»SIECHES VOLK MACHT SIECHEN
            STAAT«
   Arzt, Stand und Staat im 19. Jahrhundert
              Thomas N. BURG
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                             INHALTSVERZEICHNIS


1        Einführung: Zur Genealogie des medizinischen Experten. ..... 7
2        Einleitung: Zwischen Selbstbestimmung und Enteignung .... 13
2.1      Marginalien zu einem gegenwärtigen Dilemma, Ivan Illichs
         Polemik gegen die Schulmedizin: .......................................... 13
2.1.1 Verlust an Autonomie............................................................. 16
2.1.2 Aspekte einer Medizinkritik und einer Kritik des Begriffs
         Gesundheit              .................................................................... 20
2.2      Zur Erfindung der Krankheit und der souverän
         konzeptualisierten Heilkunde. ................................................ 22
3        Wissenschaft, Macht und Norm ............................................. 27
3.1       Die Szientifizierung der Medizin........................................... 27
3.1.1 Der leidenschaftslose Blick der Klinik................................... 27
3.1.2 Rudolf Virchow, die Medizin als Schnittstelle einer
         ultimativen naturwissenschaftlichen Anthropologie............. 34
3.2      Bedingungen einer Sozialdisziplinierung und
         Professionalisierung................................................................ 40
3.2.1 Medizinischer Diskurs und Normvermittlung........................ 40
3.2.2 Der Begriff des Monopols und der Macht: ............................ 46
3.2.3 Sozialdisziplinierung: ............................................................. 50
4        Medizin und Verwaltung ........................................................ 54
4.1      Die Medizinalreformen als Agitationsforum.......................... 54
4.1.1 Exkurs: traditionale Strukturen im Arzt-Patient-Verhältnis .. 56
4.1.2    Die Medizinalgesetzgebung als obrigkeitliche Intervention
         und Fürsorge            .................................................................... 57
4.1.2.1 Elemente einer kameralistischen Gesundheitspolitik ............ 58
4

    4.1.2.1.1 Der Protomedikus - sanitätspolizeilicher
                Administrator und Sonde                                                          62
    4.1.2.1.2 Der Kreisphysikus - das Vordringen mediko-
                administrativer Fürsorge                                                         65
    4.1.2.2     Die provisorische Organisation der öffentlichen
                Medizinalverwaltung .................................................. 69
    4.1.2.2.1 Zur Organisation im Detail                                                         72
    4.1.2.2.2 Theorie und Praxis, zur Durchführung und
                Kritik des Provisoriums                                                          75
    4.1.3       Aspekte einer existentiellen Krise am Gesundheits-
                markt         .................................................................... 78
    4.1.4      Strategeme einer Verselbständigung .......................... 80
    4.1.4.1    Dezentralisierung......................................................... 81
    4.1.4.2    Medizin als Sozialwissenschaft................................... 83
    4.1.4.3 Liberalistische Mahnungen.......................................... 85
    5          Medien und Professionalisierung ................................ 90
    5.1        Die Professionalisierung des Ärztestandes ................. 90
    5.1.1      Der Begriff der Professionalisierung........................... 91
    5.1.2      Heterogenes Nebeneinander versus Autonomie.......... 93
    5.1.2.1 Strategeme einer Homogenisierung............................. 95
    5.1.2.1.1 Illegalisierung der Konkurrenz                                                     95
    5.1.2.1.2 Exkurs: Ausbildung und Prüfungen des
                heilärztlichen Personals                                                         98
    5.1.2.1.3 Integration und Einebnung der Vielfalt                                           102
    5.1.3      Autonomiebestrebungen und staatlicher
                Interventionismus ..................................................... 108
    5.1.3.1 Ärztekammern: Institute der Autonomie................... 113
5

    5.1.3.2     Staat und Arzt: Aspekte einer Wechselwirkung ....... 116
5.1.3.2.1 Staatsdienst als Prestigegewinn                                                       129
6        Fazit ................................................................................... 138
7        Abkürzungen ..................................................................... 142
8         Bibliographie .................................................................... 144
6
7


1 Einführung: Zur Genealogie des medizinischen Ex-
perten.

  Die Medizin und deren Repräsentanten, die Ärzteschaft, präsentie-
ren sich heute als geschlossene Profession in einer konzeptualisierten
Heilkunde. Die Medizingeschichtsschreibung gibt sich als heroische
Erfolgserzählung zu erkennen: erzählt wird mehrheitlich der techni-
sche Fortschritt der Medizin, die vermehrte Durchsetzung der ärztli-
chen Erklärungsmuster in Krisenfällen und die Biographie relevanter
Standesvertreter sowie die Geschichte der Institutionen. Alles in al-
lem eben die Erfolgsstory, die allgemein bekannt ist, die die autorita-
tive Geste der „Götter in weiß“ legitimiert. Ein gebrochenes Selbst-
verständnis, ein nicht länger finanzierbarer Gesundheitsmarkt und
wiederaufflammende Renitenz der Klientel ermöglichten den Blick
auf die Konstituierung dieses Sektors der bürgerlichen Lebenspraxis.
Seit den 70er Jahren erfolgt eine kritische Betrachtung des neuzeit-
lich-rationalen Konzepts Gesundheit und damit des Heilpersonals, das
auf dem Gesundheitsmarkt reüssiert hat. Der Impuls ging von Texten
Michel Foucaults, Thomas S. Szasz, Thomas McKeowns
(s.Bibliographie) und polemisch zugespitzt von einem Text Ivan Il-
lichs (s.u.) aus. All diesen Texten gemeinsam war die kritische Analy-
se einer etwas mehr als hundert Jahre alten sozialen Praxis. Die Kri-
senintervention im psycho-physischen Bereich wurde einer Berufs-
gruppe überantwortet, die die Ausbildung und Kontrolle ihrer Tätig-
keit weitgehend autonom regelt; eine Profession, die die Wahrneh-
mung und die sozialen Sanktionen ausgesuchter vitaler Phänomene
entscheidend mitbestimmt, in manchen Situationen exklusiv verwal-
tet. Ein Regelwerkzeug, das, ob seiner weitreichenden Zugriffsmög-
lichkeit - die Aufhebung der Körpergrenze, naturgemäß das Interesse
der Verwaltung, des Staates weckte, der es auch verstand sich das Po-
tential einer solchen Registratur und solcher Handlungsanleitungen
zunutze zu machen.
 Neuerdings stellte der sozialhistorisch orientierte Neuzeithistoriker
Robert Jütte (s. Bibliographie) das Interesse für seinen Gegenstand,
der medizinische Alltag in der frühen Neuzeit in Köln, in den Zu-
sammenhang mit einem Unbehagen an der gegenwärtigen „medikalen
8

