/ > s- <- ! ^ V. .Xx) ^' «s WerLräge zur Förderung christlicher Theologie. Herausgegeben van v. A. Schkatter, und 0. K. Kremer, Pros. in Tübingen. Pros- in Greifswald. Dritter Jahrgang 1899. Viertes Heft: Iochanan Ben Zakkai, dei^,Zeitgenosse der Apostel. Von v. A^Schtatter. Geschichtlicher Sinn und Rirchlichkeit in ihrenr Zusammenhang. Von I.ill. tbsol. W. Lütgert. Gütcrsloh. Druck und Verlag von E. Bertelsmann. 18 9 9 . Jochanan Brn Zakkai, der Zeitgenosse der Apostel. Von v. N. Schlatter, Pros. in Tübingen. Gütersloh. Druck und Verlag von C. Bertelsmann. 1 8 9 9 . 11. MI135L «L0ILU8 1L Inhalt. Seite 1. Die Studienzeit. 9 2. Die Lehrthätigkeit in Galiläa und Jerusalem. 10 L. Theologische Grundgedanken . ,.30 a) Die Kasuistik.30 b) Die ethische Deutung des Gesetzes.31 o) Der Altar.39 ä) Die Reinigung.41 s) Der Christus.44 k) Das Los der Seele nach dem Tode.46 -4. Jochanans Stellung zu den andern Parteien.48 a) Der Sadducäismus.48 d) Der Zclotismus.öl o) Die täglichen Täufer . 52 ä) Die hellenische Theologie.52 s) Die Apokalyptik.57 l) Die Chasidim.58 5, Jochanans Erlebnisse während des Kriegs.61 <6. Jochanans letzte Zeit.68 .1 ^ i- ^ UM, ^ ^ -7- ^7 7-57 r-g^r. ^K.7 ' :-7^e7 ^.'7? .n' : '" M M ^'MW5E: ' ^ -' -— ^ .'^77 _ . i'E^k ÄMWP ''-^W-^. 7-7-7'^7 7 Aer wirksamste derjenigen Theologen, die gleichzeitig mit den Aposteln in Jerusalem standen, war Jochanan b. Zakkai: die Sammlung und Erklärung seiner Worte gehört zu den Vorarbeiten zur neutestamentlichen Theologie?) Bei der religionsgeschichtlichen Forschung wird gegenwärtig häufig Gesichtspunkten ein großer Einfluß eingeräumt, die zur Unterschätzung der Theologie und ihrer Bedeutung für die Gemeinde führen: eine stille Tradition einer niederern Religiosität erhalte sich unter der öffentlichen Lehre und sei für die Gestaltung der Gemeinde wichtiger, als die ins helle Licht öffentlicher Lehre und wissenschaftlicher Arbeit emporgehobenen Gedanken. Soll aber die Abwehr der falschen Gleichstellung der Religions- mit der Lehrgeschichte ein Fortschritt gegenüber dem ältern Geschichtsbild bleiben, darf sie nicht in Unkenntnis der Theologen und ihrer Arbeit ausarten, auch nicht für die jüdische Gemeinde der neutestamentlichen Zeit, in der notorisch nicht die Apokalyptiker und Mystiker, sondern das Rabbinat die Leitung gewann und der Gemeinde nach innen und außen die Gestalt gegeben hat. So weit die Geschichte der öffentlichen Lehre nicht klar liegt, fehlt es auch der Beobachtung jener Unterströmungen an den erforderlichen Maßstäben?) ') Jost, Grätz, Hamburger, Lohen, Bacher, Spitz (Rabban Jochana» ben Satkai, Rektor der Hochschule zu Jabne, Berlin 1883 ) rc. fallen in den panegyrischen Ton. Der Pancgyrikus wird aber immer unaufmerksam auf die Geschichte. Schürers Sammclfleiß versagt bei solchen Ausgaben ganz. Die sachkundige Statistik, die Dalman, „Worte Jesu I", für die Hauptbegriffe der Evangelien giebt, bedeutet einen großen Fortschritt; nur ist Statistik noch nicht Geschichte. 2) Ein sprechendes Beispiel giebt Boussets Traum über den Erzengel Michael, in dem Paulus als Jude den Mittler zwischen Gott und der Welt verehrt habe, und der ihm sodann mit Jesus zum paulinischen Christus zusammengeflossen sei, ausgeführt in Luekens „Michael". Man thut hierbei, 8 Es ist das Traditionsprincip gewesen, das Jochanan seine Bedeutung für Israel gab. Er war noch im Lehrsaal Hillels und Schammais unterrichtet worden, andrerseits der Lehrer derjenigen Lehrer, die nach dem Tempelbrand das Gesetz den ju- däischen Gemeinden vorlebten. Als Mittelglied zwischen dem Anfang und Schluß des Jahrhunderts wurde er der wichtigste Bürge der Tradition über den Tempelbrand hinweg. Er war zwar nicht der einzige Lehrer, der aus dem alten Jerusalem in die neue Zeit hinüberreichte, auch der alte Zadok, Nechonja Ha-Kanna, der kleine Samuel u. a. haben den Tempelbrand überlebt, und dem Hause Schammais fehlte es in der Zeit Domitians ebensowenig an Männern, die diese Spielart des „Wandels" fortsetzten. Daß er für die Spätern alle Zeitgenossen überragt, und nur noch Gamaliel (II) mit ähnlicher Bedeutung als Zeuge der Tradition neben ihm steht, hängt vor allem an seinem Schülerkreis, daran, daß im Verkehr mit Jochanans Jüngern Akiba seine Wissenschaft vom Gesetz erworben und verfeinert hat, der seinerseits die ganze folgende Schule und Litteratur beherrscht. Was den Spätern von ihm vorlag, war nichts Geschriebenes, da keine längere juristische Deduktion oder exegetische Ausführung seinen Namen trägt. Erhalten sind einzelne „Werke", und Sentenzen?) Das von ihm Überlieferte ist seiner Form nach somit den Evangelien nächst verwandt. Es giebt zu diesen stilistisch keine genaueren Parallelen, als die Erinnerungen an die Werke und Worte der Lehrer des ersten Jahrhunderts, wie sie in der kasuistischen Litteratur erhalten sind. Innerlich freilich sind beide Überlieferungen weit voneinander getrennt. als ob wir von den Theologen Jerusalems nichts wüßten, und jede Konjektur an dieser Stelle erlaubt sei. >) Erhalte» sind sie anf denselben litterarischen Wegen und mit derselben Zuverlässigkeit, wie die höchst umfangreichen Texte über die Aussagen seiner Jünger, namentlich Eliesers und Josuas. Auch die Hauptmasse der letzter» stammt sicher aus Jochanans Unterricht und es wird oft Zufall sein, ob ein Satz auf Jochanan zurückgeführt wird oder nicht. Ich beschränke mich auf diejenigen Worte, die ausdrücklich mit seinem Namen überliefert sind. 9 1. Die Studienzeit. Jochanan trat nicht schon als Knabe in den Lehrsaal, sondern war, ehe er das Studium zu seiner Lebensarbeit machte, Krämer. „40 Jahre beschäftigte er sich mit Handel, 40 Jahre diente er den Weisen, 40 Jahre versorgte er Israel"; 8ikrs Osut. 357; 6lsn. 100. d. sunli. 41 g,. Da das fertige Schema dieser Zahlen dem Leben Moses entnommen ist, und ebenso auf Hillel und Akiba angewandt wird, sagt es uns nur, daß Jochanan erst als Mann in den Kreis der „Weisen" trat, und ein hohes Alter erreicht hat. Daß er die Lehre „von Hillel und Schammai empfing", ^dotli 2, 8, ist nicht zu bezweifeln, denn die ganze Anlage des Stammbaums der Tradition, wie ihn der Traktat über die „Vater" giebt, beruht auf diesem Satz. Somit läßt sich das Geburtsjahr Jochanans nicht über den Anfang unsrer Zeitrechnung hinabrücken. Gegen das Ende der zwanziger Jahre studierte Paulus nicht mehr unter Hillel, sondern unter Gamaliel; in den dreißiger Jahren hat dieser im Synedrion das gewichtige Wort. Dem entspricht, daß in den sechziger Jahren nicht, mehr Gamaliel, sondern sein Sohn Simeon das Haus Hillels führt. Daß Gamaliel nicht Sohn, sondern Enkel Hillels war, stört, da Hillel alt wurde, die Rechnung nicht?) Jedenfalls ist es nicht ratsam, Hillels Lehrtätigkeit weit über das Jahr 20 hinaus zu erstrecken. Und wenn wir uns auch Jochanan nicht viele Jahre als seinen Jünger und Genossen zu denken brauchen, zu dürftig werden wir seinen Umgang mit ihm auch nicht schätzen dürfen. Er hat somit das Wirken Jesu und die Ereignisse, aus welchen die Kirche entstand, als Mann mit vollem Bewußtsein mit erlebt. Es entspricht der Zeitfolge, daß Jochanan der „Kleine" unter Hillels Jüngern heißt, d. h. derjenige, der die geringste Zahl von Jahren bei Hillel zugebracht habe. Es wird überliefert, 0 l>. sabb. 15s.: Hillel und Simeon, Gamaliel und Simeon, zusammen rao Jahre; die Rechnung ist ungefähr richtig. Daß Hillels Sohn Simeon nirgends als Autorität angerufen wird, giebt zum Zweifel an dieser Angabe kein Recht. Sie wird durch die Thatsache geschützt, daß Gamaliel trotz des hohen Alters Hillels nach dem Tode desselben deutlich noch eine längere einflußreiche Lehrthätigkeit übt und selbständige Geltung gewonnen hat. Das fügt sich gut mit der Angabe zusammen, daß er sein Enkel gewesen sei. 10 daß er trotzdem Hillels Freude und Hoffnung war. „Einst wurde er (Hillel) krank — Aboth Nathans: in der Stunde seines Scheidend) — und es versammelten sich alle, um ihn zu besuchen. Es stand Rabban Jochanan b. Zakkai im Hofe. Er sagte ihnen: wo ist der Kleine von euch? welcher Vater für die Weisheit und Vater für die Geschlechter sein wird; man braucht nicht zu sagen, daß es der Große von euch sein wird. Sie sagten ihm: stehe, er ist im Hofe. Er sagte ihnen: er komme herein. Als er herein kam, sagte er ihnen, Spr. 8, 27: es giebt ein Erbe für die, die mich lieben, und ihre Schätze fülle ich," s. usck. 5, 39 d (im wesentlichen derselbe Text Aboth Nathans Schechter 57). Dieser Text zeigt deutlich, daß diese Männer in ihrer Wissenschaft einen ernsten Beruf sahen und von der Notwendigkeit derselben durchdrungen waren. Israel kann ohne die „Weisheit" nicht leben. Wer ihr zum Pfleger und Erhalter wird, wird zum Pfleger und Erhalter der Geschlechter. Darum war es ihr ernstes Anliegen, Erben zu hinterlassen, die die Arbeit, wenn sie der Tod aus ihrer Hand nahm, fortsetzten. 2. Die Lehrtätigkeit in Kalikäa und Jerusalem. „Sie sagten über Rabban?) Jochanan b. Zakkai: zeitlebens sprach er nie über gewöhnliche Dinge, und ging nie vier Ellen ohne Thora und ohne Thesillin, und niemand war früher als er im Lehrsaal, und nie schlief er im Lehrsaal weder mit Vorsatz st zu NI022 — sterben ist 2. Tim. 4, 6; Phil. 1 , 23, der Zwilling. Ich sage absichtlich „Zwilling", um die Prioritätsfrage nicht zu entscheiden, weil es nicht nur Semitismen im jüdischen Griechisch, sondern auch Gräcismen im jüdischen Hebräisch und Aramäisch giebt, d. h. Bildungen, die den Zweck haben, einen griechischen Ausdruck identisch beizubehalten. Die drei sprachlichen Gebilde, die damals in Jerusalem nebeneinander lebten: das Schulhebraisch, das Volksaramäisch und das Griechische, standen alle zu einander in starker Assimilation. Die Parallelen, die ich notiere, haben übrigens mit einem semitischen Urevangelium nichts zu thun, sondern wollen nur darauf aufmerksam machen, wie da, wo die Zeitgenossen der Apostel in Jerusalem vor uns stehn, die sprachlichen Kongruenzen uns fortwährend begegnen. st Wenn die Spätern über Jochanan sprechen, heißen sie ihn stets Rabban, Dazu im wesentlichen richtig Dalman, Die Worte Jesu I, 11 noch zufällig, und meditierte nicht an unreinen Orten, und ließ niemand im Lehrsaal zurück, ehe er hinausging, und niemand sah ihn sitzen und schweigen, sondern sitzen und repetieren/) und niemand öffnete seinen Jüngern die Thür als er selbst, und er sprach kein Wort, das er nicht aus dem Munde seines Lehrers gehört hatte/) und nie sagte er: die Zeit ist da, um aus dem Lehrsaal aufzustehn, außer am Vorabend des Passah und des Versöhnungstags, und so verhielt sich N. Elieser sein Jünger nach ihm," d. sullka 28 a. Von diesen Sätzchen ertragen einige keine pedantische Auslegung; in der Summa ist das Bild, das sie von Jochanan geben, sicher wahr. Es weist den Ernst ganzer Hingabe an das Lehramt auf. Diesen Männern war ihr Studium ihr Gottesdienst; der absolute Anspruch, der stets in diesem liegt, wird empfunden, und treibt einen starken Willen hervor, der das ganze Wesen des Mannes bestimmt. Erst in Jerusalem erhielt die „Weisheit" diesen Ernst. Daß in Jerusalem eine wissenschaftliche Bewegung von diesem Umfang entstand, wie das Rabbinat sie uns vorführt, gehört zu den Einwirkungen des Hellenismus auf Israel. Nachdem und weil es in Athen und Alexandrien Philosophen gab, gab es in Jerusalem Rabbinern Hier kommt aber in die „Weisheit" ein erhöhter Ernst; denn sie wird Beruf, Dienst, Pflicht. Die Männer Jerusalems standen ja mitten in einer Gemeinde. Der griechische Weise war isoliert, dachte für sich und seinesgleichen, und hatte im Kosmopolitismus nur einen unzulänglichen Trost für seine innerliche Abgeschiedenheit von seinem Volk. Der Weise Jerusalems „arbeitet im Gesetz", welches mit ihm das ganze Volk zu erfüllen hat, und wußte deshalb, weshalb er dachte und lehrte. Die Gnome, mit der Jochanan in der Liste der Väter steht, schlägt hier kräftig ein. Sie warnt davor, die besondere Gesetzes- 272 ff. Nur die Vermutung, daß Rabban älterer Name des Patriarchen gewesen sei, gleich dem spätern Nasi, ist schwerlich richtig. Jochanan war jedenfalls nicht „Patriarch". Wo in den Texten die Jünger zu Jochanan reden, nennen sie ihn stets Rabbi. ') Gemeint ist die murmelnde Wiederholung der überlieferten Sätze, ohne deren stete Übung der Stoff dem Gedächtnis entfiel. 2) Vgl. Luk. 22, 71: «oral -fxooo«/7i^ 70Ü 070/,«,ox «o,ov, vgl. Act. 22, 14. 12 treue zum eignen Glück und Ruhm auszunutzen. „Wenn du das Gesetz viel gethan hast, greife nicht nach Gutem für dich; denn dazu bist du geschaffen/") dazu, die Thora zu thun. Es muß so sein; das Gesetz muß gethan, darum auch studiert und gelehrt werden. Jene Schilderung Jochanans beschreibt seine Unermüdlichkeit im Lehrsaal?) Solange er in Jerusalem lehrte, wechselte mit diesem auch der Tempel ab. Gegen die Regel, daß aus dem Tempel keinerlei Nutzen gezogen werden darf, wird eingewandt: „R. Jochanan saß und lehrte im Schatten des Tempelhauses," s. uboäs. 8. 3, 43 d - d. xss. 26 a. Es blieb somit im Tempel bis zu seiner Zerstörung so, daß sich der, welchen Lerneifer trieb, in seinen Höfen zu den Lehrenden setzen konnte, vgl. Luk. 2, 46. Anschaulich tritt dabei hervor, wie sich mit dem Schriftstudium eine Heiligungsbewegung verbunden hat, welche das inwendige Personleben in stetige Beziehung zu Gott zu bringen sucht. Zur Erfüllung des Gesetzes diente zunächst der öffentliche Kultus und weiter die gerechte Gestaltung der socialen Beziehungen. Es hat sich aber ein darüber Hinausgreifendes Bedürfnis entwickelt, das einen Gottesdienst sucht, der sich nicht in Pausen mit leeren Zwischenräumen vollzieht, wie sie der Kultus der Gemeinde notwendig auswies, sondern das Leben des einzelnen in eine beharrliche Gemeinschaft mit Gott versetzt. Die Anleitung hierzu entnahm man dem Lese- und Gebetsgottesdienst der Gemeinde. „Jochanan ging nie vier Ellen ohne Thora und Thefillin." Für ihn war die Bibel nicht nur das gottesdienstliche Buch der Gemeinde, sondern auch sein eignes stets gebrauchtes Erbauungsbuch. Mit der beharrlichen Bibellektüre als dem unablässig verwendeten Heiligungsmittel verbindet sich die beständige Gebetsübung, die jede Handlung mit einem ihr entsprechenden Gebetswort versieht. Dem >) Ähnlich an seinem Ort auch Paulus: oo-- rorr 2 ) Die ^Meinung der Tradition ist deutlich, daß Jochanan nicht nur hin und her in den vielen Synagogen der Stadt, sondern im selben Lehrsaal seinen Unterricht erteilt habe. Zu 2. Kön. 2ö, 9: „Und jedes Haus eines Großen verbrannte er mit Feuer", sagte Josua b. Levi: „Das ist der Lehr- saal R. Jochanans b. Z. 2LW, s- ivsZLIIa. 3, 73 ä; vgl. Eka Eingang. Vgl. Act. 2, 11: 7v5 13 Erstarken dieser auf das Innenleben gerichteten Heiligungsbestrebungen, sowohl der Verwendung der Bibel als Privat- erbauungsbuchft) als der Ausbildung einer den ganzen Tag durchziehenden Privatliturgie, kommt religionsgeschichtliche Bedeutung zu. Ihr äußeres Abzeichen hat diese Tendenz darin, daß sich Jochanan nie ohne die Gebetsriemen zeigt. „Nicht wichen seine Thefillin von ihm, nicht im Sommer und nicht in: Winter, und so hielt es auch sein Jünger R. Elieser nach ihm," j. darsR. 2, 4 e. In dieser Tracht, mit den stets getragenen Gebetsriemen, hat Jesus die Lehrer vor Augen gehabt, Match. 23, 5. Auch die bewußte, beharrliche Übung der Demut und Freundlichkeit hängt mit diesem Heiligungsstreben zusammen. Immer öffnete Jochanan selbst seinen Jüngern die Thür, und: „Niemals kam ihm ein Mensch zuvor im Gruß, nicht einmal ein Fremder auf dem Markt," d. dsrnk 17 a. Das bildete ein absichtlich gepflegtes Gegengewicht gegen das hochgehobene Selbstbewußtsein, das der „Weise" aus seiner Kenntnis des Gesetzes zog. Ob dasselbe durch eine solche Technik demütiger Freundlichkeit wirklich geheilt und gereinigt wurde, bleibt fraglich; immerhin ist es bedeutsam, daß es zur Pflicht des frommen Lehrers gerechnet wird, die Höhe, in der er über seinen Jüngern und über der Gemeinde steht, immer wieder absichtlich zu verhüllen. Das Bewußtsein um die Gefahr, die an der Separation des Lehrstandes von der Gemeinde für beide Teile haftete, ist noch wach. Nach seiner wissenschaftlichen Richtung beschreibt jene Schilderung Jochanan als entschlossenen Traditionalisten. Neue Erkenntnis will er nicht gewinnen, die Weisheit, die Israel gegeben ist, nicht mehren. Er will nur erhalten, was er gehört hat, nur für Gegenwart und Zukunft wirksam machen, was Israel längst gegeben war. Diese Richtung hat der Lehrstand durch die makka- bäische Katastrophe und die ihr folgende Abwehr der griechischen Lehre erhalten. Von da an war Neues verdächtig, und es erschien den Lehrern als ihre einzige Aufgabe, zu erhalten und zu verteidigen, was der fromme Teil des Volkes besaß, nichts mehr. So stand Jochanan seinen Schülern vor Augen, die mehrfach sagen: „ich habe empfangen von R. Jochanan b. Zakkai, i) Vgl. 2. Tim. 3, 15: „weil du von Kind an die Heiligen Schriften kennst." 14 welcher empfangen hat von seinem Lehrer, welcher empfangen hat von seinem Lehrer." Oder: „welcher empfangen hat von den Paaren und diese von den Propheten und diese von Mose: Regel ist es von Mose vom Sinai her," mi. sack. 4, 3 öärrj. 8, 8. ch-» So, wie Jochanan das Rabbinat kannte, war es jung, und man wußte das auch im Kreise der Lehrer stets. Mit richtiger geschichtlicher Erinnerung ist der Stammbaum der Rabbinen bis zur makkabäischen Zeit zurückgeführt worden, weiter nicht. Dennoch , erschien das, was das Rabbinat lehrte, als uralt. Über diese Täuschung hat sich Jochanan nicht erhoben; anf ihr beruht sein Traditionalismus. Nur deshalb wollte er nichts anderes sagen, .als was er gehört hat, weil ihm dies als eins mit Moses Regel galt. Die Abwehr des Hellenismus hat diese Illusion erzeugt, gegen dessen neue Sitten nicht nur das Schriftwort, sondern auch die ganze Sitte, alles, was Brauch und Übung der Frommen war, samt und sonders kanonisiert, und als ein unantastbares Heiligtum verteidigt wurde. Aber auch in der gegen das Griechentum gerichteten Strömung setzte sich der positive Einfluß desselben wirksam fort; denn die unbegrenzte Zuversicht, die der Exeget zu seinem Denken hat, wirkt bei dieser Täuschung mit. Ununter- schieven fließen ihm das Gesetz und seine Exegese ineinander, ohne daß er einen Zweifel an seiner Leistung kennt. Seine Auslegung gilt ihm ohne Rest und Abzug als mit dem Gesetze eins, darum als so alt und so heilig wie dieses selbst. Einige Zeit hat Jochanan in Galiläa zugebracht. Es werden zwei Antworten von ihm überliefert, die er in Arab, wahrscheinlich ü.rrubsb sl bstckuuk, auf Bedenken in Bezug auf die Sabbathsheiligung gab, das eine Mal, ob man einen Skorpion mit einer Schüssel zudecken dürfe, das andre Mal, ob es erlaubt sei, ein Gefäß mit Wachs zu schließen. Beidemal besorgte Jochanan, es möchte darin eine Versündigung liegen, ini. sliudd. 16, 7. 22, 3. Über die Sabbathsfeier in Jochanans Haus und Schule sind wir dadurch hinlänglich unterrichtet?) 1) Die „Paare" sind die paarweise zusammengestellten Autoritäten des ersten Jahrhunderts v. Chr. 2 ) Mit derselben Pünktlichkeit feierte er das Laubhüttenfest. Dann aß er nie anderswo, als in seiner Hütte, mi. suüüa, 2, 7. 15 An diese galiläischen Entscheidungen schloß Ula die Bemerkung: „Achtzehn Jahre brachte er in Arab zu und es kamen einzig diese zwei Fälle vor ihn; er sagte: Galiläa, Galiläa, du hassest das Gesetz; zuletzt machst du mit den Räubern mit," slindb. 16 Ende. Ula kombiniert Verschiedenartiges. Da die Mischn« zwei Anfragen aus Arab berichtete, schließt Ula: also kamen nur diese vor, und verknüpft die Klage Jochanans über Galiläa damit. Woher er die 18 Jahre hat, bleibt unbestimmbar. Auffallend ist es keineswegs, daß Jochanan zuerst längere Zeit in einer galiläischen Gemeinde lebte und lehrte. Das Rabbinat fühlte sich Gott und der Gemeinde verpflichtet, und war dadurch gehindert, sich in der Hauptstadt allein anzusammeln, etwa wie die griechische Wissenschaft nur in den Städten zusammenfloß. Auch die galiläischen Gemeinden bedürfen der Lehre, und der Gelehrte läßt sich bei ihnen nieder. Freilich zeigt die Klage Jochanans, daß die Galiläer noch nicht im Talmud ihr einziges Interesse hatten. Die Leute, denen der Rabbi unentbehrlich war, um zu entscheiden, wie man einen Skorpion am Sabbath unschädlich mache, waren noch in der Minderzahl. Für den Schriftgelehrten blieb darum Jerusalem der ersehnte Ort. Bei den „Räubern", mit denen Jochanan Galiläa droht, kann er an verschiedenes gedacht haben, an die zelotische Bewegung, die sicher überstand nehme, wenn nicht in der Theologie ein Gegengewicht gegen sie gefunden werde, ans Briganten- tum infolge des gesteigerten Elends, Steuerdrucks, Mißwachses u. s. f., die den Bauer nötigen, das Dorf zu verlassen und als Bandit in die Berge zu gehn, an die römischen Regenten und Kapitalisten, die den Galiläer unter ihre Faust bringen und zum Knechtsdienst zwingen. In Jerusalem hatte Jochanan einen Jüngerkreis um sich, der ihm bleibend verbunden war, Männer, die sich zum Ziel gesetzt haben, sein Wissen von ihm zu empfangen und ihr Leben unter seinen Augen und nach seiner Anleitung zu führen. Noch war das Rabbinat damals kein Amt, sondern freie Hingabe an die „Weisheit", als an den erkornen Lebensberuf, und die Autorität desselben stand nicht auf Wahl und Einsetzung, sondern auf seinem Wissen allein. Darum war das Studium des Jüngers nicht auf eine bestimmte Zahl von Jahren begrenzt; die dem Meister nächst 16 verbundenen blieben bis zu seinem Tode bei ihm und traten erst dann mit selbständiger Autorität hervor?) Er hat den fttnfen, die ihm am nächsten standen, ein Beiwort gegeben: Elieser b. Hprkanos „eine getünchte Cisterne, die keinen Tropfen verliert," Josua b. Chananja: „selig ist die, die ihn gebar;" 2 ) der Priester Jose: „der Fromme;" Simeon b. Rathanael: „der Sünde fürchtende;" Eleasar b. Arak: „die stark strömende Quelle," 2, 8. Das giebt einigen Einblick in das, was Jochanan als oberstes Ziel und größter Ruhm erschien. Die wasserdichte Cisterne beschreibt das Bestreben des Traditionalismus hübsch, der alles in sich aufnehmen und unvermindert festhalten will, was die Tradition giebt. Daneben tritt die Schätzung der frommen Praxis hervor. Die Gelehrsamkeit, so ausschließlich sie sich um Gottes Gebot bemüht, hebt sich doch immer von der Lebensführung als eine andre Funktion ab. Darum wird es besonders als Lob betont, wenn der „Weise" auch der „Fromme" ist?) Das fromme Streben erhält aber eine negative Richtung, wird Abwehr des Bösen, eine beständige Flucht vor der Sünde, wie wir sie an jenem Frommen von Arab bereits vor Augen hatten, der am Sabbath den Skorpion zudeckte, und nachher zum Lehrer mit der Frage kommt: habe ich dadurch gesündigt? Nur der geht auf dem rechten Wege, dem die Vermeidung des Bösen zum beständigen Geschäft und Anliegen wird. In der jetzigen Ordnung der Jünger hat die „Cisterne" den ersten, die „reiche Quelle" den letzten Platz. Das ist aber die jüngere Ordnung. Jochanan selber hat Eleasar b. Arak als seinen Hauptjünger den andern vorangestellt. „Er sagte zu seinen Jüngern: geht und seht/) welches der gute Weg sei, woran ein Mensch festhalten soll." Die fünf Antworten sind: „ein gütiges Auge, ein guter Genosse, ein guter >) Die Spätern wußten noch, daß die Erteilung eines amtlichen Charakters an den Rabbi durch Nasi und Bethdin erst vom Ende des zweiten Jahrhunderts stammt, vgl. j. sank. I, ISa. 2 ) Vgl. Luk. II, 2?: „Selig der Leib, der dich trug." ») Unter den vier Typen, die in den Lchrsaal gehn, ist derjenige, welcher „geht und thut", der fromme. Aboth Nathans Schechter 126. : Mark. 6, 38: u7!«/krk -Äkrk. Luk. 1 t, 18: Nachbar, wer ein Kind erlebt, ein gutes Herz." Letzteres ist die Antwort Elensars und wird von Jochanan über die andern gesetzt, weil alles in fichl schließend. Ebenso wird für den bösen Weg genannt: das schlimme Auge/) der schlimme Genosse, der schlimme Nachbar, wer entleiht und nicht erstattet, das böse Herz. Den Spätern fiel auf, daß die Frau hier fehlt, während doch der Nachbar und das Kind genannt sind. Deshalb giebt Aboth Nathans den Text mit der Variante: eine gute Frau. Eine gewisse Geringschätzung der Ehe macht sich sichtlich bemerklich. Die Frau bildete für diesen Kreis kein Hauptanliegen. Daß das Geld fehlt, ist dagegen nicht auffällig. Es wird mit Bewußtsein der Arbeit im Gesetz nachgestellt. Im Namen Jochanans ist der Spruch überliefert: „Haltet die Knaben fern vom Stolz und geschieden von den Hausbesitzern (weil die Hausbesitzer die Menschen von den Wegen des Gesetzes wegbringen)," A. Nathans 67?) „Wegen dreier Dinge werden die Hausbesitzer der Regierung ausgeliefert: weil sie auf Zins leihen, getilgte Schuldbriefe einfordern und in der Gemeinde das Almosen versprechen und doch nichts geben," 1. e?) Somit hat er Reichtum als der Gesetzestreue nicht förderlich eher gemieden als gesucht. Unter den fünf guten Dingen findet sich kein religiöses Gut, kein im Anteil an göttlicher Gabe und Gegenwart stehendes Glück. Das Ergebnis der Gesetzestheologie war und blieb Moralismus. Sie fixiert den Blick des Theologen auf das, was der Mensch verrichtet und der Mensch erwirbt. An die Haltung desjenigen tz Zum bösen Auge vgl. Matth. 20, lS: ö oov 2 ) Am selben Ort steht noch eine zweite Gnome über die Behandlung der Knaben: beugt die Knaben, aus denen die Weisen hervorgehen, so, daß die Linke wegstoße, die Rechte herzubringe. „Die wegstoßende Linke und heranziehende Rechte" ist eine Parallele zur „gebenden Rechten und unwissenden Linken," Matth. K, 3. v) Die Gnome ist gewachsen. Während sie nur drei Dinge nennen will, kommt noch als viertes: „und weil sie das Joch von sich abwerfen und das Joch und die Steuern auf die Schwachen, Armen und Elenden legen." Auch die Lage der Reichen ist hier anders vorgestellt. In der ursprünglichen Gnome trifft sie der Gewaltakt der Regierung zuerst; sie sind gefährdeter als die andern Leute. Hier ist vom mächtigen Reichen die Rede, der es einzurichten weiß, daß die Last. welche die Gemeinde zu tragen hat, ihn nicht besonders drückt. Dieser letzte Satz kommt auch in andrer Verbindung vor, vgl. b. suüka 29 a. Schlotte», Jochanan b. Zakkai. 2 18 Lehrstandes, den mir durch Sirach kennen, schließt sich dieses Stück vortrefflich an. Durch die seither entstandene Präcisions- nnd Heiligungsbewegung, die die möglichst pünktliche Erfüllung der Gebote und den konstanten Gottesdienst erstrebt, wurde dessen nüchterner Moralismus zwar überdeckt, doch nicht verzehrt. Das schließt nicht aus, daß es die größte, heiligste Aufgabe der Lehre blieb, Gott zu beschreiben. So lebhaft diese Männer Recht und Moral formen bis ins kleinste Detail herab, dadurch wird es nicht verdunkelt, daß sie Theologen sind, und ihr höchstes Geschäft die Aussage über Gott bildet. Darum ist ihre Meisterleistung die Auslegung desjenigen Schriftabschnitts, der am meisten einer Beschreibung Gottes gleicht, der Schilderung der göttlichen Herrlichkeit, Ezech. 1 ff. Wenn der Meister dem Jünger die Auslegung dieses Schriftabschnittes anvertraut, hat er ihn selbst zum Meister gemacht. Eine weitere Anekdote über den Verkehr Jochanans mit Eleasar b. Arak veranschaulicht uns dies hübsch. „Eine Geschichte mit R. Eleasar b. Arak, der den Esel hinter R. Jochanan b. Zakkai trieb." Auch diese Angabe ist beachtenswert. Empfängt der Jünger die Weisheit des Meisters, so dient er ihm dafür. Es hat seinen reellen Sinn, daß für die Studienzeit die Formel „die Weisen bedienen" üblich war?) „Er sagte zu ihm: Rabbi, lege mir einen Abschnitt aus dem Werke des Wagens aus. Er sagte zu ihm: habe ich dir nicht gesagt: man legt den Wagen nicht einem einzigen aus, er sei denn ein Weiser, durch sein Wissen zum Verstehen fähig? Er sagte ihm: gieb mir Vollmacht,?) und ich werde ihn vor dir beschreiben. Sofort stieg R. Jochanan b. Zakkai vom Esel herab und sie verhüllten sich, und saßen beide auf einem Stein unter dem Ölbaum, und er beschrieb vor ihm." Es ist ein ergreifendes Bild: die beiden Männer unter dem Ölbaum, denen es als höchste That und Ehre des Menschen gilt, nach dem Vorgang des Prophetenworts aussprechen zu können, was Gottes Wesen und Herrlichkeit sei. Der üblichen Annahme, daß hier eine „Geheimlehre" zum Vorschein komme und Jochanan >) M2W ist die Parallele zu Vgl. Joh. l2, 2S. 2 ) ^ Das neutcstamcntliche ist Zwilling zu 19 ein heimlicher Gnostiker gewesen sei, vermag ich kein Recht zuzugestehen. Es handelt sich lediglich um die Auslegung von Ezechiel 1/) die darum mit besonderer Vorsicht und Scheu behandelt wird, weil hier der Irrtum besonders gefährlich ist, da er sofort Gottes Wesen trifft und zur Entehrung Gottes wird. In der Ausschaltung dieses Schriftabschnitts aus der öffentlichen Exegese wirken dieselben Motive, wie in der Bedeckung des Gottesnamens. Darum bethätigt Jochanan damit sein besonderes Vertrauen zu Eleasar, daß er ihm unter dein Baume zuhörte, wie er sich Gott auf seinem Throne über den Cheruben denkt. Auch in den Resten griechischer Theologie, die bei Philo zu- sammengehäuft sind, finden sich zahlreiche im engern Sinn theologische Sätze, die Aussagen über Gottes eignes Wesen wagen. Zu unserm Abschnitt stehn sie deshalb in einem bedeutsamen Gegensatz, weil sie von Ezechiel, überhaupt von der prophetischen Schauung Gottes völlig unberührt sind. Das hängt mit dem Überwiegen des Pentateuchs über die andern Teile des Kanons bei den Griechen zusammen. Für Jochanan steht dagegen der Prophetenkanon in voller Geltung, und Ezechiels Darstellung Gottes hat den absoluten Wert eines göttlichen Worts. Wer von Gottes Wesen sprechen will, hat zu verstehen und zu erläutern, wie der Prophet Gott gesehen hat. „Und er stand aus und küßte ihn auf seinen Kopf und sprach: gepriesen ist der Herr, der Gott Israels, der Abraham unserm Vater einen Sohn gegeben hat, der die Herrlichkeit unsers Vaters in den Himmelnauszulegen und zu verstehen weiß. Bei dem einen ist, was er auslegt, schön, was er erfüllt, nicht schön; bei dem andern ist, was er erfüllt, schön, was er auslegt, nicht schön. Doch bei Eleasar b. Arak ist, was er auslegt, schön, und was er erfüllt, schön. Selig bist du Abraham unser Vater, daß Eleasar b. Aräk aus deinen Lenden hervorgegangen ist, welcher die Herrlichkeit unsers Vaters in den Himmeln auszulegen und zu verstehen weiß," Vos. olmgiKg. 