilich in seiner Wirksamkeit fast nur auf den eignen Kanton beschränkt, aber darum nicht minder würdig, hier genannt zu werden. In einer Republik muß das Beste aus der Bürgertugend im Volke hervorgehn. Regierungen können nur Schirmhalterinnen der öffentlichen Ordnungen und Formen, einfache Vollstreckerinnen des Gesetzes seyn. Jener Verein regte im Aargau vielerlei Löbliches an und veranlaßte, daß Manches ins Leben trat, was ohne ihn vielleicht nie, oder sobald nicht erschienen wäre, z. B. Schulen bei Fabriken, Arbeitschulen für Mädchen, Stiftung einiger Hülfsgesellschaften, Stiftung einer allgemeinen Ersparnißkaffe des Landes, einer naturforschenden Gesellschaft zu Aarau, u. s. w. Sein jüngstes Werk ist die Grundlegung zu einer Taubstummenanstalt, die wirklich schon im Beginnen dasteht, Die gcsammte Schweiz hat bis itzt nur fünf Institute zur Erziehung und Belehrung jener Unglücklichen gehabt, denen die Natur, mit dem Sinn des Gehörs, zugleich die Gabe der Rede versagte, durch welche allein Geister mit Geistern auf Erden ihre höhere Gemeinschaft vermitteln und die Erkenntniß des Göttlichen in sich erschließen können. Dergleichen Institute sind zu Genf, Jferten im Kanton Waadt, Frienisberg im Kanton B e r n , Menznau im Kanton Luzern und zu Zürich. Unstreitig gebührt, vor allen andern, dem letzter«, unter Leitung des verdienstvollen Heinrich von Orell, (Oberrichters in Zürich) der Vorzug. Alle sind milde Stiftungen von Privatleuten und Privatgesellschaften der Kantone, von den Regierungen unterstützt. Im Aaraau ist die Errichtung solcher Unterrichtsanstalt hohes Bedürfniß. Hier mehr, als in irgend einem der benachbarten Kantone, ist dieMenge der Taubstummen groß. Nach einem, von jener vaterländischen Gesellschaft bekannt gemachten, sehr genauen Verzeichniß, zählte man im Jahr 1835 bei einer Volkszahl von 170—180,000 Seelen, 960 solcher Unglückseligen, zur Hälfte männlichen , zur Hälfte weiblichen Geschlechts. Wie groß ihre Anzahl in allen übrigen Gegenden der Schweiz, besonders in den Kantonen Bern, Bünden, Wallis u. s. w. seyn möge, ist unbekannt. Man hat sich noch nicht, wie im Aargau und Zürichgau, Mühe gegeben, Nachforschung zu halten. Die Tabellen der Gesellschaft für vaterländische Kultur lieferten durch ihre Ergebnisse Stoff zu 388 interessanten Beobachtungen, die wohl auch andern Ländern bedeutsam werden könnten. Ich will einige derselben mittheilen. Unter den 960 Taubstummen im Lande waren nur 520 gei- steskräftig genug, um einer gewissen Bildung empfänglich zu sein, und unter denselben nur 254 schulfähige Kinder von sechs bis zwanzig Jahren. Hingegen 440 Individuen zeigten sich vollkommen schwachsinnig, und unter diesen 159 wirkliche Cretinen. Auffallender noch ist das Verhältniß der Anzahl der Taubstummen zu den verfchiednen Altern des Lebens. Man sollte fast glauben, die Desorganisation ihrer Körper entwickle sich erst, unter anhaltenden bösen Einflüssen von außen, mit den Jahren. So fand man im Jahr 1835 nur ein einziges dreijähriges Kind mit jenem Leiden behaftet; im vierjährigen Alter schon zwölf Kinder; im Alter von fünf Jahren deren schon fünfzehn; im Alter von zwölf Jahren dreiunddreißig ; vom fünfzehnten bis zum neunzehnten Altersjahr vierundsechzig; vom zwanzigsten bis zum vierundzwanzigsten achtundsiebenzig ; vom fünfundzwanzigsten bis zum vierunddreißigften aber hundert und drei; dann in einem Alter von fünfunddreißig Jahren und darüber nur noch achtundvierzig. Der Tod hält also zwischenein seine Erndten. Wenige dieser Personen erreichen ein hohes Alter. — Vielleicht aber deutet jene merkwürdige Stufenfolge auch auf Verminderung des Uebels seit den letzten Jahrzehenden durch verbesserte Nahrung, Lebensweise und Sittlichkeit. Weitaus die größere Zahl der Taubstummen, der Kröpflinge und Cretinen befindet sich in den tiefer gelegenen Gegenden des Landes, die besonders einen durch Ströme, Bäche und Bewässerung der Wiesen sehr feuchten Grund haben, und am rechten Aarufer, folglich an der, der Nord-und Nordwestseite zugewendeten Schattseite des langen Aarthales, gelegen sind. In den Gemeinden am linken Aarufer, auf felsigem trocknem Boden, längs Bergabhängen des Jura, welche gegenM ittag oder Südost gewandt sind, werden wenige oder keine Taubstumme gefunden. Aucb wollen Gerber bemerkt haben, daß Thierhäute, welche sie aus Gemeinden an der Schattseite empfangen, poröser und schwammiger sind, als die von Ortschaften an der Sonnenseite. Jenseits des Jura, mithin an dessen Nordwestseite, befindet sich im Bezirk Laufenburg fast die Hälfte aller jener Beklagenswürdigen in einem einzigen Dorfe beisammen; aber es liegt meiner Thaltiefe, an der Schattseite, feucht und unreinlich. Der große Wafferreichthum des Kantons, welcher von den 389 Alpen dahin zusammenströmt, und in Flüssen, Strömen, Bächen allseitig das Land durchfurcht, mag wichtige Mitursache des Uebels sein. Denn hieher ziehen sämmtliche Hauptströme der Schweiz, ausser Rhone, Tessin und Jnn; hieher mit all ihren zahllosen Nebenströmen und Bächen, die Aare, Limmat und Reuß, um sich in den Rhein auszumünden. Mehr, als wahrscheinlich ist, daß vor undenklicher Zeit das ganze, prächtige Aarthal, bis gegen Solvthurn hinauf, ungeheurer See gewesen ist, ehe die Wucht der Gewässer den alten Felsendamm brach, der hinter dem Städtchen Brugg ihnen den Durchweg verrammelt hatte. Noch sieht man deutlich in unsern Tagen die weit, hinter den üppigen Ufern der Aar, zurückstehenden alten Ufer, und wieder die wasserrechten Ebnen, welche sich mit Sand - und Grien- boden weit hinter den alten Ufern ausdehnen gegen die Berge, als nachgelassener Seeboden. 390 XXII. Kanton Zürich. 1. Die Stadt. Mit Zür'ich hätte ich allerdings die bunte Reihe der Schweizerkantone nicht schließen, sondern beginnen sollen. Die edle Stadt wäre es würdig gewesen, auch in diesen Blättern den ersten Rang einzunehmen, der ihr unter den Schweizerstädten durch höhere wissenschaftliche Bildung, durch Gewerb- und Kunstfleiß, durch mächtigen Einfluß auf den Gang der Eidsgenossenschaft, selbst eines Theils der europäischen Welt, mit Recht gebührt. Von ihr aus ging einst der erste Impuls zur kirchlichen, und im neunzehnten Jahrhundert zur politischen Reformation der Schweiz, und von alten Zeiten her bis auf die neuesten, stand sie geehrt, als der «Vorort" (Directorialkanton) des eidsgenössischen Staatenbundes; ein Ansehen, welches sie jetzt mit Bern und Luzern abwechselnd theilt. Wie gesagt, Zürich hätte in diesen Blättern billig den bunten Reigen der Bilder anführen sollen. Allein, wie in der Welt oft genug das größte Verdienst vom Spiel und Muthwillen des Zufalls überwogen wird, so geschah auch hier. Ich folgte nur den Schritten des zeichnenden Künstlers von Kanton zu Kanton, und wohin er ging, trat ich, als getreuer Cicerone, in seine Fußtapfen. Es ist fast überflüssig, die viel beschriebene malerische Hinlagerung der berühmten Stadt auf ihren Hügeln und zu deren Füßen, und durchströmt von der Limmat, zu schildern, wo dieser Fluß frisch gebadet aus den hellgrünen Wellen des vom Sänger des Messias gefeierten See's hervortritt. Im weiten Halbbogen umringen die breiten Massen der Gebäude, und die Tempel und reizenden Landhäuser mit ihren Gartenanlagen, des See's Nord- » « '->"> § - <' . ''K^- ' 3S1 spitze. Das Großmünster, im byzantinischen Styl, das Frauen- münster und die Predigerkirche im gothischen, und andere alter« thümliche Bauwerke, beben ihre Thürme hoch über ein Gewühl von beinahe anderthalb tausend Gebäuden durch die Lüste, dem Fremdling in der Ferne zu verkünden, er nahe der Stadt, deren Handelsverkehr schon den Kreuzfahrern zur Eroberung des heiligen Grabes Kriegs- und Lebensbedürfnisse zuführte, er nahe der Heimatb vieler Geisterfürften, wie LerGeßner's, derBodmer's, der Zwingli's, Orelli's, Lavater's ,Hottinger's, Füßli's, Hirzel's, Pestalozzi's und anderer Unsterblichen. Wenn der berühmte Benvenuto Cellini, der vor 200 Jahren hierher aus Italien gekommen war, Zürich schon zu seiner Zeit zierlich --wie einen Edelstein und der Bewunderung würdig" fand, weiß ich nicht, was er damals zu bewundern fand. Denn das innere Zürich, die „City," welche noch treulich die altreichs-- städtische Physiognomie bewahret hat, mit allen winklichten, dunkeln, unebenen, oft steilen Gassen, zum Theil so eng, daß ein achtbarer Mann, etwa von John Falstaffs Kaliber, sie noch heut nicht passiren darf, ohne Gefahr in der Klemme hängen zubleiben, während sich Liebende aus den gegenüber stehenden Fenstern küssen können,— sie ist wahrlich ziemlich unschön. Und die hohen russigten Häuser, mit ihren scharfen Giebeln, Erkern, Eckfenstern (den Lieblingen lauersamer Neugier) und anderm Zubehör Mittel» alterisch-bürgerlichen Baugeschmacks, helfen keineswegs zur Milderung der architektonischen Uebelstände. Was würde der siorentinische Künstler des 16. Jahrhunderts aber sagen, wenn er die gegenwärtige blühende Stadt erblickte? Seit der Schleifung der Festungswerke ringsum, die im Jahre 1833 begonnen worden, schwillt die Stadt weit nach allen Richtungen auseinander Eine fast zahllose Schaar junger Gebäude, viele derselben von edler Architektur, steigen von Jahr zu Jahr aus dem Boden hervor. Es reihen sich neue Straßen zusammen. Im fröhlichen Wetteifer mit der Hauptstadt rücken ihr die benachbarten Dörfer mit ihren zierlichen städtischen Wohnungen näher. Vielleicht, ehe das Jahrhundert verstreicht, gewähren die Ufer des halben Zürichsees, links und rechts, den Anblick einer einzigen ungeheuern Stadt, in deren Mitte die breite, prächtige Wasserfläche von Barken, Frachtschiffen und DaMpfbvten wimmeln wird. Bei dem steigenden Gewerbsfleiß und Wohlstand vermehrt sich im ganzen Kanton fortwährend, wie die Bevölkerung, so die Zahl der Wohnungen, jährlich im Durchschnitt 392 4 bis 500. Im I. 1809 zählte man nur 37,258 Gebäude, im I. 1828 schon 45,499; gegenwärtig ist die Menge um vieles vergrößert. Jener schneidende Gegensatz, welchen zum alterthümlichen und wunderlichen Stadt-Kern außerhalb desselben die neuen, geschmackvolleren Bauten und Anlagen von bunt durch einander gewürfelten Pallästen, Gartenhäusern, Gasthofen, Schulgebäuden und kaum entstandenen Straßen bilden, gibt dem heutigen Zürich eine besonders charakteristische Eigenthümlichkeit. Es wird zu einem plastischen Symbol der Schweiz, wie diese aus dem fünfzehnten Jahrhundert plötzlich, fast ohne sichtbare Uebergangspuncte, in's neunzehnte herauswächst. Das Hangen an traute Herkömmlichkeit ist den Schweizern überall eigen, wie in ihren Alpenthälern, so in ihren volkreichsten Städten, trotz dem jährlichen Zusammenfluß vieler tausend Fremdlinge aus den verschiedensten. Ländern und Welttheilen. Wohl hat der Verkehr mit ihnen, und der gefräßige Strom der