Kultur“. In Deutschland entwic??kelt sich, soziologisch bzw. sozial-
historisch orientiert, in den 80er Jahren eine interessierte Forschungs-
tätigkeit an den Aspekten der Medizingeschichte, die bislang einer
professionalistischen Historiographie zum Opfer gefallen waren (s.
Bibliographie). Das Außerachtgelassene, das Verdrängte. Die Effekte
und Instrumente der medikalen Intrige.
  Das heteronome Interesse an der Instrumentalisierung von Gesund-
heit und Krankheit sowie an deren Agenten rückt ins Zentrum histori-
scher Analyse. Mich interessierten die Strategien der Konsolidierung
des Arztstandes, d.h. Abgrenzung nach außen, Konsolidierung nach
innen; Autonomie und Monopol auf dem Gesundheitsmarkt. Als
Scharnierstelle bot sich die Periode vor der wichtigen Neuordnung
des Gesundheitsmarktes in Österreich, der Medizinalgesetzgebung
von 1870, an. Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts begann sich der
akademische Arzt zu etablieren; hier interessierte mich dessen inter-
ner Konsolidierungsdiskurs. Ziel der vorliegenden Studie war es über
den Umweg einer äußeren Geschichte der Fakten, Verordnungen und
objektivierbarer Entwicklungen, d.h. solcher Entwicklungen, die auf
uns gekommen sind und unbewußt die Verlierer im Gepäck mit sich
herumtragen bzw. damit beschäftigt sind den ehemaligen Triumph
abzusichern, Ziel war es den Strategien der Verselbständigung eines
Berufsstandes nachzugehen.
  Was interessiert nun an den rhetorischen Strategien? Einerseits las-
sen sich relevante Aspekte der Professionalisierungstheorien bestäti-
gen. Andererseits kann mit Hilfe der aus den Professionalisierungs-
theorien abgeleiteten Kriterien eine historisch bedeutsame Entwick-
lung erfaßt werden. In unserem konkreten Zusammenhang handelt es
sich um den Versuch, den gelungenen Versuch, der Ärzteschaft auf
dem Gesundheitsmarkt eine dominante Stellung zu erringen. Die Pro-
fessionsliteratur ist daher nicht im Sinne einer Abbildtheorie Wider-
schein einer Realität, auch nicht verzerrter, sondern eher im Sinne ei-
ner Diskurstheorie als Forum zur Schaffung symbolischer Identifika-
tionsstiftung zu verstehen. Damit bietet sie allerdings die Möglichkeit
historische Verlaufsanalysen herzustellen. D.h. der Prozeß der Stan-
desetablierung erfolgte als integrales Element auch auf symbolischer
Ebene. Der Stand schuf eine damit befaßte Standespresse, die Nach-
9

richtenpresse räumte naturgemäß der Konsolidierung des Ärztestan-
des wenig Platz ein. Ihr Ringen hinsichtlich administrativ-
bürokratischer Einflußnahme bezeichnet den thematischen Raum des
Diskurses.
  Der Aufstieg des Arztes im 19. Jahrhundert wird in diesem Text ü-
ber disparate Fragestellungen verfolgt. Als Beleg für die Relevanz der
Themenstellung wird einleitend ein Text Ivan Illichs referiert, der auf
polemische Art und Weise die Schulmedizin decouvriert, indem er
ihre enteignenden Konzepte bezüglich der Sorge um den Körper und
das Krisenphänomen Krankheit/Tod decouvriert. Als vergeltende Ra-
che - „Nemesis“ - konstatiert er den pathogenen Charakter moderner
Heilkundekonzepte. Von dieser Folie ausgehend interessierte ich
mich für einen entscheidende Moment in der Entwicklung des Ärzte-
standes und versuchte wie mit einem Stroboskop Licht auf einige As-
pekte der Professionalisierung der Ärzte in Österreich im vorigen
Jahrhundert zu ziehen.
  Die methodische Orientierung eruierte im wesentlichen zwei diskre-
te Kontexte:
 • die zunehmende Verwissenschaftlichung weiter, v.a. städtischer
   Lebensbereiche mit Konzentration auf die Effekte im medizini-
   schen Sektor. Ein wichtiges Moment ist die Erfassung des Ortes,
   von dem aus der wissenschaftliche Arzt, der Medicus spricht, von
   wo bezieht er seine Legitimation und wer legitimiert den Ort?
   Was sind die Kriterien dieser räumlichen Wechselbeziehung?
 Anamnestische Aufzeichnungen, Expertisen, epidemiologische Re-
   gistratur und meteorologische Iuxtaposition, nosologisches Hie-
   rarchien - Bauelemente des Diskurses der Ärzte im 19. Jahrhun-
   dert. Die zwingende Frage lautet: wer spricht? von wo? wo findet
   man den Ort, das Epizentrum? Der Status des Arztes garantiert
   die Wirksamkeit des ärztlichen Wortes, es kann nicht irgendwer
   sprechen. Dieses magische Statut ausgestattet mit der Macht Le-
   ben und Tod zu bannen erfährt an der Wende vom 18. zum 19.
   Jahrhundert eine fundamentale Wendung: die Gesundheit wird
   zum normativen Parameter einer ökonomisch ausgerichteten Be-
   völkerungspraktik. Die Kriterien des Wissens und der Kompetenz
   werden reformuliert; neue Räume werden kolonialisiert.
10

 Welcher Ort? Das Krankenhaus ist der institutionelle Platz, der legi-
  time Ursprung. Auch die Privatpraxis, das Laboratorium und die
  Bibliothek. Das Krankenhaus läßt die Privatpraxis hinter sich. So
  wuchert die Bibliothek, das traditionelle Buch, der Glossaristenei-
  fer tritt hinter die massenhafte, dokumentarische Registratur der
  Maschine Krankenhaus zurück.1
 Das Krankenhaus ist dieser dramatische Ort der Konstituierung. Ü-
   bereinstimmend konstatiert die diesbezügliche Literatur eine Zä-
   sur um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert.2 Das Hospital,
   ehemals Verwahrungsanstalt, Asyl und auch Heilanstalt avanciert
   zum Krankenhaus, d.h. die Implementation neuer Rhythmen,
   Strukturen, eines andersartigen Regimes bestimmt die "totale In-
   stitution Krankenhaus". Ein für den Fortschritt der Profession
   maßgeblicher Moment. Die Arzt-Patient-Beziehung erfährt eine
   prinzipielle Neuordnung. Im Krankenhaus ist alles anders als im
   Haus der Kranken. Es gibt keine Öffentlichkeit, keine Kontrolle
   durch anwesende Verwandte bzw. konkurrierendes Heilpersonal.
   Der Arzt hat exklusiven Zugriff auf den Kranken, die Möglichkei-
   ten für die Patienten die Kooperation zu verweigern sind einge-
   schränkt. Rigide Hausordnungen disziplinieren den Kranken, sie
   integrieren ihn in ein rationelles Zeit-, Observations-, Dokumen-
   tations- und Verhaltensregime. Das Krankenhaus war v.a. Diszip-
   linierungsinstrument der Unterschichten.

     Das wichtigste moralische Problem, das von der Idee der Klinik aufgewor-
     fen worden war, lautete: Mit welchem Recht durfte man einen Kranken,
     den die Armut gezwungen hat, im Spital Hilfe zu suchen, zum Objekt der
     klinischen Beobachtung machen. Der Kranke wollte eine Hilfe, deren abso-
     lutes Objekt er war, insofern sie für ihn konzipiert wurde; nun aber braucht
     man ihn für einen Zweck, für den er Objekt ist, und zwar relatives Objekt,
     da dessen Entzifferung dazu bestimmt ist, andere Kranke besser erkennen
     zu können.3
 Das Krankenhaus bzw. das Konzept der Hospitalisierung war in eine
   Art double-bind-Situation verstrickt. Einerseits gestattete es dem

