Arzneimittelforschung

Schneller geheilt

Webspecial Fraunhofer-Magazin 1.2025

Seit mehr als 25 Jahren ist Prof. Cars­ten Claussen auf der Suche. »Der eine Wirkstoff, der es in die Apothe­ke schafft, ist wie die sprichwörtli­che Nadel im Heuhaufen«, erzählt der Leiter des Hamburger Standorts des Fraunhofer-Instituts für Translationale Medizin und Pharmakologie ITMP. Einmal, so verrät Claussen, hätte er es fast geschafft. Doch dann zeigte das vermeintliche Alzheimer-Mittel im Menschen keine Wirkung. »Meine Frau dachte schon, wir würden reich. Da musste ich sie leider enttäuschen«, erinnert er sich. »So bleibe ich Fraunhofer erhalten – und das mit Freude!«

Mit viel Ausdauer und Know-how durchkäm­men Claussen und sein Team Substanz-Biblio­theken, die oft hunderttausend oder mehr Mole­küle umfassen, nach einem »Hit«. So bezeichnen Expertinnen und Experten einen vielversprechen­den Treffer, der an einem zuvor identifizierten Wirkziel im Körper – dem Target – andocken und beispielsweise das Wachstum von Tumorzellen blockieren kann. Das Team führt sogenannte Hoch­durchsatz-Screenings durch, bei denen die Mole­küle automatisiert darauf getestet werden, ob und wie sie mit dem Target interagieren. Claussen: »Wir überprüfen natürlich nicht einfach irgendwelche Moleküle, sondern versuchen im Vorfeld, mög­lichst relevante auszuwählen.« Dafür nutzen die Forschenden bereits vorhandene Daten über che­mische Strukturen und biologische Eigenschaften der Moleküle wie Verstoffwechselung oder Proteininteraktion und trainieren KI-Modelle, die dabei helfen, ideale Wirkstoffstrukturen vorher­zusagen: »So lässt sich die Gruppe der Substanzen, die infrage kommen, viel genauer eingrenzen. Unsere Suche wird schneller, konkreter, intelli­genter. Die Chance auf einen Hit verdoppelt sich.«

Ihr jüngster Erfolg: Sie entdeckten eine Ver­bindung, die gegen Epilepsie bei Kindern wirksam ist. Fündig wurden sie in einer sogenannten Re­purposing-Bibliothek – einer Sammlung von Substanzen, die bereits für eine bestimmte medizi­nische Indikation zugelassen sind. Claussen: »Der Gedanke ist ja naheliegend, dass ein Arzneimittel auch an anderen Stellen im Körper nützliche Ef­fekte zeigen kann.« Der Vorteil: Entwicklungszeit und -kosten reduzieren sich, weil viele Tests nicht mehr notwendig sind und einige Entwicklungs­phasen übersprungen werden können. Auch las­sen sich Risiken ausschließen, die bis dahin un­bekannte Verbindungen beinhalten.

Blick in ein Labor für Hochdurchsatz-Screening am Fraunhofer ITMP in Hamburg.
© Fraunhofer ITMP | Bernd Müller
Blick in ein Labor für Hochdurchsatz-Screening am Fraunhofer ITMP in Hamburg.

Von 10 000 Substanzen schafft es nur eine

Denn nicht jeder Hit ist auch als Wirkstoff geeig­net: Die Substanz könnte toxisch sein, im Blut­serum schnell zerfallen oder gefährliche Neben­wirkungen hervorrufen. Ermittelt wird das durch umfangreiche Tests an Zellkulturen, im Tier und später, wenn alles glattläuft, auch im Menschen. Claussen: »Bis man das Mittel ersten Probandin­nen und Probanden verabreichen kann, vergehen etwa fünf bis sieben Jahre. Dabei sind die Ausfall­raten wahnsinnig hoch.«

Von 10 000 Substanzen mit Wirkpotenzial wer­den, so der Verband Forschender Arzneimittel­hersteller vfa, rund neun im Menschen getestet, nur eine erreicht tatsächlich später den Markt. So ist es nicht erstaunlich, dass die Entwicklung ei­nes neuen Medikaments teuer ist und lange dau­ert: Die Gesamtkosten liegen heute im Durchschnitt bei 2,8 Milliarden US-Dollar. Von der ersten Idee bis zur Zulassung vergehen zwölf Jahre – der vor­läufige Höhepunkt eines Trends, der seit den 1950er-Jahren ungebrochen anhält.