Zeit, Manches des alten Löblichen und Unlöslichen hinweggewaschen. Ein wohlweiser Rath von Zürich hält es nicht mehr für gerathen, zu befehlen, daß z. B. bei einer Hochzeit nur "sechs hübsche Leute" (d. i. Musikanten) den Tänzern aufspielen dürfen, nämlich »zween Singer, zween Geiger und zween Toiber» (vermuthlich Pfeiffer oder Posaunisten). Doch hat sich immer noch viel wunderlicher Brauch der guten alten Tage in das verfeinerte Leben und Treiben der heutigen Welt hinübergeschlichen und eingerankt. Schreitet eine stattlich aufgeputzte Dienstmagd stolzes Schrittes mit einem ellenlangen Blumenstrauß durch die Gassen, den sie, wegen ungebührlicher Größe, weder in der Hand, noch an der Brust tragen kann, sondern, wie einen eingefäschten Säugling, im Arm halten muß, so wandert sie zu den Verwandten und Freunden ihrer Herrschaft, um ihnen die Erscheinung eines neugeborenen Familiengenoffen zu melden. Ist dieser ein Knäblein, wird gewöhnlich der Verkünden» die frohe Botschaft reichlicher belohnt, als wenn sie nur die Geburt „eines Kindes» anzeigte, das heißt nur eines Mägdeleins. Wankt hingegen ein altes Weib, über und über schwarz verhüllt, und den Kopf nonnenhaft in weißes Leinen gewickelt, von Haus zu Haus, von Straße zu Straße, so ist die gespensterartige Gestalt eine sogenannte »Kilchgangssagerin." Mit eintöniger hohler Grabesstimme krächzt sie Allen, die es vernehmen wollen, Namen und letzte Stunde eines eben Verstorbenen. Am Begräbnißtage selbst ist das ganze Erdgeschoß des Trauerhauses auf der Straße mit 3S3 schwarzem Tuch überhangen. Bekannte und Verwandte, welche den Sarg zur Gruft begleiten wollen, drängen sich herbei, und defiliren an den nächsten Angehörigen des Todten, die vor dem Hause in Reihe und Glied aufgestellt sind, vorüber, indem sie diesen, als Zeichen des Beileids, flüchtig die Hand geben. Auch in andern Schweizerstädten besteht noch diese eben so lästige, als grausame Ceremonie, mit leichten Abänderungen. Man kann sie wohl grausam nennen. Sie ist für Hinterlassene martervoller Zwang, ihren Schmerz um geliebte Eltern, Kinder, Gatten, Geschwister vor den Augen des gaffenden Publicums zur Schau zu stellen. Aber Eitelkeit, ein mebr oder weniger großes Leichengefolge auf den Straßen prangen zu lassen, behauptet ihr Recht dabei. Indessen scheint's, diese und ähnliche herbe Bräuche wollen allmählig immer mehr vor der verständigeren Sitte verschwinden. Längere Dauer kann man aber einem der Stadt Zürich eigenen Volksfest weissagen, welches hier unter dem Namen des „Sechse- läutens" bekannt ist. Jedesmal am Montag, welcher der Frühlingsnachtgleiche folgt, wird mit der großen Glocke des Münsters Abends sechs Uhr, und, von dem Tage an, eben so den ganzen Sommer, geläutet. Es ist der Glockengruß an die schönere Jahrszeit; es ist der Ruf zur Feier des Frühlings. Schon morgens schwärmen einzelne verkleidete Kinder durch die Straßen der Stadt; bald sind es größere Maskenhaufen. Bei fröhlichen Gastmalen in ihren Zunfthäusern versammelt, lassen die Bürger, hier ohne Unterschied des Ranges und Reichthums beisammen, in lustigen Trinksprüchen dem Witz und der muthwilligen Laune den Zügel fahren. Zuckerwerk, oder Hände voll kleiner Münzen, fliegen zum Fenster hinaus unter die jauchzende Jugend. In langen Processionen, oder auf großen Schiffen, statten sich die Zünfte gegenseitig Besuche ab, unter dem Jubel unzähliger Zuschauer an allen Fenstern, auf allen Plätzen , an den Ufern des Limmatstromes, oder in Nachen und Booten. Redner begrüßen sich, und trinken einander, im antiken Zunftpokal, Freundschaft und Glück zu. Ringsum Gesang, Kanonendonner, Musik, Jauchzen. Und wie beim Hereindämmern des Abends das Glockengeläute des großen Münsters ertönt, lodern auf benachbarten Hügeln der Stadt die Flammen mächtiger Scheiterhaufen. Schmaus, Trank und Sang in den Zunftsälen dauern unterdessen mit stürmischer Lust bis tief in die Nacht. Feste dieser Art, in welchen sich Gebildete und Ungebildete, Reiche und Arme, traulich zusammengesellen, tragen nicht wenig dazu bei, Art und Sitte des gemeinen Bürgers zu veredeln, den 394 AmtS- oder Geldstolz der Stadtnotabilitäten zu mildern. Negierende und Regierte einander näher zu führen und zu befreunden, und überhaupt bürgerliche Eintracht zu fördern. In Zürich vielleicht mehr, als in irgend einer andern Schweizerstadt, scheint es, mit den herkömmlichen Uebungen und Bräuchen, darauf abgesehn, die Einwohnerfamilien auf's engste und dauerhafteste zusammenzu- ziehn. Die gesammte bürgerliche Bevölkerung erscheint gleichsam wie eine Conföderation unter sich verketteter Familienvereine in Alters-, Spiel- und Zunftgenvssenschaften. Es ist herkömmliche Sitte, daß sich wöchentlich einmal die Mitglieder einer Verwandtschaft, bei einem oder dem andern der dazu Gehörenden, in traulicher Abendunterhaltung vereinigen. Fremde, oder entferntere Verwandte, sind in der Regel von diesen Gesellschaften ausgeschlossen. Man bespricht sich da freier über eigene und andere Angelegenheiten; und religiöse Ehrfurcht für Familienbande, die man nie ganz zerfallen lassen will, wird Gewohnheit und Bedürfniß. Eine ähnliche Verbindung hinwieder wird durch die sogenannten „Sonntagsgesellschaften" der Altersgenossen gebildet. Kinder verschiedener Häuser, doch immer nur Knaben mit Knaben, oder Mädchen mit Mädchen, pflegen sich an Sonntagen abwechselnd bald in dieser, bald in jener Familie zu versammeln. Da belustigen sie sich, bei einfacher Bewirthung, mit Spielen im Zimmer, oder auf Spaziergängen im Freien. Sie wachsen, so zu einander gewöhnt und innig bekannt, heran; ihre üblichen Zusammenkünfte und Verbindungen bleiben, von zarter Kindheit bis zum hohen Alter, wie sie sind. Verhältnisse, Stand, Beruf, Verheirathungen, Entfernung oder Alter der Gespielen können sich ändern, aber nicht leicht das früh geknüpfte Band zerreißen. Greise nennen sich noch unter einander Gespielen. Es ist wahr, dies Zusammenrinnen der bürgerlichen Gesellschaft in vereinzelte Gruppen von Verwandtschaftskreisen, Genossenschaften und Cotterien, erzeugt häufig eine gewisse Einseitigkeit im Character. Aber zur Stärke des Charakters gehört auch eine gewisse Einseitigkeit desselben. Glatt abgeschliffene, geschmeidige Denk- und Handlungsweisen der Menschen können wohl geselliger und gefälliger, aber nicht immer achtungswürdiger machen. Ich zweifle kaum, die bezeichneten und andere socialen Einrichtungen seiner Vaterstadt geben dem Züricher im Allgemeinen jenen eigenthümlichen Zug von Herzlichkeit neben spröder Härte im Aeussern, von Gastfreundlichkeit und zurückhaltender Abgeschlossenheit, von Häuslichkeit und Trennung der Männer und Frauenzimmer im geselligen Leben, der dem Fremdling oft unbehaglich zusagt, aber 395 doch vielen der schönsten republikanischen Tugenden zur Quelle geworden ist. Was Zürich durch Sinn für Wohlthätigkeit Großes geleistet hat, und worin es unter allen Schweizerstädten nur mit Basel wetteifert; oder was es, in alter und neuer Zeit, für Wissenschaft und Kunst Herrliches gethan, worin Genf allein Zürich's Nebenbuhlerin blieb, ist allgenug bekannt. Wohl nur wenige Staaten, nicht etwa des Schweizerbundes, sondern des Welttheils, haben, im Verhältniß ihrer Größe und Kraft, eine größere Zahl berühmter Bürger in allen Gebieten der Wissenschaft auszuweisen, oder vielthätiger, besonders in neuester Zeit, für Volksbildung gewirkt. In Angelegenheit des öffentlichen Unterrichts machte sich der Freistaat nicht das Weitglänzende zum Ziel, sondern das, in harmo- monischer Gliederung des Ganzen, Zweckoollste der einzelnen Einrichtungen. Jede Gemeinde besitzt ihre Primärschule, oder mehrere derselben; jeder Bezirk eine Musterschule, als Vorbild der übrigere Ein Seminar, ohnweit der Hauptstadt, zu Kü sn a cht, beschäftigt sich mit Bildung tüchtiger Lehrer für alle. An jene Anstalten schließen sich die Secundarschulen des Landes an, welche den Ueber- gang zum Gymnasium, oder zur wissenschaftlichen Schule für Gewerbe und Kunst, machen. Ungerechnet die Lehranstalten für Thierheilkunde, für Blinde und Taubstumme u. s. w., kam zu allem noch die im Jahr 1833 gegründete Universität. Diese neue Schöpfung, von welchen Hindernissen sie auch immerhin in den ersten Jahren ihres Daseyns bekämpft war, erhob sich, inmitten derselben, mit kräftigem Leben. In der Wahl ihrer geistreichen Professoren und Privatdocenten ward nicht so sehr auf sogenannte '-europäische Namen" als auf Männer geachtet, welche, mit dem Verdienst gründlicher Gelahrtheit, die Gaben eines glücklichen Vertrags vereinten. Dieser Vorzug ist nicht immer, man weiß es, bei akademischen Docenten vorhanden. Mancher literarische Heros, der ein Professor für Professoren seyn könnte, ist oft unfähig Jünglingen , die von Gymnasien kommen, seine Weisheit genießbar zu machen. Demungeachtet zählt jedoch die Hochschule Zürich's so erlauchte Namen unter ihren Lehrern, wie irgend eine andere ihrer Schwestern. Ich könnte z. B. an die Philologen Casp. v. Orelli, oder Bremi, an die Naturforscher Oken und Rud. Schinz, an den Arzt Schönlein, an den Historiker I. I. Hottinqer u. a. m. erinnern. Die studirende Jugend, deren Zahl sich bald anfangs über 200 erhob, kennt hier weder die alterthümliffe »akademische Freiheit", noch die neuthümliche akademische Ruthe. 396 Ohne Vorrecht und ohne Herabsetzung, ftehn die Jünglinge allen Bürgern vor dem Gesetz und Gericht gleich. Man sieht und hört nichts von sonst gewöhnlichen Renomistereien, Burschenschaften, Ordensverbindungen u. dgl. m.; selten von Unfugen jugendlich- unbesonnenen Muthwillens, noch viel weniger vom polemisirenden Brod - und Gelehrtenneid auf Kathedern. Die akademische Bevölkerung Zürichs ward im schnellern Wachsthum durch mancherlei Umstände gehemmt. Bern stiftete, inner seinen Mauern, bald ebenfalls eine Hochschule, während die vierhundertjährige in Basel noch schwächlich fortathmete. So wurden die reichen Kräfte kleiner Staaten übel zersplittert. Deren Verbindung zu einer einzigen eidsgenössischen Universität würde das Großartigste in dieser Art haben erschaffen können. Dann untersagte, vielleicht allzusorgliche, Staatsökonomie, oder Politik mancher deutschen Staaten ihren studirenden Jünglingen den Besuch der schweizerischen Hochschule. Dazu mögen die bekannten tollen Lärmereien und Schwärmereien flüchtiger Demagogen und Weltverbesserer beigetragen haben, welche jedoch bald genug den von ihnen entweihten Schweizerboden räumen mußten. Eben so wirkten die politischen Reformen und vorübergegangnen Gährungen in einigen Kantonen anfangs auf fremde Regierungen nachtheilig für die Schweiz. Inzwischen ist wohl den Monarchien das Leben ihrer Söhne in Republiken so wenig gefahrvoll, als das --monarchische Princip-- den harmlosen Demokratien zwischen Jura und Alpen. Viele Schweizerfamilien senden ihre Söhne noch furchtlos immerdar auf auswärtige Hochschulen, um die Jünglinge mit fremden Gesetzgebungen, Einrichtungen und Sitten vertrauter und im Auslande ihnen das Vaterland in seinem ganzen Werth schätzbarer und theurer zu machen. 