2, 1. 233, 2ö?) 9 Nicht um eine frei entworfene Beschreibung der göttlichen Herrlichkeit. „Ein im Werk des Wagens" wird ausgelegt; das führt unzweideutig auf den biblischen Text. 9 M X "II—— vo?» 7vö rinravx 70,I tu ov- 9 Es macht sich sofort wieder ein gewisser Gegensatz gegen Eleasar bc- 2 * 20 Hell tritt heraus, wie diese Männer ihren Blick auf Gott von Abraham aus gewinnen. In hehrer Erhabenheit steht Abraham über der Gemeinde; ihn hat Gott erwählt und sich ihm verbunden. Was die Gemeinde empfängt, wird ihr Abrahams wegen zu teil. Wenn jetzt Jochanan in Eleasar einen Theologen vor sich hat, der die Herrlichkeit Gottes zu deuten weiß, hat das in Abrahams Erwählung seinen Grund. Von gnostischen Neigungen zeigt auch das Lob Eleasars keine Spur. Auslegung, nur Auslegung, erscheint als das Geschäft des Weisen, und auf dem Gipfel steht er dann, wenn Auslegung und Erfüllung, das Verständnis der Schrift und der Gehorsam gegen sie, sich harmonisch zusammenfinden. Noch ein drittes Mal wird Eleasar als Jochanans liebster Jünger genannt. „Es starb sein Sohn und es versammelten sich seine Jünger ihn zu trösten. Elieser trat ein, setzte sich vor ihm und sagte ihm: Rabbi, mit deiner Zustimmung werde ich ein Wort vor dir sagen. Adam hat sich trösten lassen." Dazu giebt er den Schriftgrund. Jochanan antwortet: „es ist mir nicht genug, daß ich mich meiner selbst wegen gräme, sondern dn hast mir noch das Leid des ersten Adams ins Gedächtnis gebracht." Nach demselben Schema trösten ihn die andern: Hiob, Aaron, David nahmen Trost an. „Es ging R. Eleasar b. Arak hinein und saß vor ihm und sagte ihm: ich will dir ein Gleichnis geben; wem gleicht die Sache?^) Einem Menschen, bei dem der König ein Depositum hatte. Jeden Tag weinte und schrie und sprach er: wehe mir! mann werde ich frei von diesem Depositum im Frieden? Auch du, Rabbi, dir war ein Sohn. Er las die Thora^) die Lektion d. h. den Pentateuch), die Pro- merklich. Demi es ist der Satz R. Joses b. Juda angehängt: R. Josua beschrieb vor R. Jochanan b. Zakkai, R. Akiba vor R. Josua, Chananja b. Chakina vor R. Akiba. In der Gcmara ist der Text der los. legendär gewachsen: Feuer fällt vom Himmel, die Bäume singen ein Loblied, und aus dem Feuer bestätigt ein Engel, daß der Thronwagen wirklich so beschaffen sei. Dann leisten zwei andre Jünger Jochanans dasselbe mit ähnlichem Erfolg, s. ebagiZL 2, 77a. i>. cbaxiiga I4i>. >) Die Einleitungsformel zu den Parabeln ist stabil. Wörtlich berührt sich Lukas mit derselben: 7, 31: >3, >8; vgl. auch 6, 47. Doch auch Matth. II, IS und Mark. 4, 30 sind verwandt. 2) Thora ist hier Gesamtname des Kanons; dann erst folgen die drei Unterabteilungen. Vgl. Röm. 3, IS; 1. Kor. 14, 21. 21 pheten und die Ketubim, und studierte Halachoth und Haggadoth, und er ist geschieden aus der Welt ohne Sünde. So kannst du Tröstung annehmen?) Denn du hast dein Depositum unversehrt zurückgegeben. Es sagte ihm R. Jochanan b. Zakkai: Eleasar, mein Sohn, du hast mich getröstet, wie Menschen trösten," A. Nathans 59. Die wichtige Veränderung, die Jochanan von demjenigen Stande der Lehre, den uns Sirach oder Koheleth zeigen, trennt, liegt hell im Licht. Der dunkle Ort des Todes ist verschwunden. Wer ohne Sünde stirbt, der geht zu Gott. Damit war aber die Furcht nicht verschwunden. Einen Sohn zu haben preßt den Seufzer ab: wehe mir! weil darin Verpflichtung Gott gegenüber liegt, ein Beruf vor ihm, das Empfangene ihm zu erhalten?) Das erweckt die Furcht in der Seele, macht die Frage nach dem Grunde der Zuversicht dringlich , und erzeugt das Bedürfnis nach einem Glaubensmotiv, das Freudigkeit vor Gott gewähre. Hier setzt der Verdienstgedanke ein, weil dieses nirgends erreichbar scheint, als im eignen guten Werk. Der Text zeigt, daß Jochanan und seine Genossen es ernsthaft versucht haben, aus ihrem gelingenden Werk den Trost zu ziehen auch im Blick auf den Tod. Der Sohn wuchs in die Theologie des Vaters hinein, und wandelte unter seinen Augen nach seiner Leitung. Davon ist das große Resultat dies, daß Jochanan Gott seinen Sohn ohne Sünde zurückgegeben hat, und nun an seinem Grabe getrost sein darf?) Von Sirachs Meinung: „o Tod! wie bitter bist du dem rüstigen Mann!" führt uns unser Text weit weg. Er ist wahrscheinlich das älteste Zeugnis für den Satz: der sicherste Weg in die Seligkeit sei frühes Sterben; als Kind zu sterben, sei das Beste, weil das Leben uns Versuchung bringe. Diese Beurteilung 9 vgl. Paulus: 2. Kor. 7i, 17. 2 ) Dieses „Wehe mir", entfaltet uud zur Obmacht in der Seele emporgehoben, führt unmittelbar in die grübelnde Angst des vierten Esra hinüber. Die Stelle wird sichtbar, wo sein Bedürfnis nach „Theodicee" mit der Theologie des Rabbinats zusammenhängt. Ein andrer Sohn, Juda, spricht Dos. Xiclda 8, 7. Kt3, 32 (— b. niäcls. 15 a) über die Reinheit der Priester im Tempel. Er scheint den Vater überlebt zu haben. 22 des Lebens mußte kommen, sowie die „Furcht vor der Sünde" das Hauptstück des Gottesdienstes geworden war. Der Text setzt voraus, daß auch die Rabbinen sich vom leidenschaftlichen Trauerbrauch nicht schieden. Um darzustellen, wie sehr Jochanan Eleasar schätzte, heißt es: „Als er ihn sah, sagte er zu seinem Diener:^ nimm das Kleid und gehe mir nach ins Bad, weil er ein großer Mann ist und ich nicht bei ihm stehen kann." Die beschmutzte Gestalt und entstellte Tracht gehören auch zum Trauerbrauch des Rabbi, und auch zu ihm eilen die Bekannten zur Tröstung herbei?) Interessant ist die Gradation, die zwischen den Trostgründen in diesem Texte durchgeführt ist. Die andern Jünger verweisen. Jochanan auf das Beispiel der heiligen Männer der Schrift: wie es jene machten, soll's auch Jochanan machen. Der Imperativ wird aus der Schrift gezogen, als ihr letztes, höchstes Wort. So scharf Jochanan anderswo die Wichtigkeit des Gehorsams und die Verpflichtung auch zur blinden, nach dem Grunde und Zwecke nicht fragenden Untergebung unter das Schriftwort betont hat, hier genügte ihm das bloße Gebot nicht, und erst dasjenige Wort, welches ihm ein gnädiges Handeln Gottes in seinen! Geschick aufzeigt, und ihm dadurch ein Glaubensmotiv gewährt, gilt ihm als rechter Trost. So vollständig die Theologie Gesetzeslehre war, das Verlangen nach einer Deutung der göttlichen Regierung, die in ihr die hilfreiche Gnade schaut und dadurch das Glaubensmotiv gewinnt, bleibt wach. Die Ordnung der heiligen Männer: Adam, Hiob, Aaron, David, zeigt, daß in Jochanans Schule Hiob zu den Patriarchen gestellt ist. Die Stellung Hiobs vor Mose ist, soweit wir Nachricht haben, ein griechisches Theologumenon, unterstützt durch die Gleichsetzung von Jjob mit Jobab, Gen. 36, 33. Sie liegt im Fragment des echten Aristeas vor und geht vielleicht auf Demetrius^) st Hier heißt der Diener des Lehrers Shammash, nicht selten heißt der Diener der Gemeinde ebenso. Aus Shammash stammt das kirchliche st Vgl. Joh. 11, 31. st Ein Fragment des Demetrius über Hiob existiert nicht; wohl aber ist „Jobab" im Geschlechtsregister der Zippora erwähnt, ohne ersichtlichen Grund. Die Einwirkung der ältern griechischen Bearbeitungen der biblischen Geschichte (Demetrius, Enpolemus, wohl auch Aristobul) auf die Schule von Jerusalem wird noch zu gering geschätzt. — 23 zurück, während sie später in der palästinensischen Theologie zwar auch, aber keineswegs allein und ausschließlich gelehrt worden ist. Über Eliesers Eintritt in die Jüngerschaft Jochanans wird berichtet, daß er schon 22 (28) Jahre alt war, als er sich erst zum Studium entschloß, und daß er es gegen den Willen des Vaters that. Jochanan lehrt ihn zuerst die Elemente; das sind das Schma, die Thefilla und die beim Essen zu sprechenden Segnungen, die LiiNutli 11102011 . Auch hier erscheint die Liturgie, durch die das Leben Tag um Tag geheiligt wird, als das erste, was der Jünger empfängt?) Sodann lehrt er ihn täglich zwei Halachoth, die Elieser am Sabbath repetiert. Dabei lebt er in der größten Entbehrung, bis Jochanan entdeckt, daß er hungert. Der üble Geruch seines Mundes bewegt ihn zur Verheißung: es wird dir ein guter Name der Thora wegen ausgehen, wie jetzt ein übler Geruch ausgeht aus deinem Munde. Der Vater kommt, um ihn zu enterben, und trifft Jochanan und Elieser in vornehmer Versammlung. Die Großen der Stadt sind anwesend. Jochanan heißt Elieser auslegen; dieser weigert sich, gehorcht dann aber, und „legte aus mit Worten, die noch nie jemand gehört hatte. Bei jedem Worte stand R. Jochanan b. Zakkai auf seine Füße^) und küßte ihn an seinen Kopf und sagte ihm: Rabbi Elieser, Rabbi, Wahrheit hast du mich gelehrt." Nun war der Vater versöhnt, A. Nathans, 30 (zwei Recensionen, die in der Hauptsache zusammentreffen). Etwas aufgeputzt mag die Erzählung sein, wird aber in ihrem Kern auf Erinnerung beruhn. Sie zeigt, wie des Gesetzes wegen kein Opfer als zu schwer erscheint. Was der reiche Jüngling Jesus versagt, wird hier willig geübt. Aber auch das zeigt sie, wie lebhaft die Ehre, die am Lehramt haftet, empfunden und genossen wird. Der Einfluß des Lehrers erstreckte sich jedoch weit über den Kreis seiner speciellen Jünger hinaus. Tryphon z. B. gilt nicht als Jochanans Jünger, doch sehen wir auch ihn einen Tadel durch eine Regel Jochanans abwehren. Ein Presbyter, jsrs, rühmt Tryphon hoch: „warum jauchzen die Geschaffenen dir nach? sind nicht alle deine Wege Wahrheit und Gerades Es blieb so auch in der spätern Schule. Bekanntlich beginnen Mischna und Talmude mit den Berakoth. ") Vgl. nr-sAr ronx nciättx ) Oenss. r. IS steht derselbe Text mit dem Namen d. h. R. Josua b. Korcha. Aber der Eingang ist hier sichtlich verkürzt; auch die griechischen Worte fehlen. ist die Feier zum Regierungsantritt des Kaisers. Levy (Wörterbuch) las falsch x^ro^. 27 sames hervor; dabei kommt ihm als diejenige Wohlthat Gottes, die allen widerfährt, zunächst der Regen in Betracht, vgl. Act. 14, 17; Match. 5, 45. Der Lehrer wartete aber nicht nur, bis die Frage an ihn kommt, sondern untersuchte und beaufsichtigte seinerseits alles, namentlich was im Kreise der Frommen geschah. Zum Spruche: wer den Weisen nicht dient, macht sich des Todes schuldig, wird erzählt: „Eine Geschichte mit einem Manne aus Bethrama, der die Regel der Frömmigkeit — —- befolgte." Die Variante giebt: „Eine Geschichte mit einem Priester, der ein Frommer war, in Ramath bne Anath." Für Galiläa hat der Ortsname keine Schwierigkeit, da Raum heute noch besteht. -722 braucht keinen andern Ort im Auge zu haben als das kürzere N'27 Möglich, daß die Geschichte noch in die galiläische Zeit Jochanans gehört. „Es sandte R. Jochanan b. Zakkai zu ihm einen Jünger, um ihn zu prüfen. Er ging und fand ihn, daß er Öl nahm und es auf den Kochherd that und es vom Kochherd nahm und in den Bohnenbrei that. Er sagte ihm: was machst du jetzt? Er sagte ihm: ich bin Hohepriester — — und esse die Hebe in Reinheit. Er sagte ihm: ist dieser Herd unrein oder rein? Er sagte ihm: steht denn in der Thora über den Herd, daß er unrein sei? Hat nicht die Thora bloß vom Ofen gesagt, daß er unrein sei? Leo. 11, 33." Die Verunreinigung trifft aber auch den Herd: „Wenn du es so gehalten hast, hast du dein Lebenlang nie reine Hebe gegessen," A. Rathaus 56. Diesem Priester lag es sichtlich ernsthaft daran, seine Hebe in Reinheit zu essen; er erfährt jedoch, wie unentbehrlich der Lehrer für den Frommen geworden ist. Sowie der Rabbi bei ihm einkehrt, zeigt es sich, daß er die Sache verkehrt macht. Die Anekdote beleuchtet zugleich, wie ernsthaft der Begriff „Genosse", "QN, gemeint war. Wer den Ruf der Frömmigkeit hat, bei dem trifft der Bote des Rabbi ein, der ihn prüft, und erst auf genaue Beobachtung hin wird er als der Fromme anerkannt. 1) Vgl. Ustilanatli las. iniürva 6, 3. 6S8, S; hier sicher galiläisch. 2 ) Ein lehrreiches Beispiel für den erweiterten Gebrauch von Von diesem Priester in Galiläa soll natürlich nicht gesagt werden, daß er der eine Hohepriester war, der am Versöhnungstag ins Allerheiligste ging. 28 Die Überwachung Jesu durch die Schriftgelehrteu wendete nur die gegen alle beobachtete Regel auf ihn an. Bei Simeon, dem Sohne des Antipatros, kehrten Wanderer ein, die durch einen Eid sich den Genuß der ihnen angebotenen Speise verbieten, und die er deshalb vor ihrem Weggang geißelt. „Die Worte wurden vor R. Jochanan b. Zakkai und den Weisen gehört, und sie waren geärgert über die Sache. Sie sagten: wer wird hingehen und uns berichten? Es sagte R. Josua: ich werde hingehen und sehen, was dieser macht. Sie sagten ihm: geh im Frieden!') Er ging und fand ihn an der Thür seines Hauses sitzend. Er sagte ihm: Friede über dich, Rabbi. Er sagte ihm: Friede über dich, Rabbi, mein Lehrer?) Er sagte ihm: bedarfst du etwas? Er sagte ihm: ich bedarf ein Haus zum Übernachten." Er herbergt und bewirtet ihn nun, worauf ihn Josua fragt, warum er die frühern Gäste schlagen ließ. Er sagt: ihres Gelübdes wegen. Nun verhängt auch Josua über ihn die Geißelung und kehrt dann nach Jerusalem zurück, und giebt Bericht über das, was er bei Simeon gesehen hat, Osrslc 5. Die grobe Kirchenzucht mit der Geißel, sicher oft am falschen Ort und wegen Kleinigkeiten, ist ein wichtiges Stück des damaligen Gemeindelebens, vgl. 2. Kor. 11, 24, welches die Wahrhaftigkeit und Offenheit desselben notwendig schwer gefährdet hat. Zugleich zeigt die Geschichte die nützliche Seite au der Oberaufsicht, die mau von Jerusalem aus über alle Gemeinden übte. Sie schuf ein gewisses Gegengewicht gegen die schrankenlosen Will- kürlichkeiten der einzelnen Lehrer in den Dörfern draußen. Es gab aber Punkte, wo die Aufsicht und Macht der Lehrer schmerzhaft scheiterte. „R. Jochanan b. Zakkai sagt: seit die Mörder zahlreich wurden, war es vorbei mit der Kuh, der man den Nacken bricht, weil die Kuh nur im Zweifelsfall zur Anwendung kommt; jetzt aber morden sie öffentlich?) Seit die Ehebrecher zahlreich wurden, war es mit dem Wasser vorbei, weil man es nur im Zweifelsfall zu trinken giebt," Lola. 14, 1. 320, 10. Die parallelen Sätze in der Mischn« stammen noch ') Mark. 5, 34: ichc-xk ich Jak. 2; 16: o,--r>krk 0 Josua tritt ins Haus Simeons in derselben Weise, wie es Jesus bei seinen Jüngern voraussetzt, Match. 10 , 13. 0 ist die Parallele zu ^ rp Match. 6, 4. 29 aus einer andern Quelle als diejenigen der Vosskts.. „Seit die Mörder zahlreich wurden, war es vorbei mit der Kuh, der man den Nacken bricht, seit Eleasar b. Dinai kam, und Thachina. Er hieß b. Pharisha und sie hießen ihn statt dessen Sohn des Mörders — Seit die Ehebrecher zahlreich wurden, war es mit dem Fluchwasser vorbei, R. Jochanan b. Zakkai machte es aufhören, weil gesagt ist: „ich werde eure Töchter nicht heimsuchen, weil sie huren, noch eure Schwiegertöchter, weil sie ehebrechen" (Hos, 4, 14), mi. sotu 9, 9. Die Zunahme der religiösen Morde gehört zu den Erscheinungen, die dem Aufstand vorangingen und die wachsende Erhitzung des Fanatismus sichtbar machen, Eleasar b. Dinai nennt auch Josephus, als Führer einer bewaffneten Bande in den vierziger und fünfziger Jahren, Zwanzig Jahre habe er sich zu behaupten vermocht. Er that sich hervor, als das aufgeregte Volk unter Cumanus wegen der Ermordung eines Pilgers in Dschennin die Samariter überfiel. Damals fiel er den Römern noch nicht in die Hände. Dagegen hat ihn Felix überlistet und gefangen nach Rom geschickt, L. 2, 13, 2, 253; 2, 12, 4, 235, 20, 6, 1. 121; 20, 8, 5. 161?) Daß gleichzeitig auch die ehelichen Verhältnisse wild mißhandelt wurden, liegt in der Natur der Dinge. Da die Rabbinen ohnehin dem Fluchwasser möglichst entgegen arbeiteten und kein rechtes Herz mehr zur Sache hatten, fiel es; ob durch einen besondern Beschluß, ob von selber, steht dahin. Jochanan hat die Abschaffung gebilligt und au dieser Stelle die Scheidung zwischen Gesetz und Praxis ausdrücklich sanktioniert. Daß er es mit schwerem Herzen that, macht das Citat Hos. 4, 14 deutlich. Darin liegt ein tiefes Verzagen. Gott straft die Sünder nicht mehr; dies ist aber nicht Gnade, sondern selbst das schwerste Gericht?) 9 erinnert an oköx .los. L. 6, 2, 6. 148 und mit vielen Verschreibungen, die aber alle aus /lnrkl« zurückweisen, L, 6, I. 24S. 4, 4, 4. 271. 4, 4, 2. 23b. Der Name ist aber verschieden: der Sohn des Schlächters bei Jos. heißt Simon, und ist einer der Führer der Jdnmäer, der den Zeloten zu Hilfe zog, die hohepriesterlichc Partei niedermachte und hernach mit Bar Giora zusammen kämpfte. 2 ) Die Abschaffung des der , bei der Darbringnng der Erstlinge wird durch die herrschende Tradition dem „Hohenpriester Jo- 30 Es,war nicht die erste Verordnung des Gesetzes, die außer Geltung gesetzt worden ist. Es standen nie sämtliche Verordnungen desselben auch praktisch in Kraft, und die Zahl der abgeschafften wuchs immer mehr. Seit Herodes war das lebenslängliche Hohe- priestertum beseitigt, seit Hillel der Schulderlaß nach sieben Jahren ausdrücklich aufgegeben u. s. f. Allein wenn auch Jochanan bei seiner Verfügung Vorgänger hatte, blieb es doch immer ein greller Widerspruch gegen den Grundgedanken der Lehre, daß man unzweideutige Satzungen des Gesetzes als unausführbar zur Seite schob?) 3. Theologische Krundgedankeri. L) Die Kasuistik. Es ist ein Wort Jochanans erhalten, das sowohl seine Gebundenheit an die Tradition, als den Inhalt derselben scharf beleuchtet. Es wird die Reinigkeitsregel für gehöhlte Holzstäbe gegeben, z. B. für einen gehöhlten Wagebalken, der mit Metall gefüllt ist, oder für einen Stab, in dem ein Behälter für Perlen angebracht ist (zum Schmuggel). „Über dies alles hat R. Jochanan b. Zakkai gesagt: wehe mir, wenn ich es sage; wehe mir, wenn ich es nicht sage. Wenn ich es sage, so lehre ich jetzt die Betrüger betrügen; wenn ich es nicht sage, so ziehe ich jetzt von der Lehre ab, und mache das reine unrein," Tos. lrslini b. wer:. 7, 9. 586, 27; derselbe Text gekürzt mi. Icsl. 17, 16. Dieses Wort macht ihm Ehre, denn es drückt noch einige Empfindung dafür aus, daß die Kasuistik das Gewissen abstumpfen und den sündlichen Willen geradezu reizen und wecken kann. Aber ob er es auch ungern sagt, das Traditionsprincip bindet ihn. Der Satz gehört zur Lehre und von der Lehre darf man nichts streichen?) chanan" zugeschrieben; die loselta redet bei diesem Texte dagegen auch von Jochanan b. Zakkai, Lots 13, S. SIS, L< Die Sache ist schwerlich mehr klarzustellen. r) Vgl. Petrus: ,,Das Joch, welches weder unsre Vater, noch wir zu tragen vermochten," Act. 15, 10. 2 ) Die los. fährt fort: „Ein andres Wort: daß nicht die Betrüger sagen: die Gelehrten verstehen sich nicht aus das Werk unsrer Hände." 31 Das giebt ein Maß, bis zu welchem Grade die Regelung der Sitte bereits vor Jochanan ausgebildet war und von ihm fortgesetzt morden ist. Da im Hinblick auf rein und unrein schon im Unterricht, den er empfing, vom betrüglichen Wagebalken und vom Stock des Schmugglers die Rede war, ist festgestellt, daß es schlechterdings kein Gerät im Hause gab, über dessen Reinheit oder Unreinheit keine Festsetzung bestand. Jochanan hat im Anschluß an seine Lehrer die planmäßige Reflexion auf den ganzen, auch den entlegensten, kleinlichsten Inhalt des Lebens ausgedehnt und sein Verhältnis zum Gesetz bestimmt. Eben dies bildet die Arbeit und den Ruhm des Weisen, daß er jeden Vorfall bewußt und methodisch nach einer heiligen Regel zu gestalten weiß?) Der kasuistische Stoff kanu demnach in den folgenden Geschlechtern bis zur Mischna nicht mehr wesentlich gewachsen sein. Was noch weiter wuchs, war die gesetzliche Geltung der Regel, ihre Ausbreitung über größere Kreise des Volks, ihre Fixation zum gleichmäßigen und unabänderlichen Gesetz für alle Lehrer und alle Frommen. Damit war die Nötigung gegeben, den kasuistischen Stoff zu ordnen, zu sichten, exegetisch zu begründen und vor allem war eine Reduktion desselben unvermeidlich, welche die Härten und Absonderlichkeiten, die der einzelne Lehrer willig übernahm, abschliff und auf ein Maß zurückbog, das größere Kreise erfüllen konnten. Die Antworten, die Jochanan über den Sabbath dem Fragenden in Arab gab, ebenso seine Feier des Laubhüttensestes, zeigen, daß er selbst noch ohne Schwächung in der Präcisionsbewegung stand, die sich in der Pünktlichkeit der Gesetzeserfüllung nicht genug thun kann. d) Die ethische Deutung des Gesetzes. So gewiß Jochanan sich bestrebt hat, die Beschreibung des richtigen Handelns bis in alle Kleinigkeiten hinab mit vollständiger Kasuistik lückenlos fertig zu stellen, war er doch keineswegs nur Diese ethisch tiefer stehende Reflexion wird in den jünger» Citaten teilweise ins Wort Jochanans eingemengt, Kollo!. par. 8 (Anfang), d. llalla ll. 89 b. >) Zum Umfang der Kasuistik im Unterricht Jochanans vgl. weiter: wi. söta s, 2. ksliin 2, 2. los. Lliil. 18, 8. 614, 19. Eine ähnliche, absichtlich verstellte Antwort, wie hier, die die harte Arbeit des Mcmorierens der Ha-- lacha unterbrechen soll, steht 'los. pars. 4, 7. 638, 22. 32 auf die gesetzmäßige Richtigkeit des äußern Verhaltens bedacht. Es liegen mehrere Worte von ihm vor, die deutlich zeigen, daß er das Gesetz kräftig auf den Sinn und Willen des Menschen bezogen und als seinen Zweck den inwendigen Gehorsam erkannt hat. Tritt die Frage nach dem Grunde der Gebote auf, so macht er ernst und klar ethische Obergedanken geltend. Hierfür sind die fünf Worte Jochanans lehrreich, Ros. budu Ic. 7, 3. 357, 30, die er gesagt habe ^722?) „Warum kam Israel nach Babel in die Verbannung vor allen andern Ländern? Weil das Haus Abrahams von dort ist. Sie machten ein Gleichnis; wem gleicht die Sache? Dem Weibe, das an ihrem Gemahl sich verging. Wohin geschieht ihre Entlassung? Ihre Entlassung ist ins Haus ihres Vaters." Ohne den griechischen Rationalismus wäre es nicht zu solchen Deutungen gekommen. Auf ihm beruht es, daß die Thatsache und ihre geschichtliche Begründung dem Exegeten nicht genügt, sondern daß er nun erst noch fragt: warum nach Babel? warum nicht anderswohin? und daß ihm eine Antwort darauf sofort zur Hand ist. Grund und Zweck der Ereignisse sind überall erkennbar, weil Gott vollkommene Vernunft, sein Walten also stets auf Gründe reducierbar und dem Erkennen völlig durchsichtig ist. Als Erkenntnismittel braucht Jochanan jedoch nicht, wie die Griechen, eine Naturanalogie, sondern eine dem Menschenleben entnommene Parallele, und ersetzt den geschichtlichen Inhalt des Textes nicht durch einen Obergedanken angeblich Hähern Werts, sondern die Verstoßung Israels nach Babylon bleibt das, was der Text dem Exegeten sagt, und seine Auslegung bezweckt, das Geschehene als den durchsichtigen, angemessenen Ausdruck der innerlichen Verhältnisse, der Verschuldung Israels und der Gerechtigkeit Gottes, erkennbar zu machen: so gewiß das untreue Weib ins Haus ihres Vaters gehört, so gewiß das schuldig gewordene Israel nach Babel. „Bei den ersten Tafeln steht: und die Tafeln waren Gottes Werk, bei den zweiten: und die Tafeln waren Moses Werk, weil gesagt ist: und die Schrift war Gottes Schrift. (Nur die Schrift 0 Die Bedeutung der Formel ging der Tradition verloren. Darf man aus dem Inhalt der Sätze schließen, so scheint ein Analogieschluß damit gemeint. 33 war Gottes.) Sie machten ein Gleichnis; wem gleicht die Sache? Dem Könige von Fleisch und Blut/) der sich ein Weib antraute. Bringt nicht er den Schreiber und die Tinte und die Feder und das Papier und die Zeugen? Hat sie sich vergangen, so bringt sie das alles. Genug für sie/) daß ihr der König die Schrift giebt. Er erkennt seine eigene Hand." (Das Gleichnis steht etwas überarbeitet auch Deut. 3 Ende.) Auch hier liegt in der methodisch den Text auspressenden Exegese: die Schrift ist Gottes, also nur die Schrift, ein griechisches Element. Aber auch hier hängt die Exegese nicht an einem physiologischen, sondern an einem ethischen Obersatz. Die der Ehe analoge Verbundenheit Gottes mit Israel erläutert, warum er so verfährt. „Siehe, er sagt: wenn, "nllX, der Fürst sich versündigt. Wohl, dem Geschlecht, dessen Fürst das Sündopser bringt für sein Versehen." (Ebenso 8ilra zu Leo. 4, 22 und s. bor. 3, 47 e.) Hier nähert sich Jochanan dem doppelten Schriftsinn. Er leugnet nicht, daß Partikel sei; aber als tieferen Sinn der hier ungewöhnlich stehenden Partikel erkennt er, daß die Schrift es für eine große und heilsame Sache halte, wenn auch der Fürst sich vor Gott demütigt, seine Sünde gesteht und durch das Opfer Vergebung sucht, ein Gedanke, dessen Ernst mit allem, was wir sonst von Jochanan wissen, wohl zusammenstimmt. „Und er sagt: und sein Herr wird sein Ohr durchbohren mit der Pfrieme. Was liegt am Ohr, daß es vor allen Gliedern durchbohrt wird? Weil es gehört hat vom Berge Sinai her: denn mir sind die Söhne Israels Knechte, meine Knechte sind sie. Es warf von sich ab das Joch des Himmels und hat über sich herrschen lassen das Joch von Fleisch und Blut?) Deshalb hat der Spruch gesagt: es komme und werde durchbohrt das Ohr, das nicht bewahrt hat, was es gehört hat/") ') Zu LM IM vgl. Matth. 18 , 17; Gal. I, 16. Zur bewußten Benennung des Königs als 211 ün Gegensatz zum himmlischen König Matth. 18, 23: k-r-AnwTrp pttUitkk. y vgl. Panlus: irö rorovrp 2. Kor. 2, 6. b) Zu vgl. rä,- zLov Matth. 11, 2g. <) s. kiä(In8Ü I, bdä giebt: „das Ohr, das gehört hat vom Berge Sinai her: nicht sollen dir andre Götter vor mir sein, und von sich warf Schlatter, Jochanan b. Zakkar. Z 34 Jochanan hat alle Knechtschaft gegen Menschen als Gegensatz gegen diejenige Knechtschaft empfunden und beschrieben, in die Israel Gott gegenüber trat. Wie die Gemeinde mit einem absoluten Band an Gott gebunden ist, wie das Weib an den Gemahl, ebenso ist auch jedes Glied der Gemeinde in eine völlige Gebundenheit an Gott gestellt, die keiner andern Abhängigkeit Raum gewährt. „Und er sagt: ein Altar von Steinen; nicht schwinge darüber ein Eisen. Was liegt am Eisen, daß es mehr als alle Arten von Metall entweiht? Weil das Schwert ersehen ist, daraus gemacht zu werden. Das Schwert ist das Zeichen der Strafe, und der Altar das Zeichen der Versöhnung, NND2 ^2. Man hält das, was das Zeichen der Strafe ist, fern von dem, was das Zeichen der Versöhnung ist. Und siehe, hier ergiebt sich ein Schluß vom kleinen aufs große: wenn von den Steinen, die nicht sehen, noch hören, noch reden, weil sie Versöhnung zwischen Israel und ihrem Vater in den Himmeln bringen, die Schrift gesagt hat: nicht sollst du Eisen darüber schwingen, wievielmehr wird die Söhne der Thora, welche Versöhnung für die Welt sind, 2^122 sNM, nicht anrühren einer von allen Verderbern. Siehe er sagt: aus vollkommenen Steinen, 2^28, sollst du den Altar des Herrn deines Gottes bauen. Von den Steinen, die Frieden schaffen, 21^12 zwischen Israel und ihrem Vater in den Himmeln, hat Gott, 21 ^ 2 >N, gesagt: sie sollen vollkommen, 2^'2^l2, vor mir sein; die Söhne der Thora, die Frieden das Joch der Himmclsherrschaft, 2^272 und auf sich nahm das Joch von Fleisch und Blut, das Ohr, das gehört hat vor dem Berge Sinai: denn mir sind die Söhne Israels Knechte, und er ging hin und erwarb einen andern Herrn, deshalb komme das Ohr und werde durchbohrt, weil es nicht bewahrt hat, was es gehört hat." Vergl. b. lliädusb 22 d. Schwerlich ist der Text der Tosefta gekürzt, sondern der der Gemara ist gewachsen. Dalman, Worte Jesu I, 76, citiert den Spruch für die Himmelsherrschaft; es ist immerhin zu beachten, daß der beglaubigtere Text nur „Joch des Himmels" giebt. Übrigens ist auch dieser Wechsel für den Sinn der Formel „Himmelshcrrschaft" lehrreich, da er zeigt, wie sehr in derselben der Gottesgedanke die Oberhand hat. In Llsebilta LIisbp. 2 Friedm. 7 7 ist die Stelle verflacht: „Das Ohr, das gehört hat: du sollst nicht stehlen, und er ging hin und stahl, das soll durchbohrt werden jvor allen seinen Gliedern." Hier kommt der Diebstahl als einziger Grund, weshalb ein Jude Sklave eines Juden werden könne, in Betracht. 