 1 Vgl. Foucault (1992), S.77-79.
 2 Vgl. Göckenjan (1985), S.214-237.
 3 Foucault (1988), S.98-99.
11

  Bösen, der Krankheit zu erscheinen, die Wahrheit konnte dort
  nicht länger verborgen bleiben: ein Bestiarum von Kranken und
  Krankheiten. Andererseits sollte der homogene, diskrete Raum
  den Kranken von den schädliche Einflüssen seines privaten Mi-
  lieus befreien und die wahre Natur der Krankheit produzieren.
  Die Ambiguität dieses Konzepts, hier Ort der Erkenntnis, da La-
  bor mit pathologischen Substanzen, erhält dann Relevanz, wenn
  Ivan Illich die iatrogenen (=durch medizinische Intervention ver-
  ursachte) Leiden als Beleg für seine Thesen heranzieht.
Die sektorale Auflösung der Körperintegrität übergeht die
  Individualitäten; die Zuordnung erfolgt nach Krankheitsbildern.
  Die Individualität des Kranken wird als hinderlich ignoriert, der
  Kranke wird so zum passiven Zeichenträger. In den objektivierten
  Ordnungsraum strömen die Kliniker und Studenten, hier ergeben
  sich neuartige Forschungs- und Lehrmöglichkeiten. Die Klinik
  der Krankenanstalt bietet ein reichhaltiges Forschungsmaterial.
  Ungehindert durchlaufen die Ärzte diesen Trainingsparcour, von
  hier geht auch die Spezialisierung der Fächer aus. Allen voran die
  Etablierung der pathologischen Anatomie. Ausgehend von einer
  Physikalisierung der Untersuchungsmethoden wird der Kranke
  vermessen und kategorisiert. Die Autopsie avanciert zur zentralen
  Bestimmung von Krankheits- und Therapieverlauf. Die hippokra-
  tische Verlaufsbeobachtung wird abgelöst von einer neuen physi-
  kalischen Investigation, geleitet von der postmortalen Sektion e-
  tablieren sich erstmals systematische pathologische Einheiten.
  Erst von der Autopsie fiel Licht auf das Wesen der Krankheit.
Zwei wesentliche Aspekte kulminieren also im Krankenhaus: einer-
  seits die Schaffung eines kollektiven, homogenen Raumes, der
  exklusiv vom Arzt beherrscht wird. Andererseits entwickelt sich
  in der Klinik ein wissenschaftlicher Krankheitsbegriff bzw. eine
  wissenschaftliche Methode, die wiederum die alleinige Kompe-
  tenz des Arztes fordert. Krankheit ist nun auch sprachlich verwis-
  senschaftlicht. Der medizinische Jargon indiziert den Übergang
  medizinischen Laienwissens in einen spezialisierte Domäne.
12

 • die Einbettung der analysierten Berufsgruppe in umfassendere
   Konzepte von Macht, Machtausübung, Monopol, v.a. relevant als
   eine enge, professionspolitisch bedeutsame Verflechtung von
   Staat und Medizin unterstellt wird. Der vorgestellte Machtbegriff
   nimmt Abstand von einer solaren Konzeption, die einer Person
   oder einer Gruppe Macht zuspricht und geht von einem dichten
   Netz von gegenseitigen Abhängigkeiten aus. Macht wäre die Be-
   zeichnung dieses Konzepts. Dies bedeutet nicht, daß alle Invol-
   vierten gleich positioniert sind; was bleibt sind strategisch günsti-
   gere Positionen. Kein Ort ist von der Macht unabhängig, kein Ort,
   keine Person, keine Gruppe emittiert sie exklusiv.
  Die dualistische Verfahrensweise, die sich aus og. Absichten ergibt
tendiert im Prozeß ihres Einsatzes zur Einebnung der methodischen
Differenzen. Der Autor versteht sich nicht als Schöpfer eines
kohärenten Ausschnittes historischer Wirklichkeit. Da die
Wiederauferstehung des Abwesenden, der Geschichte als ineffiziente
Illusion abgelehnt wird, der Historiker als Gestalter der vorgestellten
Wirklichkeit auftritt, wird in zunehmenden Maße die Involvierung
des Autors in die Analytik des Textes beobachtet.
13


2 Einleitung: Zwischen Selbstbestimmung und Ent-
eignung

2.1 Marginalien zu einem gegenwärtigen Dilemma, Ivan Il-
lichs Polemik gegen die Schulmedizin:
     Während der letzten Generationen hat das ärztliche Monopol über das Ge-
     sundheitswesen sich unkontrolliert ausgedehnt und unser Recht an unserem
     eigenen Körper beschnitten. Den Ärzten hat die Gesellschaft das aus-
     schließliche Recht übertragen, zu bestimmen, wer krank ist oder sein darf
     und was für ihn getan werden soll. Abweichung ist heute nur dann »legi-
     tim«, wenn sie eine medizinische Interpretation und Intervention verdient
     und letztlich rechtfertigt.4
  Die Effizienz ärztlicher Bemühungen, Krankheit bzw. den Begriff
davon zu kontrollieren, ist der von Priestern gleichzustellen. Epi-
demien beispielsweise machten ihr Auftreten und Verschwinden von
medizinischen Abwehrstrategien niemals abhängig. Illich5 meint, daß
etwa die Tuberkulose ohne ärztliches Zutun zum Zeitpunkt der Ent-
deckung des Bazillus durch Robert Koch bereits ihre Virulenz einge-
büßt hatte, und daß, als die Antibiotika-Therapie zur Routine wurde,
um 1945-50 die Erkrankungsrate auf 48 von 10000 Einwohnern ge-
sunken war. Für den Höhepunkt der Tb in New York gibt Illich eine
Rate von 700 an. Gleiches gilt für Cholera, Ruhr und Typhus. Für die
Kinderkrankheiten, wie etwa Keuchhusten, Scharlach verzeichnet er
einen 90%igen Rückgang der Mortalitätsrate in der Zeit von 1860 bis
1965, also bevor verbreitet Antibiotika und Schutzimpfungen einge-
setzt wurden. Illich macht dafür die Verbesserungen auf hygieni-
schem Gebiet, der Wohnungsverhältnisse und im Bereich der Er-
nährung verantwortlich. Dem Faktor der Ernährung scheint besondere
Relevanz zuzukommen, als daß in Ländern der Dritten Welt die Mor-
talitätsrate, unabhängig von der ärztlichen Versorgung, höher ist. Das
Kommen und Gehen unterschiedlichster Krankheiten im Laufe von
wenigen Generationen ist nicht Verdienst ärztlicher Praxis. Die Mor-
talität, oder besser Veränderungen in dieser, war immer abhängig in

 4 Illich (1983), S.12.
 5 Ebenda.
14

Funktion von Umweltbedingungen, vom soziokulturellen Lebenskon-
text. Die Analyse der Krankheitstrends von einem Jahrhundert kürt
die Umwelt zur bestimmenden Determinante des gesundheitlichen
Allgemeinzustandes einer Population. Elemente der Umwelt sind Er-
nährung, Hygiene und soziopolitische Gleich- oder Ungleichheit.
  Moderne Kultur-Techniken wie Seife, Impfnadel, Kondom, also
keine ursprünglich medizinischen Gerätschaften, oft von Ärzten ein-
gesetzt und entwickelt, bedingten eine Verschiebung der Mortalität6,
die Lebenserwartung stieg; indes kein spezifisch medizinischer Pa-
rameter steht in signifikantem Zusammenhang mit dem Rückgang der
Krankheitslast. Illich registriert lediglich eine Forderung zur Neudefi-
nition von Morbidität, aber keine Verringerung, dort wo z.B. neue
Diagnose- und Therapietechniken eingesetzt werden.7
  Der ärztliche Exklusivitätsanspruch gründet keineswegs auf objektiv
verifizierbaren Therapieerfolgen, wenngleich der Berufsstand dies
suggerieren will - solcherart lautet die Elementarthese Illichs. Der ur-
sprüngliche, angestammte Bereich des Arztes, die Diagnose und die
Therapie, sollte sich als nicht ausreichende Legitimationsbasis her-
ausstellen; der Staat als Apellationsinstanz, die Integration des Arztes
in staatliche Kontroll- und Machtstrukturen und die Patronanz der
staatlichen Bürokratie erwiesen sich wesentlich förderlicher im Rah-
men einer Konsolidierung der ärztlichen Profession.
 Ein wesentlicher Parameter in der Illichschen Argumentation ist der
Begriff der „sozialen Iatrogenesis“(s.u.), er verkörpert die pathogenen
Effekte der vergesellschafteten Medizin. Die Wirklichkeit der 1970er
Jahre, die Illich als Vorlage seiner Betrachtung diente, stellt einen
kumulativen Höhepunkt in der Entwicklungsgeschichte der Professi-
on dar.
 Die Ärzteschaft initiierte ihr soziales Avancement im Kontext der
bürgerlichen Aufklärung; zunächst emanzipierte sich Gesundheit als
zentraler gesellschaftlicher Wert, als Distinktionsmerkmal des auf-
geklärten Bürgers gegen die Aristokratie und als Indikator bzw. Ga-


 6 Zur Begriffsfestlegung vgl. Vasold (1991), S.8.
 7 Vgl. Illich, S.20-28.
15

rant für eine nationalökonomisch erfolgreiche und wehrfähige Nation.
Die Medizin wurde zum Index eines umfassend verstandenen Auf-
schwungs - nichts belebte die Hoffnung auf ein besseres Leben mehr,
als die Hoffnung für das Leben selbst. Das Streben nach Glück be-
gann mit dem Streben nach Gesundheit. Die Aufklärung, im wesentli-
chen eine philosophische Revolution, verknüpfte die Medizin mit den
Naturwissenschaften. Die Proponenten dieser Bewegung sahen sich
als Ärzte/Heiler einer kranken Zivilisation. Die Gesundheit erstrahlt
als Fokus eines jeden Geheimnisses. Selbst der philosophische Geist
ist in funktionaler Abhängigkeit einer allgemeinen Gesundheit.