8. Land und Volk. Wollt' ich von Zürichs Sammlungen für Wissenschaft und Kunst, von Mannigfaltigkeit und Rührigkeit seines Gewerblebens, von glänzenden Zügen des Edelsinns seiner Bürger, von seinen Gelehrten-, Künstler-, Wohlthätigkeitsvereinen, von seinen zahlreichen Stiftungen, von seinen Alterthümern, von seinen Lustorten und anmuthigen Umgebungen erzählen: Diese Paar Blätter müßten 397 zu einem breiten Ouiäe äes vo^SK6ur8 anschwellen. Darum aber i'fts hier niemandem, auch mir nicht, zu thun. Klassische Stellen überall, wohin man tritt. Wenn Staatsmänner, oder die doch dergleichen werden wollen, ihre Schweizerreisen nicht blos als Lustparthie, von Gasthof zu Gasthof, machen und nebenbei, in Verdauungsstunden, blos den Schönheitswechsel der Gebirgslandschaften in den Kauf nehmen mögen: sondern wenn sie geneigt wären, ihre Kunst, statt aus Collegienheften und Büchern, lieber aus dem Studium der Wirklichkeit bei einem glücklichen Volke zu erlernen, würde ich ihnen den Kanton Zürich empfehlen. Das Land mit seinen acht Städten, unter denen, nächst der Hauptstadt, das reiche, gewerbige, aufstrebende Winterthur hervorragt, mit seinen Paar hundert Dörfern und Weilern, von denen mehrere schönen Städten ähneln, ist sehr mäßigen Umfangs; daher jungen Staatskünstlern bequemer zu durchschauen, als Ländermassen einer großen Monarchie. Das ganze Land hat nur einen Geviertraum von etwa 32 geographischen Meilen, auf welchem im fünfzehnten Jahrhundert eine Bevölkerung von 52,000 Seelen, im achtzehnten Jahrhundert eine von 176,000 lebte, und, nach der neuesten Zahlung, (vom Jahr 1836) 231,576 Einwohner Nahrung finden. Schon dies müßte die erwähnten Kunstjünger aufmerksam machen. Auf Barke oder Dampfschiff könnten sie den prachtreichen See, von Zürich bis zu seinem entgegengesetzten, neun Stunden entfernten Ende, bei Smerikon, fahren. Wenn sie dann auf dem weiten Wasserspiegel die geschäftig und zahlreich umherschwär- menden Schiffe und Schifflein erblicken, und links und rechts die Ufer mit Palästen, Fabriken, Gärten und stadtgleichen Dörfern bedeckt; wenn sie darauf in die stille, leere Welt der Schwyzeri- schen und St. Gallischen Ufer gelangen, wo ihrem Auge einzelne, ärmliche Ortschaften, dagegen aber malerische Kapellen, Kreuzbilder und Kirchen begegnen: würden sie ohne Wegweiser die Gränzen des Kantons finden und von selbst zur Frage kommen, woher der plötzliche Unterschied ? — Allerdings, die Nachbarschaft der indu- striereichen Hauptstadt, und die den Verkehr begünstigende Schifffahrt, hat zum Aufschwung des Wohlstandes geholfen, und, noch vor fünfzig Jahren sogar, ziemlich wider den Willen der Hauptstadt. Auch ist er allerdings nicht der gleiche im ganzen Lande, dessen Raum hin und wieder durch unwirthliche Felsenberge, (deren höchster, das Schnebelhorn, nicht viel über 4000 Fuß steigt) und durch 30 — 40 größere und kleinere Seen beengt wird. Indessen 398 erblickt man, mit Ausnahme weniger Gegenden, überall blühe«? den Landbau. Aber die den Reisenden anlachende Fruchtbarkeit- des Bodens ist mehr Werk landwirthschaftlicher Kunst und angestrengter Arbeit, als der Naturgunst. Unser Kunstjünger würde da lernen, daß ein Volk, dem man die Hand frei, den Verstand hell läßt, sich selber besser zu helfen wisse, als es alle staatsökonomische Weisheit der Finanzmänner vermag und begreift. Es geht aber Völkern mit ihre» weltlichen und geistlichen Leib- und Seelsorgern häufig, wie Kranken mit ihren Aerzten. Sie werden gar oft das Opfer von Versuchen und Kunststücken. — In der guten alten Zeit des politischen Großvaterthums waren geistlicher und weltlicher Arm vollkommmen über Theilung derWeltunter sich einverstanden; einer darin Helfer oder Stütze des Andern. Den Unterthanen'nahm man vorsichtig die von den Vätern wohlererbten aber gefährlichscheinenden Rechte ab, und wies sie zum Beten und Arbeiten, blinden Glauben und blinden Gehorchen an. Da gab es keine Revolutionen, als im Hause der Herrschaft selber. Allein blinde Arbeiter sind in der Regel schlechte Arbeiter und mit dem armen Volk verarmte auch die Herrschaft selber. Die väterliche Verwaltung trat daher an die Stelle der großväterlichen. Man ließ nun in die Schulstuben so viel Licht fallen, als für nöthig erachtet ward, oder als überhaupt, beim Sonnenaufgang der Wissenschaft und der Reformation, nicht länger abzuhalten war. Man sah. Doch wer sieht, urtheilt auch selber; glaubt nicht blind, und gehorcht nicht blind. Es entstanden daher Mißverhältnisse zwischen dem Bedürfniß der Negierenden und Regierten. Revolutionen und politische Reformationen waren naturnothwendige Folgen einer väterlichen Regierung. Die Söhne stellten sich endlich ans Ruder. Ehemalige Schooskinder und Stiefkinder des Landes anerkannten gegenseitig ihre gemeinsamen Bruderrechte. Dies ist mit wenigen Worten die Geschichte des Freistaates Zürich. Hier streckte sich der Zeitraum des Großvaterthums bis gegen Ende des siebenzehnten Jahrhunderts herab. Das Volk ward in seinen besten Rechten verkürzt, mit Strenge bevogtet, selbst in häuslichen Kleinigkeiten. Die Stadt gab Vorsteher, Of- ficiere, Richter, Lehrer, Pfarrer u. s. w. Das Volk hatte nichts zu denken-, sollte nichts denken, als ans Beten und Arbeiten. Sogar Art und Weise der Arbeiten, Stoff und Schnitt der Kleider, Küchenvorschriften bei Festmalen, Hochzeiten, Kindtaufen u. s. w. lagen nicht außer der Sphäre hochobrigkeitlicher Sorge. 309 Erst mit Anfang des achtzehnten Jahrhunderts begann die väterliche Regierung der Züricher. Diese hütete sich zwar das mindeste der Rechte und Vorrechte zurückzugeben, welche von den Großvatern dem Volke schlau oder gewaltsam entzogen worden waren. Allein sie führte bei sich selber bessern Haushalt ein, daß sie Großes leisten konnte, ohne durch Steuern und Auflagen den Wohlstand der Unterthanen allzusehr zu hemmen. Sie begünstigte Kunst und Wissenschaft; beförderte Volksbildung; verbesserte das Schulwesen um Vieles; ermunterte den Gewerbsfleiß und waltete allseitig mit Gerechtigkeit. Die Stadt ward ruhmreich , das Land blühender, die Bewohnerschaft desselben verständiger, sittlicher und selbstbeholfener. Soviel Dörfer, soviel Zeugen öffentlicher Wohlfahrt. Mancher Bauer besaß nicht geringeres Vermögen, als im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert irgend der reichste Bürger von Zürich, der damals sich kaum über 30 bis 60,000 Gulden Eigenthums rühmen konnte. Die sämmtlichen Manufakturen beschäftigten gegen 60,000 Personen, also wohl den dritten Theil der Einwohner. Mit dem Wachsthum der Bevölkerung, dem veredelten Landbau, dem ausgebreiteter» Betrieb der Manufakturen vermehrten sich natürlich auch die öffentlichen Einkünfte sonder Mühe und Zwang. Wer hätte diesen kleinen Staat nicht glücklich preisen und die Regierung nicht weise nennen sollen? — Und doch war es anders. Die väterliche Regierung beging nämlich den Fehler, die Landeskinder so zu erziehen, daß sie sich in ihrer Mehrheit mündig fühlten; aber dabei wurden sie, nach wie vor, als Unmündige behandelt. Erwachsene Söhne, wenn man sie fort und fort im Hause der Eltern, wie kleine Knaben, am Kindertisch sitzen läßt, mit Aussicht auf die Ruthe hinten» Spiegel, finden da, wo sie sonst ihr Paradies hatten, Sklavenstand. Es offenbarte sich zwischen der fortgeschrittenen Civilisation des Volks und der weit zurückgebliebenen Gesetzgebung schreiender Widerspruch. Inner den Ringmauern der Hauptstadt bestand Demokratie; außerhalb derselben die drückendste Unterthanenschaft, wie in keiner Monarchie des ediern Theils von Europa. Die Landleute waren gewissermaßen gesetzliche Heloten und Taglohner der Stadtbürger; konnten für eigne Rechnung keine Gewerbe, keinen Handel, außer mit Wein und Getraide, betreiben; dennZunftzwang in derStadt verbot es. Sie mußten das Garn, welches sie verspinnen, das Gewebe, welches sie verarbeiten wollten, von den Bürgern in Zürich kaufen, und das Verarbeitete wieder an diese verkaufen. Der Sohn eines 400 Landmanns von Richterswyl, Namens Hozze, oer sich in seinem Vaterlande schwerlich zu einer armseeligen Hauptmannsstelle hätte emporschwingen können, mußte ins freiere Ausland gehn, um, als kaiserlich-österreichischer General-Feldmarschalllieu- tenant, siegreiche Heere anführen zu können. Weltliche und geistliche Staatsämter standen den Söhnen der Landleute, auch den gebildetsten und talentreichsten, verschlossen, waren und blieben nur erbeignes Gut der Stadtbürgerföhne. Unter den zierlichen Dörfern, welche die Ufer des 'Zürichsees verschönern, glänzt Stäfa, von 3 bis 4000 Einwohnern bevölkert. Hier war es, wo im Jahr 1794 sich zuerst Stimmen für Loskäuflichkeit der Feudallasten, und für Gewerbs- und Handels- ' sreiheit zu erheben wagten. Man bot in den Gemeinden am See eine Denkschrift umher, die von Tausenden unterzeichnet, der Regierung vorgelegt werden sollte. Doch ehe es zu Stande kam, wurden die Urheber verhaftet, mit Geld- und Gefängnißstrafe belegt, oder aus dem Lande verbannt. Bald aber brachte der Zufall eine alte, verloren geachtete Urkunde ans Tageslicht, durch welche den Landleuten die Freiheiten, welche sie begehrten, zum Theil schon im Jahr 1489 feierlich zugesichert worden waren. Zürich selbst konnte Aechtheit und Wahrheit der Urkunde nicht läug- nen, gebot aber Schweigen darüber. Sieben eidsgenössische Stände waren Bürgen jener dem Volk gewährten Rechtsame gewesen; aber, nur,Glarus ausgenommen, blieben sie taub und stumm. In der Hauptstadt sah man das Begehren der Seegemeinden für Aufruhrversuch an, bewaffnete sich, trieb, wer von Stäfa in der Stadt Zürich lebte, selbst Dienstboten und Kranke fort, und forderte die, welche sich des Geschäftes am eifrigsten angenommen hatten, zur Verantwortung. Die Geforderten fürchteten sich zu erscheinen. An einem Sonntag Morgen, als alles Volk in der Kirche zum Gottesdienst beisammen war, besetzten dritthalbtausend Mann von Zürich, mit vielem Geschütz, Stäfa; entwaffneten denOrt; führten die achtbarsten Bürger in die Gefängnisse der Hauptstadt; und nachdem die Gemeinde mvndenlang die Truppen beherbergt hatte, ward sie noch mit einer Contribution von 78,000 Gulden belegt. Von den Gefangnen sahen sich viele mit Geld, mit Entehrung, mit zehn- und zwanzigjährigem Kerker bestraft; Hans Jakob Bodmer aber, ein würdiger Greis, mit lebenslanger Einkerkerung , nachdem der Henker auf der Richtstätte das Schwerd über dessen Haupt geschwungen hatte. Es war im Jahr 1796, als ich auf einer meiner Fußreisen 401 zum erstenmal das schöne Stäfa sah. Im Schatten eines Baumes gelagert, beobachtete ich einen jungen Landmann, der so eben seine Feldarbeit beendigte. Wir verwickelten uns bald ins Gespräch. Statt mich, nach meinem Verlangen, in ein Wirthshaus zu führen, bot er mir gastfreundlich in seinem niedlichen, von Reben umsponnenen Hause, einen Labetrunk an. Während er sich umzukleiden und zu reinigen gieng, durchmusterte ich in seinem Zimmer die Bücher, und fand, neben den Schriften Klopstocks, Göthe's und andrer deutschen Klassiker, auch die von Rousseau und Montesquieu. „Wer liest das bei euch?" fragte ich den Bauer. «Ei nun, mein Bruder und ich!