35 stiften für die Welt, 2 ^ 12 ^ 2 ^Q^w sNW, wievielmehr werden sie vollkommen sein vor Gott," N7221 NN2 2 ^'QN, los. 1. e?) Griechisch ist hier der aufs Weltganze gerichtete Blick, der Israels Beruf mit dem Weltbestand verknüpft. Versöhnung sind sie für die „Welt", weil Gott ihretwegen der Menschheit verzeiht und sie erhält?) Jochanan hat die Gründung der jüdischen Gemeinde nüt dem universalen Weltregiment Gottes ausdrücklich zusammengefaßt. Bedeutsam und schwerlich vom Einfluß der griechischen Theologie unabhängig ist die kraftvolle Unterordnung der sachlichen religiösen Mittel unter die personhafte Beziehung Gottes zum Menschen. Hoch über den Steinen des Altars stehn die Söhne der Thora. Schätzt Gott sogar die Steine so, wievielmehr erst die Menschen. Aus der personhaften, darum sittlich gearteten Beziehung zu Gott erhält die kultische Handlung ihren Wert. Die Söhne der Thora sind Versöhnung und deshalb, nicht umgekehrt, ist es auch der Altar. So hoch derselbe als „Zeichen der Versöhnung" geschätzt ist, Jochanan ist doch innerlich von ihm los. In den Verderben:, gegen die Gottes Schutz die Söhne der Thora deckt, liegt ein Hinweis auf die boshafte >) Dic LIsobilta giebt auch den auf den Altar gestellten Schluß in andrer Wendung: Gilt dies von den Steinen des Altars: „wer Frieden stiftet zwischen Mann und Mann, dem Mann und seiner Frau, Stadt und Stadt, Volk und Volk, Reich und Reich, Geschlecht und Geschlecht, wievicl- mehr wird über ihn nicht kommen Strafe," Lacboässb xar. II. Vgl. Matth. 5, g. Zu den „Söhnen der Thora" vgl. ok oko, ryx Matth. 8, 12. Zu: „sie sind 2^72^ N2L2, >st formell 1. Joh. 2, 2 eine genaue Parallele: er ist.der für die ganze Welt. Zu ^22 2^2? ^ 1212 )2272 vgl. I. Joh. s, 18: ö Tronixgor' och, «nrkrttt «oroö. Zu 21s212N 1^2? 2^12^12 vgl. i'akvAk ri-k-ol Matth. s, 48 und re^k-lot-chr-«,. im Hebräerbrief. Ob 21s272N als Gottesname schon der Sprache Jochanans angehört, ist durch den Text nicht einwandsfrci gesichert, weil solche Formeln selbstverständlich den Referenten gehören können. Es ist aber deswegen wahrscheinlich, weil man gleichzeitig auch in Alexaudrien der Meinung war: „der Ort" sei einer der Namen Gottes, dies sogar im Bibeltext Gen. 22, S. 4; Exod. 21, 13. Vgl. kbilo äs eown. A. I, 630; äs prntuZ. 1, 557 äs postsr. 6ain. I, 22S. Vgl. 8kir. r. 7, 1: „Das Volk, welches Frieden machte zwischen mir und meiner Welt; denn wenn es mein Gesetz nicht angenommen hätte, hätte ich meine Welt ins Chaos zurückgebracht." 3 * 36 Geisterwelt, jedoch nur mit einer zurückhaltenden Andeutung, die nicht erkennbar macht, wie er sich Art und Thätigkeit derselben denkt. Die ehrfurchtsvolle Zurückhaltung, mit der Jochanan von Gott und der Himmelswelt sprach, überträgt sich auch auf das Reich der verderbenden Engel, wie umgekehrt da, wo man ein angebliches Wissen um die Geisterwelt vorträgt, auch die kecke Beschreibung des Gottesbildes auftritt bis zu paganischem Anthropomorphismus hinab?) Auch sonst, wo Jochanan auf den Grund der Gebote sieht, erklärt er sie aus ethischen Gesichtspunkten. Der Dieb erstattet doppelt, eventuell auch vier- oder fünffach. Der Räuber giebt nur das Genommene zurück. „Es fragten seine Jünger den R. Jochanan b. Zakkai: was hat die Thora im Auge, daß sie schwereres auf den Dieb legt als auf den Räuber? Er sagte ihnen: der Räuber hat, die Ehre des Knechts der Ehre seines Herrn gleich geachtet (der Mensch gilt ihm so viel wie Gott). Der Dieb hat dem Knecht mehr Ehre zugeteilt als seinem Herrn; der Dieb hat das obere Auge behandelt, als sähe es nicht, und das Ohr, als hörte es nicht, Jes. 27, 14." los. bsba kama, 7, 1. 357, 19; Lloebilig. Mslixg-i. 15 (Friedmann 91b); b. bnba kamu 79 d. Das Wort zeigt eine lebendige Empfindung für die praktische Gottesverleugnung, wie sie der Mensch fortwährend übt. Das Schaf wird vom Diebe vierfach, der Ochse fünffach ersetzt. „Es sagte R. Jochanan b. Zakkai: komm und sieh/) wie Gott (MjdQN) die Ehre der Geschöpfe schont. Der Ochse, weil er auf seinen Füßen geht, wird fünffach ersetzt, das Schaf, weil man es trägt, wird vierfach ersetzt," los. bnbn k. 7, 10. 359, 4; Nsebsiis. Nisbxni. 12 Friedm. 88 b; b. bnbs. k. 79 b. Die herkömmliche Auslegung meint, der Dieb fei dadurch, daß er das Schaf tragen mußte, in seiner Ehre herabgesetzt und müsse deshalb nur das vierfache erstatten. Vielleicht hat Jochanan an die verschiedene Stärke der Tiere gedacht, der auch Gottes Gesetz Rechnung trägt. Der Ochse als das stärkere empfängt höhere Ehre, das Schaf als das schwächere geringere. Darum wird der Raub des Ochsen härter bestraft als der des Schafs. 9 Siehe beispielsweise den slavischen Henoch. 2 ) -er- r'ctk, eine Johanneische Formel, Ev. l, 40. 47; n, 34; Apok. s, I. s. 7. Vgl. Lul. 10 , 32: 37 „Warum wurden alle diese Dinge gesagt?" (nämlich, daß diejenigen, die eben erst heirateten oder einen neuen Weinberg oder ein neues Haus haben, aus dem Heere heimkehren dürfen). „Nach den Worten R. Jochanans b. Zakkai: komm und siehe, wie sehr Gott die Ehre der Geschöpfe schont: wegen des furchtsamen und verzagten; wenn er umkehrt, sagen sie: vielleicht hat er ein Haus gebaut, vielleicht ein Weib sich angetraut," Likvs Dank. 192. Ob Jochanan selbst diese feinfühlende Anwendung seines Gedankens auf das Kriegsgesetz gemacht hat, ist nicht gesichert; seiner würdig wäre sie. Warum muß Israel den halben Seckel zahlen? „Weil sie die zehn Gebote übertreten haben; darum gebe jeder von ihnen die zehn Gera," j. sbskal. 2, 46 ä. Der geheiligte Wille in seiner innerlichen Gestalt ließ sich nicht mit diesem Ernst ins Auge fassen, ohne daß sich daraus ein gewisser Gegensatz zur statutarischen Form des Gesetzes ergab. Jochanan hat denselben auch ausgesprochen: „R. Jochanan b. Zakkai hat gesagt: wehe uns, daß uns der Spruch das Leichte wie das Schwere mit demselben Gewicht zumißt," b. odnAiZÄ 5u. Zur Deutung dieses Fragments wäre freilich sein Zusammenhang recht förderlich, wird einen bestimmten Spruch im Auge haben; welchen, ist aus der jetzigen Stellung des Satzes nicht sicher erkennbar. Auch so bleibt an dem Wort bedeutsam, daß nicht das Schwere als hart empfunden wird, vielmehr dies, daß auch das Leichte, an sich wenig Bedeutsame, von der Schrift ohne Unterscheidung neben das Schwere gesetzt ist. Die Frage nach „dem großen Gebote" ist da; Jochanan lehnt sie als unlöslich ab, weil die Schrift selbst sie nicht beantworte?) „Wie das Sündopfer für Israel Vergebung erwirkt, so erwirbt die Wohlthat, NsNÜ, Vergebung für die Völker der Welt," b. bnbu bslbrs, 10b. Das ist deutlich Jochanans Auslegung von Prov. 14, 34: Gerechtigkeit erhöht ein Volk (6loi), OditdN 12N1. Er faßte 12N synonym mit als Wohlthat und OlWN als „Sündopfer". Die Auslegung ist darum merkwürdig, weil sie auch dem Heiden Anteil an Gottes Vergebung zusagt und sein y Zur Teilung des Gesetzes in leichte und schwere Gebote vgl. Matth. 23 . 23 . 38 Wohlthun als Zutritt zu Gott würdigt. Da der ausschließliche Vorzug Israels dadurch gefährdet schien, ist es leicht verständlich, daß wir von zwei weiter» Erörterungen über diese Stelle hören. Die Berichte über sie sind jetzt ineinander geschoben, wodurch der ältere undeutlich wird. „Es sagte R. Jochanau b. Zakkai zu seinen Jüngern: meine Söhne, was ist das, was der Spruch Prov. 14, 34 gesagt hat? Es antwortete R. Elieser und sagte: Gerechtigkeit erhöht ein Volk, das ist Israel, und Güte der Völker ist Sünde. Alle Wohlthat und Güte, welche die Völker der Erde thun, ist ihnen Sünde, weil sie es nur thun, um sich dadurch zu erhöhn, wie gesagt ist, Esra 6, 10: damit sie Opfer dem Gott des Himmels darbringen und für das Leben des Königs und seiner Söhne beten." Z R. Josua erklärte den ersten Teil des Spruchs wie Elieser und sagte zum zweiten: „alle Wohlthat und Güte, welche die Völker der Erde thun, ist ihnen Sünde, weil sie es nur thun, damit ihr Regiment verlängert werde," mit Berufung auf Daniels Wort an Nebukadnezar 4, 24?) „Es antwortete R. Ne- chonja Ha-Kanna: Gerechtigkeit erhöht ein Volk und Güte, und die Völker Sünde! Es sagte R. Jochanan b. Zakkai zu seinen Jüngern: die Worte R. Nechonjas h. erweisen sich als besser als meine und eure Worte, weil er Gerechtigkeit und Güte Israel giebt, und den Völkern der Erde die Sünde^" b. dalm daküra 10 d. Jochanan hat nach diesem Bericht seine universalistische Deutung dem Widerspruch der andern Lehrer geopfert. Einmal hat er den Wortsinn einer Stelle direkt gestrichen. „Zu jeder Zeit seien deine Kleider weiß, und das Ol auf deinem Haupte fehle nicht," lloli. 9, 8. „Es sagte R. Jochanan b. Zakkai: spräche der Vers^) von weißen Gewändern, wieviel weiße Gest Hier ist die Ausgleichung mit dem andersartigen Satze, wer spricht: „dieser Sela zur Wohlthat, damit mein Sohn lebe, oder damit ich würdig sei der kommenden Welt, der ist ein vollendeter Gerechter" eingelegt. st Hier ist eine spätere Erörterung über dieselbe Bibelstellc eingelegt. Gamalicl erklärt sie in der Sache identisch mit Elieser, ist aber nicht be- sriedigt. „Noch haben wir den Modiiten nötig." Eleasar legt aus: die Heiden thun ihre Wohlthaten nur, um Israel zu schmähen. Die Verhandlung, bei der Eleasar von Modfim herbeigerufen wurde, ist jünger als Jochanan b. Z. st 1-172 2H-2N vgl. Joh. lS, 37. Röm. 18, 11; t. Tim. 5, 78. 39 wänder haben die Heiden! spräche er von wohlriechenden Ölen, wieviel wohlriechende Öle haben die Heiden! Er spricht von nichts anderm als von den Geboten und guten Werken und dem Gesetz." Bildlich legte Jochanan diesen Vers aus, doch entsteht auch hier nicht eigentlich ein doppelter Schriftsinn; vielmehr gilt ihm der Wortsinn der Stelle in keiner Weise als ihr Sinn. Dieser ist nach Jochanans Meinung auch hier nichts anderes als der ethische Fundamentalsatz der Schrift. Daß er auch den Prediger citiert und deutet, steht mit der Überlieferung in Übereinstimmung, daß ihn Hillel und sein Haus im Unterschied von Schammai zur Bibel gerechnet hat. o) Der Altar. Was das Wort über die Steine des Altars als Jochanans Stellung zu den Sakramenten des Opferdienstes erkennbar macht, wird durch ein zweites Wort bestätigt, das in die Zeit nach dem Tempelbrand fällt. „Einmal ging R. Jochanan b. Zakkai aus Jerusalem heraus und es ging R. Josua hinter ihm/) und er sah das Heiligtum, wie es zerstört war. Es sagte R. Josua: wehe uns, weil der Ort zerstört ist, an welchem sie die Sünden Israels versöhnten. Er sagte ihm: mein Sohn, es thue dir nicht leid. Wir haben eine Versöhnung, N1LQ, welche wie dies ist, und welche ist es? Das ist die Wohlthätigkeit, weil gesagt ist: denn ich will Güte und nicht Opfer," A. Na- thans 21. Die Ortsangabe stimmt aufs beste zum Inhalt des Gesprächs. Gingen die beiden Lehrer aus Jerusalem hinaus, so fiel ihr Blick notwendig auf den Tempelberg und seine Ruine, und die Klage Josuas ist wohl motiviert. Allerdings giebt eine kürzere Fassung desselben Stückes nur: „eine Geschichte mit R. Jochanan b. Zakkai, der auf dem Wege ging und es lief R. Josua hinter ihm her und sagte ihm: wehe uns, daß das Haus unsers Lebens dahin ist, der Ort, der unsre Sünden versöhnte," ibiä. 22. 'Auch hier ist gesagt, daß der Altar Vergebung der Sünden giebt. Um seinetwillen verzeiht Gott. Giebt Israel das Opfer, so giebt ihm Gott die Gegengabe, die Verzeihung. Darum wird *) vgl. Matth. 16, 24 u. paraü.; 10, 38 u. paraü. 40 Josua durch den Verlust des Altars tief erschüttert; doch Jochanan bleibt aufrecht. Auch jetzt fehlt es Israel nicht an einem Mittel, die Vergebung der Sünden zu erwerben. Legte es früher die Gabe auf den Altar, so lege es sie nun in die Hand der Armen. Die Wohlthätigkeit ersetzt den Opferdienst. Merkwürdig ist, daß sich nach unserm Text Jochanan mit demselben Wort Hosea 6, 6 über den Verlust des Kultus tröstet, mit dem Jesus den pharisäischen Gottesdienst zerbrach. An diesem Spruche haftete ein Stachel, weshalb derselbe vielfach erwogen und mit Deutungen umgeben worden sein mag. Bildete er bisher mehr eine Schwierigkeit, weil er das Opfer zu entwerten schien, so wurde er jetzt zum weisenden Licht, das Trost auf dem neuen Wege gab. Übrigens kann diese Kongruenz mit dem Evangelium durch die Erörterungen zwischen der Christenheit und den jüdischen Lehrern veranlaßt sein. Dieses Wort klärt den Verlauf der Geschichte bedeutsam auf. So hoch der Altar geschätzt war, als Vergebung der Sünden schaffend, er fiel ohne tiefer greifende Erschütterung. Seine Zerstörung bildet keine Epoche in der innern Geschichte Israels. Die Rabbinen vor dem Tempelbrand gehen vom Opfer weg im Bewußtsein, Vergebung empfangen zu haben und gerechtfertigt zu sein;^) den Rabbinen nach dem Tempelbrand war dies versagt, und doch bleibt ihre Frömmigkeit, was sie war. Wir sehen an Jochanan, wie sich das erklärt. Er versteht zwar die Bedeutung des Opfers ungleich tiefer als die Griechen, da das, was z. B. Philo über dasselbe sagt, regelmäßig viel dürftiger bleibt. In der ernsten Beschäftigung mit der Schrift und dem rüstigen Gehorsam gegen das Gesetz blieb den Palästinensern bewußt, was Sünde ist und darum auch einigermaßen deutlich, was Vergebung der Sünde ist. Dennoch war auch Jochanan vom Altar innerlich los, da er seine Bedeutung doch nur mit dem zu begründen weiß, was der Mensch an demselben thut. Daß dieser Gott die Gabe bringt, hat versöhnende Kraft; solange dieselbe möglich ist, wird sie mit Eifer und Pünktlichkeit gebracht. Ist sie nicht mehr möglich, treten an ihre Stelle die andern Erweisungen der Liebe zu ß Vgl. das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner. Auch Jesu Hörer nehmen an, daß man gerechtfertigt aus dem Tempel gehe. Der Gegensatz bezieht sich auf die Frage, wer der gerechtfertigt aus dem Tempel gehende sei. 41 Gott. Kann der Mensch auch nicht mehr dem Altar die Gabe geben, geben kann er immer noch, und immer noch mit derselben Wirkung, daß Gott ihm seiner Gabe wegen verzeiht. Da der Gesetzestheologie die Hauptsache ist, was der Mensch zu leisten hat, paßt sie sich ohne tiefergreifende Wandlung den wechselnden Situationen desselben an, immer mit der Zuversicht, daß die Gabe als Lohn die Vergebung erwirbt. Mächtig schlug dieser Gedankengang auch in die Kirche hinüber. Sie hat ebenfalls den Armen zum Erben des Altars gemacht und an die ihm gegebene Gabe die Versöhnung geknüpft. Jochanan mußte folglich jeder Versuch, einen andern Altar- statt des zerstörten zu schaffen, fern liegen. Exegetische Stützen hätten sich dafür leicht finden lassen. Das Passah z. B. war ja älter als das Heiligtum, wie es auch die Samariter nach der Zerstörung ihres Tempels festgehalten haben. Theoretisch unterscheiden die Rabbinen zwischen der Zeit, wo die Bama, der Altar außerhalb Jerusalems, erlaubt war, und derjenigen Zeit, wo er verboten war. Durfte sich Israel etwa nach der Zerstörung des Tempels wieder eine Bama, etwa in Mizpa, oder bei der Eiche Abrahams in Mamre, schaffen? Es liegt keine Spur vor, daß ein solcher Versuch gemacht wurde, und die Stellung Jochanans und seiner Genossen war hierfür zweifellos von Wichtigkeit. ä) Die Reinigung. Neben dem Betrieb des Opferdienstes kam dem Reinigungswesen in der gottesdienstlichen Ordnung große Bedeutung zu. Es ist ein Text erhalten, der Jochanans Stellung zu demselben in einer Weise beschreibt, die mit seiner Auffassung des Altars völlig einheitlich ist. „Es fragte ihn ein Heide: die Werke, die ihr thut, sehen aus wie Zauberei. Ihr bringt eine Kuh und verbrennt sie und zerstampft sie und nehmt ihre Asche, und hat sich jemand von euch verunreinigt an einem Toten, so sprengt ihr aus ihn zwei oder drei Tropfen und sagt ihm: du bist rein geworden! Er sagte ihm: ging nie ein Geist der Verwirrung in dich ein? Er sagte ihm: nein. Hast du einen Menschen gesehen, in den ein Geist der Verwirrung einging? Er sagte ihm: ja. Er sagte ihm: was thun sie ihm? Er sagte ihm: sie bringen Wurzeln, räuchern unter ihm und sprengen Wasser auf ihn und er flieht. 42 Er sagte ihm: deine Ohren sollen hören, was du aus deinem Munde gehen läßt?) So verhält es sich auch mit diesem Geist, dem Geist der Unreinigkeit, da geschrieben ist: und auch die Propheten und den Geist der Unreinigkeit will ich aus dem Lande nehmen. Sie sprengen das Wasser der Reinigung auf ihn und er flieht. Als er weggegangen war, sagten ihm seine Jünger: unser Lehrer, diesen stießest du mit einem Rohr; was sagst du jedoch uns? Er sagte ihnen: bei euerm Leben! weder macht das Tote unrein, noch macht das Wasser rein, sondern der Heilige, der gepriesen ist, hat gesagt: ein Gesetz habe ich festgesetzt, einen Entscheid getroffen; du bist nicht ermächtigt?) meinen Entscheid zu übertreten, da geschrieben ist: dies ist die Satzung des Gesetzes." Lninsrl r. 19. Lssikta Lad. Kali. 40 a. Als Jochanan den Heiden für die Reinigkeitsordnung auf die Heilung der Besessenen durch Räucherung und Besprengung verwies, wollte er nur verhüten, daß der Heide am Gesetz Anstoß nehme. Er selbst steht der Reinigungsordnung frei gegenüber. Das Tote macht nicht unrein, das Wasser nicht rein. Dem Worte Jesu: nicht was in den Mund hinein, sondern was aus ihm herausgeht, macht unrein, stimmt er bei; auch er denkt so. Aber nun setzt der formale Gesetzesgedanke mit seiner ganzen Wucht ein: Gott hat es befohlen! du darfst es nicht übertreten. Und als Übung des Gehorsams behält auch die Reinheitsregel ihren religiösen Wert, nicht um deswillen, was sie vorschreibt — an sich ist sie inhaltslos — aber als Gehorsamsakt. So führt auch sie zum Verdienst, wird zum Mittel, wodurch sich Israel Gottes Gunst und Gnade erwirbt, und bleibt ein Glied in dem großen Versöhnungsapparat, mit dem Israel um Gottes Wohlgefallen wirbt. Auch dieses Wort Jochanans ist zum Verständnis des Ge- schichtslaufs wertvoll. Zuerst wurde das Reinheitsideal aufs höchste gespannt, und der Reinigungsapparat aufs sorgfältigste ausgebildet, und als er mit dem Altar verschwand und die Reinheit allen, auch dem Frömmsten, unerreichbar wurde, weil das Reinigungsmittel nicht mehr vorhanden war, erfolgt keine bemerket vgl. Matth. is, II rö ^--7,r-- NOX ist die Parallele zu Keart oo,. 43 bare Erschütterung; es ist als wäre nichts geschehen. Die Rabbinen vor dem Tempelbrand sind von der Verunreinigung an Toten nach der gesetzlichen Vorschrift gereinigt, die Rabbinen nach dem Tempelbrand sind es nicht mehr. Einen Unterschied macht das für ihr Bewußtsein kaum! Jochanan sagt uns, wie wir das zu verstehen haben. Das Tote macht nicht unrein, das Wasser nicht rein. Innerlich wird die Satzung nicht inehr als bedeutsam und wertvoll empfunden. Solange ihre Ausführung möglich ist, erweist man an ihr seinen Gehorsam; ist sie durch den Laus der Geschichte unmöglich geworden, so übt man seinen Gehorsam an andern Dingen mit demselben Effekt. Aber das Studium der Reinigungsordnung und ihre lehrhafte Ausbildung betrieb man weiter, auch nach ihrem Fall, genau unter demselben Gesichtspunkt, unter dem vorher ihre Übung aufrecht erhalten ward. Es wendet sich nun auch auf diesen Teil des Gesetzes an, was z. B. vom Aussatz der Häuser, vom Gesetz gegen den widerspenstigen Sohn und ähnlichem gesagt wird: in Wirklichkeit kommt das nicht vor; reelle Bedeutung haben diese Vorschriften der Bibel nicht. „Warum wurde es denn geschrieben? Lege aus und empfange Lohn," Ros. ns§. 6, 1. 625, 4. d. «null. 71a. Das Schriftstudium und der Theologiebetrieb gehören zum Gehorsam, den Israel Gott zu erweisen hat. Indem es solche Schriftabschnitte liest, und mit aller Anspannung seines Scharfsinns ihren Sinn feststellt, übt es an der Bibel einen Gehorsamsakt, der vor Gott verdienstlich ist. Das ergab das seltsame, an schweren Folgen reiche Resultat, daß die Beschreibung des Wandels und der Wandel getrennte Wege gehen und in jener vieles einen breiten Raum einnimmt, wofür es keine Praxis giebt; d. h. die Lehre wurde Scholastik. Jochanans Ausspruch über die Reinigung zeigt, daß diese Wendung nicht erst durch den Tempelbrand eintrat, unter dem Antrieb der heißen Hoffnung, welche die gewaltsame Verhinderung der Gesetzeserfüllung als bald überstanden überflog, sondern daß sie schon vor dem Tempelbrand vollzogen war. Obwohl die Lehrer Jerusalems nicht mehr an die reinigende Kraft des Wassers glaubten, dotierten und prakticierten sie das Reinigungswesen doch. Wir haben hier vor uns, was Paulus mit seinem meint, eine Gebundenheit ans Schriftwort, die den Menschen innerlich in seinem Denken und Wollen nicht mehr faßt und 44 leitet, und ihn doch aus der Verpflichtung dem Schriftwort gegenüber nicht entläßt. Gerade unsere Stelle bringt kräftig zum Ausdruck, wie ernst Jochanan in der Schrift Gott hört. „Lies und übe, was er befohlen hat, und frage nicht, warum." Er kannte keine andre Bezeugung Gottes als das Gesetz, und blieb deshalb ans Wasser der Reinigungsordnung gebunden, obwohl sie ihm inhaltlos geworden war?) Zur Scholastik herabsinkende Theologie wird immer zum Verderber der Gemeinde, weil sie ein Scheinbesitz ist, der nicht bereichert, sondern verarmen macht, ein pseudonymes Wissen, das nicht im Lebensstand des Wissenden begründet ist, sondern sich als täuschende Decke über den innern Mangel legt, eine Unwahrheit, die um so gefährlicher ist, je mehr sie moralisiert und den Willenslauf zu leiten vorgiebt?) Bei der griechischen Theologie war keine Hilfe gegen die Scholastik mehr zu holen. Auch sie war trotz ihrer hochfliegenden Spekulation derselben bereits verfallen, wie Philo handgreiflich zeigt, der völlig Heterogenes unverarbeitet zusammenhaust und seine „Presbyter" auch da, wo er nach seinem eigenen Empfinden ihnen widersprechen muß, ausschreibt. Da sich auch die palästinensischen Lehrer gegen eine entwurzelte, unwahr gewordene Doktrin nicht zu wehren vermochten, gab es gegen den lastenden Druck der erstarrenden Tradition keine Abwehr mehr. Schon der Traditionalismus mit seiner falschen Bindung an die Frommen der früheren Geschlechter und an ihren gottes- dienstlichen Brauch, ließ kein andres Ergebnis zu. Die Knechtschaft, in die sich damit die Lehrer gegenüber den Alten begeben hatten, zog die Scholastik notwendig nach sich. 6) Der Christus. Aus JochananS Wort über den zunehmenden Mord und Ehebruch wissen wir, daß ihn die schweren Dinge, die dem Sturz Das ist auch für die Vorgänge in der ersten Christenheit zu beachten. Die Einrede gegen die Abschaffung der Reinigkeitsordnung stellt für sich allein noch nicht fest, daß das Verständnis für Jesu Wort: aus dem Herzen kommt, was unrein macht, fehlte. Auch dann stand immer noch der formale Gesetzesbegrisf im Wege: Gott hat es nun einmal geboten! Wir stehen an derjenigen Stelle der Lehre, die Jesus so schmerzhaft empfunden hat: die als Larve umgelegte fromme Praxis, örroxniorx. 45 Jerusalems vorangingen, tief bewegt haben. Was ihn tröstete, hören wir bei einem andern Anlaß, bei dem sich die Lehrer ebenfalls ohnmächtig fühlten. Im jüdischen Ostjordanland regierte der Machthaber willkürlich, stieß das eine Geschlecht aus, und nahm das andre auf mit Gewalt, ini. särrj. 8,7-- los. säus. 3, 4. 459, 30. Dazu ist das von Josua überlieferte Wort Jo- chanans gestellt, das wahrscheinlich dadurch veranlaßt war: „Elia kommt nicht, um rein und unrein zu heißen, auszuschließen und zuzulassen, sondern nur dazu kommt er,, um die mit Gewalt Zugelassenen auszuschließen und die mit Gewalt Ausgeschlossenen zuzulassen." Was Jochanan über die Ohnmacht der Theologen, die den Streit im Ostjordanland nicht stillen konnten, tröstete, war die Hoffnung auf Elia. Er wird gewaltsam behauptetes Judentum entlarven, gewaltsam Geächtete mit der Gemeinde vereinigen. Die Schlaffheiten und Ungerechtigkeiten des menschlichen Bannes bringt er zurecht. Wir haben hier ein Stück seiner messianischen Erwartung vor uns, dasjenige, das immer zuerst hervortritt, weil es Maleachi an den Eingang des Zukunftsbildes gestellt hat: die Erwartung Elias. Die Evangelien zeigen reichlich, wie stark dieselbe das Volk beeinflußt hat. Er hat auch auf den Christus gehofft: „Wenn du einen Setzling in deiner Hand hast, und sie dir sagen würden: siehe der Christus! — — komm und setze den Setzling und hernach gehe hinaus und empfange ihn," A. Na- thans 67. Stärker hätte Jochanan nicht aussprechen können, wie viel ihm an der Erhaltung und Mehrung des Baumwuchses in Palästina lag. Obwohl der Satz zunächst nicht eine christologische Aussage ist, enthält er doch eine solche von Wichtigkeit. Jochanan rechnet sichtlich mit dem Kommen Christi als mit einem Ereignis, das leicht plötzlich eintreffen kann. Unerwartet als eine sofort alles verändernde Wendung kann die Botschaft erschallen: der Christus ist da! >) Auch sprachlich ist dies eine hübsche Parallele zu Matth. 24, 23: 46 b) Das kos der Seele nach dem Tode. Schon aus der Erzählung über Jochanans Trauer um seinen Sohn wissen wir, daß er nach dem Tode für die Seele des Gerechten die Erhebung in einen Herrlichkeitsstand bei Gott erwartete. Das lehrt auch das mit Kali. 9, 8 verbundene Gleichnis Jochanans. Nachdem zur steten Bereitschaft zum Tode ermähnt ist, heißt es: „es hat gesagt R. Jochanan b. Zakkai:^) Ein Gleichnis von einem Könige, der seine Knechte zum Mahle bestellte, und nicht bestimmte er ihnen die Zeit. Die Klugen unter ihnen schmückten sich und saßen an der Thür des Hauses des Königs. Sie sagten: sollte es dem Hause des Königs an etwas gebrechen? Die Thörichten unter ihnen gingen an ihr Geschäft?) Sie sagten: giebt es denn eine Mahlzeit ohne Mühe? Plötzlich suchte der König seine Knechte. Die klugen unter ihnen gingen zu ihm hinein, wie sie geschmückt waren, und die Thörichten gingen vor ihn hinein, wie sie beschmutzt waren. Es freute sich der König an den Klugen und schalt die Thörichten. Er sagte: die, welche sich zum Mahle schmückten, sollen sitzen und essen und trinken; die, welche sich nicht schmückten, sollen stehn und zusehn," b. 8lig.dbg.bli 153 a. Ist dieses Gleichnis unabhängig von denjenigen Jesu (thörichte Jungfrauen und hochzeitliches Kleid)? Daß Jochanan die christliche Verkündigung kannte, läßt sich nur dann bezweifeln, wenn man das Zeugnis der Apostelgeschichte munter kassiert. Nach demselben wußte man in Jerusalem, was Petrus, Jakobus und Paulus wollten, und es ist somit leicht denkbar, daß die Gleichnisse des Evangeliums Jochanan bei seiner Mahnung zur steten Bereitschaft, zu Gott abgerufen zu werden, vorschwebten. tz Die Aufschrift „R. I. b. Z. hat gesagt", wird dadurch bestätigt, daß das Gleichnis in dieser Form schon Meir vorlag. Sein Schwiegersohn berichtet, daß er mit dem Schlüsse nicht zufrieden war, weil er die Gäste ohne Festgcwand zu milde strafe. In Rabba folgt aus kok. S, 8 dasselbe Gleichnis ohne Nennung Jochanans mit Juda dem Fürsten als Tradcnt, doch mit derselben nachträglichen Korrektur Meirs. Auch nach diesem Texte lag das Gleichnis bereits Meir vor. 2 ) «öroö Mlltth 22 , 5 . 47 Was der Seele nach dem Tode widerfährt, tritt bestimmter in den später zu besprechenden, letzten Worten Jochanans hervor. Die Seele wird vor Gott gebracht, um dort ihr Urteil zu empfangen, und von dort entweder ins Paradies, oder in das Gehinnom geleitet. Über letzteres ist ein merkwürdiges Sätzchen unter Jochanans Namen überliefert, das freilich in einen fremdartigen Zusammenhang versprengt und dadurch undeutlich gemacht ist. „Zwei Palmen sind in der Ebene b. Hinnoms, und Rauch steigt zwischen ihnen auf." Dazu wird bemerkt: dies ist der Eingang zum Gehinnom, b. suüüu 32b -- srub. l9a. Hier ist das Gehinnom sichtlich noch das Thal am Südsuß des Tempelbergs, da vom jenseitigen Gehinnom niemand gesagt hat, daß dort zwei Palmen ständen. Zum Gerichtsort wird es aber nicht erst in der Zukunft, wenn das Endgericht gehalten wird, sondern mit der Örtlichkeit bei Jerusalem scheint ein in die verborgene Tiefe hinabreichender und jetzt schon vorhandener Straf- ort verbunden zu sein. Sonst würde nicht von Rauch zwischen den beiden Palmen gesprochen, wobei sich freilich nicht mehr bestimmen läßt, was wirklich Jochanan gesagt hat. Ebenso führt die Formel „Eingang ins Gehinnom" darauf, daß es jetzt schon besteht und die von Gott gerichteten Seelen dorthin geführt werden. Ist dies die Meinung des Satzes, so ergeben sich drei sich wohl zusammenfügende Stadien des Begriffs: 1. Das Gehinnom ist das Thal bei Jerusalem und der Ort des eschatologischen Gerichts (Henoch). 2. Das Gehinnom ist das Thal bei Jerusalem, unter dein der Strafort der verworfenen Seelen liegt (Jochanan). 3. Das Gehinnom wird von Jerusalem abgelöst und nur als jenseitiger Strafort gedacht (die gewöhnliche Fassung des Begriffs in der synagogalen Litteratur). Darum hat es einige Wahrscheinlichkeit, daß das Sätzchen in der That auf einer Äußerung Jochanans beruht. 48 4. Jochanans Stellung zu den andern Karteien. ^ n) Der Sadduliiisiillls. ^ Die Lehrer überwachten vor allem die Hohenpriester in ihrer t Amtsführung, weil hier die Spannung zwischen den Sadducäern und Pharisäern eingriff. „Eine Geschichte mit einem Sadducäer, s der die Sonne untergehen ließ und ging, um die Kuh (zur Her- < stellung des Reinigungswassers) zu verbrennen." Die sadducäischen Priester verlangten, daß dies in der Nacht, s die Pharisäer, daß es am Tage geschehe. Diesmal setzte der r Hohepriester seinen Willen durch. s „Es erfuhr es von ihm R. Jochanan b. Zakkai und er kam 1 und legte seine beiden Hände auf ihn Z und sagte zu ihm: „mein , Herr Hohepriester; wie schön ist's, daß du Hohepriester bist!" ^ Er heißt ihn dann das Bad nehmen, das deshalb nötig war, l weil die Verbrennung der Kuh unrein machte. Als er wieder g herauf kam, faßte er ihn am Ohr. „Es sagte zu ihm b. Zakkai: s „bis ich Zeit habe, geh!" ^ Er sagte zu ihm: i „wenn du Zeit hast." Nicht wartete er drei Tage, bis sie ihn ins r Grab legten. Es kam sein Vater vor R. Jochanan b. Zakkai; er l sagte ihm: fortgenommen ist mein Sohn," N2S2, Dos. xaru 3, 8. 