Ein wichtiger Grund: Pharmaka werden im­mer komplexer. Standen anfangs Krankheiten mit einfachen Wirkmechanismen oder weit verbrei­tete Symptome wie Kopfschmerzen oder Sodbren­nen als Entwicklungsziele im Vordergrund, sind es heute Krebs oder rheumatische Systemerkran­kungen. Diese betreffen zahlreiche biologische Prozesse im Körper und sind nur mit Kombina­tionstherapien mehrerer Wirkstoffe effektiv be­handelbar. Die Krankheitsmechanismen sind viel­schichtig und oft nicht vollständig verstanden, was die Ableitung von Targets erschwert. »Auch hier kann uns KI sehr helfen«, ist Claussen über­zeugt. Denn sie macht es möglich, zahlreiche Pa­rameter, die die Krankheit beeinflussen, zu be­rücksichtigen, miteinander zu kombinieren und so wesentliche Targets zu identifizieren.

Ist ein vielversprechender Wirkstoff-Kandidat gefunden, wird er auf Wirksamkeit und Sicherheit geprüft. Der Aufwand und die langen Genehmi­gungszeiten für Tierversuche lassen sich heute in vielen Fällen einsparen. Dr. Julia Neubauer, Ge­schäftsführerin am Fraunhofer-Projektzentrum für Stammzellprozesstechnik, und ihr Kollege Prof. Florian Groeber-Becker, Leiter des Fraunho­fer-Translationszentrums für Regenerative The­rapien, arbeiten gemeinsam in Würzburg an in­novativen zellbasierten Gewebemodellen für die Wirkstoff-Testung. Dafür nutzen sie, neben pri­mären Zellen aus verschiedenen Geweben wie der Haut oder dem Auge, induzierte pluripotente Stammzellen oder kurz iPS-Zellen – künstlich er­zeugte Stammzellen, aus denen sich unterschied­liche Zelltypen züchten lassen. Diese haben unter anderem den Vorteil, dass sie einheitlich und re­produzierbar sind, während primäre Zellen vari­ieren können. Außerdem sind einige primäre Zel­len wie Herzmuskelzellen oder neuronale Zellen nur schwer zu isolieren und zu kultivieren.

Ein weiterer großer Pluspunkt dieser Gewebe­modelle ist, dass sie spezifische Krankheitszu­stände oder -mechanismen nachbilden können. »Ein Versuchstier hat ja zunächst keine Krankheit, das heißt, Sie müssen die Pathologie erst mal in­duzieren, bevor Sie Tests durchführen können«, verdeutlicht Groeber-Becker. Demgegenüber sind Gewebemodelle nicht nur ethisch unproblema­tisch – sie liefern auch wesentlich bessere Ergeb­nisse. Neubauer: »Ich habe quasi den Menschen mit der Krankheit in die Petrischale gebracht.«

Humane induzierte pluripotente Stammzellen (hiPS) auf Mikrocarriern.
© Fraunhofer IBMT
Human induzierte pluripotente Stammzellen (hiPS) machen es möglich, neue Medikamente effizienter zu testen und helfen, Tierversuche in vielen Fällen zu ersetzen.
Gefärbte Mesenchymale Stammzellen (MSCs) auf gedruckten Alginatstrukturen. MSCs sind pluripotente Zellen, die sich in verschiedene Zelltypen des Bindegewebes, wie z.B. Knochen, Knorpel, Fett und Muskeln, differenzieren können.
© Fraunhofer IBMT
Mesenchymale Stammzellen (MSCs) sind pluripotente Zellen, die sich in verschiedene Zelltypen des Bindegewebes, wie z.B. Knochen, Knorpel, Fett und Muskeln, differenzieren können.
Hautmodell mit malignem Melanom.
© Fraunhofer ISC
An Gewebemodellen mit Hautkrebs lassen sich mehrere innovative Wirkstoffe problemlos auch in Kombination testen.

Modell-Herzen kontrahieren wie richtige

Drei bis sechs Wochen dauert es, bis die huma­nen Testmodelle einsatzfähig sind. »Bei den Kar­diomyozyten, also den Herzmuskelzellen, haben wir bereits nach sieben Tagen schlagende kleine Aggregate, die wie winzige Herzen kontrahie­ren«, freut sich Neubauer. Anschließend reifen sie und werden unter bestimmten Bedingungen so kultiviert, dass dreidimensionale Gewebe, so­genannte Organoide, entstehen. An diesen etwa stecknadelkopfgroßen Modell-Herzen kann bei­spielsweise getestet werden, wie sich innovati­ve Herzmedikamente auf die Kontraktionskraft oder den Rhythmus auswirken. Problemlos können auch verschiedene Wirkstoffe hinterei­nander oder in Kombination am gleichen Modell überprüft werden. Groeber-Becker: »Bei unseren Hautmodellen, die etwa fingernagelgroß sind, kann man sogar eine Formulierung, also zum Beispiel eine Creme, mit einem Wattestäbchen einmassieren.«