« war die Antwort. Ich erfuhr, daß hier, wie in den andern Gemeinden beider Seeufer, Lesezirkel bestanden, daß man auf Privattheatern Schauspiele aufführte, von denen das letzte Shakspears Romeo und Julie gewesen. Der freundliche Bewirther mußte mich bei der Julie von Stäfa einführen. Ich lebte zwei angenehme Tage in diesem Dorfe, überrascht von Allem was ich sah und hörte. Solche Bildungsstufe hatt' ich unter Landleuten nicht erwartet. Am rührendsten ward mir aber die Ruhe und Mäßigung, mit der man von den Mißhandlungen sprach, welche ein Jahr zuvor die Gemeinde und ihre Familien erduldet hatten. Nichts weniger, als diese Ruhe und Mäßigung, fand ich dagegen in Zürich selbst wieder, sobald irgend Rede von den verachteten und verhaßten »Seebuben» ward. Und anderthalb Jahr später, als Frankreich völkerrechtsmör- derisch die Schweiz anfiel, als die erschrocknen Regierungen derselben sich eilfertig mit ihrem Volk auszusöhnen trachteten, — schon zu spät! — wurden die Gefangnen aus den Züricher Kerkern in ihre Heimathen zurückgesandt; auch der greise Bodmer. Es geschah zur Nachtzeit. Aber zahllose Freudenfeuer in Höhen und Tiefen, beleuchtete Dörfer, strahlende Fackeln beider Ufer des Sees erhellten die Wellen, auf denen Bodmer, umschwärmt von einer Flotte von Fahrzeugen unter Zubelgeschrei, Musikchören und frohem Donner des Geschützes, einen Triumphzug erlebte, wie vor ihm und nach ihm kein Schweizer in seinem Vaterlande empfangen hat. Nach wenigen Monaten erschien er unter den Senatoren der helvetischen Republik, als Märtyrer des Rechts und der Freiheit von seinem Volk gefeiert. Von da an, nach überstandnen Stürmen der Revolution, und nach erloschnem Monopol der Hauptstadt, gieng der Wohlstand dieses Kantons allen übrigen Gegenden der Schweiz im Riesenschritt voran. Was das Jahr 1815, zu Gunsten einer blöden 402 Aristokratie, an den Rechten des Volks wieder zu verkümmern begann, stellte der Tag von Uster, der 22. November 1830, vollständig wieder her. Uster ist ein stattlicher Marktstecken ohnweit dem Städtlein Greifensee, in anmuthiger Landschaft, zwischen Bächen, Wiesen und kleinen Seen, am Fuß einer beinah tausendjährigen Burg. Hier war's, wo sich an jenem Tage über 10,000 Bürger des Landes versammelten, und an die Regierung ihre Bitte um Reform der Staatsverfassung und billigere Repräsentation des Landes in der Gesetzgebung richteten. Noch stand der edle Paul U steri am Staatsruder, ein weitblickender und gerechter Mann. Er stand »»erschüttert zwischen den entgegengesetzten Partheien und Stürmen, lenkte beide mit starker Hand zum Heil des Vaterlandes zusammen, und gründete dessen neues Glück. Seitdem nahm der öffentliche Wohlstand mit verjüngter Kraft einen Aufschwung, der hin und wieder aus Wunderhafte gränzt. Eine musterhafte Staatsverwaltung verbessert fort und fort die Fehler der ehemaligen. Gesteigerte Volksbildung und der Blick auf die Wirklichkeit, zerstört die weiland gepriesenen politischen und administrativen Vorurtheile; und jene zwieträchtige Eifersucht zwischen Stadt und Land, welche seit Jahrhunderten verderben- voll gewirkt hat, ist in der Gleichheit staatsbürgerlicher Rechte beider schon erloschen. Zürich selbst, welches einst beim Verlust seiner Hoheitlichkeit, für die eigne Zukunft zitterte, erkennt, im Glanz seines jetzigen Emporhebens und frischen Lebens, den ungeheuern Gewinn, welchen es mit dem Opfer seiner kleinlichen Vorrechte erworben hat. Als sich Göthe im Jahr 1797 in Stäfa aufhielt, schrieb er von diesem Dorfe: »Es gibt von der schönsten und höchftenKul- tur einen reizenden und idealen Begriff.« Er dachte vermuthlich aber nur an die Kultur des Bodens , an die Weinberge, Felder, Gärten und Obstanlagen, welche, im sorgfältigsten Anbau, das Auge schmeichelnd, sich zwischen Häusergruppen längs dem See ausbreiten. Heutiges Tages beobachtet der Wandrer die Entfaltung einer Kultur höherer Art, und wie hier, auch in andern Gegenden des Landes. Er sieht längs dem See mit dem Landleben städtische Sitte und Bequemlichkeit vermählt, Privatbibliotheken, Lesegesellschaften, Familientheater, Kunstfreunde, Künstler, Erziehungsanstalten, Bäder, Buchdruckereien, Sängervereine, Concerte, Manufakturen und Fabriken manigfaltiger Art u. s. w. 403 So in Stäfä, so in Horgen, Meilen, Männedorf, den romantisch gelegnen Ortschaften Wändenschwyl, Rich- terswyl und in andern. Die Kunst des Schönen, sagt man, mildert Gemüth und Sitte der Völker. Der thracische Or pheus bewegte durch seinen Gesang Felsen, und zähmte wilde Thiere der Wälder. Der Orpheus der Schweiz ward der bekannte Tonkünstler Georg Nägeli von Zürich. Er führte Sinn für das edlere Lied und den harmonischen Gesang ein. Beides verbreiteten seine Jünger durch alle Kantone, zumal der reformirten Schweiz, das heißt des größer» Theils der Eidsgenoffenschaft. Man wird da wenige Schulen, ohne Gesanglehrer, finden. Fast in allen Dörfern, auch in vielen kleinen Städten der Schweiz, haben sich itzt Sängervereine gebildet. Durch sie veredelten sich nach und nach die geselligen Verhältnisse. Gewöhnlich treten Sänger und Sängerinnen einer Ortschaft an Sonntagen zu ihren Uebungen zusammen, oder auch Chöre mehrerer Ortschaften. Ein oder zweimal des Jahres versammeln sich die Liedervereine von weit umher; zuweilen die des gesammten Kantons, in einer der geräumigsten Kirchen, zuk Aufführung großer Tonstücke. Kein bedeutendes Volksfest wird mehr gefeiert, ohne von diesen Harmonien verherrlicht zu werden. Noch gedenkt man besonders des würdigen Festes auf dem Schlachtfelde beiCappel am II.October 1831, dem Todestag des Reformators Zwingli. Ein Baum immer nachgepflanzt, bezeichnet heut noch die Stätte, wo der Glaubensheld im Jahr 1531 kämpfend den großen Geist aufgab. Der erschütternde Gesang von vielen hundert Stimmen vereinigter Chöre, abwechselnd mit den begeisternden Worten ausgezeichneter geistlicher Redner, bewegte das Gemüth der anwesenden Tausende; nichts aber ergreifender, als im Augenblick des Scheidens vom »Zwinglibaume» das Lied: ,,-Ruhe sanften Todesschlummer." Man glaube nicht, daß diese edlere Bildung, diese in andern Ländern vielgetadelte sogenannte »Aufklärung" des Landmannes, ihn, wie man sich auszudrücken pflegt, über seine Sphäre erhebe, ihn seinem Beruf entfremde, indem sie die bäurische Rohheit und Tölpelei von ihm abstreift. Ihr begegnet den Künstlern, den Sängern und Sängerinnen an Wochentagen, früh und späth, bei harter Arbeit in Feldern und Rebbergen, mit Pflug und Karst geschäftig, oder in Werkstätten der Fabriken und Manufacturen. Ihr seht sie ihre Verrichtungen, auch die gröbsten, ämsiger und verständiger betreiben, als jene verwahrloseten Halbwilden, welche vom Vorurtheil 404 selbstsüchtiger Gebieter in Unwissenheit, Aberglauben und wüster Gewohnheit erzogen und kaum eine Stufe höher gestellt werden, als die Hausthiere, mit denen sie ihr Obdach theilen müssen. Feldbau und Viehzucht sind auch im Kanton Zürich, wie überall in der Schweiz, Hauptgeschäft des Landmanns, ungeachtet daneben Gewerbe andrer Art zahlreicher und blühender werden. In hundert großen Spinnereien des Landes, wo jährlich 29,000 Centner roher Baumwolle verarbeitet wurden, sind über 5000 Menschen, in Webereien bei 16,000, in Seidenmanufacturen über 11,000 Personen beschäftigt, ungerechnet die betriebsame Schaar in Wollen -, Leinwand und andern Manufacturen. Ich mögte aber darum nichts weniger, denn den Kanton Zürich in seiner Gesammtheit geradezu als "Ideal höherer Kultur» darstellen. Auch er hat noch der dunkeln Stellen viele, besonders wo lange verwahrlvseter Jugendunterricht die Menschen in alter Unbeholfenheit versauren lies; wo bäurische Geschmacklosigkeit und Rohheit für ächte Landmannssitte gilt; Aberglaube, oder düstre Schwärmereien, Hauptbestandtheile der Religiosität sind; Vorurteilen und Uebungen der Vorfahren blind nachzufahren, Lebensweisheit heißt; und die träge Armuth sich stolz im herkömmlichen Schmutz brüstet. Im Jahr 1833 zählte der Kanton ohngefähr 7000 eigentliche Arme, die durch Almosen in ihren Gemeinden unterstützt oder erhalten werden. Rechnet man dazu ohngefähr 1300 Waisen und andre hülslose Kinder, die auf öffentliche Kosten Verpflegung erhalten , so ergiebt sich, daß, unter 231 Personen der Gesammt- bevölkerung, etwa 8 bis 9 Personen ohne hinreichende Fähigkeiten und Mittel ihrer Selbsterhaltung sind, eine Zahl, die freilich im Verhältniß zu der vieler andern Staaten gering seyn mag. Auch ist es nicht immer nur Armuth, sondern Unverstand und Sitten- verwilderung, welche zuweilen Ereignisse herbeiführt, die den Ausbrüchen von Verzweiflung ähnlich sehen. Dergleichen war, zum Beispiel, die Zerstörung der Webereimaschinen von Uster. Diese Maschinen, mit dem weitläuftigen Gebäu dafür, standen kaum aufgeführt, als sich unter manchen bisherigen Landwebern in der benachbarten Gebirgsgegend Furcht verbreitete, die neue Erfindung werde den bisherigen Verdienst schmälern, oder vernichten. Sie beschlossen daher, Alles in Brand zu stecken, um sich unentbehrlich zu machen, und wählten dazu den 22. November 1832. Es war der Tag, an welchem aus den meisten Gegenden des Kantons eine große Volksversammlung , zur Gedächtnißfeier 405 jener ersten gehalten werden sollte, an welcher die Reform der Staatsverfassung gefordert worden war. Sie hofften im Gewühl einer herbeiströmenden Menschenmenge ihr verbrecherisches Werk unbemerkter vollbringen zu können. Aber sie irrten. Eben dieselben Tausende, sobald aufsteigende Rauchwolken das Feuer der Fabriken verkündeten, übten selber Sicherheitspolizei; eilten zum Löschen; stellten Wachen, retteten, was zu retten war; verhafteten das Gesinde! und ließen es in die Gefängnisse der Hauptstadt bringen. Vielleicht läßt sich die Gesittungsstufe eines Volks nie bestimmter erkennen, als in Augenblicken, wo es sich, in überlegner Zahl und Stärke, Herr weiß, und ohne Furcht die Gesetze des Staates und des Gewissens und alle bestehende Ordnungen mit Füßen treten könnte. Diese Augenblicke waren in der Schweiz, und in fast allen Kantonen, seit dem Jahre 1829, mehr denn einmal, gekommen, als