632, 18. p Dieser Vorgang ist von hohem geschichtlichen Interesse. Ein h sachlicher Wert haftet an der Differenz zwischen dem Priester und l dem Lehrer nicht. Ob die Kuh am Tage oder in der Nacht ver- ) r-r ooiox ö Joh. 7, 3ö, auch Luk. 4. 3K. 2 ) In der Parallele Schechtcr x. 74 sind die „guten Werke" durch die Scheu vor der Sünde ersetzt, ohne sachliche Veränderung. Das Band zwischen Weisheit und Werk, wie es sich Jochanan denkt, ist eine Sachparallele zu der Art, wie Jakobus Glaube und Werk verknüpft, 2 , 14 ff. „Der Künstler ohne Instrument", und „der Leib ohne Geist" veranschaulichen einen verwandten Gedanken. Nur greifen die Sätze des Jakobus dem Leser kräftiger und tiefer ins Gewissen. 54 meine Weisheit zu schreiben, die ich gelernt habe von meinen Lehrern, und ich habe nicht mehr von der Weisheit der Weisen mir zu eigen gemacht, als wie die Fliege, die ins große Meer taucht; um was macht sie es geringer?" Zoksrim 16, 8. Allerdings ist nicht ganz gesichert, daß dieser Spruch Jochanan gehört, weil er auch Elieser und Josua, und in reducierter Fassung Akiba zugeschrieben wird, 8kir. r. zu 1, 3, vgl. b. sanli. 68 u. Aber gerade die abwehrende Äußerung Akibas macht wahrscheinlich, daß in der That die Schüler Jochanans in dieser Weise über das Verhältnis der alten Weisheit zu ihrem eignen Wissen gesprochen haben. Die Empfindung vom Niedergang der Weisheit in ihrem Übergang vom einen Geschlecht auf das andre findet sich auch auf griechischem Boden und trägt dort selber kräftig zum Abwelken des Hellenismus bei. Auch die Lehrer Jerusalems haben sich dieser Theorie nicht zu erwehren vermocht und die Klage müder Epigonen wiederholt. So bricht sogar in derjenigen Arbeit, die doch sonst die Krone und Freude der Lehrer bildet, ein bitteres Verzagen durch. Es wurde Jochanan die Frage vorgelegt, wie sich die beiden Schöpfungsberichte Gen. 1 und 2 zu einander verhalten. Da der jüdische Platonismus die Stellen zur Begründung der Lehre von der doppelten Schöpfung «benutzte und die Jdealschöpfung Gen. 1 der Realschöpfung Gen. 2 vorangehen ließ, bildet Jochanans Antwort auf diese Frage einen gewissen Maßstab für seine Beziehungen zum Hellenismus. „Sie fragten vor R. Jochanan b. Zakkai: es ist geschrieben: und es sprach Gott: die Erde lasse hervorgehen lebendige Seelen nach ihrer Art, Gen. 1, 24. Was lehrt die Schrift dadurch, daß sie sagt: und es bildete Gott der Herr aus der Erde alles Wild des Feldes? Gen. 2, 19. Er sagte ihnen: dort ist von der Schöpfung, hier von der Unterwerfung die Rede," wobei er aus IILTt Deut. 20, 19 erläuterte, 6lsn. r. 17. Die Doppelschöpfung wird also nicht von ihm vertreten. Gen. 1 ist der alleinige Schöpsungsbericht, und Gen. 2 erzählt, was mit dem nach Gen. 1 Geschaffenen geschah. Ein griechischer Einfluß zeigt sich dagegen in seiner Antwort auf die Frage, warum der Regen der Sündflut vierzig Tage lang fiel. „Es sagte R. Jochanan b. Zakkai: sie haben das Bild geschändet, das gegeben wurde während der vierzig Tage," 6lsn. r. 55 32. Die vierzig Tage sind die Frist, während deren der Embryo die menschliche Figur erhält. Indem hier Jochanan die biblische Geschichte aus natürlichen Vorgängen erläutert, verwendet er einen Obersatz, der aus der griechischen Schule stammt und dort eine große Bedeutung gewonnen hat. Soweit unsre geschichtlichen Nachrichten reichen, hat zuerst Aristobul die aristotelisch gedeutete Natur als den vollständigen, maßgebenden Ausdruck des göttlichen Wesens und Willens verstanden, und den die heilige Geschichte formenden Gotteswillen für eins mit dem Naturgesetz erklärt. Zahlreiche Deutungen dieser Art finden sich bei Philo, nur daß der platoni- sierenden Schule die Physiologie gegen die Psychologie zurücktrat und nicht das Gesetz der äußern Natur, sondern dasjenige des seelischen Lebens als der eigentliche Inhalt der Schrift erschien. Für die Auslegung Jochanans bildeten solche Theorien jedoch nicht den leitenden Obergedanken; ethische Sätze gelten ihm vielmehr deutlich als die Grundwahrheit der Schrift?) Griechischer Einfluß bestimmte seinen Gedanken auch dann, wenn er die Frommen in zwei Klassen teilt, in solche, welche die Furcht, und in solche, welche die Liebe Gottes treibt. Von Hiob hat er gesagt, daß er aus Furcht fromm gewesen sei, weil gesagt ist: „ein redlicher und gerader Mann, fürchtend Gott und weichend vom Bösen." Daran hat R. Josua erinnert, als eines Tages in Gegenwart Akibas dessen Schüler Josua b. Hyrkanos auslegte: Hiob hat Gott nur aus Liebe gedient, weil gesagt ist: siehe, wird er mich töten, so hoffe ich auf ihn. Als der Jünger Akibas das ausführte, rief R. Josua aus: „wer deckt die Erde auf aus deinen >) Im Namen Jochanans b. Zakkai wird d. ollaxiga 18 a der Gottlose, der auf die Höhen der Wolken hinaufsteigen und dem Höchsten gleichen will, Jes. 14, 14, durch die Kürze des menschlichen Lebens widerlegt. Darauf wird die Ausdehnung des Himmels berechnet: „von der Erde bis zur Feste ist ein Weg von 500 Jahren, die Dicke der Feste ein Weg von 500 Jahren, und so zwischen jeder Feste und Feste." Daran schließt sich b. odagiga IZs, (nicht aber in der Parallelstelle b. pssaob 94 a) die Berechnung der Größe der heiligen Tiere, auf denen der Thron Gottes steht. Hier liegt ein Stück Kosmologie vor, und die Übertragung der 7000 Jahre der Weltwoche auf die räumliche Ausdehnung der Welt (7 Distanzen und 7 Festen zu 500 Jahren --- 7000 Jahre) ist nicht ohne Interesse. Daß dies aber Jochanan gehöre, ist unwahrscheinlich, da das Ganze aus verschiedenen Bestandteilen zusammengeklebt ist. 56 Augen, R. Jochanan b. Zakkai, der du alle deine Tage gelehrt hast, daß Hiob nur aus Furcht Gott diente? und siehe, Josua, der Jünger deines Jüngers hat gelehrt, daß er es aus Liebe that," vai. 8ota 5, 5. Damals lag Jochanan im Grabe; Josua wünscht, er möchte aus demselben geholt werden können, um zu. hören, was Akiba in der Schrift zu lesen vermöge, wie er an Hiob die über die Furcht sich erhebende Liebe zeige?) Nicht nur die Zurückleitung des Handelns auf ein innerliches Grundmotiv, und die Unterscheidung der beiden verschiedenen Motive, der Furcht und der Liebe, in ihrer Abstufung, ist hier griechisch, sondern schon dies, daß die biblischen Personen als Typen einer bestimmten Richtung der Frömmigkeit gedeutet werden. In der Aufnahme dieser Gedankenreihen geht Jochanan aber nur soweit, als ihm sein, von der griechischen Theologie abweichender Grundgedanke erlaubt. Nicht eine Seelenkraft bringt die Schrift an ihren Gestalten zur Darstellung, sondern was Furcht Gottes sei, hat sie uns an Hiob gezeigt. Er bleibt dabei, daß Frömmigkeit nicht Gnosis, sondern Praxis, darum der Kern der Schrift Ethik sei, nicht Physiologie oder Psychologie. Der Unsterblichkeitsgedanke, der ihn bewegt, hat den Vorgang der griechischen Theologen vor sich. Seiner Erwartung fehlt aber jede physiologische Färbung. Wir hören nichts vom ätherischen Wesen des Geistes, das zum Äther strebe, oder von der Denk- krast, die in den Bereich des Gedachten versetzt werde. Was ihn am meisten bewegt hat, blieb für die griechische Spekulation etwas Fremdartiges und sprengt sie, ernst genommen, von der Wurzel aus: das ist der richtende Gott. Für Jochanan bedeutete das Sterben Citation vor den göttlichen Richterstuhl, worauf die Versetzung in einen der beiden geschiedenen Orte der Seelen erfolgt. y Neben dem Glossator Sirachs mit seiner Überordnnng der über den Beiträge 7, 6 . IS7, vgl. Philo gunü äeus sil iinmut, Mang 283, Wcndl. Kv: die Mahnungen der Gesetze beziehen sich alle npL-7 rö F rrgär rö c-7ry I, 4, 18. Dazu giebt es, wie man sieht, in Jerusalem ebensowohl Parallelen als in Alexandrien. 57 Dazu giebt der Hellenismus nicht in seiner Theologie, sondern nur in seiner aus Jerusalem hinübergebrachten Apokalyptik Parallelen. e) Die Apokalyptik. Die engen Beziehungen zwischen der den Text erweiternden Exegese, dem Midrasch, und der Apokalyptik zeigen sich auch an Jochanan. Auch er hat es zur Aufgabe des Exegeten gerechnet, anzugeben, was die Väter in ihrem prophetischen Fernblick geschaut haben, nicht so, daß er mit farbiger Ausmalung ihr prophetisches Bewußtsein dargestellt und eine sogenannte Apokalypse geschrieben hätte, wohl aber so, daß er den prophetischen Charakter gewisser Erlebnisse der Väter lehrhaft definiert. Adams Augen wurden geöffnet, Gen. 3, 7. Was sah er? „R. Judan im Namen R. Jochanans b. Zakkai und R. Berekja im Namen R. Akibas') hat gesagt: Ein Gleichnis von einem Mann aus dem Dorf, der am Laden des Glashändlers vorüberging, und vor demselben stand ein Korb voll Becher und durchbrochener Gläser, und er stieß mit seinem Stock daran und zerbrach sie. Er stand auf und faßte ihn; er sagte zu ihm: ich weiß, daß ich gar keinen Ersatz von dir erhalten kann. Jedoch komm, ich will dir zeigen, wieviel Schönes du verdorben hast. So ließ er sie sehen, wieviel Geschlechter sie verdorben haben," 6lsn. r. zu 3, 7. Adam hat also den Fortgang der Weltgeschichte prophetisch überschaut, und gesehen, wie sehr und wie lange die Menschen unter den Folgen seines Falles leiden. Stand das fest, so konnte man auch erzählen, was Adam sah. Nach Gen. 15 war mit der Theophanie für Abraham ein gewisser Blick in die Zukunft verbunden. Was sah er? Nach R. Judan hat R. Jochanan b. Zakkai gesagt: diese Zeit^) offenbarte er ihm. Er läßt den Geschichtslauf vor Abrahams Augen enthüllt werden bis zum Punkte, wo das Vollkommene beginnt. Akiba dagegen erklärte: in derselben Weise, wie diese, offenbarte er ihm auch die künftige Zeit, 6lsn. r. 44 (Ende). st Die beiden Angaben widersprechen einander nicht. Zwischen Jochanan und den Spätern steht Akiba als Tradent. st 6 ovrox,- vgl. Dalman, Worte Jesu I, 122. - 58 Wenn Jesus sagte: Abraham sah meinen Tag, Joh. 8, 56, so sagten auch Jochanan und noch mehr Akiba: Abraham sah den Tag des Christus. Den tiefen Unterschied macht freilich das „mein": meinen Tag! Was hier von Jochanan als kurz gefaßte These überliefert ist, giebt die Apokalypse Abrahams als Erzählung mit plastischer Ausführung nach der Weise des Midrasch. Ihr Thema ist darzustellen, wie Abraham zur Erkenntnis Gottes kam. Dazu gehört erstens seine Wendung vom Heidentum zum einen Gott in Chal- däa, zweitens aber die Schauung Gottes, wie sie Gen. 15 ihm beigelegt wird. Zu dieser gehört auch der Überblick über den Geschichtslauf, wie ihn schon Jochanan Abraham beigemessen hat?) Damit tritt wieder an einer nicht unwichtigen Stelle Jo- chanans Abwehr der griechischen Theologie ans Licht. Die Beantwortung der Frage: wie Abraham zur Erkenntnis Gottes gekommen sei, ist für den gesamten Religionsbegriff von Belang. Jedenfalls hat Jochanan Abraham nicht nur, wie die Griechen, durch physikotheologische Schlüsse den Monotheismus gewinnen lassen, sondern ihm ein prophetisches Erlebnis zugeschrieben, das ihm in wunderbarer Offenbarung das Auge für Gott öffnete?) k) Die Chaßdim. Die Thatsache ist reichlich bezeugt, daß sich in den palästinensischen Gemeinden neben den Lehrern noch andre Männer als religiöse Autorität mehr oder weniger geltend zu machen verstanden: „Fromme", Chasidim, die nicht studiert haben, sondern sich als „Männer der That" ihr Ansehn erwarben. Von der Gemeinde unterscheiden sie sich einmal durch die Größe ihrer Opferwilligkeit. Da es nicht die allen gellende Regel der Frömmigkeit sein kann, die den Chasid von der übrigen Gemeinde unterschied, gründet sich ihr Ruhm aus die freien Erweisungen einer das Gesetz überschreitenden Liebe, sei es im y Vgl. auch Lpoeal. Larnob 4: „Hernach habe ich es (das himmlische Jerusalem) Abraham meinem Knecht gezeigt in der Nacht bei der Teilung der Opfer." y Ob er die rationale Deutung der Entstehung des Monotheismus damit kombiniert hat, als die Vorstufe, welche der Schauung Gottes Gen. 15 vorangegangen sei, ähnlich wie es die Abrahamsapokalypse thut, läßt sich weder verneinen noch bejahen. 59 religiösen Verhältnis, indem sie auf das, was das Gesetz an sich erlaubt, verzichten, sei es den Menschen gegenüber, auf eine das eigne Interesse weit hinter sich lassende Wohlthätigkeit und Liebesübung. Doch ist das nicht das einzige, was den Chastd kennzeichnet. Auch ein göttliches Geben wird an ihm offenbar, darin, daß er erhörlich zu beten vermag. Was die Gemeinde sonst an Offenbarung und Verbürgung göttlicher Gnade besaß, wies alles in die Vergangenheit. Dorthin fällt die Berufung der Väter, die Absonderung Israels von den Heiden durch das Gesetz, das Kommen der Propheten und die Inspiration der Schrift. Aber der Vergangenheit erwiesene Gnaden reichen, so bedeutsam sie die Gegenwart bestimmen, doch allein zur Begründung des Glaubens nicht aus. Sein Verlangen zielt auf Gottes Gegenwart. Am Chastd erlebte sie die Gemeinde. Ihm antwortete Gott jetzt, sichtbar, deutlich, mit offenkundiger Gnade. Den liturgischen Gottesdienst verwaltete zwar der Gelehrte besser als der Laie; er blieb der berufene Bürge für die liturgische Korrektheit des Gebets. Aber das Bewußtsein blieb wach, daß Erhörung nicht durch korrekte Liturgie erreicht werde. Darum rief man in der Not, wenn es galt, so Hilfe zu erbitten, daß man sie empfing, häufig den ungelehrten Frommen, und wenn seine Gebetsmacht sich erprobte, hob ihn ein solches sichtbares Zeugnis des göttlichen Wohlgefallens bleibend über die Gemeinde empor. Für den Lehrstand war es von Wichtigkeit, daß auch er Glieder in seiner Reihe zähle, denen die Gemeinde zutraute, daß ihr Bitten vor Gott wirksam sei. Es ist darum geschichtlich bedeutsam, daß überliefert ist: Jochanan habe nicht nur als Lehrer, sondern auch als Beter in Jerusalem Ruhm gehabt. Gelegenheit zum öffentlichen Gebet bot namentlich das Ausbleiben des Regens, das die Ernte gefährdete. Jochanan „mühte sich nicht mit seiner ganzen Kraft, und sofort fiel der Regen," ,f. taun. 3, 68 u?) Nicht seine ganze Kraft brauchte er dazu; von der andringenden Stärke und Spannung des Willens wird angenommen, daß sie die Erhörung wesentlich mitbedinge. An diesen Gedanken schlössen sich leicht bösartige Verderbnisse des Gebets, dem Chasidis- b ist, wie Dalman richtig sagt, die Parallele zum neutestament- lichm ö-tA-lx. Vgl. Matth. 7, 27. 60 mus zur ernsten Gefährdung. An Gegenwirkungen gegen dieselben hat es der Lehre nicht ganz gefehlt; doch reichten ihre Mittel zu einer reinen, hellen Lehre vom Gebet bei weitem nicht hin. Weil unter der Herrschaft des Verdienstgedankens alles, auch das erhörte Gebet, zum Grund der „Größe" wurde, wurde die Frage dringlich, wer nun der Größere sei, der Beter oder der Lehrer. Der babylonische Talmud benutzt Jochanan, um ihn die Überlegenheit der Lehrer über die Beter aussagen zu lassen, mit einer Anekdote, der ich Glaubwürdigkeit nicht zuerkenne, die aber religionsgeschichtlich interessant ist. Als Chanina b. Dosa bei Jochanan studierte, sei dessen Sohn krank geworden, und durch Chaninas Gebet wieder genesen. „Es sagte R. Jochanan: hätte b. Zakkai seinen Kopf den ganzen Tag zwischen seine Knie gesteckt, hätte man nicht auf ihn geachtet. Es sagte ihm seine Frau: ist denn Chanina größer als du? Er sagte ihr: nein, sondern er ist wie ein Knecht vor dem Könige und ich wie ein Fürst vor dem Könige," b. dsralr 34 d?) Nicht ohne Grund haben sich die Babylonier dagegen gesträubt, daß die augenfällige Gebetserhörnng ein Maßstab für die ganze Beziehung zu Gott, darum auch für die Geltung des Beters in der Gemeinde sei; sie vermögen aber mit ihrer Verdienstlehre nur dem Selbstbewußtsein des Beters ihr eignes, noch höher gespanntes Selbstbewußtsein entgegenzuhalten. Allerdings ist das Gebet des Frommen wirksamer als das des Gelehrten, wie der Knecht, der beständig in der Nähe des Königs lebt, leicht die Erfüllung einer Bitte erlangen kann. Dennoch ist der Beruf des Gelehrten ungleich größer, wie die Stellung des Fürsten höher ist als die des Knechts, obwohl er im Umgang mit dem Könige hinter diesem zurückstehn mag. Einmal wird Jochanan, falls der b. kiada batlrra 10 a gegebenen Aufschrift zu trauen ist, auch ein weissagender Traum zugeschrieben. Von den Söhnen seiner Schwester träumte ihm, es fehlen ihnen 700 Denare. Er verlangt sie darauf von ihnen, um sie als Almosen zu verwenden. Dann trifft einer vom Hause Gegen die Erzählung ist einzuwenden, daß sie erst bei d. erscheint, während z. nur den Parallelbericht über die Heilung des Sohnes Gamaliels durch b. Dosa giebt, wobei Chanina nicht in Jabne anwesend, auch nirgends als Lehrer dargestellt ist, während er hier bei Jochanan studieren soll. 61 des Kaisers, ein römischer Beamter ein, der Geld erpreßt. Nun hat sein Traum seine Erläuterung gefunden. „Sie sagten ihm: warum hast du es uns nicht gesagt? Er sagte ihnen: ich sagte, daß ihr so das Gebot auf seinen Namen hin thut/") Besser, die Armen erhalten das Geld, als der Römer. So wäre es verloren; dort bringt es Frucht bei Gott. Überall schlägt der Verdienstgedanke ein. Damit aber die Wohlthat verdienstlich sei, muß sie des Gebotes wegen geschehen. Darum klärt Jochanan seine Leute zuerst nicht auf, weshalb er dieses große Opfer von ihnen verlangt. Nur so bringen sie es im Gehorsam gegen das Gebot und so allein bringt es ihnen Lohn. Wunder über die Gebetserhörung hinaus erzählt die alte Überlieferung von Jochanan nicht. So phantastisch das biblische Wunder erweitert wird, es gilt als Privileg der Männer der Schrift und wird nicht auch den Lehrern beigelegt?) 5. Jocharrans Erlebnisse wahrend des Krieges. Die Erzählung über die Rettung Jochanans aus Jerusalem hat nicht dieselbe Zuverlässigkeit, wie die Sentenzen und die Die Form derselben ist jung, und bei der mehrfachen Umschrift der Texte kam auch Kindisches hinein. Es kommen aber auch hier alte, echte Erinnerungen deutlich zum Vorschein. „Sie riegelten die Thüren des Tempelhauses am Abend, und standen am Morgen auf und fanden sie geöffnet. Es sagte R. Jochanan b. Zakkai zu ihm: Tempel, warum erschreckst du uns? (b.: Tempel, Tempel, warum ängstigst du dich selbst?) Wir wissen, daß dein Ende Zerstörung ist, weil gesagt ist: öffne Libanon deine Thüren und Feuer soll verzehren deine Cedern," s. zoma 6, 43 e. d. .jorns, 39 d. 1) d. h. vgl. ktx ö>ouir unS/,roö, Match. > 0 , 42 . 2) Das setzt auch das Neue Testament voraus. Die „Zeichen" unterscheiden Jesus und die Apostel von den Lehrern. Erst nach der Hadrianschen Katastrophe von der Mitte des zweiten Jahrhunderts an hängt sich eine Wunderlegcnde an einzelne Rabbinen, an Simeon b. Jochai, Pinchas b. Jair, Chijja rabba rc. 62 Das Offenstehen des Tempelthors als Anzeichen der nahenden Zerstörung steht auch bei Josephus und Tacitus in der ihnen gemeinsamen Sammlung von Vorzeichen der Eroberung Jerusalems, ,7. 8. 6, 5, 3 - lae. bist. 5, 13. Josephus datiert sie ins Jahr 66. Ob wirklich Jochanan schon damals dieses Pro- digium auf die Zerstörung des Tempels bezog, steht dahin. „Es war in Jerusalem b. Bati°ch, der Sohn der Schwester R. Jochanans b. Zakkai, welcher über die Vorräte gesetzt war/) und er steckte alle Vorräte in Brand. Es hörte es R. Jochanan b. Zakkai; er sagte: Wehe Sie gingen und sagten b. Bati°ch: dein Verwandter hat Wehe gesagt. Er sandte und ließ ihn kommen. Er sagte zu ihm: warum hast du Wehe gesagt? Er sagte zu ihm: ich sagte nicht Wehe, sondern Wah, Nil?) Er sagte zu ihm: Wah hast du gesagt, und warum hast du Wah gesagt? Er sagte zu ihm: weil du alle Vorräte in Brand gesteckt hast, und ich sagte, solange die Vorräte vorhanden sind, geben sie sich nicht selbst zum Kampf. Zwischen Wai und Wah entrann R. Jochanan b. Zakkai und er las über sich den Spruch: der Vorteil der Erkenntnis ist die Weisheit; sie macht lebendig die, welche sie haben," r. selig. 1, 5. kokst. 7, 11; etwas überarbeitet d. Kittin 56 s.. d. Die Verbrennung der Getreidevorräte berichten auch ckos. 8. 5, 1, 4. 25 und Dse. Inst. 5, 13. Josephus verknüpft sie mit den Kämpfen zwischen Johannes von Gischala und Simon Bar- giora, und datiert sie, falls seiner Darstellung zu trauen ist, auf den Winter 69,70. Hiernach hat Jochanan Jerusalem beim Beginn des Auf- , ') Neben ^ N212Q steht llollel. 7, II: ^->-,2^ Wenn keine Verschreibung vorliegt, ist dies -dk-ac-nktOt- zu lesen: „Befehlshaber des Kaisareion in Jerusalem." Kaisarcion hieß Herodcs den einen der großen Paläste in der Citadelle. Derselbe könnte damals leicht als großes Magazin benutzt worden sein. Vielleicht liegt aber Verstellung aus ^ vor: Haupt der Sikarier. Vgl. A. Rathaus 20: „es standen auf alle und verbrannten alle Borräte." 2 ) Die Unterscheidung der beiden Interjektionen oval und ooV« liegt auch in den Evangelien vor. Die Spötter sagen unter dem Kreuz ov«, als Zeichen höhnischer Freude, Mark. 15, 2S. Beachte, daß die Notlüge für den Frommen als völlig unbedenklich gilt. Es läßt sich reichlich beobachten, daß die Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit nicht mit in die Präcision der palästinensischen Frömmigkeit einbezogen wurde, eine folgenreiche Thatsache. standes nicht verlassen, vielmehr die ersten Kriegsjahre auch nach dem Siege der Zeloten und dem Fall des jüngern Hannas und Simeons b. Gamaliel in der Stadt verlebt. Es bestätigt sich auch hier, was uns die Vita des sios. über Simeon b. Gamaliel berichtet, daß die leitenden Rabbinen im Anfang des Aufstandes mitmachten. Daß Jochanans Neffe ein Führer der Zeloten war, ist sicher keine Erfindung der Legende. Auch das ist eine zuverlässige Erinnerung, daß die' Schreckensherrschaft auch auf den Rabbinen schwer lastete und ein unvorsichtiges Wehe sie verderben konnte. Der Bericht führt uns das harte Regiment der Zeloten anschaulich vor. „Es sagte ihnen R. Jochanan b. Zakkai: ihr bewirkt für diese Stadt, daß sie verwüstet wird und für dieses Haus, daß es verbrannt wird. Sie sagten ihm: wie wir gegen die ersten Heerführer ausgezogen sind und sie getötet haben, so werden wir auch gegen diese ausziehen und sie töten. Jedes Wort, das R. Jochanan b. Zakkai sagte, schrieben sie auf Zettel und banden sie um Pfeile und schössen sie über die Mauer hinaus, und sie sagten: R. Jochanan b. Zakkai ist ein Freund des Königs/") A. Nathans 19. Nach dem Bericht über das Verhör Jochanans vor b. Batüch, hat es geringe Wahrscheinlichkeit, daß er öffentlich zur Übergabe der Stadt auffordern konnte. Die Angabe entstammt einem durchsichtigen Pragmatismus: Die Römer haben Jochanan am Leben erhalten; das wird erklärt durch die Pfeilschüsse aus der Stadt. „Nach drei Tagen ging R. Jochanan b. Zakkai aus, um aus dem Markt herumzugehn, und er sah sie, daß sie Spreu aus- sotten und davon das Wasser tranken. Er sagte: können Leute, welche Spreu aussieben und davon das Wasser trinken, gegen die Heere Vespasians stehn? Er sagte: die einzige Hilfe ist für mich der Ausgang von hier. Er sandte und sagte zu b. Bati°ch: führe mich von hier heraus. Er sagte ihm: wir haben unter uns beschlossen, daß niemand von hier herauskommt anders als tot. Er sagte: bringt mich hinaus, als wäre ich tot. Es trug 9 der Text spricht noch, wie die Juden bei Johannes: oox kl roö Xnl'anoox, >9, 12. 2 ) Die drei Tage scheinen ebenfalls die Mahnrede Jochanans an Jerusalem vorauszusetzen. 64 ihn R. Elieser am Kopf, und R. Josua an seinen Füßen und b. Bati"ch ging vor ihm her. Als sie anlangten (beim Thore), wollten sie ihn durchbohren. Es sagte ihnen b. Batsich: wollt ihr, daß man sage: unser Lehrer ist gestorben und sie haben ihn durchstochen? Als er ihnen das sagte, ließen sie ihn. Als sie zum Thore hinaus waren, trugen sie ihn und legten ihn in eine Grabkammer und kehrten in die Stadt zurück. R. Jochanan b. Zakkai ging heraus, um zum Heere Vespasians zu gehn," r. solla 1, 5. A. Nathans 19. Es liegt im Bericht über die Rettung Jochanans nichts, was Zweifel begründete. Mit der Angabe über sein Verhör durch b. Batsich stimmt er darin zusammen, daß er Jochanan erst nach Ausbruch der Hungersnot, d. h. im Sommer 70, während Titus vor den Mauern stand, die Stadt verlassen läßt. Um zu erklären, warum Jochanan im römischen Lager Ausnahme fand, wird erzählt: er habe Vespasian — schon dies zeigt die junge Hand — mit „vivs äoinino Imperator" begrüßt. „Er sagte zu ihm: mit dem Gruße des Königs hast du mich gegrüßt, und ich bin nicht König, und wenn es der König hört, so tötet er diesen Mann. Er sagte ihm: wenn du nicht König bist, wirst du zuletzt König werden, weil dieses Haus nicht anders zerstört wird als durch die Hand eines Königs, weil gesagt ist: und der Libanon wird fallen durch den Starken" (Jes. 10, 34). Hier ist offenkundig eine Erinnerung an die Weise, wie Jo- sephus seine Rettung erzählt, eingemischt, wodurch begreiflich gemacht wird, wie Jochanan am Leben blieb. Dadurch wird nicht zweifelhaft, daß Jochanan bis in die Hungersnot hinein in Jerusalem ausharrte, also im Lager nicht Vespasian, sondern Titus traf. „Sie nahmen Jochanan und setzten ihn hinter Gitter und befragten ihn, wie viele Stunden in der Nacht! und er antwortete ihnen, und wie viele Stunden am Tage! und er antwortete ihnen. Sie fingen an vor ihm Gleichnisse zu machen. Ein Krug, in welchem eine Schlange nistet, was macht man mit ihm? Er sagte ihnen: man bringt einen Beschwörer und beschwört die Schlange und läßt den Krug. Es sagte Pangar: man tötet die Schlange und zerbricht den Krug. Ein Turm, in welchem eine Schlange nistet, wie macht man es? Er sagte ihnen: man bringt einen Beschwörer und beschwört die Schlange und läßt den Turm. Es sagte Pangar: man tötet die Schlange und verbrennt den Turm. 65 Es sagte R. Jochanan b. Zakkai zu Pangar: alle Nachbarn, die Böses thun, thun es ihren Nachbarn. Indem du nicht Fürsprache — — lehrst, lehrst du gegen uns Anklage — --«r,Er sagte ihm: zu euerm Wähle will ich'S; denn solange dieses Haus steht, werden die Königtümer mit euch hadern; wenn dieses Haus zerstört ist, werden die Königtümer nicht mit euch hadern. Es sagte zu ihm R. Jochanan: das Herz weiß, ob du redlich sprichst oder nicht," r. selra I, 5. Hier wird deutlich über die Erhaltung oder Zerstörung des Tempels verhandelt. Die verdunkelte Erinnerung an „Pangar" — der Sammler der Kalme hatte zwei Texte vor sich; in dem einen hieß er in dein andern 2^^; er macht ihn zum ) Parallel, nur von aller Übcrhcbung eines unsrommen Verdienst- gedankens gereinigt, ist Luk. 18, S. 2 ) Der Text ist später gewachsen. Der furchtbare Kontrast im Geschick der Tochter des Nikodemon b. Gorivn wird eingelegt, 8itre Deuteron. SOL, noch etwas farbiger Aboth Nathans Schechter 6ö; b. kotub. 66 b. In der 5 * 68 Sichtlich hat Jochanan die Ereignisse ernster als Josephus durchlebt, der nur die Verteidiger Jerusalems schilt und ihnen alle Schuld auflädt. Jochanans Bußwort wendete sich an das Volk. Mit dem Prokurator Judäas im Jahre 70, Antonios Ju- lianos/) mußte ihn die Not der Zeit in mannigfachen Verkehr bringen. Es werden Gespräche des Statthalters mit ihm überliefen, in welchen derselbe kritische Einreden gegen den Pentateuch erhebt. Zur Sprache kommt das Todesurteil über den Ochsen, der jemand gestoßen hat, als wäre auf ihn ein richterliches Urteil wie auf den Menschen anwendbar. Jochanan antwortet: „der Genosse des Räubers ist wie der Räuber." Sodanu wird die Richtigkeit der Zahlen des Gesetzes bei der Zählung der Erstgeburt und bei der Summe der ans Heiligtum fallenden Seckel Rum. 8 erörtert, j. sairli. 1, 19 b. r. i^uiirsi'i 4. Auch Anstöße an der Schöpfungsgeschichte kommen zur Sprache: ob die Vögel aus dem Wasser oder aus der Erde geschaffen seien und wie Adam die Tiere benannt habe, b. eliulliu 27 b. Wenn auch im einzelnen hier keine Sicherheit vorliegt, da der Name des Statthalters willkürlich die Einreden griechischer Kritik gegen den Pentateuch decken kann: auch dieses Stück hat seine tiefe geschichtliche Bedeutsamkeit. Der Tempel war gefallen; fiel auch die Inspiration des Gesetzes am Scharfsinn griechischer Kritik? Hier wankte Jochanan nicht. Der Tempel war dahin, aber die Inspiration der Schrift war unanfechtbar, und diese nun Israels einziges Heiligtum, göttlich in jedem Jota und Strich. 6. Jochanans Letzte Zeit. Als seinen Wohnort nennt die Überlieferung Beror chel (?) Ni-Q. Den Spruch „der Gerechtigkeit eile nach" deutet Tasekta ist der Spruch über die Tochter des Nikodemon Elcasar b. R. Zadok beigelegt, Tos. llsrud. 5, 10. 2S7, S. >) Leicht leserlich ist s. saub. I, 19 o. Daneben steht und mit Versetzung der Buchstaben 1- sanb. I, 19 b. >1. 8itrs Deut. 351. An der letzten Stelle bespricht sich der Hegemon mit Gamaliel, was keine Schwierigkeit ergiebt. Die Überlieferung setzt auch sonst voraus, daß Gamaliel beim Untergang seines Vaters kein Kind mehr war. 69 8ikrs vsnt. 145: gehe einem guten Gerichtshof nach, demjenigen R. Jochanans b. Zakkai und demjenigen R. Eliesers; dazu fügt b. 8nud. 32 b noch die Ortsnamen: gehe zu R. Elieser nach Lydda, zu R. Jochanan b. Zakkai nach Beror chet, und die längere Glosse zum selben Spruch zählt auf: Elieser in Lydda, Jochanan b. Zakkai in Beror chel, Josua in Pektin, Gamaliel in Jabne, Akiba in Bne brak. Derselbe Ortsname erscheint als Ziel der gemeinsamen Wanderung Jochanans und Josuas, Nv8. inans. 2, 1; 82, 13 mit der Variante s. (Ismai l), 23 b und ). maa8. 