     Medicine, it seemed, was transforming itself from a medival mystery, from
     the furtive ally of alchemy and astrology, into a thoroughly philosophical
     science, and this association of the new philosophy with the art of healing
     proved to the thinkers of the day the strength of both.8
  Gesundheit/Krankheit als Metaphern für gut/böse. Diese ‘medizini-
sche’ Metaphern legitimierten das destruktive Potential der philo-
sophes, der Kampf gegen ein mittelalterliches Christentum präsentiert
sich als gerechter Krieg gegen eine böse Krankheit.

     In the rhetoric of the Enlightenment, the conquest of nature and the con-
     quest of revealed religion were one: a struggle for health. If the philosophes
     were missionaries, they were medical missionaries.9
  Im 19. Jahrhundert intensivierte sich die Kooperation zwischen Pro-
fession und Staat; die medizinische Inventarisierung der Bevölkerung,
ihre politische Anatomie und die regulierende Kontrolle der Bio-Poli-
tik10 als subtiles Herrschaftsinstrument adelte die ausführenden
Ingenieure mit den Vorrechten einer Profession11. In dem Moment,
wo die Bevölkerung eines Staates als Ressource erkannt wird, geben
sich Variablen ihrer Konstitution zu erkennen; Geburtsrate,
Mortalität, Morbidität und Letalität werden zu Indizes der Wert-
schöpfung. Die Ökonomie des Körpers und der von den Produktiv-
kräften geschaffene Mehrwert werden zum Objekt der Begierde des

 8 Gay (1977), S.13.
 9 Ebd., S.16.
 10 Vgl. Foucault (1983), S.166.
 11 Zum Begriff der Profession: Freidson (s.u.)
16

Mehrwert werden zum Objekt der Begierde des kapitalistischen Staa-
tes. Die Totenbeschau und die gerichtliche Obduktion erweiterten den
Zugriff auf den toten Körper. Differenzierte Überwachungs- und Kon-
trollsysteme werden notwendig; die Klassifizierung, Hierarchisierung
und Qualifizierung von Individuen mittels naturwissenschaftlicher
Diagnostik avanciert zum elementaren Sortier- und Normierungskri-
terium.

     Sobald sich nun eine Normgesellschaft entwickelt, wird die Medizin, die ja
     die Wissenschaft vom Normalen und Pathologischen ist, zur Königin der
     Wissenschaften.12

2.1.1 Verlust an Autonomie
  Illichs Begriff der „sozialen Iatrogenesis“ stellt den Kristallisations-
punkt dieser Kulturkritik dar. Soziale Iatrogenesis bedeutet eine
Funktionalisierung des Körpers, eine Bürokratisierung, eine Institu-
tionalisierung der Leiden, eine Einschränkung der autonomen Ent-
scheidung des Individuums bezüglich seines Körpers, eine Ausschal-
tung der Selbstverantwortung zugunsten eines Molochs, der seine ei-
genen Kunden produziert bzw. die Erkenntnisfähigkeit im Einzelnen
unterdrückt. Sie ist Folge des radikalen Monopols13, so Illich, der
Ärzteschaft, bei gleichzeitiger Suppression der Autonomie.14

     Die maligne Ausbreitung der Medizin [...]: sie macht die gegenseitige Pfle-
     ge und den selbstverantwortlichen Gebrauch von Heilmitteln zum De-
     likt.15

     Die soziale Kontrolle der Bevölkerung durch das medizinische System [ist-
     T.B.] eine der wichtigsten ökonomischen Aktivitäten.16




 12 Foucault (1976), S.84.
 13 Ein radikales Monopol kann nur Anspruch bleiben, zumindest Reste autono-
     mer, individueller Therapie sind nicht auszuschließen.
 14 Vgl. Illich (1983), S.48-50.
 15 Ebd. S.50.
 16 Ebd. S.51.
17

  Medizin schafft immer Krankheit als sozialen Status. Der gesell-
schaftlich anerkannte Heiler vermittelt den Individuen soziale Mög-
lichkeiten, sich als Kranke zu verhalten.
 Medizin ist eine moralische Größe, sie hat die Macht zu bestimmen
wer angepaßt oder abweichend ist und vergibt dementsprechend Zen-
suren, sie akzeptiert Leid und Tod, oder sie negiert beides, je nach
Kodex.
  Die aufgesetzte Trennung von Medizin und Moral ermöglichte erst
den ungeheuren Autoritätszuwachs, die Rückbindung der Medizin auf
wissenschaftliche Prinzipien abseits von Gesetz und Religion, erlaub-
te den Nimbus der wertfreien Aussage.17

     Die einzelnen politischen Systeme organisieren die Pathologie nach ver-
     schiedenen Krankheiten und schaffen damit unterschiedliche Kategorien
     von Nachfrage, Versorgung und unbefriedigten Bedürfnissen.18
  Illich weist darauf hin, daß die Macht des Arztes ebenso soziale Ka-
tegorien schafft; die Gesellschaft gruppiert sich zu Mengen von sol-
chen, die arbeitsunfähig sind, von solchen, die Soldaten werden dür-
fen, die den Führerschein erwerben oder nicht erwerben dürfen, von
solchen, die in andere Länder einreisen oder nicht einreisen dürfen,
von solchen, die tot sind, die krank sind, die gesund sind etc. Die Tat-
sache, daß der Arzt über Gesundheit und Krankheit entscheidet und
die Menschen begutachtet, kategorisiert und zuordnet, entzieht den
einzelnen Mitgliedern einer Sozietät die autonome Ent-
scheidungsfähigkeit über den eigenen Status, der Unmündigkeit und
Bevormundung ist damit der Weg bereitet.19,20

     Die[se] Lebensfrist beginnt mit der pränatalen Untersuchung, bei der der
     Arzt entscheidet, ob und wie der Fötus zur Welt kommen darf, und es en-
     det mit einer Eintragung in die Krankenakte, die den Abbruch der Wieder-


 17 Vgl. Temkin (1981).
 18 Illich (1983), S.65.
 19 Vgl. ebd. S.93-95.
 20 Die autonome Beschäftigung mit der eigenen Körperlichkeit wird an institu-
    tionelle Monopole delegiert; regelmäßige „check-ups“, vom Arbeitgeber fi-
    nanziert, bestimmen den sozialen Standort und entheben den Einzelnen
    gänzlich der Verantwortung für sein Leben.
18

     belebungsversuche auf der Intensivstation anordnet. Zwischen Geburt und
     Exitus fügt dieses Paket bio-medizinischer Kontrollen sich bestens in eine
     urbane Landschaft ein, die wie ein mechanischer Uterus gebaut ist.21
  Illich versteht unter einer Medikalisierung des Lebens die über-
mächtige Entscheidungsgewalt und das Manipulationspotential der
Medizin (oder der Ärzteschaft) von der pränatalen Eugenik über
Kreißsaal, Pubertät, Mensis, bis zu Klimakterium und Pensionie-
rungsperiode zuungunsten eines autonomen Körperverständnisses des
einzelnen.
  Er versteht die Medizin nicht nur als Spiegel einer Gesellschaft, de-
ren soziale Kokons, i.e. die Familie, die Nachbarschaftsbeziehungen,
die Subsistenzfunktion der Umwelt, zerstört wurden, seiner Meinung
zufolge verstärkt und reproduziert die Medizin diesen Prozeß. Sie
biologisiert, die als nach Therapie rufend verstandenen Äußerungen
des Individuums und prägt damit eine Konsumhaltung, die Vorbe-
dingung einer kapitalistischen Wertschöpfung und Produktionsideo-
logie ist.22
 Zu den Konsequenzen dieser Diagnose:

     In jedem Fall fügen sie dem biophysikalischen Zustand einen sozialen Sta-
     tus hinzu, der sich auf ein vorgeblich autoritatives Urteil stützt.23
  Grundsätzlich überträgt der Arzt dem diagnostizierten Menschen
Rechte, Pflichten, Erleichterungen und temporäre Stigmata, wenn es
sich um reversible Phänomene handelt.
  Eine medizinische Diagnose unterwirft den Betroffenen der Autori-
tät von Spezialisten:

     Sobald eine Gesellschaft sich zur präventiven Treibjagd auf die Krankheit
     rüstet, nimmt die Diagnose epidemische Formen an. Dieser letzte Triumph
     der therapeutischen Kultur verwandelt die Unabhängigkeit des durch-
     schnittlich Gesunden in eine unzulässige Form der Abweichung.24




 21 Illich (1983), S.96.
 22 Vgl. ebd. S.107.
 23 Ebd. S.108.
 24 Ebd. S.117.
19

 Die Konsequenz ist die verpflichtende Prävention, wenn mit den
volkswirtschaftlichen Schäden argumentiert wird. Das System schafft
bei Strafandrohung seine eigenen Kunden.

     Der erste Berufsstand, der die Gesundheitspflege monopolisiert, ist der
     Arzt im späten 20. Jahrhundert.25
 Illich vermerkt, daß bei vermehrter Aufmerksamkeit für eine tech-
nisierte Medizin, die symbolische, nichttechnische Funktion zunimmt.
Als nichttechnischen Eingriff versteht er gewissermaßen den Placebo-
Effekt, den Eintritt des Patienten in den Mythos Medizin, der Arzt als
Schamane. Als heilend in diesem Sinne kann auch ein negativer Pla-
cebo, eine unnötige Medikation, ein Gift, eine unnötige Operation
verstanden werden. Nach Illich, sind die gesundheitsschädlichen Ne-
benwirkungen von Eingriffen solcher Art die dominierenden.26 „Die
Ärzte behalten sich das unbestrittene Recht vor, zu definieren, was
Krankheit ist [...].“27
 Illich konstatiert die Entwicklung des modernen Begriffs von der
Krankenrolle etwa um die Jahrhundertwende. „[Diese Krankenrolle-
T.B.] definiert Abweichung als Sonderfall legitimen Verhaltens vom
offiziell selektierten Konsumenten in einem industriellen Milieu.“28
  Mit Foucault vermerkt Illich eine Veränderung in der Rolle des Arz-
tes; weg vom Moralisten, hin zum wissenschaftlichen (klinischen),
aufgeklärten Unternehmer, dessen Hauptaufgabe darin bestand, dem
Kranken die Verantwortung für seine Krankheit abzusprechen. Neue
Krankheitskategorien waren nötig, Krankheit wurde für den Arzt zum
Gegenstand von Bio- oder Soziotechnik.
 Dieses Rollenbild konnte nur solange existieren, wie Ärzte an den
unbeschränkten Erfolg ihrer Therapien glaubten, ihn zumindest be-
haupteten und die Bevölkerung diesen Optimismus teilte.29


 25 Ebd. S.135.
 26 Vgl. ebd. S.137.
 27 Ebd. S.140.
 28 Ebd. S.143.
 29 Vgl. ebd. S.144-145.
20

2.1.2 Aspekte einer Medizinkritik und einer Kritik des Begriffs Ge-
sundheit
  Parallel zur Etablierung eines Höchststandes einer technoiden Mo-
nopolmedizin setzte eine massive Kritik an dieser Medizin ein. Sie
wurde nicht zuletzt als subtiles Machtinstrument enttarnt, mit Illich
gerierte sie sich als Nemesis einer in die Irre geleiteten hochindu-
strialisierten Gesellschaft. Von der frühen Kritik eines Michel Fou-
cault, Thomas Szasz mit wissenschaftlichem Anspruch bis zur popu-
lären Medienkampagne sah und sieht sich die Medizin inmitten einer
Identitätskrise.30 Medizin und Gesellschaft, als dialektische Relation
gedacht, erfahren einen Bruch ihres Selbstverständnisses. Wissen-
schaft, Praxis und die Organisation der vergesellschafteten Versor-
gungsansprüche wurden und werden zusehends von Nicht-Experten,
Laien (sic!), diskursiv seziert: Historiker, Soziologen, Mediziner, Po-
litiker, Ökonomen et cetera nehmen am Revitalisierungsprozeß teil.
Revitalisierung deshalb, weil ich glaube, daß der Dekonstruktion ob-
soleter Inhalte eine differenzierte Rekonstruktion eines ‘zeitgemäßen’
Verständnisses von Medizin folgt, das meint, daß in einem Zivilisati-
onsprozeß einmal etablierte Standards gesellschaftlich überformt, wie
auch immer, weiterleben.
  Das Lamento einer verlorengegangenen Autonomie, die eitle Ent-
mündigung des Laien, die Restitution ebendieser Selbstverantwor-
tung, die so heftig betrieben wird, ist nichts anderes als „die Selbstin-
tegration in das Weltsystem zum kategorischen Imperativ“31 zu erhe-
ben, im Sinne eines Eliasschen Konzepts von Selbstzwang und Lang-
sicht(s.u.). Illich einst erbitterter Verfechter der Wiedereinsetzung von
Gesundheit als Funktion von Selbstverantwortung denunziert nun
diese Begriffe als abgelutschte Hülsen neuzeitlicher Rationalität. Der
Nimbus der Machbarkeit, die Objektivierung von Gesundheit hat statt
in einer Welt subjektiver Vernunft32. Illich verabschiedet sich von
diesen aufklärerischen Idealen, er nennt es Selbstbegrenzung: „Um

 30 Vgl. Labisch (1992), S.8-10.
 31 Illich (1992), S.51.
 32 Objektive versus subjektive Vernunft, nach Horckheimers „Kritik an der in-
    strumentellen Vernunft.“
21

jetzt würdig leben zu können, muß ich entschieden auf Gesundheit
und Verantwortung verzichten“33. Er meint „epistemologische Aske-
se“, wenn er auf etablierte, aufklärerische Axiome verzichtet. Illichs
pointiert vorgeführter Begriff von Gesundheit/Leben der postindus-
triellen Gegenwart als Erhaltung und Selbststeuerung des Immunsy-
stems, wird von ihm als Devianz vom okzidental-christlichen Myste-
rium des Lebensbegriffes, von dessen Konnex zu einer objektiven,
göttlichen Vernunft, gesehen.      „Objektivierte sich das Verhältnis
der Menschen zur Natur, wurde auch das Verhältnis der Menschen zu
ihrem Körper objektiviert.“34 Diese Objektivierung der Welt, die der
Inthronisation der subjektiven Vernunft entspricht, entzaubert das Le-
ben als magischen Text.
  Illich, der bessere Christ: „So gesehen ist die Vorstellung vom Le-
ben, das sich auf die Erhaltungsphase eines Immunsystems reduzieren
läßt, nicht nur Idol, nicht nur Fratze, sondern Lästerung“35. Die Aske-
se, der Verzicht auf Gesundheit/Leben und Verantwortung dafür er-
möglicht, so Illich, eine der Gegenwart entsprechende Praxis der Lei-
denskunst.36 Illich redet einer Verweigerung, der nicht zuletzt durch
ihn beförderten Decouvrierung des neuzeitlich-aufklärerischen Axi-
oms ‘Gesundheit’, das Wort. Neuzeitliche Rationalität gewährleistet
keine Orientierung mehr, die Restitution einer objektiven, vielleicht
christlichen, Vernunft mittels asketischer Selbstbegrenzung wird Il-
lich zum Programm.
  Ivan Illich vereint in sich nun zwei grundsätzlich gegenläufige Hal-
tungen der Kritik beispielhaft. Einerseits die rationale Analytik der
Medizin mit der Konsequenz des Tyrannenmordes, der Sturz des Ex-
perten und die Inthronisation des selbstverantwortlichen Laien. Ande-
rerseits, zwanzig Jahre später im Anschluß an eine postmoderne Kri-
tik an der Moderne, stößt er sein eigenes Konzept von sich und ent-