Die Modelle lassen sich etwa ein bis zwei Wo­chen nutzen, danach sind die Zellen zu alt und verlieren schrittweise ihre Funktionalität. Noch könne man auf Tierversuche in der Medikamen­tenentwicklung nicht völlig verzichten, so Groe­ber-Becker. »Aber wir arbeiten daran, dass sie im­mer seltener notwendig sind.«

Das Interesse an den Gewebemodellen und den Organoiden sei hoch, berichtet Groeber-Be­cker weiter, denn sie haben zusätzlich einen ent­scheidenden Vorteil: »Es entsteht eine erhebliche Zeit- und Kostenersparnis, weil sich mithilfe un­serer humanen Modelle die Prädiktionskraft er­höht. Das heißt, man kann sehr viel präziser vor­hersagen, wie sich der Wirkstoff im Menschen verhält und ob sich klinische Studien lohnen.«

Doch selbst wenn die Prognose günstig ist: Nur ein Teil der aussichtsreichsten Wirkstoffkan­didaten landet tatsächlich bei den Patientinnen und Patienten. Denn eine der größten Hürden in der Arzneimittelforschung steht noch bevor: die Rekrutierung von Teilnehmenden für klinische Studien.

Bisher werden Probandinnen und Probanden noch vorwiegend manuell gesucht. Mitarbeiten­de in Kliniken und Praxen überprüfen ihren Pa­tientenstamm und gleichen ihn mit dem Anfor­derungskatalog der jeweiligen Studie ab – ein mühsames, zeitaufwendiges Verfahren, das häu­fig erfolglos bleibt: Mindestens 20 Prozent aller klinischen Studien scheitern, weil nicht ausrei­chend viele Kandidatinnen und Kandidaten ge­funden werden können.

Eine neue KI-basierte Lösung, entwickelt am Fraunhofer-Institut für Intelligente Analyse- und Informationssysteme IAIS in Sankt Augustin bei Bonn, schafft Abhilfe. Mit ihr ist es möglich, relevante Informationen einfach aus Fließtexten wie Anamnesen oder Arztbriefen zu ziehen und mit den Ein- und Ausschlusskriterien für klini­sche Studien zu vergleichen. In Sekundenschnel­le kann so beispielsweise die Datenbank einer Klinik durchforstet werden. Dabei ist es egal, in welchem Dateiformat die Informationen gespei­chert sind. »Aktuelle KI-Modelle können mit multimodalen Daten umgehen, also auch mit Bildern von Texten oder Tabellen. Wir arbeiten zurzeit an einer Integration solcher Modelle in unsere Lösungen«, erklärt Sina Mackay, Data Scientist am Fraunhofer IAIS. Der Abgleich mit den Anforderungskatalogen der aktuellen Stu­dien, die auf zentralen Websites wie dem EU Cli­nical Trials Register veröffentlicht werden, könn­te automatisch erfolgen.
 

Studienteilnehmende per App schneller finden

Doch nicht nur die Pharmaindustrie, auch viele Patientinnen und Patienten sind auf der Suche nach für sie passenden Studien – um beispielswei­se Zugang zu innovativen Therapien zu erhalten oder die medizinische Forschung zu unterstüt­zen und so anderen Menschen mit ähnlichen Er­krankungen zu helfen. Für sie hat das Fraunhofer IAIS-Team gemeinsam mit Partnern den Proto­typ einer App erstellt, die die persönlichen Daten aus der elektronischen Patientenakte (ePA) mit den Anforderungsprofilen der auf den Websites veröffentlichten Studien abgleichen könnte. »Die Wahrscheinlichkeit eines Treffers steigt, wenn beide beteiligte Parteien aktiv suchen – also so­wohl Wirkstoffentwickler als auch Patientinnen und Patienten«, verdeutlicht Mackay. Die Rekru­tierung von Studienteilnehmenden könnte dann sehr viel schneller, effizienter und erfolgreicher gelingen. Bevor die DATACARE-App aber auf die elektronische Patientenakte zugreifen darf, müssen unter anderem noch rechtliche Fragen ge­klärt und die Gewährleistung des Datenschutzes sichergestellt werden. Mackay: »Außerdem sollten selbstverständlich alle relevanten Dokumente in der elektronischen Patientenakte vorhanden sein, wovon wir im Moment noch nicht ausgehen kön­nen.« Sie bleibt jedoch zuversichtlich: »Ein Anfang ist gemacht.«

Fraunhofer Strategisches Forschungsfeld

Intelligente Medizin

Mehr als die Hälfte aller Fraunhofer-Institute und -Einrichtungen arbeiten in den vier großen Themenfeldern der Gesundheitsforschung – an Data, Diagnostics, Drugs und Devices, den 4D. Viele Innovationen entstehen an der Schnittstelle zwischen Medizin, Naturwissenschaften, Informatik und Ingenieurwesen. Als stark transdisziplinär operierende Organisation schafft die Fraunhofer-Gesellschaft ideale Voraussetzungen für eine enge Kooperation in der Gesundheitsforschung – und für kostenintelligente Präzisionsmedizin zum Wohle der Patientinnen und Patienten.