2, 49 ä. Leider ist der Name nicht deutbar, so daß er schließlich auch eine Erinnerung an die galiläische Zeit Jochanans enthalten könnte. Doch führt die Zusammenstellung des Namens mit Lydda für Elieser, Peki'in für Josua auf die Zeit nach dem Tempelbrand. Dann wird man den Ort wie die Dörfer seiner Jünger, in der Küstenebene in Jabnes Nachbarschaft suchen. Der Jünger- kreis, der in Jerusalem bei ihm vereinigt blieb, wird sich jetzt zerstreut haben.') Nun, wo die alte Regierung, Hohepriester und Rat, gefallen waren, bedurften die Gemeinden der Führer, und Jochanans Jünger traten als Lehrer hervor. Vielleicht hat auch die äußere Not die Trennung ratsam gemacht, weil sie an verschiedenen Orten ihren Lebensunterhalt leichter fanden. Wenigstens hat sich Josua in dieser Zeit als Nadelmacher um sein Brot gemüht. Auch in Jerusalem finden wir Jochanan wieder, wie der Text über sein Gespräch mit Josua über den Altar in der länger» Fassung zeigt. Ebenso treffen wir ihn im neuen Centrum der Judenschaft, in Jabne. War man auch im Kreise der Lehrer darauf vorbereitet, sich in den Verlust des Altars zu finden, so riß derselbe doch beträchtliche Lücken in den überlieferten Wandel und brachte das reine Traditionsprincip ins Wanken. Zahlreiche Fragen erforderten eine neue Ordnung. Die geschätzteste Autorität, die für solche Zweifelsfälle maßgebende Entscheidungen traf, waren die Lehrer von Jabne. Mehrere Angaben zeigen, daß Jochanan y Anders r. koket. 7, 7: solange Jochanan b. Zakkai am Leben war, saßen seine Jünger vor ihm; als er schied, gingen sie nach Jabne und Eleasar b. Brak nach Emmaus. Dazu, daß Eleasar in Emmaus seinen Wohnsitz nahm, vgl. auch A. Nathans SS. 70 bei Versammlungen in Jabne anwesend war, und bei den dortigen Beschlüssen mitwirkte. Eine Übersicht über die Änderungen, die das geltende Recht im Zusammenhang mit dem Tempelbrand erfahren hat, wird uns nicht gegeben, da die Angaben der Lehrer nie aus dem geschichtlichen, sondern stets ausschließlich aus dem dogmatischen Interesse erwachsen. Es werden uns deshalb nur zerstückelte Fragmente aus den damaligen Verhandlungen überliefert. Die Tendenz der Beschlüsse zielt deutlich darauf, die bisherige Übung möglichst fortzusetzen. Nur was durch den Zwang der Lage unmöglich geworden war, ließ man fallen; alle andern Stücke des Wandels, auch wenn sie mit den untergegangenen Bestandteilen desselben eng zusammenhingen, behielt man bei. Am Neujahrstag blies nian die Posaunen im Tempel, auch wenn es Sabbath war. „Einmal fiel der Neujahrstag auf den Sabbath, und alle Dörfer hatten sich versammelt (in Jabne). Es sagte R. Jochanan b. Zakkai zu den Söhnen Bethiras: sollen wir blasen? Sie sagten zu ihm: darüber wollen wir verhandeln. Er sagte ihnen: wir wollen blasen und hernach verhandeln. Nachdem sie geblasen hatten, sagten sie zu ihm: wir wollen verhandeln. Er sagte zu ihnen: schon ist das Horn gehört worden in Jabne und sie geben nicht Antwort nach der That," b. rosb. 29 b. Die Spätern haben seine Verfügung anerkannt, jedoch mit der Bemerkung: „diese Dinge hat R. Jochanan b. Zakkai in der Welt üblich gemacht, als der Tempel zerstört war, und wenn das Haus wieder gebaut werden wird, kehren die Dinge zurück in ihren alten Stand," Tos. rosb. 4, 3. 212, 16. Den Feststrauß des Laubhüttenfestes, den Lulab, trug man früher nur im Tempel sieben Tage lang, auf dem Lande nur einen Tag. „Seit der Tempel zerstört wurde, ordnete R. Jochanan b. Zakkai an, daß man den Lulab sieben Tage lang auf dem Lande trage zum Andenken an das Heiligtum," mi. rosb. 4, 3 - sukka 3, 12. 8ifrn Weiß 102 ä. War die Garbe am Passahfest gebracht, so durfte die neue Frucht gegessen werden, abseits vom Tempel vom Mittag an. Seit das Haus zerstört ist, hat R. Jochanan b. Zakkai angeordnet, daß der ganze Tag der Darbringung der Garbe verboten sei (nämlich für den Genuß der neuen Frucht), mi. wsimeb. 10, 5 -rosb. 4, 3 - Tos. msimeli. 10, 26. »29, 4. 8üru Weiß 100 o. 71 Die Sorge für den Festkalender übernahmen ebenfalls die Rabbinen von Jabne, speciell Gamaliel. Während im Tempel die Zeugen nur bis zur Mincha angenommen wurden, führte Jochanan ein, daß sie den ganzen Tag zugelassen werden, ini. rosli. 4, 4. Auch wird festgesetzt, daß sich die Zeugen, einerlei wo sich das Haupt des Gerichtshofs — WXN — befinde, an den Versammlungsort gehen sollen. Die Befreiung der Zeugen von der Sabbathverpflichtung hielt Jochanan dagegen nicht mehr für begründet. „Giebt es denn noch Opfer? sagte er ihnen." Infolgedessen wurde die Befreiung von der Sabbathordnung auf den Neumond der beiden Festmonate beschränkt, wo Genauigkeit im Monatsanfang besonders nötig schien, b. rosli. 21b. Von den Proselpten forderte man zunächst, daß sie den Wert des Vogelopfers in Geld zu erstatten hätten. R. Jochanan b. Zakkai hat aber diese Verordnung wieder aufgehoben des Anstoßes wegen, s. sbskal. 8, 51b. Dieser konnte sich daraus ergeben, daß für die andern Opfer kein Ersatz gefordert wurde, und es den Schein gewann, als müsse der Proselyt seine Ausnahme erkaufen. Die Angabe ist lehrreich, weil sie zeigt, daß die Autoritäten nach dem Tempelbrand nicht immer einträchtig entschieden. Die Abgabe wurde zuerst gefordert, dann aber durch den Einspruch Jochanans wieder hinfällig. Nach uralter Ordnung gingen im Tempel die Priester barfuß. Da sie fin der Synagoge auf die Tribüne zur Erteilung des Segens traten, wurde es fraglich, ob sie auch hier die Sandalen ausziehen müßten. Jochanan ordnete an, daß der Brauch des Tempels beibehalten werde, b. sota 40 a. „Dies ist eine von den neun Anordnungen, welche R. Jochanan b. Zakkai angeordnet hat." Das Verzeichnis derselben ist aber nicht erhalten. Auch mit der schwierigen Kasuistik der Priesterehen beschäftigte sich eine dieser Versammlungen. Die Priesterfrau sollte aus reinem Blute sein; aber was war reines jüdisches Blut? Die Lehrer stimmten für mildere, die Priester selber für strengere Regeln. R. Jochanan b. Zakkai entschied, daß man darüber das Gericht nicht sitzen lasse; „die Priester hören auf euch beim Ausschluß, nicht aber bei der Zulassung," wi. säuj. 8, 3. Vgl. Vos. eäuf. 3, 2. 459. 23. Während diese Verhandlungen deutlich Beziehungen zur veränderten Lage haben, zeigt eine andre Nachricht, daß man in Jabne auch über rein theoretische Dinge stritt und entschied, vielleicht mit der bewußten Absicht, die Lehre für die Zukunft zu sichern, b. Bukri bezeugte in Jabne, daß jeder Priester, der den halben Seckel zahlt, nicht sündigt. Jochanan verlangte ihn dagegen auch von den Priestern als Pflicht, ini. slikk. 1, 4. Mit dem halben Seckel war es aber seit dem Tempelbrand vorbei. Wie lange Jochanan in Jabne noch mit beriet, wissen wir nicht. Aus mi. snäuiin 4, 3 ergiebt sich, daß er bei der großen Versammlung, die Gamaliel absetzte, nicht mehr anwesend, somit wahrscheinlich gestorben war. Elieser hat nachträglich von einem Beschluß jener Synode gesagt, er stimme mit der Regel Jochanans übcrein. Wir haben einen Bericht über sein Sterbebett, da sich von ihrem sterbenden Meister die Jünger, wie bei Hillel, die letzten Worte, den letzten Segen holten, der als sonderlich kräftig, und erleuchtet galt. „Als R. Jochanan b. Zakkai krank war, versammelten sich seine Jünger, ihn zu besuchen. Als er sie sah, fing er an zu weinen. Es sagten ihm seine Jünger: Leuchte Israels, Säule zur rechten Seite, starker Hammer, warum weinst du? Er sagte ihnen: wenn sie mich vor einen König, der Fleisch und Blut ist, brächten, der heute hier und morgen im Grabe ist, dessen Zorn, wenn er inir zürnt, kein ewiger Zorn ist und den ich mit Worten bereden oder mit Geld^) bestechen kann, trotzdem würde ich weinen und jetzt, da sie mich bringen vor den König der Könige, den Heiligen, der gepriesen ist, welcher ewiglich lebt und bleibt, dessen Zorn, wenn er mir zürnt, ein ewiger Zorn ist und dessen Fessel, wenn er mich bindet, eine ewige Fessel ist, und dessen Tötung, wenn er mich tötet, ewige Tötung ist, und den ich nicht mit Worten bereden und nicht mit Geld bestechen kann, und vor mir zwei Wege sind, der eine zum Garten Eden, der andre zum Gehinnom, und ich nicht weiß, auf welchen sie mich führen, sollte ich nicht weinen? Sie sagten zu ihm: unser Lehrer, segne uns! Er sagte ihnen: sei es Wohlgefallen, daß die Furcht des Himmels auf euch sei, wie die Furcht vor Fleisch und Blut! Es sagten seine Jünger zu ihm: nur so viel? Er sagte ihnen: wisset ihr nicht, daß, wenn ein Mensch eine Übertretung begeht, er sagt: daß mich nicht sehe ein Mensch! In der Stunde seines Scheidend ') sIM. 73 sagte er zu ihnen: räumt die Geräte fort der Verunreinigung wegen, und stellt einen Sessel hin für Hiskija, den König Judas, welcher kommt," b. dsrnk. 286 (im wesentlichen dasselbe A. Na- thans 79; der letzte Satz auch s. g-doäg, s. 3, 42 o).') Welchen Ausgang das Menschenleben nehmen wird, weiß niemand; auch die Leuchte Israels weiß es nicht. Ungewißheit bleibt das Ende. Die auf das Werk gestellte Zuversicht reicht zur Gewißheit nicht hin, und die Furcht behält gegen den Glauben den Sieg. Von einer krankhaften Beschattung des Gottesbewußtseins durch die Engellehre ist auch hier nichts zu sehn. Wer die abgeschiedene Seele zu Gott geleitet, ist nicht gesagt, und dadurch der Erwartung der Apokalypse«, daß die Seele entweder von gütigen oder schrecklichen Engeln empfangen und an ihren Ort geleitet werde, der Raum freigelassen. Jochanan hat aber nicht die Schreckgestalt der Strafengel gefürchtet, sondern Gottes Spruch. Seinen tiefen Ernst zeigt noch einmal sein Abschiedswort: „Fürchtet Gott, wie ihr die Menschen fürchtet." Es beruht auf der scharfen Empfindung, wie gering auch wir Theologen, wenn uns die falsche Begier saßt, Gott werten. Mit dem letzten Worte enthüllt sich die mesfianische Erwartung als das im Grunde seiner Seele liegende. Der Ausdruck, den er ihr giebt, ist freilich rätselhaft, sowohl der Name: „der König Hiskija," ob er wirklich die mesfianische Verheißung auf Hiskija gedeutet hat, der wiederkehren werde, als der für ihn bereit >) Neben steht a^uk»c>^ ------- ----- k/c Matth. 6, 30, neben ^l"! t-ü? ----i „---w-- I. Pctr. I, 23, neben dem Gott, der mit ewigem Tode tötet, Matth. 10, 28, neben den beiden Wegen Matth. I, 13, neben dem Paradies als dem Ort, wohin die gerechtgesprochcne Seele kommt, Lnk. 23, 43, neben ohne Nennung Gottes ov-- I. Kor. 16, >2, neben tiNO 22^-- ---- -/östox Lnk. 1, 6b; Act. b, b. II, neben ö -M-ou-i-or Matth. II, 3. In Aboth Nathans lautet die Antithese zwischen dem irdischen und himmlischen Könige: „Der König, der Fleisch und Blut ist, wenn er über mich zürnt, ist sein Zorn nur in dieser Zeit, und wenn er mich bindet, ist seine Bindung nur in dieser Zeit, und wenn er mich tötet, ist seine Tötung nur in dieser Zeit; dagegen der Heilige, wenn er über mich zürnt, ist sein Zorn in dieser Zeit und in der kommenden Zeit. Bgl. Matth. 12, 3i: o-/-- -------- ------ --- -o------ - oö-e --- ------------- 74 gestellte Stuhl, ob er damit nur die Festigkeit seiner Erwartung ausdrücken will, oder ob er an die Gegenwart des Verheißenen bei der aus dem Leibe scheidenden Seele glaubt?) Den Bericht über sein Ende empfand niemand in der Synagoge als eine Schmälerung für Jochanans Ruhm. Mit voller Sicherheit hat man ihn ins Paradies versetzt. Überholt haben ihn in der Schätzung der Beschreibe! des Paradieses nur die Märtyrer der Hadrianschen Zeit, in ihren beiden Gruppen: die Hingerichteten, Akiba obenan, und die im Meer Ertränkten. Die dritte Gruppe der ins Paradies versetzten bilden Jochanan und seine Jünger. Ihm habe in einem Traume, in dem es ihm schien, er liege mit seinen Jüngern auf dem Sinai beim Mahl, die göttliche Stimme gesagt: „der Ort ist für euch gerüstet und der Spcisesaal belegt;^) ihr und eure Jünger sind bestimmt zur dritten Schar," ). elio-AiZu 2, 77 a. b. ekmMAa 14b. Was wir von Jochanan wissen, ist mehr als ein Fragment. Natürlich wird jeder weitere Spruch, der sich beibringen läßt, uns neue Glieder seines Gedankengangs sichtbar machen. Doch tritt das, was erhalten ist, zu einer wohl erkennbaren Einheit zusammen. Die tiefen scharfen Dissonanzen, die sich durch die Darstellung ziehn, stammen nicht aus Verderbnis der Quellen, auch nicht aus Jochanans individueller Schwäche: diese Risse ziehn sich in das Fundament seiner Theologie hinab und bilden die Not des ganzen Systems. Das eine Mal wird hochgemut von einem Leben „ohne Sünde" gesprochen, das andre Mal strauchelt Jochanan über Kleinigkeiten mit peinvoller Ängstlichkeit: ich fürchte, es sei Sünde. Das eine Mal erscheint er als „Vater der Weisheit", das andre Mal hören wir die Klage: was er von y s. aboäa 3', 42 o giebt spätere nachahmende Parallelen: Elieser habe sterbend angeordnet: stellt den Sessel hin für R. Jochanan b. Zakkai: R. Pazzi: für Josaphat den König Judas. °) üw 'W 21PVN. Vgl. Joh. >4, 2 77»-- 707,0^ ö--t7' und Mark. 14, 15 c-n»--»,- Die Formel O2 steht 8bir. 1, 3 in Verbindung mit Sacharja 13, 8. S, und sie kann recht wohl aus diesem Vers stammen als Bezeichnung des Drittels, dem der Prophet die Errettung zugesagt hat. Jedenfalls ist Joels Gedanke unannehmbar (Blicke in die Rcligionsgcschichte I, 135), die Formel beruhe auf der gnostischen Dreiteilung in fleischliche, seelische, geistliche Menschen. Für „Pneumatiker" hat es in der palästinensischen Synagoge keinen Raum. 75 der Weisheit seiner Lehrer erworben habe, sei wie nichts. Er war gleichzeitig von der Reinigkeitsordnung los: das Tote macht nicht unrein, und das Wasser nicht rein, und trat doch dem Priester, der das Reinigungswasser nicht richtig bereitet, mit glühendem Zorn entgegen, gewiß, daß Gottes Rache ihn treffen werde. Das eine Mal steht er als der kühne Beter da, dem Gottes Huld sofort zu diensten steht, das andre Mal verzagt er in Ungewißheit, ob das Paradies oder die Hölle ihm beschieden sei. Diese scharfen, schmerzvollen Krümmungen und Schwankungen gehören wesentlich mit zu dem, was Paulus die „Erfüllung der Zeit" genannt hat. Am Gesetz hatte Israel Furcht und Reue kennen gelernt, und diese durchdringen seinen ganzen Gottesdienst. Sie bewirken, daß er zum Erwerb der Versöhnung mit Gott geübt und auf den Verdienstgedanken begründet wird, der an der vollbrachten Leistung die Zuversicht zu Gott gewinnen will. Aber hier entsteht ein unaufhebbarer Konflikt. An der Reue scheitert das Verdienst, am Verdienst die das Böse abwehrende Reue. Wird jene sieghaft, tritt Verzagtheit ein; bleibt die zuversichtliche Schätzung des Verdienstes Meister, so muß das Gewissen schweigen. Jochanan blieb bis zum Ende ernst und redlich und hat darum diese Schwankung voll erlebt. Aber eben in dieser Schwankung erlebte er und ganz Israel mit ihm, warum ihm Gott Jesus gegeben hat und welche Wohlthat darin liegt, daß der Grund des Glaubens nicht in uns, sondern in dem steht, der zu uns gesandt und für uns gestorben ist. Es ist eine lehrreiche, der Aufmerksamkeit würdige Thatsache, daß die Bereitung der Synagoge aus die Sendung Jesu zur Bereitung der Kirche auf die neue Verkündigung Jesu in der Reformation eine große, helle Analogie ergiebt. Geschichtlicher Zinn uni> Rirchlichkeit ihrem Zusammenhang von 1^16. tlurol. W. Lütgrrk, a.o. Professor der Theologie in Greifswald. Inhalt. Seite 1. Geschichtsanschauung und Gottesgedanke. ..81 2. Natur und Geschichte. 88 3. Entwicklung und Geschichte. St 4. Carlyles Einfluß auf die Geschlchtsanschauung . 97 5. Der Einfluß des Entwicklungsgedankens auf die Kirche.103 6. Der geschichtslose Gottesgedanke.108 Die Einwirkung desselben auf die Kirche.1>0 8. Die doppelte Stellung zur Geschichte.Il7 I. geschichtlicher Sinn gehört zu den Bedingungen der Kirch- lichkeit. Darum ist die Pflege des Verständnisses für Geschichte eine Aufgabe der Kirche und die Philosophie der Geschichte ein der Theologie gestelltes Problem?) Die Historiker sind dieser Aufgabe gegenüber sehr vorsichtig und zurückhaltend. Das hat ähnliche Gründe wie die Abneigung der Naturforscher gegen Naturphilosophie. Die Einzelforschung macht mißtrauisch gegen eine Wissenschaft, die das Ganze verstehen möchte, ohne alle Einzelheiten zu kennen. Sie erscheint der Sorgfalt und Arbeit der Einzelforschung gegenüber als willkürlich dichtende Phantasie?) Das ist aber nicht der einzige Grund des Ausbleibens aller Geschichtsphilosophie. Der Verzicht auf Geschichtsphilosophie ist unter den Philosophen ebenso verbreitet. >) Vgl. Schleiermacher, Entwarf einer Sittenlehre sä. Schweizer, H 108. Reischle, Christentum und Entwicklungsgedanke S. 28. Cremer, Christliche Lehre von den Eigenschaften Gottes S. 13. 2 ) Vgl. Ranke. Tagebuchblätter. Allgemeine Bemerkungen 183!—1849. Philosophie der Geschichte: „Die Forderung ist unabweisbar, natürlich, menschlich; erhaben, schwer. Wer die inneren Fäden des Getriebes der Menschheit, diesen in ihr selber sich entwickelnden und zum Vorschein kommenden Geist zu erkennen vermöchte, würde einen Teil der göttlichen Wissenschaft besitzen. Allein ist das so geschwind möglich? Aus der Tiefe der eingehendsten Kenntnis allein ist es möglich, seine geheimen Spuren zu entnehmen. Der Unterschied der philosophischen und historischen Schule ist ganz allein, daß jene aus einer geringfügigen, oberflächlichen Kenntnis, die alles vermengt, mit keckem Finger erzwungene Resultate ableitet, diese dagegen die Dinge in ihrer Wesenheit zu begreifen sucht, ihrem Zuge nachgeht und, eingedenk der Unvollkommenheit der Überlieferungen, die höchsten Ergebnisse ahnen läßt." Bcrnheim, Lehrbuch der historischen Methode S22. „Die Geschichtsphilosophen standen als Philosophen, Sociologen oder Dilettanten der historischen Fachbildung fern — wie sollte da eine Disciplin sich abklären, Welche auf die engste Verbindung historischer und philosophischer Fachbildung angewiesen ist." Lütgert, Geschichtl. Sinn rc. 6 82 Selbst wenn wir den ganzen Geschichtslauf übersehen könnten, könnten wir ihn doch nicht verstehen?) Der Verzicht auf Geschichtsphilosophie gehört zur allgemeinen Skepsis der Zeit, zum modernen Agnosticismus. Das ist aber ein Schaden. Denn ohne Philosophie der Geschichte erhält sich der geschichtliche Sinn nicht, die Wirkung der Geschichte auf das Leben wird unsicher, wenn Sinn und Ziel, der leitende Plan und das beherrschende Gesetz unverstanden bleibt. Der Sinn für Geschichte sinkt herab zu einem Interesse an Personen. Die Geschichte ist aber mehr als eine Reihe von Personen, sie ist eine Einheit, ein Ganzes. Die Geschichte als Ganzes zu verstehen, das ist die Aufgabe der Geschichtsphilosophie. Auf diese Aufgabe darf man nicht nur nicht verzichten, man kann es auch nicht. Jeder Historiker, der nicht Statistiker bleibt, trägt ein Bild vom Verlauf der Geschichte in sich, gewisse Vorstellungen über allgemeine Regeln, die in der Geschichte gelten?) Diese Vorstellungen sitzen um so fester, je weniger sie geprüft werden. Läßt man sie ungeprüft gelten, so werden sie zu Vorurteilen, denen eine gewisse dogmatische Giltigkeit inne wohnt. Dieses Gerinnen zu Vorurteilen ist daran erkennbar, daß uns gewisse Principien als selbstverständlich erscheinen. Urteile, die wir als selbstverständlich behandeln, bilden die Grenze unsres Nachdenkens. Wir sind uns der Bedingungen ihrer Giltigkeit nicht bewußt. Sie beherrschen uns, und das zeigt sich darin, daß wir sie nicht bemerken. Solche Urteile über Gesetze, Zusammenhang und Ertrag der Geschichte, sind bei unsren Historikern nicht selten. Das ist unvermeidlich. Es ist auch in der Geschichtswissenschaft eine Täuschung, in statistischer, rein empirischer Methode ein Ganzes gewinnen zu können?) Statistik ist noch nicht Geschichte und aus einer noch so reichen Sammlung von Notizen entsteht noch kein Zusammenhang. Die Geschichte will nicht nur gekannt, sondern verstanden werden. Verstandene Geschichte ist Geschichts- >) Vgl. die Kritik aller Geschichtsphilosophie bei Lotze, Mikrokosmus III. 20 ss. 2 ) Das zeigt z. B, deutlich die gegenwärtige lebhafte Debatte über die Methode der Geschichtswissenschast. In der Methode der Forschung verrät . sich die vorausgesetzte Geschichtsphilosophie. Vgl. Bern heim a. a. O. S. 547 sf. s) Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften S. l20. 83 Philosophie. Wenn man über Bedeutung, Wirkung und Ertrag geschichtlicher Größen spricht, so ist das Geschichtsphilosophie. Schon darin, daß man nicht allen geschichtlichen Erscheinungen gleiche Bedeutung beilegt, sondern mannigfach abstuft, zeigt sich wie unvermeidlich Geschichtsphilosophie ist. Sobald man die geschichtliche Wirkung eines Mannes zu verstehen versucht, sobald man unternimmt zu erklären, wodurch er Einfluß geübt hat, spricht man ein Urteil aus über das, was in der Geschichte wirkt, über die die Geschichte gestaltende Kraft, über ein sie regierendes Gesetz. So oft man in der Geschichte zwischen Wertlosem und Wertvollem unterscheidet, spricht man ein Urteil aus über das, was die Geschichte zu erzeugen bestimmt ist d. h. über das Ziel der Geschichte. So oft man den Sieg einer, den Untergang einer anderen Macht, das Aufblühen eines Volkes und das Verwelken eines anderen, die Herrschaft einer Idee und das Unterliegen einer anderen nicht nur konstatiert, sondern zu verstehen versucht, gewinnt man Urteile über das, was in der Geschichte Macht, Wert, Sinn hat, aus ihrer Betrachtung — und damit treibt man Geschichtsphilosophie, es fragt sich, ob willkürliche, oder iin Geschichtslauf begründete, aber jedenfalls irgend eine. Jeder Versuch die Geschichte zu verstehen, ist Geschichtsphilosophie. Jedes Werturteil setzt Geschichtsphilosophie voraus. Die Philosophie der Geschichte hat aber noch ein anderes Motiv, nämlich ein religiöses, die Frage nach den Gesetzen, dem Plan, den Kräften, dem Ziel der Geschichte ist die Frage nach Gott. In der Geschichtsanschauung tritt der Gottesgedanke hervor — oder der Gedanke, der an seine Stelle tritt. Was wir als Ziel der Geschichte bestimmen, das gilt uns als Gottes Ziel, was uns als Gesetz der Geschichte erscheint, das ist uns Gottes Wille, was wir als wertvollen Ertrag der Geschichte ergreifen, das ist uns ein Erzeugnis und darum ein Zeuge Gottes und spiegelt unsren Gottesgedanken ab. Die Geschichtsphilosophie ist deshalb eine theologische Aufgabe. Geschichtsphilosophie und Gottesgedanke bedingen sich gegenseitig. Das Ziel der Geschichte bestimmt und umfaßt auch das Ziel unsres eigenen Lebens: das Gesetz der Geschichte regiert auch unser Leben, was sich als wertvoll in der Geschichte erweist, das zeigt uns auch unsre Aufgabe. Sobald wir aus dem Geschichtslauf einen Schluß machen auf das Ziel und die Aufgabe unsrer That treiben 6 * 84 wir Geschichtsphilosophie. Wer den Fortschritt der Geschichte im Fortschritt der Technik sieht, der muß die Förderung der Technik als seine Lebensaufgabe ergreifen. Umgekehrt: Was das eigene Leben regiert, erscheint uns auch als Regent der Geschichte. Was uns wertvoll erscheint und das Ziel unsres Begehrens wird, erscheint uns auch als das Ziel der Geschichte. Die Lebensauffassung bestimmt die Geschichtsanschauung. Dadurch wird die Geschichtsphilosophie nicht zu einer rein subjektiven Anschauung. Lebensideal und Geschichtsanschauung regulieren sich gegenseitig. Der Sinn unsres Lebenslaufes zeigt uns den Sinn der Geschichte, und der Geschichtslauf zeigt uns das Ziel unsres Lebens. Beide haben aneinander ein Korrektiv. Die Geschichtsphilosophie wurzelt in der Ethik, die Ethik gipfelt in der Geschichtsphilosophie?) Weil die Geschichtsauffassung vom Gottesgedanken regiert wird und ihrerseits unsre Lebensaufgabe bestimmt, so hängt geschichtlicher Sinn und kirchlicher Sinn nahe zusammen. Der Gottesgedanke wird in uns beständig durch den Naturlauf und den Gang der Geschichte wachgerufen. Beide Reihen erzeugen zusammenwirkend unser Gottesbewußtsein. Der Geschichtslauf läßt sich freilich in dieser Beziehung vom Naturprozeß nicht scheiden. Dann könnte er den Gottesgedanken nicht erzeugen. Ein grundsätzlicher Verzicht auf Naturphilosophie hat schwere Schädigungen der Frömmigkeit zur Folge. Denn bei der beständigen innigen Verflochtenheit unsres Lebens mit der Natur, bildet ein Gebiet, in das uns unser Gottesbewußtsein nicht begleitet, für die Frömmigkeit eine beständige Gefahr. Es ist deshalb sehr seltsam, einen durch die Lage der Wissenschaft abgenötigten Verzicht auf theologisches Verständnis der Natur, als eine Erleichterung des Glaubens zu beschreiben. Sobald der Naturprozeß uns nur noch als Verhüllung und in keiner Beziehung mehr als Offenbarung Gottes erscheint, nur noch als Anstoß und gar nicht mehr als Glaubensgrund — wird der Glaube schwer gefährdet und, wie die Erfahrung zeigt, bei denen, die in ihrem Denken ausschließlich der Natur zugewandt sind, zerstört. Überhaupt aber wird der Gottes- gedanke durch Verzicht auf Naturphilosophie stark verblaßt. st Schleicrmacher a, a, O. 8 108, „Die Geschichtskunde (ist) das Bilderbuch der Sittenlehre, und die Sittenlehre das Formelbuch der Geschichts- kuude." 85 Allein eine noch schwerere Schädigung ist der Verzicht auf Geschichtsverständnis. Auch der Gang der Geschichte ruft den Gottesgedanken zwar mit Notwendigkeit aber nur in der Form einer Frage hervor, die wir bejahen oder verneinen können, je öfter wir sie bejahen desto fester wird der Gottesgedanke, während er durch die beständige Verneinung zurücktritt und schließlich erlischt. Zum Bewußtsein kommt er uns auch dann noch, aber nur als ein verneinter. Der Name Gottes steht über der Geschichte, aber er ist sozusagen durchgestrichen. Auch dann, wenn die Geschichte den Gotlesgedanken begründet, giebt sie ihm die Form des Glaubens, d. h. sie zeigt eine doppelte Reihe von Thatsachen, solche, die Gott sichtbar machen, und solche die ihn verhüllen, ein Gemisch von Licht und Finsternis. Der Gottesgedanke stützt sich dann auf die eine Reihe der Beobachtungen ohne sich durch die andere stören zu lassen. Weil er an einigen Stellen erkannt wird, so wird er, wo er durchkreuzt wird, geglaubt. Nur in dieser Form erzeugt die persönliche Erfahrung unseres Lebenslaufs Gottesglaube, und nur in dieser Form die Geschichte. Diejenige Geschichte, der wir unsere Gotteserkenntnis verdanken, ist die Geschichte Israels. Israels Gotteserkenntnis vermittelt sich freilich auch durch die Natur. Allein vor allen Dingen gründet das Volk seine Gotteserkenntnis auf seine Geschichte. In den Männern, die ihm gegeben wurden, und in den Thaten, die durch sie geschehen, erkennt das Volk die Leitung Gottes. Dadurch bekommt die Geschichte ein Interesse, welches über das Interesse an vergangenen Thatsachen hinaus geht. Die Ereignisse sind Thaten des gegenwärtigen Gottes, an welchen man ihn, seinen Willen und sein Ziel erkennen kann. Darum kennt und liebt man in Israel die Geschichte, und es giebt eine Geschichtsphilosophie. Das Buch Daniel hat für die Geschichts- philosophie eine große Bedeutung gehabt?) Die Erinnerung an die vergangene Geschichte bildet deshalb in den Krisen des Volkslebens das Glaubensmotiv. Die Gewißheit und Tiefe der Gotteserkenntnis hängt deshalb mit dem Verständnis zusammen, welches die Geschichte findet. st Wcllhausen, Israelitische Geschichte 288 . Kahler, Dogmatische Zeitsragcn 252 . 86 II. Die Verfehlung des richtigen Weges öffnet stets nach zwei entgegengesetzten Seiten hin Abwege. So führt auch der Mangel an geschichtlichem Sinn zu zwei entgegengesetzten Fehlern, die sich gegenwärtig beide beobachten lassen. Der erste liegt darin, daß man den Unterschied von Natur und Geist, und dem entsprechend, von Naturprozeß und Geschichte verwischt. Man erkennt nur eine Art des Geschehens au, den Naturprozeß. Die Geschichte wird dann als die höchste, feinste Spitze, als der letzte Ausläufer des Naturprozesses aufgefaßt. Dieses Ziel, die Geschichte als einen Naturvorgang zu verstehen, ist gegenwärtig bewußt oder unbewußt das Ideal vieler Historiker?) Das zeigt sich in der Macht und dem Zauber, den das Wort Entwicklung ausübt. Mit diesem Wort faßt man den Naturlauf und den Gang der Geschichte, als ein einziges von einem Gesetz beherrschtes Geschehen zusammen. Nun trägt ohn? Zweifel die Geschichte ein naturhaftes Element in sich, und zwar weil wir es in uns tragen. Allein wie wir in unserm innersten Wesen Geist sind, und nicht mehr nur Natur, so ist die Geschichte mehr als ein Naturprozeß. So schwer das Verhältnis von Natur und Geist zu definieren ist, so ist uns doch der Unterschied eines Naturprozesses und einer Geschichte deshalb unverwischbar klar, weil wir beides in uns selbst erleben. Er läßt sich deshalb beschreiben. Die eine der beiden Bewegungen unseres Lebens vollzieht sich ohne unsern Willen und ohne unsere Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen. Wir bleiben passiv. Dieses Geschehen ist ein Naturprozeß. Dieser, z. B. das Wachstum, wird nicht durch unsern bewußten Willen regiert. Der Naturprozeß ist ein uns umspannendes und durchwaltendes Quellen und Schwellen, das uns mit sich zieht. Er beschränkt sich keineswegs auf unser materielles Leben, auch unser geistiges Leben trägt ein naturhaftes Element in sich. Z. B. was wir Reifen nennen ist ein Naturprozeß. Es ist von unserm Willen unabhängig, obwohl unser Wille nicht von diesem Prozeß. Es läßt sich nicht machen, sondern nur abwarten. ß Vgl. Lainprecht, Alte und neue Richtungen in der Geschichtswissenschaft 1896. Über die Entwicklungsstufen der deutschen Geschichtswissenschaft in der Zeitschrift für Kulturgeschichte. Bd. V u. VI. Below, in der historischen Zeitschrift 1898. Bernheim, in der Zeitschrift Neue Bahnen 1899. S. 27-t sf., Lehrbuch öll. 87 Dies geistige Reifen, läßt sich als Entwicklung beschreiben. Von diesem uns durchziehenden, von unserm Willen unabhängigen Prozeß völlig verschieden ist unser Handeln, unsere Thaten. Sie sind nicht etwas, was an uns und mit uns geschieht, sondern etwas, was durch uns geschieht. Sie haben ihren tiefsten Ursprung in uns selbst. In ihnen erst steckt unser „Ich", und erst wo Thaten sind, kann man von Geschichte sprechen. Die That schiebt sich nicht aus uns hervor, sie entsteht nicht dadurch, daß wir abwarten und uns gehen oder treiben lassen, sie wächst nicht allmählich aus uns empor, vielmehr ist sie gerade eine sich über den Naturvorgang erhebende Bewegung, in der wir durch denselben hindurchbrechen. Sie ist vom Naturprozeß getragen und durchflochten. Aber sie ist von ihm so geschieden, wie die Aktivität von der Passivität. Unsere Lebensäußerungen sind in verschiedenem Grade That, je nach der Kraft des Willens, der in ihr steckt. Ebenso kann das naturhafte Element in uns in verschiedenem Grade überwiegen. Allein beide Lebensäußerungen sind verschieden, etwa wie die nach oben steigende Bewegung vom Fall. Als Thäter sind wir Personen, und nur wo Person, Bewußtsein, Wille, Zweck und That ist, da ist Geschichte?) Diesen Unterschied darf man 1) Die hier gegebene Unterscheidung deckt sich nicht mit derjenigen, die man gewöhnlich gegen die naturalistische Geschichtsschreibung geltend macht. Meist gesteht man der naturwissenschaftlichen Methode ein Recht zu gegenüber den Massenbewegungen in der Geschichte, die man dann mit den wirtschaftlichen Bewegungen identificiert. Von diesen unterscheidet man die von Personen ausgehenden Ereignisse. Lamprecht a. a. O. S. S meint, „daß der Zweckbegriss im objektiven Sinne bei eingehenderer wissenschaftlicher Betrachtung mir auf menschlich individuale, klar gedachte Handlungen angewandt werden kann." Bernheim, Neue Bahnen. X. Jahrgang S. 277: „Wenn man die große Masse, ihre Leistungen und Zustände in den Mittelpunkt des Interesses und der Forschung stellt, erhält man den Eindruck des durchschnittlich Regelmäßigen, Konstanten, das Ganze der historischen Bewegung erscheint wie ein Naturprozeß, durch konstante, mechanische Gesetze bestimmt und daher bestimmbar." Diese Grenzbestimmung scheint mir deshalb nicht befriedigend, weil dann allerdings das bewußte zweckmäßige Handeln, welches über dem Naturprozeß steht, sich auf die Individuen beschränkt. Dieser Lichtstreif der Geschichte würde dann doch wieder so angesehen, wie es zur Zeit der Aufklärung geschah. Vgl. Trö lisch, R.