die Reform der Landeseinrichtungen zur Sprache gebracht war. Aber nie und nirgends ward der Augenblick mißbraucht, wenn Regierungen nicht unklug ihre eigne Stellung mißbrauchten. Das Volk selbst hielt Gesetz und öffentliche Ordnung aufrecht; wehrte selber mit starker Hand und recht! ichem Sinn rohen Ausbrüchen der Verworfenen, und bewies, es sei in großer Mehrheit, durch Bildung, Besitzthum und sittliches Gefühl, über jenen Pöbel erhaben, der sich in niedern und in höhern Ständen, als schlammigte Hefe, oder obenaufschwimmenden Schaum, überall in der Welt zu zeigen pflegt. Wenn noch, von Zeit zu Zeit, Erscheinungen desselben hier wie in andern Staaten, hervortreten, sind sie nur traurige Nachwirkungen eines früherhin allzusehr, oft geflissentlich hintangesetzten Schulwesens und Volksunterrichts, oder auch einer Übeln Organisation des Kirchenwesens. Das Werk der Schule soll im Werk der Kirche Fortsetzung finden. Dies ist nicht immer der Fall. Dem geistlichen Lehramt steht noch eine wünschbare Reform bevor, um religiösem Unglauben und religiöser Schwärmerei kräftigen Einhalt zu thun. Dazu wird, von Seiten der Pfarrer, mehr denn äußere Würde oder innere Frömmigkeit, mehr denn Kenntniß alter Sprachen oder schulgerechter Dogmatik, mehr denn mechanisches Besorgen vorgeschriebner Amtsverrichtungen gefordert. Vielen mangelt nöthige Geistesfülle und Geistesgewandtheit, Vielen die Gabe begeisternder Beredsamkeit neben Jdeenklarheit, noch mehrern Weltkenntniß und jene paulinische Kunst, „Allen allerlei zu werden, um alle, auf verschiedenen Wegen, zu gewin- 466 nen." Daher in höher» Ständen so viel Unglauben mit Gewissenlosigkeit verbunden; in untern Stauden Religionsschwärmerei mit Unsittlichkeit gepaart. Ich rede hier wahrlich keineswegs vom Kanton Zürich oder der Schweiz allein. Beim Schweizervolke gehören die Gefahren des Unglaubens noch zu den Seltenheiten; aber nicht so selten sind die Verirrungen religiöser Schwärmerei. Unglaube, nicht aber religiöser, sondern kirchlicher, wird in der Schweiz am meisten in den katholischen Gegenden, hingegen Religionsschwärmerei meistens in den protestantischen Gegenden wahrgenommen. Diese letztere kann eben sowohl, als die Gewissenlosigkeit der Irreligiosität, zu den empörendsten Verbrechen verführen. Davon zeugte noch im Jahre 1823 ein schauderhaftes Ereigniß im Kanton Zürich. Es hatten sich, wie in andern Theilen des Landes, auch in der Umgegend des Marktfleckens Andelfingen, durch mittelbaren oder unmittelbaren Einfluß der bekannten Frau von Krudener und eines gewissen Pfarrvikars Ganz, (beide aus dem Kanton Aargau weggewiesen) mystischfrömmlerische, religiöse Einbildungen verbreitet; religiöse Grundsätze kann man sie nicht nennen. Von denselben ward auch die Familie eines begüterten Landmannes, Namens Peter, in dem einsam gelegnen Dörflein Wildensbuch bethört. Peter, schon ein Greis von mehr denn siebenzig Jahren, hatte sechs Kinder, einen Sohn und fünf Töchter, von denen die jüngste Margarethe, neun und zwanzig Jahr zählte und unverheirathet war. Talentvoll, aber bildungsarm, reizbar und von lebhafter Einbildungskraft, war sie, im Schul - und Religionsunterricht, schon als ein Kind, vor allen ihren Gespielen ausgezeichnet; späterhin durch aufrichtige, innige Frömmigkeit. Bewegt von dieser ward sie zu den Bruderversammlungen der Pietisten und «Erleuchteten« hingezogen, in denen sie bald durch seltne Kenntniß der heiligen Schriften, durch begeistertes Wesen und Ringen nach Heiligung des Gemüthes, Aufsehen und Bewunderung erregte. Sie galt als Musterbild frommer Gemüthlichkeit. Die vier und zwanzigjährige Jungfrau gewann beinah apostolisches Ansehen. Selbstverläugnung, Ertödtung irdischer Begierden, eheloses, keusches Leben waren die Hauptgegenstände, welche sie zur Einswerdung mit Gott in Andachtsstunden empfahl, die von erweckten Gläubigen zahlreich besucht wurden. Margarethe glänzte unter diesen Erweckten, wie eine Heilige. Sie empfieng selbst Besuche aus entfernter» Gegenden, und unterhielt Verbindung mit den „Auserwählten" im Kanton Zürich, eben so 407 im Thurgau, in Schaffhausen und Basel. Sie machte Reifen zu ihnen. Es konnte nicht fehlen, daß sie endlich auch in der eignen Familie, der sich ihre Schwärmerei mittheilte, als höheres von Gott auserkorenes Wesen angesehen wurde. Geschwister und Vater ergaben sich gläubig und gehorsam ihrem Willen hin. Das höhere Wesen blieb jedoch immer ein Mädchen, gegen die Verehrungen und Schmeicheleien ihrer Anhänger nicht unempfindlich. Bei aller Schwärmerei konnte sie den Anfechtungen der Eitelkeit unmöglich widerstehen. Aber es scheint, auch Heilige haben ihre schwache Stunden. Böse Zungen der Weltkinder verbreiteten, im Jahr 1821 sogar ein nicht ganz unwahrscheinliches Gericht, sie sei von einem Besuch der Frommen in Basel nicht mehr in jungfräulichen Umständen zurückgekehrt. Gewiß aber ist, daß sie, etwa ein Jahr später, lange Zeit bei einem ihrer geistlichen Freunde, dem Schuster Mors in Ober-Jllna u wohnte, von welchem sie verkündete, er werde mit ihr, wie Henoch und Elias, auf einem Strahlenwagen, lebendig gen Himmel fahren. Aus der Himmelfahrt freilich ward nichts, weil der Wagen nicht ankam; statt dessen aber wurde sie, in den Entzückungen ihrer Schwärmerei, zugleich Verführerin und Verführte, und Mutter eines Kindes vom frommen Mors, dessen Gattin nichts weniger, als mit solcher Gnadenwirkung, zufrieden war. Der Beredsamkeit Margarethens und ihrer geistlichen Autorität kam aber der Verblendung und fanatischen Leichtgläubigkeit der Andächtigen dieses Hauses gleich. Des Schusters Weib spielte bußfertig die Rolle der Wöchnerin und das Kind ward, als ihr eigenes, getauft, um Margarethen nicht zum Spott der Weltmenschen zu machen. Margarethe kehrte in das väterliche Haus nach Wild'ensbuch zurück. Ihr Heiligenstolz zitterte von da an unaufhörlich vor möglicher Entdeckung des Fehltritts zu Jllnau; ihr religiöser Wahnsinn brütete über dem Gedanken, großartig ihre und aller Welt Sünden nunmehr abzubüßen. Eines Morgens (am 15. März 1823) versammelte sie Vater, Bruder, Schwestern, alle Hausgenossen um sich, zwölf an der Zahl, sie mitgerechnet. Sie verkündete: „der Tag ist gekommen, wo zur Rettung vieler tausend Seelen Blut vergossen werden soll. So verlieret nun keine Zeit, daß der Satan nicht Meister werde!" Sie gebot Allen, sich mit Fäusten und Werkzeugen blutig zu schlagen, und gab das Beispiel an sich selber. Die Raserei der Büssenden stieg mit jedem Augenblick. Eine der Schwestern Margarethens sank sterbend unter Schlägen zu Boden. Die wahnsinnige Ober- 406 priesterin aber brachte sich selbst zum Sühnopfer. Nach ihrem Geheiß mußte ihr ein Kreuzschnitt auf der Stirn, ein Kreisschnitt um den Hals gemacht werden. Dann, auf dem Bett hingestreckt, ließ sie sich Armgelenke, Hände und Füße auf Holz, als eine Gekreuzigte nageln; ließ sich mit Schlägen, mit Messerstichen märtern, bis das Leben erlosch und ihr Schädel mit einem eisernen Hammer zerschmettert war. Erst im Gefängnisse, und unter Belehrung von würdigen Geistlichen, genasen jene Unglücklichen von ihrem entsetzlichen Rausch, den sie, nach richterlichem Spruche, auf längere oder kürzere Zeit im Zuchthause abzubüßen hatten, während das Haus des Greuels zu Wildensbuch geschleift werden mußte, an dessen Stelle nie wieder eine menschliche Wohnung errichtet werden darf. XXHI Noch ein Rückblick Das Geschäft ist vollendet. Der Cicerone entfernt sich. Ohne Zweifel hat und verdient er das gewöhnliche Loos all' seiner dienstfer- tigen Amtsbrüder. Man entschädigt sich für sein überlästiges Geschwätz durch ein Witzwörtchcn, welches man ihm lächelnd nachwirft, und läßt ihn damit in Frieden ziehen. Ich kann mich dessen wohl begnügen, und begleite meine Kunden, mit schuldiger Höflichkeit, zur Pforte des bunten Panorama's, wo sie hereingetreten sind. Wahrscheinlich hinterläßt, was ich erzählte, in ihrer Seele nur ein verworrenes Bild. Meine Schuld ist's nicht und nicht die ihrige. Die Schweiz selber ist das bunteste, großartigste Gemenge von Seltsamkeiten, wie sie die Hand der Natur, oder das Schicksal der Menschheit, irgend hervorgebracht haben mag. Oder wo kann Europa, in seiner ganzen Länge und Breite, ein kleines Land von 800 bis 900 Geviertmeilen aufzeigen, in welchem, neben einander, und scharf von einander abstechend, solches Bunterlei von Naturgebilden und klimatischen Wirkungen, von Völkertrümmern, Sprachen, Religionen, Gesittungsstufen, Staatseinrichtungen und Lebensarten besteht? eine Mannigfaltigkeit, die sich immer wieder und überall, in hundertfach verschiedenen Einzelheiten der Sitten und Gebräuche, Bedürfnisse, Denkarten und Interessen der kleinen Völkerschaften verzweigt, so wie in ihren Dialekten, historischen Erinnerungen, von Thal zu Thal eigenthümlichen Physiognomien, Bauarten, Kleidertrachten u. s. w. zur Schau stellt. Man sollte fast schwören, hier, zwischen Alpen und Jura, wären, als in einem großen welthistorischen Raritätenkabinet, die Kulturstände aller europäischen Zeitalter aufbewahrt, vom Höhlenbewohner herab bis zum Sybariten in seinem üppigen Pallast. Ich 4t 0 wollte, mir wär' es möglich, beim Abschied vom Leser, ihm jenes wunderbare Gefühl mit auf den Weg zu geben, das mich einst im Kanton Graubünden auf der Wanderung von Reichen«» über den Bernhardin nach dem reizenden Lugano, beim Anblick der Ruinen von Rhealta, Bärenburg und Misocco ergriff. Rhealta, auf schroffem Felsen beim bündnischen Städtlein Thujis, 500 Schuh über denselben erhaben, schaut dort düster mit zerfallenem Burggemäuer auf das romantisch-schöne, von wilden Bergströmen durchwühlte, Tomiliasca, oder domleschger Thal, nieder. Es ist dieß dasselbe Thal, in welchem sich, ein halbes Jahrtausend vor unsrer Zeitrechnung, die vor den Galen ins Ge- birg geflüchteten Thuscicr oder Rhätier zuerst niedergelassen haben sollen. Alterthümler und Geschichtsklitterer behaupten sogar, jene Burg sey vom Rhätus selber, dem Anführer der Auswanderer, dorthin gebaut worden. Wenn wir auch dazu etwas ungläubige Miene machen, laß' ich mir's doch gefallen, daß dieses von Gestrüpp und Epheu mitleidig umrankte Trümmerwerk, die älteste aller Antiquitäten des Bündnerlandes sey. Der Anblick des Felsens, zu dessen Füßen der schwarze Nollaftrom, wie ein aus der Unterwelt hervorgebrochener Cocytus, braußt, und droben die verwitterte Thurmruine, unbekannter Herkunft, versetzte mich wenigstens in jenes Weltalter zurück, wo selbst Rom noch im Beginnen, und Helvctien noch eine weite, leere Bergwildniß war. Wie viele Jahrhunderte währte es, ehe der Mensch diese wilde Natur, und dann wie viele Jahrhunderte, ehe er sich selber zähmte! — Durch die schauerliche Gebirgsspalte bei der Viamala einsam wandernd, fühlt' ich