 33 Illich (1992), S.51.
 34 Labisch (1992), S.25.
 35 Illich (1992), S.52.
 36 Mir dämmert hier eine Rückwendung zu einem mittelalterlichen Gesund-
    heitsbegriff: Gesundheit einer transzendentalen Sinnstiftung untergeordnet,
    also marginalisiert.
22

läßt sich und sein Programm aus der Fetischisierung der Gesundheit.
Seine Argumentation präsentiert sich linear, der Enthüllung der Me-
dizin als selbstgerechte Verwalter von Gesundheit/Leben folgt die
Enthüllung der Gesundheit als Metapher/Formel/Paradigma der neu-
zeitlich-rationalen Gesellschaft. Von daher kommt das Interesse die-
ser Diplomarbeit an einer Sequenz im Prozeß einer neuzeitlich-ra-
tionalen Verfestigung, an der Professionalisierung der Ärzteschaft,
die ich nicht nur, wie Foucault, als Effekt und Instrument eines Kon-
textes sehe, sondern mit Illich als aktive Teilnehmer.

2.2 Zur Erfindung der Krankheit und der souverän konzep-
tualisierten Heilkunde.
  Die Französische Revolution transformierte den Zustand der Krank-
heit aus der Privatsphäre ins Licht des öffentlichen Interesses. Das
Postulat, die Gesellschaft in einen Zustand ursprünglicher Gesundheit
zurückzuführen, gründete auf der Vorstellung, daß Freiheit, Brüder-
lichkeit und Gleichheit das Übel Krankheit vertreiben sollten. Ge-
sundheit wurde zum Bürgerrecht und zur Bürgerpflicht; Gesundheit
wird unabdingbar für ein bürgerliches Leben, denn gesund ist syn-
onym für moralisch opportun.37 Die Betreuung fiel noch den Angehö-
rigen bzw. der Nachbarschaft zu. Doch diätetische Aktionsprogramme
sollten bereits die Volksgesundheit garantieren. Die Illusion einer
krankheitsfreien Gesellschaft begann als politisches Programm.

     Krankheit sei ein Symptom politischer Korruption und würde eliminiert,
     sobald die Regierung in Ordnung gebracht wäre.38
  Mit der Restauration erstand die Idee, der Arzt solle Krankheit ver-
meiden, besser beseitigen. Der Arzt wurde zum Kulturheros, vor al-
lem aufgrund eines magischen Rituals, welches die Vorstellung von
der gesunden Volksgemeinschaft, Gesundheit als erstes Bürgerrecht,
gewährleisten sollte. Die Verquickung von Krankheit und Gesundheit
mit öffentlichen Mitteln erforderte eine Operationalisierung der bei-
den Begriffe.



 37 Vgl. Labisch (1992), S.107.
 38 Illich (1975), S.116.
23

  Bisher galt die Heilkunst als integrierter Bestandteil einer allgemei-
nen Krisenbewältigung, die Krise selbst war ein Element der Syste-
merhaltung, sie war Sanktion für grenzüberschreitendes Verhalten;
noch fehlte eine eigenständig konzeptualisierte Heilkunde. Um solch
eine Konzeption zu etablieren, mußten Wert- und Normsysteme im
Zuge der Aufklärung überformt werden.39
  Leiden mußten in objektive Krankheiten verwandelt werden. Spe-
zifische Krankheiten mußten klinisch definiert und verifiziert werden,
damit Funktionäre sie in Klinikstationen, Berichten, Budgets und Mu-
seen unterbringen konnten.40 „Der kranke Mensch »verschwand aus
der medizinischen Kosmologie«. Aus der »Krankengeschichte« wur-
de die »Krankheitsgeschichte«.“41
  Die Verselbständigung einer konzeptualisierten Heilkunde korre-
spondiert mit herrschenden gesellschaftlichen Organisationsformen,
d.h. mit der Verteilung der Kontrolle über die in einer Gesellschaft
verfügbaren Mittel. Unschuld42 unterscheidet zwischen primären
Mitteln, das wären medizinisches Wissen, medizinische Fähigkeiten,
medizinische Technologie u.s.f. und sekundären Mitteln, worunter er
die gesellschaftlich vorgesehenen Vergütungen für die Inanspruch-
nahme primärer Mittel oder Dienstleistungen subsumiert. Die Ver-
selbständigung oder Professionalisierung legitimiert sich nicht aus
sich selbst heraus, aus einer internen Logik, sondern konstituiert sich
in einer Verflechtung gesellschaftlicher Differenzierung, die einem
Expertentum Vorschub leistet. Das 19. Jahrhundert organisiert sich
nun zunehmend als arbeitsteilige Industriegesellschaft; die Kontrolle
und Handhabung der Mittel fällt in die Hände von Experten oder
umgekehrt, die Formierung des Expertentums fungiert als Antwort
auf eine soziale Differenzierung.




 39 Vgl. Unschuld (1978), S.523.
 40 Vgl. Illich (1975), S.118.
 41 Labisch (1992), S.109.
 42 Vgl. Unschuld (1978), S.525.
24

     Ob es die Anfertigung von Kleidungs- oder die Produktion von Nahrungs-
     mittelrohstoffen ist, sie alle sind weitestgehend der Kontrolle der Allge-
     meinheit43 entzogen und derjenigen von Experten überantwortet.44
  Die Medizin argumentierte bereits in einen präparierten Raum hin-
ein, die Verräumlichung des spezialisierten Wissen. Daher fordert die
Medizin politische Macht, aus sich selbst heraus, nicht religiös oder
obrigkeitlich legitimiert, beanspruchte sie normative Kraft. Medizi-
nisch-wissenschaftlich erfaßte Gesundheit wurde zu einem Flucht-
punkt instrumentalisiert, der die in vielerlei Machtzentren zerfallende
bürgerliche Gesellschaft45 außerhalb formal organisierter Institutio-
nen ordnen sollte.

     Diese [Normalitätsvorstellungen/Gesundheit-T.B.] konnten eine aus immer
     kleineren sozialen Einheiten bestehende Gesellschaft sinnhaft orientieren,
     soweit der Körper und die Deutung seiner Normalität in irgendeiner Form
     als Bezugspunkt angenommen werden konnten.46
 Das Dilemma der Gegenwart erschöpft sich nicht in der Paradoxie
von faktischer medizinischer Insuffizienz und radikalem Monopolan-
spruch; der Kampf um Erhaltung ärztlicher Monopolstellungen hat er-
neut begonnen. Zunehmend erweitert sich die Berufsgruppe - der Ge-
sundheitsmarkt erweitert mit einem immer differenzierteren Angebot
die Inventarisierung der Gesellschaft. Der etablierte Ärztestand
kämpft um alte Privilegien.