-E.-Th.-K. 3. Aufl. Artikel „Aufklärung": „Die Individuen sind ihr die Elemente der Geschichte, aus ihrer bewußten, planmäßigen berechnenden Wechselwirkung bauen sich die socialen Gebilde auf." Diese Geschichtsanschauung läßt sich nicht durch den Hinweis aus das 88 bei der Betrachtung der Geschichte nie vergessen, der Grund weshalb er bei der gegenwärtigen Geschichtsbetrachtung in den Hintergrund tritt, liegt nicht nur in der Herrschaft der naturwissenschaftlichen Methode, er liegt überhaupt nicht nur in der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft, sondern in der gegenwärtigen Geschichte selbst, im Dominieren der naturhaften Elemente des geschichtlichen Lebens, der wirtschaftlichen Interessen. Der Unterschied, der hiermit festgestellt ist, deckt sich nicht etwa mit dem Gegensatze von idealen und materiellen Faktoren des Geschichtslaufs. Bei dieser Abgrenzung scheidet sich die Geschichtsforschung, in eine solche, die die geistige, und eine, die die wirtschaftliche Entwicklung in den Vordergrund der Darstellung rückt. Diese Unterscheidung läßt sich nicht konsequent durchführen?) Vielmehr ist der Unterschied der: Unsere gesamte Thätigkeit erzeugt zunächst nur sachliche Güter, und diese bilden das, was sich als der naturhafte Ertrag der Geschichte bezeichnen läßt. Derselbe besteht nicht bloß in den wirtschaftlichen und technischen Fort- l-r schritten, sondern in allem, was wir Kultur, Bildung, Sitte nennen: dies sind sachliche Güter: Kultur ist der Ertrag des auf die Natur gerichteten Handelns der Menschen, die Geschichte umfaßt ihr Handeln an und mit einander. Denn die Unterscheidung die man in der Geschichtsphilosophie machen muß, wenn man den Ertrag des Geschichtsverlaufs prüfen will, ist die von Sache und Person. Diese deckt sich nun weder ganz noch teilweise mit der Gegenüberstellung von idealen und materiellen naturhafte Element in der Geschichte ergänzen, sondern nur durch die Erkenntnis, daß es auch Thaten einer Gemeinschaft giebt — freilich nicht einer formlosen Masse. Vgl. unten H 7. Am weitesten verbreitet ist gegenwärtig diejenige Grenzbestimmung, welche die That für die sogenannten „führenden Geister" reserviert. Vgl. z. B. Meinecke bei Below, a. a. O. 228, die „Auffassung, welche die geschichtliche Menschheit in zwei Teile zerreißt, eine kleine aristokratische Elite und die große dumpfe Masse, die sich blind von den „generischen" Motiven leiten läßt." Vgl. über diese Anschauung unten Z 4. h In dieser Beziehung muß man Lamprecht zustimmen, wenn er sagt: „Jedes wirtschaftliche Thun ist psychologisch genau so bedingt, wie irgend ein anderes „geistiges" Thun; jede Summe wirtschaftlicher Errungenschaften ist genau sw Niederschlag seelischer Vorgänge wie irgend ein Gedicht, ein Rechtsbuch, eine staatliche Institution" (a. a. O. S. 12). Nur sind eben seelische Vorgänge noch lange nicht Thaten, sondern zum großen Teil Prozesse. 4 89 Erträgen der Geschichte. Sie entspringt einer ganz andern Betrachtung. Ideen sind an sich nicht schon mehr als ein sachlicher Besitz, sie können ebenfalls etwas an uns, und von uns bilden, ein rein intellektueller Besitz bleiben. Nur was das Innere der Person gestaltet und erfüllt, ist mehr als ein sachliches Gut, und nicht nur eine Idee, ein Gedanke, sondern jede Gabe, sobald sie unsere Person bildet, ist mehr als etwas Sachliches. Nur eine Handlung, die ins Innere der Person eindringt, ist eine That. Eine sachliche Gabe kann aber nur dann ins Innere der Person dringen und personbildend wirken, wenn sie von einer Person kommt, und als solche hingenommen wird. Die Bedingung ist also eine doppelte: 1. muß durch die Sache eine Person auf eine andere wirken und sich geben; 2. muß der Empfänger in der Sache die gebende Person erkennen und hinnehmen. Nur eine aus einer Person durch das Mittel einer Sache in eine Person dringende Wirkung ist eine That. An sich sind weder wirtschaftliche Errungenschaften, noch technische Erfindungen, noch Institute, die wir schaffen, oder Ordnungen, die wir stiften, oder Kunstwerke, die wir gestalten, oder Bücher, die wir schreiben, selbst nicht Wohlthaten, die mir erweisen — mehr als sachliche Güter, und die Thätigkeit, der sie entspringen, noch nicht im eigentlichen Sinne That?) Nur ein auf Personen gerichtetes Handeln verdient eine That genannt zu werden, und zwar nur dann, wenn ihm die Absicht zu Grunde liegt, aus — Personen zu wirken. Ein aus einer Person dringender Wille kann sein Ziel nur in einer Person finden und kann in keinem tiefer liegenden Ziel zur Ruhe kommen. Unsere gesamte Thätigkeit müßte stille stehen, wenn es nicht Menschen gäbe, denen sie gelten soll. Von der Empfänglichkeit der Menschen nährt sich unsre Thätigkeit auch dann, wenn wir uns dessen nicht bewußt sind. Aber nur was wir mit Bewußtsein und Absicht für Menschen thun und was auch wirklich in den Kern einer Person eindringt — nur das ist eine That, und nur Personen, die wir gebildet, denen wir geholfen, in deren Lebenslauf wir fördernd eingegriffen haben, die wir ihrem Lebensziel näher gebracht haben >) Vgl. Stefsensen, Zur Philosophie der Geschichte S. 207 : „Insofern ist auch die Arbeit und Anstrengung nur ein Wirken des Naturtriebes und ohne Ernst (Fdeal), und der Empirismus hat recht, diese Anstrengung selbst als ein bloßes natürliches Sich-Verweben der naturgegebenen Bewußtseins- crscheinungen zu verstehen." 90 — nur solche bilden ein wirkliches Lebenswerk. Man darf definieren: Nur ein Mensch, der durch uns etwas geworden ist, ist ein Werk, und allein ein auf eine Person gerichtetes Handeln ist eine That. Das Werk von Menschen können nur Menschen sein. Sie bilden die einzige Frucht der Geschichte, die nicht mehr ein nur sachliches Gut ist. Sobald nun aber die Förderung von Personen Motiv und Ziel unsrer Thätigkeit ist, erzeugt jede Thätigkeit, nicht etwa nur die sogenannte geistige, sondern ganz ebenso gut die technische und wirtschaftliche mehr als sachliche Güter — sie bildet Personen. Alle Thätigkeit aber, auch die wissenschaftliche, künstlerische, kirchliche, die unter diesem Ziel zurückbleibt, bleibt in der naturhaften Umgebung des geistigen, persönlichen Lebens stecken. Wer die sociale Lage des andern hebt und nicht dadurch ihn, wer seine Bildung fördert und nicht damit ihn, der dringt mit seiner Arbeit nicht bis in die Region der Person. Auch Pädagogik kann Technik bleiben, die mechanisch wirkt, und nicht persönlich handelt. Wie oft hält man die Beschaffung der materiellen Bedingungen, deshalb weil sie die Basis für alles persönliche Leben bilden, für unsre wichtigste und erste Ausgabe. Aber weder aus den physischen noch aus den intellektuellen Bedingungen des Lebens, entspringt als Nebeneffekt das Leben von selbst. Als Ziel der Geschichte kann deshalb weder die Förderung der Kultur noch der Technik, oder der Wissenschaft angesehen werden?) Als wären die Menschen nur Mittel zur Erreichung eines y Rickert, Kulturwissenschaft und Raturwissenschaft, Freiburg 189S, stellt die Kultur in Gegensatz zur Natur. Für ihn unterscheiden sich die Kulturvorgänge vom Naturgeschehen nur durch den Wertgesichtspunkt. Diese Grenzbestimmuug ergiebt sich für ihn aus der Voraussetzung, daß sich „zwei Gruppen von Objekten, die sich mit Rücksicht auf die Art ihres Seins d. h. in der Weise wie Körper und Seele unterscheiden für die Gliederung der Wissenschaften überhaupt nicht finden lassen." Wenn man hiernach das Gebiet der Geschichte abgrenzen wollte, so würde der innerste Kern der Geschichte nicht zur Darstellung kommen. Dann müßte die Wirtschaftsgeschichte, die Geschichte der Technik und Wissenschaft das Centrum der Geschichtsdarstellung bilden, aber nicht die politische Geschichte. Das entgegengesetzte Extrem vertritt z. B. Treitschke, Die Ausgabe des Geschichtsschreibers. Historische und politische Aufsätze, IV, 450. Dem Historiker „bleibt sein eigenes Gebiet, wo er der Herr ist, die Welt der politischen Thaten und der in ihr herrschenden sittlichen Gesetze .... Je weiter die menschliche Thätigkeit vom Staate abliegt, um so weniger gehört sie der Ge- 91 Zweckes, der schließlich doch nur wieder um der lebendigen Personen willen wertvoll sein kann! Das Ziel muß notwendig höher stehen, als die Mittel?) III. Wendet man nun den Entwicklungsgedanken auf die Geschichte an, so drückt man hiermit folgende Urteile aus?) 1. Das Wort bezeichnet eine aufsteigende Bewegung, aus primitiven, elementaren, keimartigen Anfängen, zu immer reicherer, feinerer Durchbildung; 2. sagt der Begriff, das diese Bewegung eine immanente ist d. h. daß alles, was sie hervorbringt, ohne Hinzutritt eines Neuen aus der Wechselwirkung der vorhandenen Bedingungen und gegebenen Faktoren entspringt; 3. bezeichnet das Wort einen Prozeß, einen Vorgang und nicht eine Thätigkeit, in dem Sinne, in dem beide Lebensäußerungen oben unterschieden wurden. Mit der Einordnung der Geschichte in den Entwicklungsgedanken, ist aber nur die naturhafte Basis der Geschichte und nicht ihr eigentlicher Kern gefaßt. Person, That und damit die eigentliche Geschichte in der Geschichte ist damit nicht begriffen. Das Naturgesetz, der berechenbare Prozeß, und damit das kausale Erkennen der Geschichte hat seine feste Grenze an der Person und schichte au. Bei der Geschichte der Chemie liegt der Ton unzweifelhaft auf Chemie, nicht aus Geschichte." Dies Beispiel ist charakteristisch. Wählt man nicht einen Zweig der Naturwissenschaften, sondern die Philosophie, so erkennt man, daß man von einer Geschichte der Philosophie zu sprechen hat. Ebenso giebt es eine Religions- und eine Kircheng eschichte. Die Definition richtet sich darnach, was man als Ziel der Geschichte ansieht. Rickert u. A. sehen die Kultur, Treitschke den Staat als Subjekt und Ziel der Geschichte an. Aber sclbstTreitschkes viel höher stehender Gedanke läßt einen breiten Streifen der Geschichte unberücksichtigt. p Der hiermit festgestellte Unterschied fällt also nicht mit dem einer kausalen und eitler theologischen Auffassung und Erklärung der Geschichte zusammen. Diese Abgrenzung zwischen That und Wirkung läßt sich auch nicht durch crkenntnistheoretische Erwägungen verwischen, also durch den Hinweis darauf, daß auch Handlungen, die durch den Zweck regiert werden, in unsre Erfahrung nur als kausal begründete treten. Endlich ist der angegebene Unterschied auch nicht nur ein Wert unterschied. Der Unterschied liegt im Geschehen selbst und läßt sich psychologisch beschreiben. 2 ) Vgl. Eucken, Die Grundbegriffe der Gegenwart. 2. Aufl. 103 ff. Das dritte Merkmal giebt Eucken nicht an. Es ist deshalb oben beschrieben. Übrigens handelt es sich hier nur um den Entwicklungsgedanken der modernen Natursorschnng, nicht um den der älteren idealistischen Philosophie. 92 der That?) Sie schließt sich an gegebene Verhältnisse an, hat ihren Stützpunkt und ihr Spalier, ihre Schranken und Organe an der naturhaften Basis des Lebens, sie ist in ihren Wirkungen von ihnen abhängig, aber sie wächst nicht aus ihnen hervor. Dadurch, daß die That in das Naturgetriebe eintritt, mit Mitteln rechnet und Widerstände überwindet, wird sie zur Arbeit. In reiner Leichtigkeit und Freiheit tritt der Geist und die That für uns nicht auf: Arbeit ist Glück und Not zugleich. Die That kann nur als Faktum konstatiert, aber nicht mehr abgeleitet werden. Insofern kann man sagen, daß das Verhältnis von Notwendigkeit und Freiheit das Problem — oder vielmehr eins der Probleme der Geschichtsphilosophie ist. Die Freiheit der Person von der Zeitlage, der Umgebung, der Gemeinschaft und die Freiheit der einzelnen That von einem ein für allemal gegebenen Charakter sind parallele Probleme, weil sie parallele Aufgaben ausdrücken. Die Freiheit des Menschen von seiner Zeit ist relativ und deshalb graduell sehr verschieden. Nicht nur die sogenannten „Genies", die „führenden Geister" haben Kraft und Recht frei von ihrer geschichtlichen und örtlichen Umgebung zu sein — die Bedingungen dieser Freiheit sollen am Schluß erwogen werden. Ebenso ist die Emancipation der einzelnen That von dem gegebenen Charakter freilich nicht etwas „Natürliches", Selbstverständliches, vielmehr ist umgekehrt die Abhängigkeit der That vom Charakter das „natürliche" Verhältnis. Diese Emancipation hat ihre bestimmten Bedingungen. Jedenfalls aber verdient nur eine Lebensäußerung, die sich nicht als ein berechenbares Produkt aus der gegebenen Anlage der Person hervordrängt, sondern die sich aus ihr emporhebt mit der Frische und Neuheit eines empirisch nicht mehr ableitbaren Faktums den Namen der That. Nur was frei ist, das ist That. In dem Maße als unser Wirken durch Ausdrücke, wie: Sich-auswirken, Sich-ausleben, Sich-entfalten, Sich-entwickeln — treffend bezeichnet werden kann, ist es ein passives Sich-gehen-lassen, Sich-schieben- und treiben-lassen, aber keine That. Auch diese Freiheit ist wieder nicht das Vorrecht einzelner Großer, auch liegt sie nicht nur bei gewissen entscheidenden Entschlüssen unsres Lebens vor; sie ist über- 9 Trotzdem sind alle unsre Thaten motiviert. Das Verhältnis von Motiv und That soll aber hier nicht erläutert werden. 93 Haupt mit so quantitativen Maßstäben wie dem der Größe, nicht zu bestimmen — ihre Bedingungen sind ganz anderer Art. Dieses ganze Gebiet der Freiheit, welches den Kern, den hellen Lichtstreif der' Geschichte bildet, schließt man aus, wenn man sie als Entwicklung definiert. Man behält dann nur den aus physischen Bedingungen, aus Bedürfnissen und dumpfen, dunklen, blinden Trieben erklärlichen, berechenbaren Boden der Geschichte in feinem Netz, aber die Geschichte selbst geht durch die Maschen. Deshalb hat die Anwendung des Entwicklungsgedankens auf die Geschichte mit der Verdunkelung des Menschen auch eine Verdunklung Gottes zur Folge. Diese Geschichtsanschauung kann zunächst eine vollständige Verneinung des Gottesgedankens in sich schließen. Behandelt man den Gottesgedanken als Produkt einer immanenten Entwicklung, so verneint man ihn; selbst wenn man das nicht beabsichtigt. Die Beschreibung der Entstehung unsres Gottesgedankens enthält stets das Urteil über seine Giltigkeit in sich. Durch die Art, wie sein Auftauchen erklärt wird, wird er bejaht oder verneint. Bei der Frage, wie sich unser Gottesgedanke bildet, kommt die Frage nach Gott selbst zur Entscheidung. Wer an dieser Stelle Gott ignoriert, der hat ihn verneint. Gott läßt sich nicht zu gleicher Zeit anerkennen und ignorieren, den Gottesgedanken kann man nicht gleichzeitig bejahen und unberücksichtigt lassen. Läßt man ihn gelten, so muß man ihn gebrauchen, läßt man ihn liegen, so bestreiket man ihn. Ist Er — so gewinnt das Weltbild damit nicht nur einen Abschluß, sondern eine durchgreifende Umgestaltung. Dies liegt am Gottesgedanken selbst. Ist er, so ist er Gott und damit bei keiner Frage, bei keinem Problem, bei keiner Aufgabe, am allerwenigsten in der Religionsgeschichte bloße Möglichkeit, die auch in Rechnung gestellt werden kann, sondern er ist alles in allem, mitzurechnen oder zu bestreiken, zu bejahen oder zu verneinen, aber nicht bald zu bekennen bald zu suspendieren. Das liegt am Gottesgedanken. Darum gilt von der Gotteserkenntnis folgendes: .Gotteserkenntnis entsteht nicht aus uns, auch lockt sie weder der Naturlauf, noch der Geschichts- lauf aus uns hervor. Durch beide entsteht sie nur dann, wenn Gott sich durch sie uns naht. Gott läßt sich nicht entdecken, wie ein Gebiet der Natur, er ist niemals Objekt, auch nicht Objekt des Erkennens. Gott ist nur Subjekt, nur aktiv, nicht 94 passiv. Erkennen wir ihn, so sind wir dabei Empfänger, rezeptiv, nicht produktiv. Gott läßt sich nicht erobern, nicht herabziehen, auch können wir uns nicht zu ihm emporheben. Gotteserkenntnis entsteht dadurch, daß Gott zu uns kommt, nicht dadurch, daß wir zu ihm kommen, sie kommt von oben herunter und steigt nicht von unten herauf, sie ist Gottes Gabe und nicht unser Gemächte, sie kommt aus dem Himmel und nicht aus der Welt. Wer unsre Gotteserkenntnis aus einer immanenten Entwicklung ableitet, der hat sie damit verneint, denn er hat dem Gottesgedanken den absoluten Charakter genommen, der ihm wesentlich ist, er hat Gott zugleich bejaht und verneint. Wenn man z. B. die Geschichte Israels unter grundsätzlichem Verzicht auf den Offenbarungsgedanken rein empirisch behandelt, so kann man nicht mehr nachträglich erwägen, ob Israels Gottesgedanke vor dem Gottesgedanken anderer Völker vielleicht ein Recht habe. Diese Frage ist dann bereits in verneinendem Sinne entschieden. Wer Gott kennt, der hat seine Gotteserkenntnis von Gott. Giebt man das erste zu, so sagt man das andere und verneint man das zweite, so ist damit auch das erste verneint. Well- h «rufen z. B. schreibt: „Warum die israelitische Geschichte von einem annähernd gleichen Anfange aus zu einem ganz andern Endergebnis geführt hat als etwa die moabitische, läßt sich schließlich nicht erklären. Wohl aber läßt sich eine Reihe von Übergängen beschreiben, in denen der Weg vom Heidentum bis zum vernünftigen Gottesdienst im Geist und in der Wahrheit zurückgelegt wurde." Im Zusammenhang bedeutet dies, daß dies Resultat der Geschichte Israels sich nicht aus dem Anfang dieser Geschichte erklärt. Freilich erklärt sich die Gotteserkenntnis nicht aus Tradition. Gott steht nicht am Anfang der Geschichte, sondern über ihr. Auch die andere Frage, warum gerade Israel zum Vermittler und Träger der Gotteserkenntnis geworden ist, läßt sich geschichtlich nicht beantworten. Die Antwort giebt das Bewußtsein des Volkes mit den Worten, daß Gott Israel erwählt hat. Hierin liegt das Bekenntnis, daß der Grund nicht im Menschen selbst, etwa in seiner „religiösen Veranlagung" liegt — er liegt allein im Willen Gottes. Nicht das Volk hat sich zu Gott erhoben, sondern Gott ist zum Volk gekommen. Soll also das Ergebnis der Geschichte Israels erklärt werden und zwar so, daß es durch die Erklärung nicht geleugnet wird, so kann es nicht empirisch, sondern nur theologisch erklärt — 95 — werden. Wenn jene Übergänge und die Geschicke und Männer, die sie herbeigeführt haben, nicht aus der Leitung Gottes erklärt werden, so ist damit das Recht des vernünftigen Gottesdienstes im Geist und in der Wahrheit, der am Schluß dieser Geschichte steht, verneint. Ist die Gotteserkenntnis, zu der Israels Geschichte führt, eine begründete im Unterschiede von der Moabs, so kann das seinen Grund nur darin haben, daß Gott Israel in anderer Weise leitete und regierte als alle andern Völker. Läßt man diese Frage offen als eine nicht-historische, so läßt man damit auch die Frage offen, ob Israels Gottesdienst vernünftig ist. Mit dem einen Urteil bejaht und verneint man das andere. Begründete Gotteserkenntnis kann nur von Gott stammen. Wo sie sich in besonderer Weise im Unterschiede von andern Völkern findet, nötigt sie zu dem Schluß, auf eine besondere Leitung Gottes. Man kann dagegen nicht einwenden, daß andere Völker andere Beiträge zu unserm Kulturbesitz geliefert hätten, daß also der Lauf ihrer Geschichte theologisch betrachtet ebenfalls als von Gott regiert angesehen werden müsse, wenn man ihren Beitrag zu unserm geistigen Besitz als Gabe Gottes ansehn wolle. Es verhält sich anders, wenn der Ertrag der Geschichte Gotteserkenntnis ist. Behandelt man den Gottesgedanken eines Volkes, im Unterschiede von dem anderer, als Wahrheit, dann muß man seine Geschichte als Offenbarung definieren. Wenn man urteilt, daß die Wendepunkte der Geschichte Israels diese ihrem Ziele nähergebracht haben durch Männer wie Amos und Jeremias, so sind diese Männer als Propheten zu behandeln und anzusehn. Das werden sie aber nicht dadurch, daß sie zu Gott kommen, sondern dadurch, daß Gottes Wort zu ihnen kommt. Dieser letztere Gedanke wird, wenn man ihn nur als religiöse Betrachtungsweise der Frömmigkeit der Propheten ansieht, nicht etwa offen gelassen, sondern verneint. Nicht Wort und That des Propheten gilt religiös betrachtet als Gottes Wort und That. Man hat also zu urteilen: den Gottesgedanken als Resultat immanenter Entwicklung behandeln heißt ihn leugnen. Hierauf kann man antworten: Eben diese immanente Entwicklung sei der Weg, auf dem sich Gott uns offenbare. Dem ist zu entgegnen: Faßt man die Offenbarung Gottes als Entwicklung in dem beschriebenen Sinne, so faßt man Gott nicht als Person im vollen Sinne. Vermag er durch einen Naturprozeß sich ganz zu offenbaren, so steht er selbst nicht höher als die Natur. Ist eine 96 Entwicklung die Basis, auf die wir unsern Gottesgedanken aufbauen, ein Wachsen und kein Handeln, ein Prozeß und keine That, eine Kraft und kein Wille, so ist der daraus gewonnene Gottesgedanke naturhaft, Gott hat nicht den Charakter einer handelnden Person, sondern den einer wirkenden Kraft. Hinter dem Schwellen und Quellen, dem Geschiebe und Getriebe einer Entwicklung steht keine Person, sondern nur hinter den Thaten der Geschichte. Wenn man z. B. mit der Gotteserkenntnis Israels auch Jesum als Produkt der Entwicklung auffaßt, als Erzeugnis einer „Kraft, die Gott von Anfang an der Menschheit eingepflanzt habe und die zwar vorher nicht in Wirksamkeit trat, aber doch nach gesetzmäßiger Ordnung unter bestimmten Bedingungen in Wirksamkeit übergehn und dieses über die Welt sich erhebende Leben hervorbringen mußte/") so ist Jesus ein Produkt der Menschheit; er stammt aus dem Fleische und nicht aus dem Geiste, aus der Welt und nicht aus dem Himmel. Wenn man entgegnet, daß eben dies der Weg, die Form der Gabe Gottes sei, so liegt bereits in diesem Gedanken eine bestimmte Christologie und eine bestimmte Begrenzung des Gottesgedankens. Jesus stammt dann freilich aus Gott, aber durch das Medium der Natur, nicht durch das Medium des Geistes; er ist Gottes Geschöpf, nicht Gottes Sohn; er ist Glied und Ziel eines von Gott geleiteten Prozesses, nicht Gottes That. Wenn wir aber an dieser höchsten Stelle nur von Entwicklung einer in die Natur gelegten Kraft und nicht einer aus dem Geist kommenden That Gottes reden dürfen, so ist damit der Gottesgedanke sn der Sphäre der Natur niedergehalten, (Natur in dem oben bestimmten Sinne). Es ist keineswegs die Absicht dieser An- 9 Reisch le, Christentum und Entwicklungsgedanke S. Sl. Reischlc knüpft an Kaftans Vertrag: „Das Verhältnis des evangelischen Glaubens zur Logos- lehre" an. Den Vorschlag Kaftans, die kosmologischc Bedeutung Christi mit Hilfe des Entwicklungsgedankens zu begründen, nennt Rcischle kühn. Neu ist er jedenfalls nicht, bekanntlich findet er sich bei Sch lciermacher unter dem Titel, daß die Erlösung als Vollendung der Schöpfung anzusehen sei: „Die Erscheinung Christi (ist) anzusehen als Erhaltung nämlich der von Anbeginn der menschlichen Natur eingepflanzten und sich fortwährend entwickelnden Empfänglichkeit der menschlichen Natur, eine solche schlcchthinige Kräftigkeit des Gottesbewnßtseins in sich aufzunehmen. Denn, kam gleich bei der ersten Schöpfung des Menschengeschlechtes nur der unvollkommene Zustand der menschlichen Natur zur Erscheinung: so war doch das Erscheinen des Erlösers ihr auf unzeitliche Weise schon eingepflanzt." 97 Wendung des Entwicklungsgedankens auf die Geschichte, Gott unpersönlich zu denken. Trotzdem bleibt der so gewonnene Gottesgedanke unter dem vollen Begriff der Person zurück. Weil durch den Entwicklungsgedanken die eigentlich persönliche Zuspitzung des Menschen in der Geschichte nicht zum Ausdruck kommt, sondern nur die naturhaften Äußerungen unseres Lebens, so kommt die volle Persönlichkeit Gottes-dadurch nicht zum Verständnis. IV. Eine Überwindung oder Ergänzung der naturhaften Geschichts- anschauung findet man gegenwärtig in der Geschichtsphilosophie Carlyles. Hauptsächlich darum hat er auf die deutsche Theologie Einfluß ausgeübt. Für unsere Frage kommen zwei geschichts- philosophische Ideen Carlyles in Betracht: der Gedanke der die Geschichte beherrschenden Gerechtigkeit und die Verehrung der die Geschichte leitenden großen Männer. Carlyles Geschichtsphilosophie hat das Verdienst, der spekulativen Hegel'schen und der naturhaften Geschichtsanschauung ein Gegengewicht geboten zu haben. Die treibenden Kräfte in der Geschichte sind weder die natürlichen Bedingungen des Lebens, noch die Ideen, sondern die Personen. Der Gedanke war keineswegs neu?) Carlyles Vertretung desselben hat aber deshalb auf die Geschichtsphilosophie Einfluß geübt, weil dieser Gedanke bei Carlyle einen theologischen Hintergrund und eine religiöse Bedeutung hat. Carlyle ist in erster Linie weder Socialpolitiker noch Historiker, sondern Geschichtsphilosoph und Theologe. Seine entscheidenden Interessen sind religiöse: durch die Heroen wirkt Gott in die Welt hinein, sie sind die Werkzeuge Gottes, durch die er die Geschichte lenkt und damit sich selbst offenbart. Der Gedanke hat auch deshalb Eindruck gemacht, weil 9 Durch die Schätzung der Persönlichkeiten erhebt sich z. B. Ranke über Hegel. Vgl. über Rankes Geschichtsphilosophie Lorcnz, Die Geschichtswissenschaft II. Bd. Lamp recht. Alte und neue Richtungen, in der Geschichtswissenschaft, Kap. 2. Rankes Abhängigkeit von Hegel wird häufig übertrieben. Ranke selbst hat sich am ausführlichsten über seine Stellung zur Sache in den beiden ersten Vortrügen über die Epochen der neueren Geschichte ausgesprochen. „So würde auch diese Anschauung von der Geschichte, dieser Prozeß des sich selbst nach verschiedenen logischen Kategorien entwickelnden Geistes auf das zurückführen, was wir bereits oben verwarfen. Nach dieser Ansicht würde bloß die Idee ein selbständiges Leben haben; alle Menschen aber wären bloße Schatten oder Schemen, welche sich mit der Idee erfüllten." Lütgert, Geschick,«. Sinn rc. 1 98 der Geniekultus schon als eine Erbschaft der litterarischen Epoche zu Anfang dieses Jahrhunderts in Deutschland geübt wurde. Aus diesem Grunde aber hat er auch in der Theologie nicht nur fördernd, sondern auch störend gewirkt. Der Gottesgedanke, der sich aus dieser Geschichtsanschauung ergiebt, steht ohne Frage höher als der Hegelsche. Allein der Heroenkultus legt einer reinen Fassung des Gottesgedankens eine eigentümliche Schwierigkeit entgegen. Carlple hat die religiöse Bedeutung des Affektes der Bewunderung richtig erkannt. Bewunderung ist eine religiöse Regung, auch die Bewunderung großer Männer kann zur Frömmigkeit d. h. zur Anbetung Gottes werden. Die Frage ist nur die, ob der Affekt durch die Großen hindurch sich zu Gott wendet, oder ob er an dieser Mittelstufe haften bleibt, ob die Heroen den Trieb der Verehrung zu Gott emporleiten, oder ihn bei sich fest halten, ob man in den Heroen Gott verehrt, oder den Menschen, ob sie zu Gott führen, oder an die Stelle Gottes treten. Es ist bei keiner Gabe Gottes, also auch nicht bei den großen Männern, selbstverständlich, daß das auf sie gerichtete Begehren durch sie hindurch dringt und hinter und über ihnen Gott saßt. Gelingt diese Bewegung, so ist die religiöse Bedeutung der Heroen rein, gelingt sie nicht, so führt sie zur Verleugnung Gottes. Der Ausgang der Krisis, ob die Heroenverehrung zum Bekenntnis oder zur Verleugnung Gottes führt, ist durch Carlyle nicht hinreichend gesichert. Nämlich ob uns die Bewunderung eines Menschen zu Gott hinführt oder den Trieb der Verehrung aufsaugt, und deshalb von Gott fern hält, das hängt nicht nur von den Verehrern der großen Männer, sondern in erster Linie von den Großen selber ab, nämlich davon, ob der Heros selbst ein Bekenner oder ein Verleugner Gottes ist. Eben weil sich der Mensch über die Natur erhebt, so ist er nicht wie die Natur, ein stummer, unbewußter Zeuge Gottes, sondern er wird dies nur dadurch, daß er sich zum Organe Gottes macht. Er hält in dem Maße die Menschen nicht bei sich fest, ^ sondern leitet sie zu Gott, als er selbst Gott bejaht. Nicht ohne oder .wider seinen Willen, sondern nur durch seinen bewußten Willen, wird der Mensch zum Zeugen Gottes. Ein großer Mann, der Gott verleugnet, ruft kein Bekenntnis Gottes hervor, deshalb kann der große Mann, ebensowohl zur Verhüllung, als zur Offenbarung Gottes dienen. Nun kann man freilich das Lebenswerk 99 eines Heros, ganz ohne Rücksicht darauf wie es zustande kam, z. B. ein Kunstwerk einfach um seines Wertes willen, als Gabe Gottes hinnehmen, und dann hat der große Mann auch ohne seinen Willen unsere Verehrung auf Gott gerichtet. Allein dann ist er in nicht höherer Weise Gottes Zeuge, als es die Natur ist d. h. ohne seinen Willen. Weil nun nach Carlyles Geschichts- philosophie die Zeugen Gottes nicht diejenigen Männer sind, die mit bewußtem Willen zu Gott Hinleiten, sondern weil sie rein nach ihrer Größe als Zeugen Gottes gellen, und unbewußt und ungewollt zu Gott leiten sollen, so werden sie nach der Art von Naturgrößen beurteilt. Ihre naturhafte Begabung, ihre Kraft, ist das Merkmal Gottes. Darum entfernt sich Carlyles Geschichts- philosophie nicht weit genug von der naturhaften Geschichts- anschauung. In der Größe und in der Kraft offenbart sich Gott nur als Kraft, nicht als Wille und Liebe d. h. nicht voll als Person. Die Heldenverehrung hat deshalb für das Gottesbewußtsein schädigend gewirkt. Wer Größe und Kraft als Merkmale Gottes ansieht, der sieht sie auch als das uns gesteckte Lebensziel an, und es ist kein Zufall, daß diese Gedankenbewegung im Willen zur Macht bei Nietzsche geendet hat. Der Gedanke, daß das Ziel der Geschichte nicht an ihrem Ende liegt, sondern in den wenigen Großen, die sie im Laufe der Zeit erzeugt, denen gegenüber die Menschheit eine bedeutungslose Masse ist, ist der korrekte Abschluß der Heldenverehrung?) und auch das ist nicht zufällig, daß bei Strauß die Verehrung großer Männer, die Anbetung Gottes nicht begründet, sondern ersetzt?) 