mich unserm Jahrhundert entrückt, in die Urzeit und in die rohen Anfänge menschlicher Gesellschaftsverhältnisse zurückgeworfen. So trat ich in das stillheitere Schamserthal ein, aus dessen Hintergründe sich, über senkrechter Felswand, die Ruine der Bären bürg kaum bemerkbar zeigt. Sie steht noch da, wie ein Denkmal von wüster Barbarei des Mittclalters. Zu ihren Füßen liegen ärmliche Hütten in den Wiesen umher, als wären sie Nachlaß ehemahliger Leibeignen der Burgherrn. Der alte Chronikschreiber Campell hat aus diesem Thal eine Sage aufbewahrt. Ihr zu Folge ließ der ritterliche Despot des Thals einst seine Rosse keck in Wiesen und Haberfeldern des Volks Waiden. Zwei derselben erschlug im Zorn ein Landmann Johannes C h al- dar, die er auf seinem Acker gefunden hatte. Dafür mußt' er im Burgverlies seufzen, bis er von den Seinigen, mit schweren Summen, zurückgekauft werden konnte. Eines Tages, da der !W^WWGWMWWWW IWV 'EM WWW W 8 WKM EEW - N «M ^ '' "^--7 W^M » 4l1 verarmte Mann, mit Weib und Kindern sein dürftiges Mittagsmahl genoß, trat der Herr von Fardün und Bärenburg gebieterisch zur Hütte ein. Die gastfreundliche Einladung, an diesem bescheidenen Mahl Theil nehmen zu wollen, erwiederte der übermüthige Schloßherr damit, daß er stolz in den Brei spie. AberChaldar fuhr empört auf, umkrallte Hals und Nacken des frechen Gebieters, stieß dessen Kopf in das besudelte Gericht und erwürgte ihn mit den Worten: »Nun friß den Brei, den du gewürzt hast!" — Das Volk vernahm die That; brach auf, sie zu vollenden; erstürmte die hohe Bärenburg und ließ sie in Flammen prasselnd zusammenstürzen. Jenseits der Höhen des Bernhardinpasses, ins Misoxerthal niedersteigend, glaubt' ich mich, wie von einer weichern Luft und reichern Pflanzenwelt, von einem jünger», mildern Zeitalter umfangen. Die weitläufige Ruine des Schlosses der alten Grafen von Sar und Misoc cv, später der mailändischen Trivulzi, trägt noch in ihrem Schutt das Gepräge fürstlicher Pracht und ediern Baugeschmacks. Der ältesten Alpenburgen plumper Trotz und rauhe Armuth ist schon gewichen. Aus der Symmetrie der hohlen Fenster, der Regelmäßigkeit der riesigen Gemäuer und ge- brvchnen Thürme und Verzierungen des Gesteins, leuchtet schon Sinn für Adel italiänischer Kunst, Stolz des Reichthums und üppigen Genusses eines civilisirten Zeitalters, wie von Silbersärgen der Könige in stiller Todtengruft. Jetzt freilich liegt die zerstörte Herrlichkeit da am Wege, gleich dem modernden Geripp eines erschlagenen Riesen, nur noch Siegesdenkmal der freien Bündner aus dem sechzehnten Jahrhundert. Auch wenige Stunden Wegs weiter abwärts, im Thale des Tessins, mahnten mich die hohen Castelle Bellinzona's und die gezackten Mauerzinnen der Stadt noch an die Tage schweizerischen Kriegesruhms; aber Armuth undSelbst- vernachläßigung der umherliegenden Dörfer auch zugleich an die Wirkungen der alteidsgenössischen Landesbevogtung, da die Enkel Teils sich mit einer faulen Freiheit brüsteten, die Gerechtigkeit um Geld , und die Ehre des Vaterlandes um Fürstengunst feilboten. Erst in Lugano, wie es jetzt in jugendlicher Freiheit wieder erblüht, dann unter Mailands Pallästen, Tempeln, Bildergal- lerien, Bibliotheken, Bühnen und Lustplätzen, fand ich das neunzehnte Jahrhundert wieder, mit allen Zeugnissen des fortgeschritt- nen Menschengeistes in Wissenschaft, Kunst, Gewerbsfleiß und Sittenmilde. So trug ich das Gefühl davon, als hätt' ich, auf der Wanderung von zwei Tagen, einen Weg durch zwei Jahrtausende gemacht. 41S Und wie hier, werden auch Werke und Menschen dieser zwei Jahrtausende noch immer und überall in der Schweiz, bunt zusammen- gesellt, erblickt. Es läßt sich daher über kein Land und Volk weniger ein allgemeines Urtheil fällen, als über das der Schweiz. Hier ist kein Volk; hier sind allerlei Völkerschaften zusammengedrängt, nur von gemeinschaftlicher Freiheitsliebe, von Gewohnheit des nachbarlichen Beisammenlebens und dem Bedürfniß verbunden, ihre Unabhängigkeit zu vertheidigen. In vier und zwanzig Demokratien, von denen mehrere, nach ihrer innern Gestaltung, selbst wieder nur besondere Bundesstaaten im Kleinen sind, und einem Fü rste n th um, bilden sie ihren politischen Verein gegen andere Staaten. Aber diesem Verein fehlt, bei aller Mannigfaltigkeit der Formen, Kräfte und Regsamkeiten der einzelnen Bundesländer, Einheit des politischen Verbandes. Zwar besteht unter ihnen, seit 1815, ein Vertrag von fünfzehn Artikeln; doch Unbehülflicheres, ja Zweckwidrigeres hätte selbst im finstern Mittelalter nicht erfunden werden können. Es ist ein Bund ohne Bundesregierung, ohne Bundesgericht. Jener Vertrag, statt die Gesammtheit zu vereinen, scheidet sie; statt sie zu stärken, lähmt er sie. Denn die souveräne Gewalt behielt jeder der fünf und zwanzig Kantone für sich allein; dem Bunde gehört keine an. Die auf der Tagsatzung beschlossenen allgemeinen Gesetze sind wieder nur Verträge, entweder Einzelner unter sich, oder der Mehrheit für Alle. Dabei gilt die Stimme eines von kaum 14,000 Menschen bewohnten Kantons gerade soviel, als die eines andern, welcher beinahe eine halbe Million Einwohner zählt; die des ärmsten, der nicht einmahl die jedem Staat nothdürftigsten öffentlichen Anstalten besitzt, soviel als die des reichsten, und gewerbigsten; die des bildungslosesten, wo noch vor 20 bis 30 Jahren nicht einmahl die Grundgesetze des Staats in Schrift verfaßt waren, soviel, als die des civilisirtesten Theils vom Schweizervolk. So kann geschehen und ist geschehen, daß eine schlau erkünstelte, oder zufällig gebildete Stimmenmehrheit der schwächsten Kantone, mit einer Bevölkerung von 500,000 Einwohnern, an eidsgenössischen Tagen den größern und gebildetem, das ist anderthalb Millionen Schweizern, gebieterisch vorschreibt, Wünsche, Ansichten und Interessen derselben vernichtend. Man darf daher den eidsgenössischen Bund weder mit dem wohlgeordnetem deutschen Bund, noch mit dem der nordamerikanischen Vereinstaaten, in Reih und Glied stellen. Man darf sogar bestimmt vorausverkünden, daß diesem gebrechlichen Bunde in nicht gar entfernter Zukunft natur- nothwendig eine große Katastrophe bevorsteht, sey es, daß sie auf 413 dem Wege der Gewalt oder des friedlichen Einverständnisses erscheine. Denn die Elemente der Civilisation, welche hier zusam- mengepaart stehen, sind einander zu unverwandt, als daß sie, aus den aohaltenden Gährungen, ohne neues Bindemittel, in ein ruhiges Verhältniß übergehen könnten. Die Industrie und Bildung der volkreicher» Kantone kann sich in ihren Fortschritten unmöglich durch den starren Eigensinn armer Hirtenländer hemmen, und von der trägen Unwissenheit derselben auf immerwährende Zeit das Gesetz geben lassen. Alle Bemühungen verständigerer Staatsmänner, seitdem 1.1831 die Kantone zur Bessergestaltung des eidgenössischen Bundesvertrags zu vereinen, blieben fruchtlos. Sie wurden durch Leidenschaftlichkeit eines aufgeregten Partheigeistes, durch Selbstgefälligkeit einzelner Regierungen im Besitz ihrer Kantonalsouveränetät, durch Furcht Andrer vor Aufopferung oder Schmälerung der materiellen Interessen ihres Gebiets , und durch Argwohn von 59 Mönchsund Nonnenklöstern so wie von einem Theil des katholischen Clerus vereitelt. Ohne verbesserte Form des Bundes, ohne Vorhandenseyn einer gemeinschaftlichen Centralregierung, wie beschränkt immerhin deren Gewalt seyn möge, ohne Abhülfe des schleppenden Geschäftsganges der Tagsatzungen, welche die gesetzgebende Autorität des Bundes darstellen sollen, wird die Schweiz fort und fort ein in sich zerrissenes, unselbstständiges Leben führen. Jene Tagsatzungen, schon itzt ein Spott des einsichtigern Volks, sind für den Zweck, gemeinsame Beschlüsse zum Heil der Gesammtheit zu ergreifen, so widersinnig organisirt, daß eben dadurch die Bildung von Beschlüssen gehindert werden muß. Wenn diese denn- noch zu Stande kommen, ist es blos dem Zufall, oder der pflichtvergessenen Kühnheit von Abgeordneten zu verdanken, welche Muth genug haben, für das Gemeinbeste, unter dem Drang der Umstände, nicht den Aufträgen ihrer Kantonalbehörden, sondern eigenmächtig ihren bessern Ueberzeugungen zu folgen. Denn statt daß die Deputirten der fünf und zwanzig kleinen Souveräne über die im Wurf liegenden Bundesangelegenheiten sich frei berathen, und, nach Würdigung aller Verhältnisse, einen wohldurchdachten Vorschlag den Kantonen zur Prüfung und Annahme oder Verwerfung vorlegen können: sind es fünf und zwanzig von einander unabhängige gesetzgebende Versammlungen, welche, um die Interessen der übrigen Kantone unbekümmert, und meistens unbekannt mit deren Verhältnissen, Vorschläge thun, in denen sie die örtlichen Bedürfnisse ihrer kleinen Gebiete zum Maaßstab 414 für das Interesse des gesammten Bundes darbieten. Die Gesandten an der Tagsatzung empfangen dann bindende Verpflichtung, diese Vorschläge in der Bundesversammlung geltend zu machen. Jeder derselben vertheidigt alsdann vergebens die seinigen; denn keiner darf vom empfangenen Auftrag abweichen. So werden viele der wichtigsten Angelegenheiten Jahre lang von Tagsatzung zu Tagsatzung, ohne Ergebniß, umhergezogen. Nichts natürlicher, als daß diese Unbeholfenheit dem eidsge- nvssischen Gemeinwesen schon verderblich genug geworden ist und bleibt; daß damit der Kantone ewiger Zwiespalt ohne Unterlaß genährt und gemehrt wird; daß von diesen Reibungen nur die Politik auswärtiger Mächte, sobald sie will. Gewinn zieht, indem sich die gegenseitig erbitterten Kantonalregierungen um so leichter in das Interesse dieser oder jener Macht verwickeln lassen. Umtriebe fremder Diplomaten finden dabei den freiesten Spielraum. Bald übernimmt, wie in jüngster Zeit geschah, die päpstliche Nuntiatur, bald das französische Ministerium, eine Rolle in eidsgenössischen Angelegenheiten, und die diplomatische Sünde eines einzelnen Kantons gegen das Ausland wird den zwanzig andern, die darum kaum wußten, zum Vorwurf und Verbrechen gerechnet. Der eidsgenössische Staatswirrwarr mag in ruhigen Zeiten ziemlich harmlos von den übrigen Mächten angesehen werden. Aber in Zeiten der Spannung, oder des Kriegs unter den mitteleuropäischen Reichen, kann er, diesem oder jenem von ihnen, schwere Gefahr und späte Reue bringen. Die Neutralität einer von Haus aus kriegerischen Nation von mehr denn zwei Millionen , *) hinter ihren Seen, Strömen, Felsenpäffen und Glet- *)Nach der in den Jahren 1836 und 1837, laut Beschluß der Tagsatzung, in allen Kantonen mit Sorgfalt veranstalteten Volkszählung, betrug die Gesammtbevölkerung der Schweiz 2,179,246 Seelen. Davon hatten die Kantone 1. Zürich. 231,576 8. Glarus. 29,348 L. Bern. 309,174 9. Zug 's. 15,655 3. Luzern -f . . . . 124,521 lo. Freiburg . . . 91,145 4. Ury s-. 13,519 11. Solothurn f . . . 