     Die amtliche Macht über die Definition von Realität hat ihren Gipfel er-
     reicht und ist im Abstieg begriffen. Derzeit arbeitet eine verwirrende Mix-
     tur von High-Tech und Kräuterweisheit, bioengineering und autogenen
     Körperübungen an der Schaffung empfundener Realität, einschließlich des
     Körpers.47




 43 Gilt für städtische Siedlungsformen; allerdings erfolgte die Etablierung einer
    konzeptualisierten Heilkunde hier zuerst.
 44 Unschuld (1978), S.530.
 45 Die bürgerliche Sozialisierung ersetzte das eine solare Machtzentrum durch
    eine Vielzahl von hierarchischen Einbindungen.
 46 Labisch (1992), S.111.
 47 Illich (1987), S.49.
25

  Die Tatsache einer Differenzierung des Gesundheitsmarktes im spä-
ten 20. Jahrhundert läßt die Betrachtung eines entscheidenden Mo-
ments in der ehemals aufstrebenden Karriere des Ärztestandes schon
als Ouvertüre eines Dominanzverlustes oder zumindest einer Ver-
schiebung erscheinen. Das 19. Jahrhundert spiegelt so einen profes-
sionspolitischen Kampf, der mit anderen Vorzeichen im späten 20.
Jahrhundert fortgesetzt wird. Ziel und Resultat der Professionspolitik
der Ärzteschaft im 19. Jahrhundert war die Monopolisierung und eine
autonome Organisations- und Kontrollstruktur. Die Folie und die
Strategeme dieser Ambitionen interessieren uns.
26
27


3 Wissenschaft, Macht und Norm

3.1 Die Szientifizierung der Medizin.
3.1.1 Der leidenschaftslose Blick der Klinik
  Einen grundlegenden Impuls erhält die Konsolidierung des Ärzte-
standes ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Einzug der naturwis-
senschaftlichen Fundierung in die Epistemologie der Medizin schafft
eine neuen Bezugsrahmen. Der Paradigmawechsel im abendländi-
schen Denken, der die mathematische, cartesianische Methode zum
ersten Epistem erhob, reüssierte in der Medizin erst um die Mitte des
19. Jahrhunderts.
  Der Wissenschaft eignet v.a. im deutschen Sprachraum ein massiv
integrierendes Potential. Da eine Kluft zwischen Führungsansprüchen
und -fähigkeiten und den konkreten Herrschaftsmitteln bestand, übte
die Wissenschaft eine stärkere soziale Funktion aus, als in den Frank-
reich oder England. Kollektive, bürgerliche Identität definierte sich
über die Bindung an Bildung und ultimativ an die Wissenschaft. Die
Medizin als Naturwissenschaft vorgestellt ist nur der erfolgreichste
Vertreter einer funktionalisierten Wissenschaft. Eine ganze Schicht
und eine kollektive Versicherung stützten diese Unternehmung.
Krankheit, Gesundheit und Medizin sind nur ein Spielfeld in der Kon-
solidierung und Sublimierung der bürgerlichen Gesellschaft. Schieras
Studie kreist um diese Fragestellung:

    Es soll gezeigt werden, wie neue Schichten, im Übergang vom ständischen
    Sozialgefüge zur bürgerlichen Gesellschaft, dank des Wechselverhältnisses
    von Wissenschaft, Bildung und öffentlicher Meinung zunächst die ihnen
    gemäße soziale und politische Wissenschaft entwickelten und dann, unter
    Anwendung ideologisch und wissenschaftlich abgestützter Verteidigungs-
    und Absicherungsstrategien, ihre gesellschaftliche Führungsstellung
    etablierten und ausbauten.48
 Was auf Erden noch Utopie war, wurde in die virtuelle Realität der
Wissenschaft verschoben. Die Medizin im deutschsprachigen Bereich
hatte mit der romantischen, naturphilosophischen Weltsicht einen

 48 Schiera (1992), S.19.
28

starken Gegenpol zu überwinden. Die Ergebnisse der Wiener und Pa-
riser Medizin sickerten denn auch zäh ein.49
  Die Mitte des 19. Jahrhunderts war geprägt von der Vorstellung ei-
ner Medizin bzw. von der Imagination eines Krankheitsbegriffes, der
den anatomischen Blick zum Primat erhob. Das anatomische Verfah-
ren korrespondierte mit den Ideen des Positivismus, der nach Auguste
Comte die Erkenntnis der Gesetze der Phänomene von der positiven
Denkweise, d.h. einer Methode, die frei von Spekulation und Meta-
physik ist, ermöglicht sah und lediglich die realen Erscheinungen er-
faßte und sie mithilfe exakter wissenschaftlicher Methoden analysier-
te.50 In der Medizin bedeutete dies, daß durch die Analyse der einzel-
nen Teile die Gesetze ihres Baus und ihres Wirkens gegeben seien.
Der Körper erschien als technischer Automat, der durch die Vernunft
des Mechaniker-Arztes darstellbar und verständlich wurde. Die patho-
logische Anatomie oder vielmehr die anatomische Pathologie war
Fundament einer Heilkunde, die lokalisierte, organgebundene Idee
vom Sitz der Krankheit.51 Der lokale Befund, die Organveränderung
galt als Bedingung und Ursache der Symptome. Die Krankheit hatte
ihren organischen Sitz. Die Wiener Schule ging in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts über rein sachliche Erörterungen hinaus, sie be-
gab sich auf das Feld der Metaphysik, es finden sich „spekulative Er-
örterungen der natürlichen Heilaktionen, teils noch im Banne der hu-
moralen Krisenlehre oder der solidaren, vitalistischen Systeme, teils
im Geiste der mannigfachen modifizierten Naturphilosophie.“52
 Rokitansky, ein Kliniker der zweiten Wiener Schule, stellt exem-
plarisch den idealistischen Arzt dar, der den Hippokratischen Grund-
satz vertritt und die Naturheilkraft proklamiert: die Natur bei ihren
Heilbestrebungen nicht hemmen53; gleichwohl Rokitansky, jetzt als


 49 Vgl. Shryock (1940), S.159.
 50 Vgl. Göckenjan (1985), S.308.
 51 Vgl. Berghoff (1947), S.145.
 52 Ebd. S.139.
 53 Diese distanzierte Haltung äußert sich verdichtet im 'therapeutischen Nihi-
    lismus' der Zweiten Wiener Schule um Rokitansky, Skoda und Joseph Dietl.
29

Initiator der Szientifizierung, die deutschsprachige Heilkunde aus ih-
rer naturphilosophischen Spekulation54 zu stoßen gedachte. Die Wie-
ner Medizinal-Halle, eine Fachzeitschrift zitiert den Medizinhistoriker
Hirschel aus Dresden, der Rokitansky als den Begründer der neuen
pathologischen Anatomie apostrophiert, wenigstens für das gegen die
französischen Leistungen gleichgültig gebliebene Deutschland.

     Sie [Rokitansky und Skoda -T.B.] stürzten das Reich der Träume und der
     Theorien und setzten die Erfahrung dafür auf den Thron.55
  Ein zeitgenössisches Enkomion auf Rokitansky, anläßlich seiner
Rede zur Jahressitzung der kaiserlichen Akademie der Wissenschaf-
ten, positioniert seine Arbeit als Ergebnis einer physikalischen Rich-
tung beim Studium der physiologischen Zustände des Gesund- und
des Krankseins:

     er [Rokitansky -T.B.] weist nach, wie die Medicin, nachdem sie sich von
     der Annahme einer von den bekannten Naturkräften verschiedenen Le-
     benskraft lossagte, in die Reihe der Naturwissenschaften eingetreten, dass
     sie selbst eine Wissenschaft sei.56
  Eine Wissenschaftlichkeit mit Einschränkung allerdings, diese Rich-
tung vermag niemals das Rätsel des Lebens völlig zu lösen, so der
Kommentar. Die Ambiguität seiner Person demonstriert sich in die-
sem Feld, hielt er doch an einer Restauration der Humoralpathologie
fest, seine Krasenlehre postulierte den Sitz der Krankheit im Blut, der
Krase.57 Rokitanskys spekulative Theorie wurde bald von Virchow




 54 Die naturphilosophische Richtung bzw. die romantische Medizin gründet auf
    der These vom Leben als galvanischer Prozeß. Eine allgemeine Naturkraft
    wirkt in dieser Dynamik von Expansion oder positiver Elektrizität und Kon-
    traktion oder negativer Elektrizität; ein sich unaufhörlich perpetuierender
    Zirkel von Reproduktion und Desorganisation. Die Krankheit bestimmt sich
    so als von inneren, dynamischen Lebenskräften organisiert. Vgl. Lesky
    (1965), S.103.
 55 Medizinal-Halle (1862, Nr.15), S.140.
 56 AMZ, (1858, Nr.35), S.137.
 57 Vgl. Lesky (1965), S.134-135.
30

widerlegt und kann als eine der letzten Nachwehen nicht-rationaler
Wissenschaftlichkeit gewertet werden.58
 Zentrum seiner rational-empirischen Forschungen war der Lei-
chenhof des Wiener Allgemeinen Krankenhauses59, die Prosektur
versorgte ihn mit einem Forschungsmaterial, das neuartige Episteme
des kranken bzw. toten Körpers gebar.