9 „Es wird die Zeit sein, in Welcher man sich aller Konstruktionen des Weltprozesses oder auch der Menschheits-Geschichte weislich enthält, eine Zeit, in welcher man überhaupt nicht mehr die Massen betrachtet, sondern wieder die Einzelnen, die eine Art von Brücke über den wüsten Strom des Werdens bilden. Diese setzen nicht etwa einen Prozeß fort, sondern leben zeitlos- gleichzeitig, dank der Geschichte, die ein solches Zusammenwirken zuläßt, sie leben als die Genialen-Republik, von der einmal Schopenhauer erzählt; ein Riese ruft dem anderen durch die öden Zwischcnräume der Zeiten zu, und ungestört durch mutwilliges lärmendes Gezweige, welches unter ihnen wegkriecht, setzt sich das hohe Geistergespräch fort. Die Aufgabe der Geschichte ist es, zwischen ihnen die Mittlerin zu sein und so immer wieder zur Erzeugung des Großen Anlaß zu geben und Kräfte zu verleihen. Nein, das Ziel der Menschheit kann nicht am Ende liegen, sondern nur in ihren höchsten Exemplaren." Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben S. si. 9 Der Geniekultus ist überhaitpt eine religiöse Krankheitserscheinung. 1«0 Hierin zeigt sich, daß der Begriff des Heros überhaupt nicht geeignet ist, die Geschichte als Offenbarung Gottes verstehen zu lehren. Die Anwendung des Begriffes auf die Christologie, die man bewußt oder unbewußt schon vorgenommen hat, kollidiert mit der evangelischen Geschichte sowohl als mit der apostolischen Verehrung Jesu. Alle Erklärungen des Wirkens Jesu, die dasselbe aus seiner Genialität ableiten, sind nicht aus der einfachen und nüchternen Geschichte geschöpft. Jesu Wort und Werk hat seine Bedeutung allein darin, daß es als Gottes Wort und Werk auftritt, nicht in irgend einer Genialität die der phrasenlosen Einfalt des Evangeliums widerspricht. Auch ist Genialität nicht das Merkmal seiner Gottheit. Darum ist der Begriff der Genialität überhaupt nicht der Maßstab, nach dem man Göttliches und Menschliches in der Geschichte scheiden kann, sondern der einfache und nüchterne Kanon, nach dem diese Scheidung allein vorgenommen werden kann, ist der von gut und böse. Damit hat man einen Maßstab zum Verständnis und zur Liebe des Kleinen gewonnen. Nicht durch Genialität oder Größe, erhebt sich der Mensch über die Natur und wird damit zum Zeugen Gottes, sondern ganz allein durch die That, in dem oben definierten Sinne, durch die That, die dem Kleinen sowohl möglich ist wie dem Großen. Eine Geschichtsphilosophie, die die Bedeutung des Kleinen, der Menge nicht zu würdigen versteht, ist wertlos. Sie schiebt das Problem beiseite, anstatt es zu lösen und erzeugt ein brutales Lebensideal. Wohin die Geschichtsphilosophie, die allein auf die Heroen achten, führen muß, das kann man sich an dem Worte Nietzsches vergegenwärtigen: „Die Massen scheinen mir nur in dreierlei Hinsicht einen Blick zu verdienen: einmal als ver- schwimmende Kopien der großen Männer, auf schlechtem Papier und mit abgenutzten Platten hergestellt, sodann als Widerstand gegen die Großen und endlich als Werkzeuge der Großen/") Der einzige positive Gedanke in diesem cynischen Worte degradiert die Massen zu einem passiven „Werkzeug" der Großen, und lähmt damit jede eigene Aktivität und Selbständigkeit. Die Brauchbarkeit einer Geschichtsphilosophie zeigt sich aber gerade darin, daß sie die Bedeutung der „Vielen" zu verstehen und dem Kleinen ) a. a. O. S. S-t. - 10 , - nicht nur einen Sinn, sondern auch eine selbständige positive Aufgabe zu geben vermag. Die Deutung der Geschichte darf sich nicht nur auf die Einzelnen und die Großen aufbauen. Die Vielen dürfen uns nicht hindern, sie müssen uns helfen, die Geschichte zu verstehen und — was noch mehr ist — sie dürfen nicht Hindernis, sondern Träger des Ganges der Geschichte sein. Das ist aber nicht möglich ohne einen kräftigen Gottesgedanken. Es ist aber nicht zufällig, daß Carlyle in seinem Gottesgedanken zu einer durchschlagenden Bejahung der Persönlichkeit Gottes nicht gelangt. Das Schwanken zwischen persönlichen und unpersönlichen Gottesbezeichnungen ist charakteristisch. Der nickt völlig überwundene Zug zum Naturhaften, Unterpersönlichen in seinem Gottesbilde zeigt sich auch in der An, wie er die Gerechtigkeit als Gesetz der geschichtlichen Bewegung darstellt. Die Gerechtigkeit herrscht in der Art eines Naturgesetzes. Mit Naturnotwendigkeit knüpfen sich an die That die segensreichen oder zerstörenden Wirkungen und zwar sind sie zu beobachten im gesellschaftlichen Leben der Menschheit. Ihr Wirken ist als ein dem Geschichtslauf immanenter Prozeß gedacht. Auch hier tritt das persönliche Moment stark zurück. Soll die Herrschaft der Gerechtigkeit empirisch d. h. geschichtlich nachgewiesen werden so wird der Nachweis auf die natur- haften Äußerungen des Lebens beschränkt werden, d. h. er wird sich auf die socialen Verhältnisse richten müssen. Dagegen ist aber einzuwenden, daß die Herrschaft der Gerechtigkeit im socialen Leben nicht unwidersprechlich vorliegt. Der Gang der Geschichte gewährt vielmehr einen widersprechenden Eindruck. Neben Beobachtungen, die die Gerechtigkeit des Weltlaufs erkennen lassen, stehen solche, die sie verhüllen. Nun ist die Behauptung der welt- beherrschenden Macht der Gerechtigkeit bei Carlyle eigentlich auch Glaube d. h. eine Überzeugung, die auch trotz der entgegenstehenden Thatsachen festgehalten wird. Aber Carlyle ist sich dieses Unterschiedes nicht bewußt. Freilich geht er nicht soweit, die Gerechtigkeit in jedem einzelnen Mensckenleben nachweisen zu wollen. Allein er sucht sie iin Zeitlauf, im kontrollierbaren Weltlauf. Das Gute erhält sich, das Böse zerstört sich. In diesem Sinne ist er Optimist. Wenn diese Herrschaft der Gerechtigkeit nun aber in der Geschichte empirisch nicht wahrnehmbar ist, ihre Behauptung vielmehr Glaube, so ist damit gesagt, daß sie nicht herrscht wie 102 ein Naturprozeß, der berechenbar verläuft, sondern daß sie das Handeln einer Person an Personen ist, das sich der Beobachtung vielfach entzieht. Das natürliche sociale wirtschaftliche Leben wird nicht durch das Gesetz der Gerechtigkeit regiert, wohl aber das geistige persönliche innere Leben, und Carlyle kann nur deshalb die Gerechtigkeit als Gesetz der Geschichte nicht bloß glauben und bekennen, sondern darstellen, weil sein Blick unwillkürlich bei der Entwicklung der naturhaften Lebensverhältnisse festgehalten wird. Dies hängt eng mit seinem Gottesgedanken zusammen: „die große Seele dieser Welt ist gerecht." Die Gerechtigkeit ist das immanente Entwicklungsgesetz, das Gesetz des Weltalls und das heißt Gottes. Als Gottes Manifestation gilt der weltbeherrschende Prozeß. Diese Vorstellung entspricht durchaus dem Herabsinken des Gottesgedankens unter die Sphäre des Persönlichen. Gottes Wirken ist das immanente Weltgesetz. Damit ist Gott unpersönlich gedacht, denn persönlich ^ sein heißt übermeltlich sein. Am klarsten ist das ausgesprochen in einem Aufsatz von Emerson, der bekanntlich von Carlyle abhängig ist?) Hier wird auch nicht einmal der Versuch gemacht, die Herrschaft der Gerechtigkeit geschichtlich nachzuweisen. Der Nachweis ist rein metaphysisch und hält sich genau an das Schema eines Raturprozesses. Die Gerechtigkeit setzt sich durch in mechanischen Reaktionen, wie ein physisches Ereignis eine Gegenwirkung auslöst durch die seine Wirkung kompensiert wird; so behauptet Emerson ein Sichwiederherstellen gerechter Verhältnisse. Hier ist der Ge- -^rechtigkeit jeder Zug der That abgestreift. Sie ist nichts mehr als eine naturhafte Reaktion: die Welt hält sich im Gleichgewicht. y „Ausgleichungen." (Übersetzung von Dähnert.) Zum Beweise einige Stellen: „Die Welt gleicht einem Einmaleins oder einer mathematischen Gleichung, die, wie man sie auch wendet, sich selbst im Gleichgewichte hält." (S. 18.) „Es scheint als ob überall dieser rächende und ausgleichende Umstand sich unbemerkt einstehle— jener Rückschlag, jener Rückstoß der Kanone, welcher die Bestätigung dafür ist, daß jenes Gesetz ein unvermeidliches und allgemein gütiges ist, daß in der Natur nichts geschenkt wird, sondern daß alle Dinge bezahlt werden müssen." (S. 22.) Bei der Frage, wie sich diese Theorie mit dem in der Welt vorhandenen Unrecht und Übel verträgt, zeigt Emerson einen Optimismus, der jeder Erfahrung ins Gesicht schlägt und nicht weniger gedankenlos ist, als die von ihm bekämpfte Theorie der jenseitigen Vergeltung. „Aber die Jahre werden kommen, welche die tief heilende Kraft enthüllen, die allen Vorgängen z» Grunde liegt." (S. 37.) Auch er erwartet den „Ausgleich" von der Zukunft. Die Theorie ist die Konsequenz seines Gottesgedankens. 103 Man muß also aussprechen, daß auch durch den wertvollen Beitrag Carlyles zur Geschichtsphilosophie die naturhafte Geschichtsanschauung nicht überwunden ist. Meist begründet man die Notwendigkeit, dieser Geschichtsanschauung erkenntnistheoretisch. Die Geschichte muß uns als ein rein kausaler Prozeß erscheinen und ist nur in dieser Form unserer Forschung zugänglich. Das in dieser Form uns erscheinende persönliche Leben entzieht sich unserer Wahrnehmung. Aber auch in dieser Form begründet jene Geschichtsanschauung einen unterhalb des Persönlichen bleibenden Gottesgedanken. Die Persönlichkeit Gottes bleibt etwas von uns gänzlich Geschiedenes, sobald für unser Wahrnehmen der Gang der Geschichte alles persönliche Leben verdeckt. V. Eine Geschichtsanschauung, die den Gottesgedanken beeinflußt, bleibt nicht gelehrte Theorie, sondern wirkt auf die Lebensauffassung und damit auf die Lebensgestalt. Wer die Geschichte als Entwicklung ansieht, der sieht natürlich auch den Gang der Kirche und seinen eigenen Lebenslauf als Entwicklung an. Resultate der Entwicklung sind nun aber die sachlichen Güter der Menschheit, die man mit einem Worte als die Kultur bezeichnet. Zu ihr gehört auch die Sitte und die Sprache. Wenn inan nun die Geschichte und mit ihr die Religionsgeschichte als Entwicklung ansieht, so rechnet man auch das Evangelium zum Kulturbesitz der Menschheit. Es ist Jesu Beitrag zur allgemeinen Kultur/) sowie wir anderen Völkern und Individuen andere Stücke derselben verdanken. Das Christentum pflanzt sich dann fort von Generation zu Generation und von der Gemeinschaft auf den Einzelnen wie die Sitte, die Sprache, die Kultur durch die Erziehung. Man beschreibt dann die Gabe Jesu freilich nicht mehr wie die Aufklärung als Lehre aber als Erziehung. Jesus giebt den Glauben an uns ab. Er kann auch da noch sein, wo die bewußte Beziehung auf feinen Urheber nicht mehr vorhanden ist. Er ist ein geschichtliches Erbe, wie andere Stücke unseres geistigen Besitzes. Hier wird der Glaube nicht mehr als Produkt der Geschichte, sondern als Produkt der Entwicklung gedacht. Er ist keine persönliche 0 Z. B. nach dem Religionsbegriff Ritsch ls gehört die Religion zur KMtur, da sie ja der Herrschaft des Geistes über die Natur dient. 104 Beziehung von Person zu Person, sondern ein sachliches Erbstück, eine Nachwirkung innerhalb des kausalen Zusammenhanges der Geschichte, d. h. wir stehen mit dem Glauben nicht in der Region der That, sondern der Wirkung. Christus wirkt auf uns durch das von ihm in der Kirche fortgepflanzte Bild. Die Wirkung, wird in naturhaften Wendungen beschrieben: er überwältigt uns, er thut es uns an, er zwingt uns nieder, er wird uns zu stark u. f. w. Hiermit sind naturhafte Wirkungen, denen man sich nicht zu entziehen vermag und nicht Thaten beschrieben: zwei Merkmale der That fehlen: 1. der bewußte Wille beim Thäter; 2. das bewußte Hinnehmen beim Empfänger. Erst durch diese beiden Merkmale erhebt sich die aus einer Person kommende und in eine Person dringende That über den ästhetischen Eindruck. Das Kunstwerk wirkt ohne einen bewußten Willen, und die Wirkung, drängt sich auf ohne den Willen des Beschauers. Wer die Entstehung des Glaubens und die Wirkung Jesu in diesen Formen beschreibt, denkt sie nicht als That?) Hiernach richtet sich die kirchliche Praxis, denn sie hängt stets davon ab, wie man sich die Entstehung des Glaubens denkt. „Entweder das Christentum als Sitte, oder als ziellose Aufgeregtheit" — hat Ritschl gesagt. Es ist charakteristisch, daß für ihn diese Alternative bestand. Man definiert dann die Aufgabe der Kirche als Erziehung, legt Wert auf die Schaffung christlicher Sitte, auf Institutionen und Ordnungen. Allein damit hat man nur den naturhaften Ertrag der Religionsgeschichte gefaßt, noch nicht den geistigen, persönlichen. Es ist klar, wie eng diese Praxis mit der Geschichtsanschauung zusammenhängt. Wie das Christentum geworden ist, so wird es auch heute. Wie es nicht durch Entwicklung entstanden ist, so entsteht es auch heut nicht auf diesem Wege. Der Geist wächst nicht empor aus der Natur, sondern die Natur wird geschaffen durch den Geist. Christliche Kultur und Sitte sind etwas Notwendiges, und für das Gemeinschaftsleben unentbehrlich. Aber nicht wo christliche Sitte ist, entwickelt sich aus ihr christliches Leben, sondern christliches Leben umgiebt sich mit christlicher Sitte. >) Deshalb ist dann auch der Glaube an den Erhöhten konsequent gedacht entbehrlich. Er folgt ganz einfach dann, wenn die Wirkung Jesu als That gedacht werden soll. Eine solche liegt bei historischer Nachwirkung nicht vor. 105 Nicht von selbst, allmählich, wie die Naturanlagen, wächst im Menschen auch der Glaube heran. Man stellt sich, wenn man so denkt, den Glauben als ein allmählich, aus dem übrigen geistigen Besitz sich herausbildendes Gewächs vor, vielleicht als die Krone und Blüte unseres geistigen Lebens, als die höchste Vollendung unserer Person. Aber so groß hier vom Glauben gesprochen wird, so liegt in dieser Beschreibung desselben doch ein Herabdrücken des Gottesgedankens. Wie Jesus nicht die Spitze einer allmählichen Entwicklung, die Blüte und Frucht der Menschheit, nicht ein Gemachte des Fleisches, d. h. der Menschheit, sondern ein Sohn Gottes, ein Erzeugnis des Geistes ist, nicht von unten herauf in den Himmel gewachsen, sondern von oben herunter in die Welt gezeugt — genau so steht es auch heute noch mit dem Glauben. Er entsteht nicht durch Tradition und Erziehung/) nicht aus Sitte, Bildung und Kultur, d. h. mit einem Worte, er entwickelt sich nicht aus uns selbst, auch nicht aus der Kirche und ihrer Sitte, er erbt sich nicht fort. Es giebt keine immanente Entwicklung, durch deren Kanäle man ihn sicher hin- durchleiten könnte. Er wächst nicht von unten in den Himmel hinein, er kommt von oben herab und ist ein Werk Gottes. Die ganze Geschichtsanschauung würde einen solchen Einfluß nicht gewonnen haben, wenn sie nicht durch eine in der Kirche herrschende Stimmung, die einen ganz anderen Ursprung hat, vorbereitet worden wäre. Diese hängt mit deni Mißbrauch oder Mißverständnis eines reformatorischen Gedankens zusammen. Be- — kanntlich beschreiben die Reformatoren den Zusammenhang von Glauben und Werk unter dem Bilde der Frucht, die aus dem Baum mit Notwendigkeit erwächst. Sinn und Recht dieses Bildes ist klar. Sobald man es nun aber so auffaßt, als wüchse die That ohne unser Wollen und Denken in uns und als wüchse der Glaube wie ein Naturprozeß in der Kirche, so ist die Empfänglichkeit für jene Geschichtsanschauung gegeben. In dieser Richtung nun hat jenes Bild in der Kirche häufig gewirkt und die daraus entspringende Passivität hat tief in das kirchliche Leben eingegriffen. Reischte a. a. O. S. 3ßf.: „Aber gerade bei der christlichen Erziehung stoßen wir auf einen Punkt, wo es uns zum Bewußtsein kommt, wir können persönliches Leben nicht machen, sondern nur die Borbedingungen dafür schaffen. Es muß durch persönliche That der Freiheit zur Wirklichkeit gelangen." 106 Man betont dann, daß man die Dinge sich entwickeln und reifen lassen müsse, daß man nichts machen, sondern warten müsse und sieht dieses sich Treibenlassen als Beweis geschichtlichen Sinnes an. Nun giebt es in der Geschichte und in der Kirche Naturgrößen, die sich schieben und entwickeln und von denen unsere That abhängig ist. Wir vermögen nichts zu thun, ehe nicht die " Bedingungen für die That da sind und diese lassen sich weder im einzelnen Menschen noch in der Kirche willkürlich erzeugen; aber ein wirklicher Fortschritt entsteht in uns und in der Kirche nur durch den Willen und die That, die sich freilich an das Gegebene anschließt, die es aber doch weiterführt. Von selbst durch Entwicklung, durch Abwarten geschieht in geistigen Dingen nichts. Eine gewisse Abneigung gegen die That hängt mit dem, was in uns Natur ist, untrennbar zusammen. Nicht jede Thätigkeit ist That, so wenig jedes Träumen Denken ist. Wer den natürlichen Trieb -nach Thätigkeit einfach spielen, sich auswirken läßt, der handelt noch nicht; nur wer aufhört, sich gehen zu lassen, erfährt den Ernst aber auch die Majestät der That und damit des Willens und des Geistes, der höher ist als alle Natur. VI. Der Mangel an Verständnis für die Geschichte kann sich aber in ganz entgegengesetzter Weise äußern, und zwar ruft der Fehler auf der einen Seite den entgegengesetzten Fehler hervor. Wie man die Geschichte nicht versteht, wenn man in ihr nur Natur sieht, mit den Worten der Apostel gesprochen, nur „Fleisch", so achtet man sie auch nicht, wenn man in ihr nur Geist sehen will. Es wird uns überhaupt schwer, Einheit in unsere Gedanken und in unser Leben zu bringen, indem wir verschiedene Gedanken, Kräfte und Ziele vereinigen. Es liegt uns stets nahe, die Einheit dadurch festzuhalten, daß wir das eine um des andern willen Preisgeben. Bald glauben wir die Geschichte nur so verstehen zu können, daß wir den Geist preisgebe», bald den Geist nur so festhalten zu können, daß wir die Geschichte ignorieren. Beide Verirrungen wurzeln im Grunde genommen in demselben Fehler, nämlich in der Meinung, daß Gott und Mensch, Geist und Natur sich gegenseitig ausschlössen, daß sie Gegensätze wären und nicht kausal verbundene Faktoren. Die Gefahr, über den Geist die Natur, über Gott die Geschichte zu vergessen, ist nicht weniger 107 schwer als die entgegenstehende. Sie entsteht in der Religionsgeschichte immer neu. Schon im apostolischen Zeitalter tritt sie auf. Schon die Apostel haben in der Gemeinde mit der Neigung zu kämpfen, das „Fleisch" Jesu zu ignorieren, d. h. die konkrete menschliche Geschichte Jesu zu verachten. Man sucht den Geist hinter und über dem Fleisch, außer und neben dem Menschen. Er gilt als der allein wertvolle Besitz; um seinetwillen wird die vergangene Geschichte gleichgiltig. Bekanntlich ist der Kampf der Apostel gegen diese Gefahr sehr ernst; man findet in ihr den Andruck» des Antichristentums. Damit soll gesagt sein, daß diese Nichtachtung der Geschichte nicht nur die Gefahr mit sich bringt, Gott zu ignorieren, sondern die größere, in Gegensatz zu ihm zu treten. Bei dieser Geschichtsbetrachtung oder Geschichtsverachtung stellt man die Gegenwart Gottes im Geiste in Gegensatz zu seiner Gegenwart in der Geschichte. Er bleibt außerhalb, oberhalb der Geschichte, und tritt nicht in sie hinein. In diesem Falle hat man einen Gott der in sich selbst verschlossen bleibt, und nicht durch die That aus sich heraustritt. Leugnen, daß Gott in der Geschichte zu finden ist, heißt leugnen, daß er handelt. Diese Ver- senseitigung und Verinnerlichung Gottes ist also keineswegs eine Erhöhung des Gottesgedankens. Für die israelitische und apostolische Gotteserkenntnis besteht die Majestät Gottes vielmehr in der Spannweite seines Lebens, darin, daß er zugleich transcendent und immanent ist, jenseitig und in der Geschichte wirksam. „Die großen Thaten Gottes" geschehen für die Apostel in der Geschichte und sind nichts Jenseitiges. Darum liegt in der Abwendung von der Geschichte eine Abwendung von Gott, in der Verachtung der Geschickte eine Verachtung Gottes. Das Bekenntnis zur Gegen^ wart des Geistes Gottes in der Welt spricht aus, daß er in Menschen und in der Geschichte waltet und zwar in der Geschichte mit all ihren Abnormitäten, in der Kirche mit all ihren Mangeln, in den Menschen mit all ihrer Sünde. Die Meinung, daß die Zuwendung zu Gott eine Abwendung von der Geschichte in sich schließe, ist eine in der Kirchen- und überhaupt Religionsgeschichte regelmäßig wiederkehrende Erscheinung, da sie im Gottesgedanken ihre Wurzel hat. Diese Verirrung liegt nicht erst da vor, wo man Gott völlig verjenseitigt und verinnerlicht. Das gleiche religiöse Motiv ist wirksam, wenn man ihn nur auf den Höhepunkten der Geschichte sucht. Schon dann liegt die Neigung vor, 108 den Gottesgedanken durch eine möglichste Fernhaltung vom konkreten, reellen, nüchternen Verlauf der Geschichte rein zu halten, die Heiligkeit Gottes sich als Vornehmheit zu denken, Gott nicht im Menschlichen, sondern im Übermenschlichen zu suchen und den Machtgedanken als das Hauptmoment des Gottesgedankens hervorzuheben. Da uns nun die Geschichte und zwar auch die Religions- gcschichte nicht nur Größe, sondern überwiegend Schwäche, nicht nur Aktivität, sondern Passivität, nicht nur That, sondern auch Leid, nicht nur Seligkeit, sondern auch Unseligkeit, nicht nur Gutes, sondern auch Böses zeigt, so liegt die Meinung sehr nahe, den Gottesgedanken nur dadurch rein halten zu können, daß man ihn möglichst von der Geschichte scheidet. Wenn nun der Gottesgedanke ganz oder halb aus der Geschichtsanschauung verdrängt wird, so hat man keinen handelnden Gott, und indem Gott wegen der Abnormitäten des Geschichtsverlaufs von demselben geschieden wird, wird seine Liebe geleugnet. Damit wird aber auch alle Philosophie der Geschichte zur ^ Unmöglichkeit, denn das Verständnis des Kleinen, der „Vielen" der Defekte, der Abnormitäten, d. h. der überwiegenden Masse der im Geschichtslaufe uns entgegentretenden Beobachtungen und Erfahrungen wird zur Unmöglichkeit. Der ganze Geschichtslauf " erscheint dann nur noch als Verhüllung Gottes. Soll ein Verständnis der Geschichte möglich sein, so muß auch das Kleine, das Schwache und das Sündige der Gotteserkenntnis dienen; nicht nur die Großen, sondern auch die Kleinen und die Massen, nicht nur That, sondern auch Leid, nicht nur Gutes, sondern auch Böses muß der Offenbarung Gottes dienen. Eine Gotteserkenntnis, die dies nicht leistet, treibt stets zur Sagenbildung, d. h. zur legendarischen Idealisierung des reellen und nüchternen Geschichtsverlaufes. Nur wo Gott als in die Geschichte eintretend als handelnd, gebend, helfend, verzeihend, d. h. als liebend erkannt wird, da wird die wirkliche Geschichte nicht zur Verhüllung Gottes, und darum liegt die Gefahr, den Gottesgedanken durch Abwendung von der Geschichte sichern zu wollen, nicht vor. Vielmehr vermag für einen derartigen Gottesgedanken der gesamte Geschichtslauf der Offenbarung Gottes zu dienen. Die Geschichte gewinnt dadurch die Bedeutung der erweiterten verallgemeinerten Erfahrung. Sie bietet uns die Beobachtungsreihe dar, durch welche unsre Gotteserkenntnis sich erprobt, indem sie uns zeigt, wie sich unter allen denkbaren Bedingungen Gott offenbart. 109 Eine Offenbarung Gottes ist freilich nicht der äußere Verlauf der Geschichte. Nur die Gestalt, die das Gottesbewußtsein durch den Gang der Geschichte erhält, nur dieser Ertrag der Geschichte darf als Offenbarung Gottes aufgefaßt werden. Das Gottesbewußtsein ist in seiner Färbung und Gestalt durch den Gang der Geschichte bestimmt. Darum zeigt uns die Geschichte die Gestalt, die unter verschiedenen Bedingungen der Gottesgeoanke annimmt. Dies gilt freilich nicht vom Gottesbewußtsein des Einzelnen. Allein die Religionsgeschichte im Ganzen zeigt uns, in welcher Weise der Geschichtslauf den Gottesgedanken gestaltet. Nun erzeugt die Religionsgeschichte beständig parallele Bildungen; unter " gleichen Bedingungen gewinnt die Frömmigkeit immer wieder die gleiche Gestalt?) Darum sind hier allgemeingiltige Regeln möglich, und das die Geschichte beherrschende Gesetz regiert auch das ein- l zelne Menschenleben. Die Religionsgeschichte bildet Typen. Es ist deutlich, daß man bei diesem Gedankengang unterscheiden muß zwischen einer Offenbarung Gottes an einem Menschen, d. h. einer solchen, die sich ohne dessen bewußte Mitwirkung an ihm vollzieht, und einer Offenbarung Gottes durch einen 'Menschen, in der der Mensch mit Bewußtsein und Willen zum Zeugen und Bekenner Gottes wird?) Nur diese letztere Geschichte ist Offenbarung im eigentlichen positiven Sinne. Ihr Ertrag ist eine bewußte und ausgesprochene, positive Erkenntnis Gottes, während im ersteren Falle der Inhalt des Gottesbewußtseins nicht Gotteserkenntnis ist. Sobald der Mensch mit seinem bewußten Willen, durch seine That, und sein Bekenntnis Zeuge Gottes ist, so ist er nicht nur ein passives Mittel, an dem sich Gott offenbart, nicht nur ein Phänomen, das einen Schluß auf Gott gestattet wie die Natur, sondern aktiver und persönlicher Zeuge Gottes, der Gotteserkenntnis giebt, und das wird jeder Mensch in seinem gesamten Thun und Leben, durch die Art, wie er handelt, leidet, und sündigt. Bekannte Schuld, überwundene Sünde, getragenes Leid, diese Stücke sind die mächtigsten Offenbarnngen Gottes. Wer ihn hier nicht 9 Besonders die Formationen der synagogalen Frömmigkeit sind typisch. y Ich benutze diese Unterscheidung von Fr. Bänder, weil sie zur Abgrenzung der Rctigionsgeschichte von der Offenbarungsgeschichte brauchbar ist. 110 sieht, der sieht ihn nie. Hierdurch werden gerade die Kleinen, die Schwachen, und die Sünder, das Übel in der Welt, das für jede atheistische Geschichtsphilosophie eine unüberwindliche Schwierigkeit bildet, zur Manifestation Gottes. Hiermit ist denn auch erklärt, warum die Abwendung von der Geschichte um ihrer Abnormitäten willen eine Abwendung von Gott in sich schließt. Sobald man die Geschichte ohne den Gottesgedanken betrachtet, bleiben ihre Tiefpunkte unverstanden und es läßt sich schwer ein anderer Gebrauch derselben denken, als der, dem etwa Nietzsche Ausdruck giebt?) Eine Verwertung der Geschichte für das Leben, die sich nur auf das Klassische und Seltene gründet, hat auch nur selten Wert, kann keine gleichmäßige und dauernde allen Situationen gewachsene Lebenshaltung begründen, sondern führt zu dem haltlosen Schwanken zwischen einem künstlich gesteigerten Selbstbewußtsein und einer sehr verständlichen Reaktion, die sich in der Abhandlung von Nietzsche selbst ausspricht?) Ein Schwanken zwischen gesteigertem und zerstörten Selbstbewußtsein ist die ganz korrekte Folge einer nur auf die großen Männer gerichteten Geschichtsphilosophie. Die Geschichte muß von Gott aus verstanden werden, wenn sie eine gleichmäßige Lebenshaltung erzeugen soll, d. h. sie muß als Glaubensmotiv wirken. Sie erzeugt und erhält den Gottesgedanken in der Form des Glaubensaktes. Dann wirken die beiden Beobachtungsreihen, die sie uns darbietet, einträchtig zusammen. Sie bietet das negative und positive Glaubensmotiv, wenn sie vom Gottesgedanken aus verstanden wird. VII. Die Regel, daß das Gottesbild uns bestimmt und gestaltet, läßt sich auch da beobachten, wo dasselbe durch die Abwendung „Wodurch also nützt dem Gegenwärtigen die monmnentalische Betrachtung der Vergangenheit, die Beschäftigung mit dem Klassischen und Seltenen früherer Zeiten? Er entnimmt daraus, daß das Große, das einmal da war, jedenfalls einmal möglich war und deshalb auch wohl wieder einmal möglich sein wird; er geht mutiger seinen Gang, denn jetzt ist der Zweifel, der ihn in schwächeren Stunden anfällt, ob er nicht vielleicht das Unmögliche wolle, aus dem Felde geschlagen." '0 „Ich weiß keinen besseren Lebenszweck als am Großen und Unmöglichen zu Grunde zu gehen" (S. 93). „Gerade diese Abhandlung zeigt, wie ich mir nicht verbergen will, in der Unmäßigkeit ihrer Kritik, in der Unreife ihrer Menschlichkeit, in dem häufigen Übergang von Ironie zum Cynismus, 111 von der Geschichte sein Gepräge erhält. Ein Gott, der nicht in der Geschichte handelt, treibt auch nicht zur That. Von Geschichte eines Einzelnen kann man nur in abgeleitetem Sinne reden. Das Subjekt der Geschichte ist stets eine Gemeinschaft. Geschichte kommt zustande durch die Wechselwirkung vieler. Das Naturleben bleibt dadurch unter dem menschlichen Leben zurück, daß es keine Geschichte hat. Das Tierreich hat eine Entwicklung, aber keine Geschichte; das ist das Vorrecht der Menschen. Bedingungen der Geschichte sind die Sprache und die That. Durch beide stiften wir Gemeinschaft. Aber gerade deshalb, weil die Geschichte nicht zur Natur gehört, ist sie nicht von selbst, von Natur da. Geschichte ist sür eine Gemeinschaft so wenig etwas Selbstverständliches als Persönlichkeit für ein Individuum. Wie der Mensch auf Persönlichkeit angelegt ist, aber nicht von Natur, sondern nur durch eigene That zur Persönlichkeit wird, so ist auch nicht jedes Nebeneinanderleben der Einzelnen schon Geschichte. Es giebt geschichtslose Völker und Gemeinschaften. Geschichte entsteht dann, wenn aus dem Nebeneinander der Einzelnen eine Gemeinschaft und wenn aus dem Nacheinander der Generationen eine Tradition wird. Wo aus dem Nebeneinander ein Mit- und Füreinander, aus dem Nacheinander ein Ineinander, ein kausaler Zusammenhang wird, nicht nur mechanische Addition, sondern Eingliederung — da ist Geschichte. Der Zusammenhang, der das Leben zur Geschichte macht, das Ineinandergreifen der Lebensläufe, durch das sie zu einer Einheit werden, ist nur da vorhanden, wo es ein wechselseitiges Geben und Nehmen, ein Helfen und Dienen giebt. Dies geschieht durch das Heraustreten aus dem eigenen Innern in das Leben eines andern durch Wort und That. Wort, That, Liebe, Gemeinschaft, Geschichte, diese Stücke gehören zusammen. Gemeinschaft entsteht auch nicht durch gemeinsame Teilnahme an sachlichen Gütern, sondern nur durch eine die Person des andern suchende und bildende That in dem zu Anfang erläuterten Sinne. Der Zusammenschluß der Menschen zu einer Gemeinschaft istl Thema und Ziel der Geschichte. Die Einzelnen sür sich sind fürA die geschichtliche Bewegung nur das Material. Die Individuen erzeugt der Naturlauf, der Zusammenschluß zur Gemeinschaft ist Aufgabe der Geschichte. Durch die Teilnahme an der Gemeinschaft vom Stolz zur Skepsis ihren modernen Charakter, den Charakter der schwachen Persönlichkeit" sS. ISO). 