63,196 5. Schwyz s- . . . . 40,650 12 . Basel, Stadt * . . 21,321 6. Unlerwalden nid dem 13. Basel, Landschaft . 41,103 Wald f . . . 10,203 14. Schaffhausen * . . 31,125 7. Unterwalden ob dem 15. Appenzell außer Wald t . . . 12,368 Rhoden * . . . 11,080 415 schern, zwischen Deutschland, Italien und Frankreich, kann für diese Nation selbst nicht wichtiger seyn, als für deren Nachbarreiche. Der Bestand einer großen Scheidewand ist Nothwendigkeit für dieselben; daher die immerwährende Neutralität der Schweiz nicht nur von allen Höfen Europens anerkannt, sondern für ihr eignes Zutreffe von ihnen selbst, gefordert. Aber dieser regierungs- lose Staatskörper, dieser unsouveräne Bund von einem vollen Viertelhundert Souveränen, ist durch seine gegenwärtige Verfassung außer Stand, Neutralität mit Nachdruck zu handhaben. Das bedarf keines Beweises mehr. Der Wiener Congreß im Jahr 1814 wandte der monströsen Schöpfung der eidsgenösslschen Staatsform zu wenig Aufmerksamkeit zu. Er begieng noch einen größer» Fehler. Er vereinigte mit den schweizerischen Democratien sogar ein Für- stenthum; setzte, als stimmgebenden Abgeordneten desselben, einen preußischen Unterthan in die oberste Bundesbehörde, und sicherte damit einer dritten Macht ganz unmittelbaren Einfluß zu, welchen Oesterreich und Frankreich, durch ihre Gesandten, nur sehr mittelbar gewinnen können. Der angestammte democratische Geist der Schweizer verträgt sich überdies, wir haben es erfahren , mit den monarchischen Formen und Ideen ziemlich schlecht; und im Innern jenes Fürstenthums selbst verbreitet sich unter den Regierten, im Gegensatz zu den Regierern, mehr republikanischer, als monarchischer Sinn. Beim ersten feindseligen Zusammenstoß Frankreichs und Deutschlands wird in Neuenburg die demokratische Parthei sicherlich die allgemeinen Wirren für ihren Vortheil benutzen; anderseits jeder Krieg Preußens mit Frankreich die Schweiz in denselben verwickeln und ihre Neutralität aufheben. Bei allen Mängeln des schweizerischen Bundes, der im Jahr 16- Apvenzell inner 21. Tessin-s.113,92 Rhoeen ch . . . 10,34g 22. Waat.183,28 17. St. Gallen ... . 158,863 23. Wallis -f .... 75,79 18. Graubünden . . . 88,506 24. Neuenburg* . . . 58,61 19. Aargau. 182,755 25. Genf.53,75 2V. Thurgau .... 84,124 - Gesammtzahl 2,179,246 In diese Summe sind aber auch etwa 50 bis Ko,ooo in den Kantonen der Schweiz wohnende Ausländer begriffen. Die protestantische Bevölkerung macht mehr als drei Fünftheile, die katholische aber nicht volle zwei Fünftheile der gesummten Vvlkszahl aus. Die oben mit einem s- bezeichneten Kantone sind katholisch; die mit einem * bezeichneten protestantisch; die übrigen paritätisch. 416 1815 ohne Zustimmung des Volkes, während des gestatteten Durchzugs fremder Heere gegen Frankreich, von einer aristokratischen Faction geschaffen ward, ist der Geist der, Nation besser, als ihr Bund, und kann in Tagen allgemeiner Gefahr vielleicht seine Lücken ergänzen. Auch sind zum Glück die fünfzehn Artikel des Vertrages so geschmeidig und dehnbar, daß, trotz ihm, schon Manches für kräftigere Centralisation der zersplitterten Kräfte gelungen ist. Ich rechne dahin das eidsgenössische Heerwesen, dessen Vervollkommnung fortwährend betrieben wird. Die schweizerischen Schlachthaufen ziehen nicht mehr in buntscheckigen Massen, ungeübt, und betend mit Rosenkränzen in den Fingern, gegen den Feind ihres Vaterlandes, wie zum Theil noch imJahr1798, oder wie heut noch bei den republikanischen Mexikaner». Die Truppen aller Kantone bilden ein Ganzes und Eines. Der erste Bundesauszug und die Reserve, welche, ungerechnet dasStaabs- personal, 67,516 Mann betragen sollen, sind in ihren Compagnien nicht nur vollzählig, sondern übervollzählig, so, daß sie, laut vorliegenden Etats, im Jahr 1837 am ersten Jänner 74,545 Mann betrugen. *) An diese schließen sich gegen 200,000 Mann stark, die Landwehrbataillone, in welche diejenigen Milizen eintreten', welche ihre Zeit in der Elite und Reserve ausgedient haben. Ungerechnet die eidsgenössischen Musterungen und Waf- fenübungen in den einzelnen Kantonen, werden alle zwei Jahr aus mehreren Kantonen eidsgenössische Uebungslager zusammengezogen. Ungerechnet die eidsgenössische Militärschule in Thun für alle Waffengattungen, besonders für Genie- und Artillerie- wesen, bestehen in einzelnen Kantonen besondere Militärunterrichtsanstalten und Osficiervereine zu gegenseitiger Belehrung. Ueberhaupt lebt in den civilisirtern Völkerschaften der Confö- deration gegenwärtig ein aufstrebender Geist, der großartiger ist, als der Geist in ihren fünfzehn Bundesparagraphen. Ein Alle vLr- *) Nämlich 2t Compagnien Artillerie, 2009 Mann, Train 1124 Mann, PontonnierS, 1 Compagnie 11« Mann, Sappeurs 4 Compagnien 31« Mann, Kavallerie, itt/, Compagnie S6i Mann, Scharfschützen, 20 Compagnien 2230 Mann, Infanterie, 217^ Compagnien 30,K88 Mann. Eben so ist das schwere Geschütz von verschiedenem Kaliber, und die Arlilleriemunition mehr, als reglementarisch gefordert wird, vorräthig nachgewiesen worden. Das bisherige eidsgenössische Militärreglement, sammt Strafcodex, wird abgeändert; schon ist es von der Tagsatzung des Jahrs i837 berathen und von einer Mehrheit der Kantone genehmigt. 417 einigender Nationalsinn erhebt sich gemach über die beengenden Schranken des Herkömmlichen; assimilirt die Gesetzgebungen nebst den öffentlichen Einrichtungen, und drängt, im Verhältnisse der wachsenden Kenntnisse, höhern Bedürfnisse und Kräfte aller Stände, die Regierungen selber zur Vereinfachung der Verwaltung und Beschleunigung des Fortschreitens. Dies offenbart sich, wie im Mi- litärwesen, Schulwesen, Straßenbau u. s. w. besonders auch in den Anstrengungen, die Menge der Hindernisse aus dem Wege zu räumen, welche den innern Verkehr und Handel auf alle Weise bisher erschwerten und hemmten. Jeder Kanton hatte eigne Maße und Gewichte, verschieden von denen der andern; einer oft zehn und zwanzig und mehr Arten derselben, und noch neben diesen den Gebrauch ausländischer: der Kanton Luzern z. B. viererlei Längenmaß, neunerlei Hohlmaß, viererlei Gewichte; der Kanton Aargau fünf verschiedene Fußmaße, zehn Ellenmaße, neunzehn Hohlmaße für trockene Gegenstände, eilf Hohlmaße für Flüssigkeiten, eilf verschiedene Pfundgewichte. Nicht minder Verschiedenheit zeigte sich im Kanton St. Gallen, Thurgau u. s. w. Erst seit dem Jahre 1833 vereinigten sich die Staaten der nördlichen Schweiz, zwölf an der Zahl, *) mit dem Jahre 1838 ein allgemeines Maß - und Gewichtsystem bei sich einzuführen. Als Grundeinheit wurden drei Zehntel deS Meters angenommen, und diese bilden den jetzigen „Schweizer fuß." Aus dieser Fußlänge sind alle übrigen Maße abgeleitet, und dazu für eine Schweizerstunde Wegs 16,000 Fuß bestimmt worden. Als Einheit aller Hohlmaße für trockene Gegenstände gilt das «Vie rt e l," welches fünfNeuntheile eines Kubikfußes, oder dreißig Pfund destillirten Wassers (15 Litres) faßt. Für Flüssigkeiten ist das „Maß" die Einheit, welches drei Pfund destillirten Wassers, (oder ein Achtzehntel des Kubikfußes, oder anderthalb Litres) faßt. — Auch für Einführung eines allgemeinen Münzfußes wird es reger, da fast jeder Kanton, groß oder klein, noch immer eignen Münzfuß hat, oder gar keinen; fremde Geldsorten nach Belieben werthet, und Münzen ausprägen kann, wenn und wie es ihm gefällt. Dieser Münzenwirr- warr ist aber dem innern Verkehr und Waarendurchgang bei weitem nicht so hinderlich und hemmend, als die Menge der verschiedenen Weggelder, Gränz - oder Consumtionszölle, Brückengelder», s.w. *) Zürich. Bern, Luzern. Freiburg. Solotburn. Basel, Schaffhau» sen, Zug, Glarus, St. Gallen, Aargau und Thurgau. 418 welche in jedem Kanton auf andre Weise bezogen werden, und für jeden einen beträchtlichen Theil des Staatseinkvmmens ausmachen, daher auch schwer zu beseitigen sind. Diese Zolle und Weggelder, sowie die Menge der Gebirgsstraßen, indem sie den Transport der Waaren verzögern, erhöhen auch den Preis des Transports, der bedeutend theurer ist als in Frankreich, Deutschland und Italien. Schon längst wird die Vereinfachung des schweizerischen Zollwesens betrieben. Doch fast jeder von den kleinen Staaten, wenig um das JntressederGesammt- h e it bekümmert, welches doch seegenvoll auf die einzelnen zurückwirken müßte, fürchtet dabei nur Schmälerung seiner gegenwärtigen Einnahmen. Wenn demungeachtet Industrie und Verkehr, wie sehr diese auch noch dazu durch die Zollgesctze und Zolllinien der Nachbar, reiche bedrängt werden, in der Schweiz blühen, ist es wahrlich wunderhast. Dies Land, rauh und arm von Natur, wird durch die verständige Hand des Fleißes zur Fruchtbarkeit gezwungen; von Hügeln und Bergketten in allen Richtungen durchkreuzt, ist es allseitig mit vortrefflichen Landstraßen übersponnen; — genöthigt, rohe Stoffe für seine Manufacturen und Fabriken aus weit entfernten Gegenden mit großen Kosten herbeizuschaffen, die Schaafwolle aus Deutschland, die Seide aus Italien oder Frankreich, die Baumwolle über das atlantische- und Mittelmeer u. s. w., wetteifert es dennoch in Wvhlfeilheit und Güte seiner Producte mit denen jedes andern Handelstaates, selbst Englands; — entfernt vom Meere, ohne Hafen, bringt es seine Waaren über die stürmischen Seen und oft verschneiten Gebirgspässe mit Glück und Gewinn auf den vornehmsten Märkten der Erde an Mann. Vergebens erschwerten, ja verminderten die französischen Douanen auf einer, und die Mauthlinien des deutschen Zollvereins auf der andern Seite, den Ausgang der Schweizerartikel: es eröffneten sich für dieselben in entfernten Welttheilen, unter Concurrenz der größtern Handelsmächte, neue und glückliche Wege zum Absatz. Das ganze Geheimniß dieser wunderbaren Erscheinung liegt aber in dem Grundsatz der in der Schweiz vollgeltenden Handelsfreiheit. Hier mischt sich keine Dictatur der Staatsgewalt, vorgreifend und vorschreibend, in die Angelegenheiten der Industrie des Volks. Es weiß sich dies besser zu berathen, als es von jedem Finanzminister, berathen werden kann. Indem es aus seiner Mitte die gesetzgebenden Versammlungen besetzt, ver- 419 gißt es nicht sachkundige Fabrikanten und Handelsleute dahin zu ernennen, welche wohl wissen, daß der Reichthum der Staatskassen keineswegs der Reichthum des Landes sey. Jene Prohibitiv« systeme der benachbarten Reiche, welche, mit Strenge durchgeführt , anfangs wohl längs den Gränzen der Schweiz den alten Verkehr störten und bedrängten, änderten im Allgemeinen nichts in den herrschenden Ansichten. Das anders gewordene Verhältniß nöthigte nur, für den erschütterten Handelsverkehr, andere Mittel und Wege zu entdecken und zu benutzen. Er gewann seitdem sogar mächtigern Aufschwung. Argwöhnisch gegen das Ausland und den politischen Einfluß der Fremden, mogte