Fraunhofer-Verbund Gesundheit

Die Gesundheitsforschung gehört zu den facettenreichsten Innovationsfeldern der Zukunft. Intelligente Neuerungen werden einen maßgeblichen Beitrag für die bezahlbare Gesundheit und zur gesellschaftlichen Zukunftssicherung leisten müssen.

Der Fraunhofer-Verbund Gesundheit bündelt die Kompetenzen und Technologien in den Bereichen Medizin, Pharmazie, Medizintechnik und Biotechnologie von sechs Instituten. 

Durch das hohe Maß an Interdisziplinarität innerhalb des Verbunds entlang der vier großen Themenfelder − Data, Devices, Diagnostics, Drugs − ist es möglich, zukunftsweisende Innovationen zu adressieren und einen erkennbaren Mehrwert für die Gesundheitsforschung und die Patienten zu erzielen.

Fraunhofer Cluster of Excellence Immune-Mediated Diseases CIMD

Das Fraunhofer CIMD ist ein Exzellenzcluster mit dem Ziel aus innovativen Ideen und identifizierten Targets individualisierte Therapien für Immunerkrankungen zu entwickeln. In interdisziplinärer Zusammenarbeit soll die aktuell bestehende Lücke zwischen Arzneimittelforschung und der tatsächlichen Patientenversorgung geschlossen werden.

Fraunhofer Medical Data Space

Der »Medical Data Space« ist eine vertrauenswürdige Infrastruktur für den sicheren Austausch von Gesundheitsdaten zwischen verteilten Akteuren (Patient, Arzt, Klinik, Angehörige, Dienstleister, Hersteller, etc). Damit sollen Vorsorge-, Betreuungs-, Diagnose- und Behandlungsprozesse verbessert und innovative gesundheitsfördernde Geschäftsmodelle ermöglicht werden. Die Verwendung der Daten kann nutzerfreundlich, transparent und datenschutzkonform gesteuert werden. Moderne Algorithmen helfen bei der zielgerichteten Nutzung der Daten.

  • mehr Info (medical-data-space.fraunhofer.de)

Video: Klinische Forschung am Fraunhofer ITMP - Für die Gesundheit von morgen

Am Fraunhofer-Institut für Translationale Medizin und Pharmakologie ITMP forschen wir an innovativen Therapien, um Krankheiten besser zu verstehen und zu behandeln. Klinische Studien sind dabei essenziell – sie verbinden Forschung und medizinische Versorgung zum Wohl der Patientinnen und Patienten.

Neuartiger In-vitro-Augenirritationstest soll StandardTierversuch ersetzen

Fraunhofer ISC

Zellkulturplatte mit Gewebekammern für 24 Cornea-Modelle.
© Fraunhofer ISC
Zellkulturplatte mit Gewebekammern für 24 Cornea-Modelle.

Gelangen Chemikalien ins Auge, kann dies im schlimmsten Fall zur Erblindung führen. Bislang muss das Augenreizungspotenzial von chemischen Substanzen mit Hilfe des weltweit eingesetzten Draize-Tests an lebenden Kaninchen untersucht werden. Forschende des Translationszentrums für Regenerative Therapien TLZ des Fraunhofer-Instituts für Silicatforschung ISC wollen nun gemeinsam mit Partnern die Tierversuche ersetzen: Im Labor kultivierte Gewebemodelle der menschlichen Augenhornhaut sollen den Draize-Test vollständig ersetzen und als künftiges Standardverfahren etabliert werden.

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Dr. Alena Wötzel

Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

Fraunhofer-Institut für Translationale Medizin und Pharmakologie ITMP
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60596 Frankfurt am Main

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Dr. Mira Grättinger

Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Standort Hamburg

Fraunhofer-Institut für Translationale Medizin und Pharmakologie ITMP
Schnackenburgallee 114
22525 Hamburg

Telefon +49 40 303764270

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Marie-Luise Righi

Fraunhofer-Institut für Silicatforschung ISC
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Fax +49 931 4100-399

Contact Press / Media

Katrin Berkler

Leiterin Presse und Öffentlichkeitsarbeit

Fraunhofer-Institut für Intelligente Analyse- und Informationssystem IAIS
Schloss Birlinghoven
53757 Sankt Augustin

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