112 allein können die vielen Einzelnen zur persönlichen Bedeutung kommen, die Geschichte macht aus der Masse von Individuen einen Organismus von Gliedern. Durch die Gemeinschaft kann das Wirken jedes Einzelnen zur Höhe der That emporgehoben werden. Ist die Masse zur Gemeinschaft geworden, so darf man nicht mehr sagen, daß ihre Bewegungen naturhafte Prozesse sind. Bei einer organisierten Gemeinschaft darf man von einem Willen reden: sie ist zur That befähigt, sie entwickelt sich nicht nur, sie handelt. Dies gilt schon vom Staat?) Die Bewegungen der Staaten sind nicht nur Prozesse wie die wirtschaftlichen Entwicklungen, sondern Thaten. So soll auch die Kirche eine Gemeinschaft stiften, welche sich nicht nur entwickelt, sondern handelt. Wo nun das Verständnis für Geschichte fehlt, weil man in ihr nicht Gottes Walten erkennt, da unterbleibt mit Notwendigkeit die Gemeinschaft stiftende, Geschichte machende That. Sobald man sich das Wirken Gottes rein innerlich vorstellt und von der Verflechtung mit der Geschichte fern hält, bestimmt man der Kirche und dem Einzelnen die Lebensaufgabe ähnlich. Der Weltlauf erscheint dann nur als eine Gefahr, der die Seele entrissen werden muß, die Geschichte nur als Menschenwerk, die Gleichgiltigkeit gegen sie als Christenpflicht, die Errettung möglichst vieler einzelner Seelen durch diese Welt hindurch erscheint als der ganze Zweck der Kirche und das selige Sterben als die einzige Lebensaufgabe. Wie nahe diese Lebensauffassung mit einem Verzicht auf Geschichtsphilosophie zusammenhängt, das zeigt die Kritik der Geschichtsphilosophie bei Lotze. Die Skepsis gegen alle Geschichtsphilosophie sührt ihn unmittelbar zum Verzicht auf ein bleibendes Lebenswerk?) Freilich läßt Lotze die Möglichkeit offen, daß unsere 1) Vgl. Treitschke, Politik l, S. 25 sf. S. 28: „Um zu betonen, daß der Staat sich natürlich entwickelt, als eine naturgemäße Bethätigung des Volkswillens, sprach man von dem Naturorganismus des Staates. Vor allem aber trifft der Ausdruck gar nicht das Wesen des Staates. Es giebt unzählige Organismen, die keinen bewußten Willen haben; der Wille aber ist das Wesen des Staates. Die Rede von der organischen Entwicklung des Staates hat darum oft genug als ein Lotterbett der Trägheit gedient; alle, welche nicht wollten, begnügten sich mit der Phrase: das muß sich alles organisch entwickeln. Man soll den Willen, die köstlichste Kraft aus dem Leben des Staates nicht streichen." 2) „Es liegt ein verkehrter Hochmut unserer menschlichen Begehrlichkeit darin, zum Handeln erst Lust zu tragen und es erst dann zu schätzen, wenn Lebensarbeit irgend ein bleibendes Resultat erzeugt, da er aber jede Gewißheit darüber bestreitet, kann dieser Gedanke nicht praktischen Einfluß gewinnen. Lotze selbst ist ein Beweis dafür, daß sich diese Lebensauffassung keineswegs bloß in den sogenannten pietistischen Kreisen findet, vielmehr ist diese Resignation eine weitverbreitete Stimmung, die der Niederschlag eines beschränkten Gottesbewußtseins ist. Diese Frömmigkeit aber hat bedenkliche Folgen; man verbaut sich durch sie das Verständnis für den gesamten Inhalt der Geschichte, mit Ausnahme der Pastoralen und missionierenden Thätigkeit. Daraus folgt dann, daß man für den Christen als Lebensaufgabe keine andere Thätigkeit zu schätzen weiß, als die Pastorale oder eine der Pastoralen möglichst analoge. Damit aber ist das biblische Gemeindebild weitaus nicht verwirklicht. Denn das Bild vom Leibe, dem jedes einzelne Glied unentbehrlich ist, weist absichtlich nicht allen Gliedern dieselbe, sondern umgekehrt jedem eine eigentümliche Aufgabe zu. Durch die Zugehörigkeit zur Gemeinde wird eine Thätigkeit in ihr und für sie in Anspruch genommen. Mit der dargestellten Geschichtsauffassung hängt es zusammen, daß man sich unter dieser Thätigkeit nur eine Pastorale vorstellen kann. Diese Frömmigkeit kann aber nur Konventikel bilden. Eine Kirche muß alle Anliegen aller ihrer Glieder verstehen und heiligen können; sonst findet die Majorität der Menschen für die Aufgaben Fragen, Schwierigkeiten und Nöte des thätigen Lebens keilte Weisung. Der That wird kein bleibendes und wertvolles Ziel gesteckt. Die Interessen, die das ganze Leben weiter Kreise erfüllen, finden kein Verständnis. Ein von Gott gelöstes Handeln ist aber eine noch größere Gefahr als ein von Gott emanzipiertes Denken. Die Abwendung von der Kirche liegt nicht nur an der Loslösung des Denkens, sondern ebenso sehr an der Trennung der Thätigkeit von ihrer Begründung durch Gott. Dies ist die kirchliche Gefahr, die uns verbürgt ist, daß die Ergebnisse unserer Thätigkeit in der Geschichte des Wcltganzen ihre bleibende Stelle und ihren unvergänglichen Wert behaupten werden. Schätzen wir demütiger das, was wir hier leisten, nicht höher als zu dem Wert eines Übungsbcispiels, so können wir mit allem Ernste der Vorbereitung zu einem hohen Ziele zugleich die ruhige Entsagung verbinden, die es sich gefallen läßt, daß unsere Versuche hier ohne Fortschritt und bleibende Folgen sind. In demselben Maße, in welchem wir dann das unmittelbare Verhältnis jedes einzelnen Gemütes zu der übersinnlichen Welt höher schätzen, würde der Zusammenhang der Geschichte der Menschheit in seinem Werte sinken" (Mikrokosmos I!I, 48). Lütgert, Geschichtl. Sinn rc. 8 114 jener Geschichtsanschauung entspringt. Der klare Zusammenhang zwischen Berufsarbeit und Christenleben wird nicht gefunden. Das erstere erscheint nicht nur als eine Schwierigkeit und Gefahr — es wird anch zu einer solchen. Durch die Bekehrung wird die Thätigkeit entweder zu einer Pastoralen oder sie wird durch dieselbe gar nicht berührt. Beide Strömungen laufen im einzelnen Leben und in der Kirche nebeneinander her und die eine stört und und gefährdet die andere. Auch die hier besprochene Geschichtsauffassung und kirchliche Praxis könnte nicht Fuß fassen, wenn sie nicht angebahnt und vorbereitet wäre. Die Neigung die „Religion" als ein Gebiet für sich vom gesamten übrigen Leben abzuschneiden, stammt aus der Aufklärung. Sie ist den Pietisten und den Aufklärern gemeinsam. Gott wird als Gott der Kirche und nicht als Gott der Welt angesehen. Die Wirkung Gottes in der Welt ist die Religion, das christliche Bewußtsein und nicht mehr die Leitung des ganzen Geschichtslaufes. Die Spaltung des Lebens in ein religiöses und ein weltliches, die unter sich in keinem klaren Zusammenhange stehen, sondern sich nur stören, ist eine Schädigung des kirchlichen Lebens nicht weniger als des weltlichen. Die notwendige Emancipation des Staates von der Kirche wird zu einer principiellen Scheidung desselben von Gott. Dies ist selbstverständlich, wo jeder Gottesgedanke fehlt, aber wo der Gottesgedanke festgehalten wird, da wird in ganz undurchführbarer Weise Gott zugleich bejaht und verneint, wenn er als Gott der Kirche und der Religion, aber nicht als Gott der Welt und des ganzen Lebenslaufes angesehen wird. Das ist ein Widerspruch in sich. Dem Gottesgedanken gegenüber ist nur eine ganze Bejahung oder eine ganze Verneinung möglich. Durch die reformatorische Unterscheidung von Staat und Kirche ist die Trennung derselben in der Aufklärung nur scheinbar vorbereitet. Für Luther beruht diese Scheidung gerade darauf, daß beide Schöpfungen Gottes sind. Darum steht die Kirche nicht über dem Staat, sondern in beiden regiert der Wille Gottes. Seit Pufendorff) aber spricht man von der Weltlichkeit des Staates und >) Vgl. Trcitschke, Historische und politische Aufsätze IV, 303: „Er zuerst hat uns das Recht erobert, weltlich frei zu denken über die weltliche Natur des Staates." Indem Pufendorf die notwendige Scheidung des Staates von der Kirche, der Staatslehre von der Theologie vollzog, hat er 115 der Gesellschaft in einem Sinne, der die Kehrseite der pietistischen Weltflüchtigkeit zeigt. Die „Religion" hat ihr eigenes Gebiet geschieden von allen übrigen Funktionen des menschlichen Geistes, die unberührt davon ihrem eigenen Gesetze folgen. Die Politik wird zu einem „weltlichen" Geschäft. Das führt zu einer sehr schwankenden Anwendung des moralischen Kanons auf die Politik. Auf der einen Seite wird sie als weltliches Geschäft gemieden und auf der anderen als ein solches getrieben. Es ist selbstverständlich, daß man den moralischen Kanon nicht mechanisch vom einzelnen auf den Staat übertragen kann. Die Aufgaben der Politik lassen sich nicht aus den Aufgaben, die dem einzelnen gesteckt sind, ableiten. Allein wenn es auf diesem Gebiete andere ethische Gebote giebt, so giebt es doch solche. Wo der Gottesgedanke anerkannt wird, wird dies niemals ganz verneint. Allein es herrscht hier eine spürbare Unsicherheit die auf der einen Seite zu bornierten, auf der - anderen zu brutalen Urteilen führt. Die Verhandlungen über das Verhältnis von Politik und Moral sind deshalb meistens resul- tatlos?) Man begnügt sich meistens mit negativen Bestimmungen. Es wird, oft recht principlos, eine Grenze festgestellt, die nicht überschritten werden dürfe. Nun verhält sich's aber mit dem ethischen Maßstab wie mit dem Gottesgedanken: er hat kategorische, absolute Bedeutung. Wird er angewandt, so muß er ganz angewandt werden. Eine halbe, gelegentliche oder nur beschränkende Anwendung vertrügt er nicht. Gerade diese führt zu unlösbaren Schwierigkeiten. Darum darf der moralische Maßstab nicht nur negativ, sondern er muß positiv angewandt werden. Dem politischen und öffentlichen Handeln müssen positive Ziele gesteckt keineswegs die Absicht gehabt, Politik und Moral zu scheiden vgl. a. a. O. 253 sf. 278 sf. Trotzdem ist dies in weiten Kreisen der Erfolg dieser Unterscheidung geworden. Die Trennung von Staat und Kirche führte zum principiellen Ignorieren des Gottesgedankens und damit des moralischen Kanons in der Politik. >) Vgl. Trcitschke, Politik I, S. S4 sf. Auch Treitschke hat formale und negative Formeln. Vgl. S. 103: „Also ist die Erhaltung der Macht schlechthin eine unvergleichlich hohe sittliche Ausgabe für den Staat. Verfolgen wir aber die Konsequenzen dieser Wahrheit, so ist klar, daß der Staat sich nur sittliche Zwecke setzen darf, sonst würde er sich selbst widersprechen." Aus den dann folgenden Beispielen wird aber keine klare Formel über diese sittlichen Zwecke gewonnen. Auch über das Verhältnis des Einzelnen zum Staat wird keine klare d. h. praktisch brauchbare Regel gegeben. 8 * 116 werden, aus denen sich nicht nur ergiebt, was in der Politik erlaubt ist oder nicht, sondern was Pflicht ist und was Sünde. Wenn man sich freilich die Herrschaft Gottes nicht nur über die Kirche, sondern auch über die Welt nur als Vermischung von Staat und Kirche denken könnte, so wäre diese Aufgabe unlösbar. Aber gerade die Unterscheidung von Staat und Kirche und die Wertung des Staates stellt die Aufgabe, den ethischen Maßstab auf den Staat anzuwenden. Freilich liegt hier die Schuld auf beiden Seiten. Aufklärer und Pietisten gehen Hand in Hand. Die Schwierigkeit wird natürlich auch nicht dadurch beseitigt, daß man zur Vermischung von Staat und Kirche zurückkehrt. Dasselbe noch ungelöste Problem und dieselbe Schwierigkeit kehrt im Erwerbsleben und in der Ästhetik wieder. Auf beiden Gebieten ist die Durchführung des ethischen Maßstabes, da sie schwierig und kompliciert ist, unsicher geworden. Auch hier liegt der Fehler dann vor, wenn man anstatt des positiven Zweckes beider Gebiete nur das Erlaubte feststellt. Dann bleibt natürlich nichts übrig als auf der einen Seite der Versuch dieses möglichst weit auszudehnen, auf der anderen das Interesse, es einzuschränken. Damit werden diese im Gemeinschaftsleben so wichtigen Gebiete zu Gefahren. Am wichtigsten ist das im Erwerbsleben, aber es soll hier einmal auf das Gebiet der Ästhetik aufmerksam gemacht werden. Natürlich sind Ethik und Ästhetik verschiedene Sphären. Allein gerade deshalb sollen sich beide ergänzen. In Wirklichkeit aber kreuzen sich in unserm öffentlichen Bewußtsein der ethische und der ästhetische Maßstab beständig. Die Durchführung des einen, hindert beständig die Durchführung des andern. Allgemein anerkannte Urteile lassen sich hier natürlich nicht erreichen. Aber davon ist auch nicht die Rede, aber darum handelt es sich, daß hier die Principlosigkeit zum Princip geworden ist. Meist begnügt man sich mit der Verurteilung der gröbsten Verstöße gegen das sittliche Gefühl. Das ist aber weiter nichts, als eine Übertragung des ethisch verwerflichen Kanons der läßlichen Sünden auf das ästhetische Gebiet. Es kommt dann nur darauf an, wie weit der Einzelne die Grenze des Erlaubten ausdehnt, und damit ist die Kollision zwischen ethischem und ästhetischem Gesetz gegeben. Der Fehler liegt auch hier darin, daß man den ethischen Maßstab zu spät, stmd nur negativ anwendet. Die aus unserer klassischen Litteratur- Periode stammende Tradition lehnt jeden ethischen Maßstab für die Kunst ab. Das hängt mit der Ablehnung des Zweckes in der Kunst zusammen. Dieser entspricht der Ablehnung des Zweckgedankens in der Natur und hat seinen historischen Anlaß in der kleinlichen Verwertung des Zweckgedankens in der Aufklärung. Der Zweck in der Natur ist ihre Nützlichkeit, und der Zweck in der Kunst die angehängte Moral. Diese dürftige Anwendung des Zweckgedankens darf aber nicht zu seiner Unterdrückung führen. Damit entwertet man die Kunst, man drückt sie aus der Sphäre der That herunter in die Region des naturhaften Triebes, der sich ziellos und zwecklos auswirkt. Diese Isolierung der Kunst, diese Scheidung von Ästhetik und Ethik, entspricht der Abwendung der Pietisten von derselben. Sie ist aber eine der Folgen der Verjenseitigung des Gottesgedankens, der Scheidung desselben von aller menschlichen Thätigkeit mit Ausnahme der religiösen Funktionen. Ethik und Ästhetik lasten sich nur durch den Gottesgedanken vereinigen. Nicht nur die ästhetischen Theorien, sondern der Zweck, den sich die Kunst selbst setzt, spiegelt nämlich beständig den leitenden Gottesgedanken wieder. Mag die Kunst sich mit der Natur oder mit der Geschichte beschäftigen, sie stellt ein Naturverständnis, einen Naturgenuß und eine Geschichtsauffassung dar, hinter der sich der leitende Gottesgedanke, die Religion des Künstlers leicht erkennen läßt. Die Kunstgeschichte und die Geschichte der Ästhetik steht in beständigem Zusammenhange mit der Religionsgeschichte. Dies Verhältnis beweist, daß eine principielle Scheidung des Gottesgedankens auch von diesem Gebiete eine Unmöglichkeit ist. VIII. Geschichtlicher Sinn ist endlich deshalb Bedingung der Kirch- lichkeit, weil die Gegenwart das Produkt der Geschichte ist. Die rationalistische Nichtachtung der Geschichte ist längst überwunden. Nur in der Kirche taucht sie gelegentlich auf in der Behauptung, daß alle Menschen gleich seien, mit gleichen Bedürfnissen, Aufgaben, Sünden und Sorgen. Daraus folgt eine methodistische Praxis, die schematiche Anwendung einer allgemeingiltigen Methode in der kirchlichen Praxis. Allein die hinter uns liegende Geschichte gestaltet uns bis in unser innerstes Leben hinein. Sie schafft neue Aufgaben und neue Probleme, und da sie von Gott geleitet ist, 118 so bereichert sie auch unsere religiöse Erfahrung. Wer Gottes Walten in der Geschichte leugnet und alle Geschichte für Menschenwerk hält, der halt auch alle neuen Resultate und Probleme der Geschichte religiös für bedeutungslos, und diese Nichtachtung der Geschichte hemmt die Erkenntnis der kirchlichen Aufgaben. Glaubt man an Gottes Walten in der Geschichte, so glaubt man auch an einen Ertrag der Geschichte, an eine immer fortschreitende Erfahrung der Kirche, die nicht einfach ignoriert werden darf. Da Gott oberhalb des Geschichtslaufes steht und au die Zeitfolge nicht gebunden ist, so postuliert man häufig die Unabhängigkeit der Frömmigkeit von der Geschichte, während die Geschichte doch unseren gesamten geistigen Besitz gestaltet. Dazu kommt, daß in der Kirche ein konstanter Faktor bleibt dadurch, daß in ihr die Bibel als Offenbarung gilt. Darum treten in der Kirche Gedanken und Bewegungen auf, die nicht in der Vergangenheit wurzeln, sondern direkt durch biblische Gedanken angeregt sind. Luthers Glaube war nicht direkt vorbereitet. Gleichwohl giebt es auch in der Kirche eine Religionsgeschichte. Und dies gilt, obgleich wir unsere Frömmigkeit nicht producieren, sondern empfangen. Trotzdem ist sie durch den Geschichtsgang bedingt. Das Empfangen hängt ab vom Begehren, vom Bitten. Das Begehren aber hängt vom Bedürfen und vom Verstehen ab. Das Bedürfnis hat zwei Bedingungen: den Mangel und die Aufgabe. Unser Lebensinhalt und unser Lebensziel ist aber ein Produkt der Gemeinschaft und der Geschichte. Ebenso steht es mit unserem - Verständnis. In dem, was wir erstreben und verstehen, und in den Zielen, die uns gesteckt sind, sind wir abhängig von der Geschichte. Die geschichtliche Situation bestimmt, was uns notwendig, was uns begehrenswert und was uns verständlich ist. Davon hängt der Lauf der Religionsgeschichte ab. Die Frömmigkeit wechselt deshalb. Nicht zu allen Zeiten ist alles möglich. In den verschiedenen Perioden der Kirchengeschichte treten wechselnd verschiedene biblische Gedanken in den Vordergrund des Interesses. Und zwar herrscht in dieser Beziehung nicht bloß Wechsel, Veränderung, sondern Geschichte, d. h. kausaler Zusammenhang. Die neuen Bedürfnisse, Aufgaben und Gedanken werden durch die alten hervorgerufen. Von dieser geschichtlichen Basis lösen wir uns nicht. Auch der aus Gott gerichtete Wille empfängt Motiv und Ziel aus der 119 Situation. Auch bei der Wendung nach oben bleibt er an seinem geschichtlichen Ort stehen. Die nationalen, socialen und kulturellen Verschiedenheiten die das Ergebnis der Geschichte sind, haben auch für die kirchliche Wirksamkeit ihre Bedeutung. — Auch die Frömmigkeit ist nicht nur individuell sondern national bedingt. Jeder Methodismus, der diese geschichtliche Gestaltung der Frömmigkeit ignoriert, führt nicht zur Kirchen,- sondern zur Sektenbildung. Mit dieser doppelten Stellung zur Geschichte ist nun eine eigentümliche Schwierigkeit gegeben. Gewöhnlich versteht man unter historischem Sinn das pietätvolle Verständnis für das Gewordene sowie es nun einmal ist : das Hängen an der lieben Gewohnheit, die Erhaltung des rein Thatsächlichen. Diese Gesinnung hat oft genug religiöse Motive. Sie kann indessen auch ein Hindernis in der Kirche bilden. Wenn sie nämlich nicht unterscheidet zwischen dem, was Gottes Werk und dem, was Menschenwerk ist. Die beiden Abwege, die uns vom rechten Verständnis der Geschichte abführen können, sind durch die Stellung des Evangeliums zur Geschichte in gleicher Weise verschlossen. Die Geschichte ist von Gottes Thaten durchleuchtet, aber sie ist nicht nur Gottes Werk, sondern auch Menschenwerk und zwar sind dies nicht nur zwei verschiedene Betrachtungsweisen, die jede für sich, ganz und allein durchgeführt werden müßten, so daß die Geschichte einerseits ganz Gottes Werk, andererseits ganz Menschenmerk wäre. Bei dieser Anschauung kommt weder Gott noch Mensch zu seinem Recht. Wir könnten dann Gott in der Geschichte nur erkennen, indem uns die Menschen verschwinden, und sobald wir die Menschen beachteten, würden sie uns Gott nur verhüllen. Die ganze Geschichte verliert dadurch auch ihren Ernst, sie wird zur Erscheinung. Dem Menschen wird der Rang eines Mitwirkens Gottes, eines wirklichen Thäters, der auf Grund des Empfangenen sein eigenes Werk schafft, genommen. Geschichte kommt zustande durch eine Wechselwirkung zwischen Gott und Mensch, Gott und Menschen sind Koefficienten der Geschichte, darum hat der Fortgang der Geschichte stets ein doppeltes Ergebnis. Die Geschichte erzeugt bleibende Resultate, die aufbewahrt werden und unsern Besitz bilden. Andererseits wird ein Teil der Geschichte beständig aufgehoben, ungiltig gemacht. Die Geschichte zeigt deshalb nicht nur Gemeinschaft, sondern auch Gegensatz und Streit, nicht nur Erhaltung, sondern auch Verneinung und Vernichtung. Auch die positive 120 bleibende Frucht der Geschichte wird niemals nur erhalten. Die Geschichte ist keine Addition. Das Neue wird dem Alten nicht mechanisch hinzugefügt, sondern ihm eingegliedert und deshalb mit ihm verschmolzen. Darum erzeugt die Geschichte auch Probleme und Aufgaben. Deshalb ist nun auch unsere Stellung zur Geschichte eine doppelte, einerseits sollen wir uns an die Geschichte anschließen, andererseits sollen wir von ihr frei werden, diese Stellung läßt sich mit den Worten beschreiben: nicht los von der Geschichte, aber frei von ihr. Eine völlige Gebundenheit an die Geschichte giebt es nur in der römischen Kirche, durch die Reformatoren ist uns die Freiheit von der Geschichte zur Pflicht gemacht, denn die Reformation bedeute! einen Bruch mit der Tradition, d. h. mit der Geschichte. Wenn uns also die Fortführung konfessioneller Gegensätze im Namen des geschichtlichen Sinnes geboten wird, so dürfen wir uns auf das Wort des Apostels berufen, daß die christliche Gemeinde nicht irgend einem Menschen gehört, sondern Christi ist. Der Fortgang der Geschichte seit der Reformation hat Aufgaben geschaffen, die die Aufrechterhaltung des konfessionellen Gegensatzes zwischen den Resormationskirchen verbieten. Wir lassen uns nicht verwehren, auch von der reformierten Kirche zu lernen. Die Freiheit von den Menschen, die uns durch Christi Willen gegeben ist, besteht aber nicht darin, daß wir ihren Dienst verschmähen und den Ertrag ihrer Arbeit beiseite liegen lassen. Ein ebenso thörichter Mißbrauch wird häufig mit der Erkenntnis der nationalen Eigentümlichkeit unserer Frömmigkeit getrieben, das Gerede von einer deutschen National-Religion, oder gar von einem deutschen Gotte verleugnet einen Hauptgewinn des Evangeliums und damit das über den Völkern liegende Ziel der Weltgeschichte. Denn das Ziel der Geschichte kann nur eine Gemeinschaft sein. National-Christentum ist Heidentum. Nach dem messianischen Bewußtsein Jesu entspricht dem einen Hirten die eine Herde. Und nach dem Worte des Apostels ist die Beseitigung der nationalen Schranken eine Frucht der Kirche. „Hier ist nicht Jude noch Grieche." Die doppelte Aufgabe, die hiermit beschrieben ist, ist schwierig. Diese Schwierigkeit aber ist keine zufällige und vereinzelte. Sie hängt mit der Glaubensschwierigkeit zusammen. Der Glaubensakt bindet zugleich an die Gemeinschaft, an Menschen und macht von 121 ihnen frei. Eine falsche Abhängigkeit hört auf und eine wahre Gemeinschaft beginnt. Das Verlangen nach Freiheit von dem Druck der Tradition und der Last der Geschichte, von dem Zwang der Kultur und Sitte, der die originale Regung erstickt und die selbständige Ausbildung der Persönlichkeit hemmt, ist von Christus anerkannt und geheiligt: durch den Glauben werden wir zugleich gebunden und frei.') Diese Bindung und Lösung vollzieht sich in jedem Menschenleben in den einfachsten Verhältnissen. Die Befreiung von der Welt ist Befreiung von der Macht der Sitte und Gewohnheit, von dem, was immer und überall gilt und von dem, was jedermann thut. Dieser Zusammenhang stiftet keine Gemeinschaft. Das Ziel der Geschichte, die Stiftung einer Gemeinschaft ist nur so denkbar und erreichbar, daß die Einzelnen sich alle Einem unterordnen. So allein entsteht aus der gestaltlosen Masse ein Organismus, in dem die Einzelnen einander nicht hemmen und drücken, sondern dienen. Die im Anschluß an Gott liegende gleichzeitige Lösung und Bindung der Geschichte gegenüber vollzieht sich in jeder wirklichen That, auch wenn diese nur einen kleinen Umkreis gestaltet. That ist unsre Handlung nur dadurch, daß sie zugleich motiviert, d. h. an das Gegebene angeschlossen und vom Gegebenen frei geworden ist, begründet einerseits in der hinter uns liegenden Vergangenheit und der um uns liegenden Situation, andrerseits in der über uns liegenden Ewigkeit. Dieses Ineinander von Gebundenheit an die Geschichte, d. h. Motivation durch das Gegebene und von Freiheit von der Geschichte liegt in jeder That vor. Eine durch das Gegebene nicht motivierte That würde den Zusammenhang unsres Lebens und den Zusammenhang der Geschichte zerreißen. Sie würde die Vergangenheit nicht in die Zukunft überführen, sie wäre Revolution. Wo kein Zusammenhang ist, da ist aber auch keine Geschichte. Die That ist die Mitte zwischen Evolution und Revolution. st Steffenscn a. a. O. S. 291: „Der wirkliche Streit bezüglich der Aukwrität ist nun eigentlich der um die Auktvrität der Vergangenheit über die Gegenwart und Zukunft. Die Gegenwart möchte sich von der Vergangenheit ganz lösen und nur sich selbst und der Zukunft Auktvrität einräumen — Hier ist der Punkt, wo das Verständnis zu eröffnen wäre. Hier möchte in der That der Evolutionsgcist bei Hegel und bei Spencer an die Stelle des Revolntionsgeistcs treten, Pietät, aber nicht unbedingter Gehorsam, Dankbarkeit, aber nicht Hingebung, Ehrerbietung aber nicht Ehrfurcht und Anbetung." 122 Die in jedem Glaubensakt liegende Einigung eines Ja und eines Nein, bildet seine Schwierigkeit und Gefahr. Glaube ist ein ganzes Nein zur Welt und ein ganzes Ja zu Gott. Die Schwierigkeit besteht darin, daß das eine das andere beschränkt und stört. Diese Schwierigkeit liegt auch in der doppelten Stellung zur Geschichte. Sie wäre unlösbar, wenn uns Gott nicht gleichzeitig auf zwei Wegen nahte, von außen durch die Geschichte und von innen. Durch den Zusammenschluß beider entsteht Gewißheit: eins reguliert und kontrolliert sich am andern. Wenn wir über Wort und That den Geist oder über dem Geist Wort und That fahren lassen, so verlieren wir gleichzeitig auch das, was wir zu halten versuchen. Auch der Geschichte als einem Geflecht von Gottes That und Menschenwerk und darum einem Gemisch von Licht und Finsternis, von gut und böse, gilt deshalb gleichzeitig ein „Ja" und „Nein". WWW KLZW