die Schweiz sich weder den Douanen des deutschen Zollvereins, noch Frankreichs, einseitig anschließen und die Moralität des Volks, durch Schmuggelei , vergiften lassen. Man wußte ohnehin, daß jene künstliche Treibhausindustrie das Wohlseyn der Nationen schwerlich sehr befördern, und der erste Krieg im mittlern Europa alle Sperren wieder sprengen dürfte. Man ließ, nach wie vor, den Waaren aller Länder freien und ungehinderten Eingang und Durchgang, während die Schweizerartikel bei jenen schwer besteuert werden. Und weit entfernt, im Lande Abnahme des gewerbigen Lebens zu sehen, erblickt man Vermehrung desselben und Wachsthum des öffentlichen Wohlstandes und Wohlseyns. Es ist dies aber nicht von der gesammten Schweiz, ich wiederhol' es, geltend, sondern nur von den Völkerschaften der Hochebne, nordwärts dem Fuß der Alpenkette. Sie sind denen, welche in den Thälern der höchsten Alpen selbst wohnen, an Bildung, Gesittung nnd regsamer Thätigkeit zu weit vorangeschrit- ten. Wallis, Uri, Schwyz, Unterwalden, Tessin aber, nebst einem großen Theil des Berner - und Graubünd- ner Oberlandes, liegen meistens noch in derselben kenntniß- armen Unbeholfenheit und Dürftigkeit darnieder, in welcher sie vor ein-und zweihundert Jahren gesehen worden sind. Vielen Gegenden mangeln sogar noch die gemeinsten Handwerker. Ich weiß wohl, man rühmt diese ruhige Genügsamkeit der Hirtenfamilien, ihre Sittenein- falt, ihr patriarchalisches Naturleben, im Gegensatz zu den Ueppigkeiten und Verirrungen dercivilisirtern Welt. Ich Habenichts dagegen. Jede Kulturstufe der Völker, die höchste, wie die niedrigste, führt ihren eigenthümlichen Glanz aber auch ihren eigenthümlichen Schatten mit sich. Wer aber wird auf der niedrigsten Stufe verharren wollen ? Wer kann es ? Wüßte das Thier, wer der Mensch wäre, es würde nicht Thier bleiben wollen. Weder Albrecht von Halter, 420 noch Salomon Geßner, fühlten Versuchung, mit den Schäfern und Aelplern das kümmerliche Loos zu theilen, welches sie in ihren Gesängen und Idyllen mit allem Zauber der Poesie verherrlichen. Selbst Rousseau gefiel sich inmitten der Künste und Wissenschaften besser, als in der Wildniß der Urwälder bei den »Naturmenschen." Warum aber, läßt sich fragen, bleiben die kleinen Völkerschaften im Schoos der Alpen so tief hinter der hohem Bildung ihres Zeitalters zurück? Ist ihre Armuth vielleicht eine Folge von unbezwingbarer Kargheit der Gebirgsnatur? Nein, denn ihre großen Hauptthäler erfreuen sich meistens eines fruchtbarern Bodens , eines mildern Himmels, als viele Gegenden des Hochlandes der industriellen Schweiz, wo Wissenschaft und Kunstfleiß blühen, wie in Appenzell außer Rhoden und Glarus, Lo c l e und L a chaur d e fon ds.— Oder sind jene in ihren Felfenthälern sonder Verbindung mit der übrigen Welt, sonder Kunde von deren Fortschritten? Nichts weniger als das. Sie besuchen und bewundern selber die angebautern und gewerbreichern Landschaften und Städte, oder werden von den reichern Nachbarn besucht; und tausend Fremde wandern alljährlich durch die alpischen Felsenthäler und Einsamkeiten. Woran liegt's? Mich dünkt, an der geistigen Unfreiheit der Hirtenländer neben politischer Freiheit. Diese wird, durch jene, alles Segens beraubt und ein todter Schatz , auseinander gefallen in eine Menge armseliger, örtlicher Rechtsame, Freiheiten, Vorrechte, die ,einander binden lähmen und Entfaltung des Ganzen hindern. Solcher beengenden Zustände gewohnt von Kindesbeinen an; eifersüchtig auf Bewahrung seines Theils von jenen Freiheitssplittern , überläßt der Aelpler die Sorge um den Staat den Männern, die vermögend genug sind, ^um keinen oder kargen Lohn, die öffentliche Verwaltung zu führen. Stolz auf seinen Antheil an der Gesetzgebung in Landsgemeinden, folgt er vertrauensvoll den Führern. Er fängt erst als Glied des Souveräns an selbstthätig zu werden und nachzudenken, wenn die Führer es dann und wann zu arg treiben, oder wenn seine eignen materiellen Interessen dabei in böses Spiel kommen. Seine Führer oder Landesvorsteher wählt er, aus den wenigen Wohlhabenden oder Reichen im Volk. Diese, in ausländischen Schulen oder Kriegsdiensten erzogen, leiten Gesetzgebung und Verwaltung in der Regel oft genug zu ihrem und ihrer Familien Vortheil, wenigstens nicht zum Nachtheil derselben. Daneben erfreut sie das 421 schmeichelnde Gefühl vvm Besitz der Würde und Gewalt. ES ist ihnen nicht gleichgültig, diese Vorzüge eben sowohl, wie ihre üb» rigen Glücksgüter, in der eignen Familie erblich zu bewahren. So nistet immktten reindemokratischer Formen wirklich die entschiedenste Oligarchie. Dieser aber kann eben nichts gefährlicher werden, als Aufklärung des Volks, und eine aus dem hohem Wohlstand und Kenntnißreichthum entstehende Nebenbuhlerei vieler andern Häuser mit dem ihrigen. Dies zu verhüten wird der Schulunterricht deS Landmanns vernachläßigt; die Frömmigkeit und Weisheit der Altvordern gepriesen, die »auch keine Gelehrten waren"; jede Neuerung , als unheilbringend, verdächtigt; Niederlassung von Fremden, selbst von Schweizern der gewerblichem Kantone, erschwert oder verhindert u. s. w. Eben so sehr, fast mehr noch, als weltlichen Häuptlingen, ist in katholischen Hirtenländern, geistlichen Häuptlingen daran gelegen, daß höhere Verstandesbildung vom Volke abgehalten werde. Denn, bei größerer Einsicht und wachsender Neigung des Landmanns zum Selbstdenken, würde dessen blindes Glauben, und das Vertrauen auf höheres Wissen der Priesterschaft, »»merklich verschwinden, zumal diese Priesterschaft im Allgemeinen selten eigentlich gelehrte Bildung empfangen hat. Die ihr untergeordneten Schulen des Volks bleiben daher im herkömmlichen Elend; zahllose Festtage, Pro- cessionen und Wallfahrten rauben Zeit und Neigung zur Arbeit; mehren Armuth und Trägheit. Wer Besserest zu lehren wagt, geräth'in Geruch der Ketzerei; vertrauter Umgang und gesellige Verbindung mit Protestanten allein schon gefährdet, sagt der strenge Clerus, das Seelenheil der Gläubigen., Daraus erklärt sich zugleich auch die politische Macht der Priesterschaft in den Gebirgen. Sie steht unwidersprochen in Allem, was sich irgend in den Bereich geistlicher Angelegenheiten ziehen läßt. Sie erscheint in Staatsverhältnissen, als geheime Lenkerin, oder offene Gebieterin des souveränen Volks, welches in seiner frommen Rohheit die Clerisei als Dolmetscherin des göttlichen Willens verehrt und schweigend gehorcht. Kein Wunder, wenn die Priesterschaft der kleinen Bergkantone endlich kühn genug wird, ihren Einfluß selbst auf Gang und Schicksal gesammter Eidsge- nossenschaft und sogar auf die Ruhe paritätischer oder protestantischer Kantone geltend zu machen. Vor zwanzig Jahren, zur Zeit der sogenannten Restaurationen, als auch die römische Curie ihre geschwächte Hoheit über Völker und Fürsten mit Concordaten zu restauriren sich anschickte. 422 geschah in der Schweiz der erste Schritt dafür, durch Priester- schaft, Volk und Regierungen der Urkantone. Don daher kam der Anstoß zur Trennung her Schweiz vom Bisthum Constanz. Die Trennung ward vom Papst sogleich, bevor die übrigen Bundesstaaten, welche zur Cvnstanzer Oiöcese gehörten, eilfertig und eigenmächtig ausgesprochen. Losgerissen vom alten Metropolitanver- band mit Deutschland ward die katholische Schweiz fortan in mehrere kleine, machtlose, dem römischen Stuhl unmittelbar untergeordnete Bisthümer zersplittert. Die damaligen Kan- tvnalregierungen ließen sich ein nachtheiliges Cvncvrdat aufdringen, mit der nämlichen Unüberlegtheit, mit der sie schon im Jahre 1815 den Bestand der Klöster einander so förmlich, als den Bestand ihrer eignen Kantonalgebiete, gewährleistet hatten. So war für den Ultramontanismus, für Roms Einfluß auf das Leben der katholischen und protestantischen Schweiz, für die Rechte und Immunitäten des Clerus gegen alle weltliche Gewalt, die Bahn breit genug gebrochen und mit jener Consequenz und Festigkeit verfolgt, die der Politik des römischen Hofes von jeher eigen war. Die schon für sich compacte Streitmasse der Welt- und Klvstergeistlichen zu verstärken, wurden Colonien von Loyvla's Jüngern in die Kantone Wallis und Frei bürg verlegt. Alles ging raschen, geräuschlosen, aber sichern Gangs zum Triumph der Hierarchie, als plötzlich die Zeit der politischen Reformen mit dem Jahr 1829 hereinbrach. Im größern und civilisirtern Theil des gesammten Schweizerlandes wurden , nebst den Usurpationen einer eingedrungcncn Aristokratie, die Usurpationen des päpstlichen Clerus aufgehoben. Klösterlinge und Weltpriester voller Entsetzen, schrien nun über Gewaltthat; erklärten die Religion in Gefahr; versuchten Aufwieglung der Gläubigen. Der heilige Vater in Rom verdammte feierlich die Artikel der Badner Conferenz, in welchen mehrere Schweizerstaaten das Recht der Gesetzgebungen und Regierungen gegen geistliche Einmischung fest gestellt hatten. Der Nuntius verließ Luzern, den Vorort der katholischen Schweiz, und schlug seine Residenz unter den Hirten im Gebirg, im Flecken Schwyz, auf. Eine neue Jesuitencolonie ward neben der Nun- tiatur nach Schwyz gezogen, diesen kleinen Ort zum Bollwerk des Kirchenthums zu erheben; und eine Kette von katholischen Glaubensvereinen durch die halbe Schwyz ausgestreckt, im Noth- fall eine streitbare Glaubensarmee stellen zu können. In Dörfern des Freiamtes (K. Aargau) und des Pruntruts (K. Bern) wurden sogar schon Aufstände vorbereitet. Aber der hellere Geist der in- 423 dustrkellen Kantone und der vom Volk ausgegangenen, und durch Vvlkswillen starken, Regierungen, vernichtete die ohnmächtigen Wühlereien des ultramontanen Clerus schnell, auf welchen die Liebhaber der gestürzten Aristokratie schon hoffnungsvolle Blicke richteten. Unter diesen Liebhabern standen und stehen sogar auch einzelne Protestanten, welche besoldet von Klöstern, oder vom politischen Fanatismus berauscht, nicht errötheten, mit Mund und Feder der Sache des Ultramontanismus das Wort zu reden. Wo aber veredelter Volksunterricht, Freiheit der Presse und des Verkehrs einmal Licht und Wohlstand verbreitet haben, ist es vergebens, die frommen Barbareien des Alterthums zurückzurufen. Selbst in die schattenreichen Thäler des Alpengebirgs zieht allmäh- lig ein heller, ihnen bisher fremd gewesener, Geist ein. Und eben diejenigen, welche ihn dort, in Flugschriften und fanatischen Zeitungen beschwören und verbannen wollen , öffnen ihm, wider ihre Absicht, den Weg, indem sie die wissensarme Volksmenge durchs Lesen der von ihnen verbreiteten Blätter, zum Selbstdenken verlocken, und mit Widerlegung der Meinungen von Gegnern, die Meinungen derselben in die entlegensten Bergwinkel verpflanzen. Gott waltet! - . ,Z, - >..W - ^KM !^LKW .'. ^ ' ->! 4t-M«L '».^ji^ >. r,- ^ -chV^tzl ."L ' S-V .<,'-,'E pichst b'