     Das 19. Jahrhundert war die Hoch-Zeit der Sektion, der Vormachtstellung
     der Pathologie. Während seiner Laufbahn als Pathologe soll Karl von Roki-
     tansky, einer der Begründer dieses Faches, um die 25.000 Diagnosen ge-
     stellt haben. Seine Abteilung am Allgemeinen Wiener Krankenhaus nahm
     während seiner Amtszeit rund 2.000 Leichenöffnungen (einen großen An-
     teil stellen dabei Irre) pro Jahr vor - insgesamt über 80.000 nach dieser
     Schätzung -, wahrscheinlich mehr als in der gesamten vergangenen Ge-
     schichte der Medizin.60
  Erst spät tauschte Rokitansky seinen Arbeitsplatz, der einem Koh-
lenmagazin zur Ehre gereichte, mit einer repräsentativen Bühne ein.
1862 wurde das pathologisch-anatomische Institut eröffnet. „Eine
Zierde der Residenz.“61
  Leskys Fazit versteigt sich in eine pittoreske Momentaufnahme in-
tellektueller Patho- bzw. Nekrophilie.

     Denn mit der ganzen naiven Sinnenhaftigkeit seiner Anschauung hat er
     sich dem sicht- und wahrnehmbaren Krankheitsprodukt hingegeben.62
 Allerdings zeugt ein anderer Text von der Obsession Rokitanskys.

     Im März 1866 beging R. die dreißigtausendste, durch ihn vorgenommene
     Leichensection festlich im Kreise mehrerer Freunde.63
  Die Diskursivierung des Leichnams initiierte eine neuartige Patho-
logensprache, ein objektivierendes, abstrahierendes Lexikon. Das pa-
thologische Produkt trat aus der subjektiven, mythischen Semiologie

 58 Vgl. Shryock (1940), S.164.
 59 Vgl. Martin (1847), S.91-92.
 60 Laqueur (1992), S.214.
 61 WIZ (1862), Nr.27, 5. Juli.
 62 Lesky (1965), S.131.
 63 Wurzbach (1874), S.289.
31

ein in die Korrelation von innerem Organ-Geschehen und sichtbaren
Befund - in die Kausalität von anatomischem Substrat und klinischem
Symptom. Gegen die naturphilosphische Vorstellung einer von diffu-
sen Kräften verursachten Gleichgewichtsstörung behauptet Roki-
tansky die Idee des nachweisbaren „Krankheitsprozesses“, der sich in
Funktion der Zeit entwickelt.64 Diese organizistisch-makroskopische
Pathologie legitimierte die moderne Medizin als esoterischen Diskurs
über die Endlichkeit des Menschen, gleichzeitig bot sie als positive
Wendung die Hoffnung eines restaurativen Eingriffs in den ehemals
verschlossenen, nun zugänglichen und sprachlich konstituierten
Raum.
  Das Problem der damaligen klinisch-anatomischen Befunde war die
Unkenntnis der Pathogenese, der Ätiologie, die Befunde waren immer
nur Produkt der Krankheit, nie sie selbst. Es fehlte noch ein Konnex
zwischen physiologischer Leistung des Organismus und der durch
eine Pathologie veränderten. Noch fehlte eine pathologische Physio-
logie, die abseits von naturphilosophischen Modellen argumentiert.65
Mit Johannes Müller, der eine Kooperation von anatomischen und
physiologischen Grundlagen forderte, tritt nun diese Physiologie in
die Welt.
  Die Entdeckung der kernhaltigen Zelle im tierischen Organismus
durch Schwann veränderte die gültigen Konzepte vom menschlichen
Organismus; die Einheit alles Organischen, die Zelle als letzte mor-
phologische Einheit des Lebens zu erkennen, eröffnete die Gelegen-
heit, die elementaren Krankheitsphänomene an der Zelle kennenzu-
lernen. Der Blick dieser differenzierten Lokalisation erscheint als
konsequente Weiterentwicklung der organgebundenen Pathologie und
der von Xavier Bichat entfalteten Pathologie der Gewebe. Der Blick
auf immer kleinere anatomische Partikel verstellte zunehmend den
Blick auf den Kranken, allein die Krankheit stand im Vordergrund.66




 64 Vgl. Lesky (1965), S.132-135.
 65 Vgl. Berghoff (1947), S.135.
 66 Vgl. Shryock (1940), S.125 u. 135.
32

  Rudolf Virchow (s.u.) konnte darauf aufbauend seine Zellularpatho-
logie formulieren, „die Zelle war nicht nur der anatomische Ele-
mentarorganismus, sondern auch die Stätte physiologischen und pa-
thologischen Geschehens“67. Sie hat ein Eigenleben, ihre Existenz
vollzieht sich demnach in Form von Reaktionen auf nutritive, forma-
tive und funktionelle Reize. Krankheit erscheint demgemäß nicht
mehr als abgeschlossenes Phänomen, sondern als ein Prozeß, der den
selben Gesetzen gehorcht wie der physiologische Organismus;
Krankheit ist somit nicht mehr der Gegensatz von Gesundheit, son-
dern nur noch graduell different. Die Zelle war nun Sitz der Krank-
heit. Das Wesen der Krankheit solle am Ort ihrer Erscheinung er-
forscht werden. Virchows Theorie wandte sich gegen die ontologi-
sche Krankheitsauffassung der naturhistorischen Schule, die einen
Parasiten als Krankheitsursache bestimmte; andererseits wurde seine
Lehre als ‘ontologische’ bezeichnet, da „ein scharf umschriebenes
wesenhaftes Objekt“, das allerdings keine eigene Existenzform war,
„sondern nur den durch die abnormen Bedingungen veränderten Kör-
perteil darstellte“68, zum Ausgangspunkt der Krankheit gemacht. Die
örtliche-anatomische Krankheit sollte anhand der klinischen Bilder
ermittelt werden.
 Die Medizin verkehrte dieses Bild, allein von der Krankheit aus ist
die Gesundheit zu verstehen.

     Die Verschmelzung von pathologischer Anatomie und Physiologie bedeu-
     tet die konzeptionelle Verschmelzung von Gesundheit und Krankheit aus
     der Perspektive des Endzustandes: Krankheit ist das natürliche Experiment
     des Körpers, Gesundheit ist eine erkennbare Entwicklungsstufe hin zum
     Leichenbefund.69
  Der unproblematische Begriff der Gesundheit mutiert zu der Idee
eines Kontinuums von Krankheit und Gesundheit, zum gleitenden
Übergang vom Normalen zum Pathologischen. Als Konsequenz ergibt
sich die Inthronisation des medizinischen Eingriffs als Konzept der
Gesunderhaltung, medizinische Normen substituieren die tradi-


 67 Berghoff (1947), S.150.
 68 Ebd. S.151.
 69 Göckenjan (1985), S.254,
33

tionellen sozialen Krankheitskoordinaten. Die Abschaffung der
Selbstregulationsfähigkeit eines positiven Körperkonzepts bildete die
Grundlage einer Absicherung gegen einen systematischen Zweifel an
der Kompetenz der Ärzte - ein professionspolitisches Argument.70
  Der anatomisch-pathologische Krankheitsbegriff auf physiologi-
scher Basis konnte zweifellos nicht alle bekannten Krankheitspro-
zesse, wie zum Beispiel die Neurosen, erklären. Hier tritt nun der
funktionelle Krankheitsbegriff in Erscheinung, der auf der Dichoto-
mie Suffizienz und Insuffizienz gründet und die Pathologie be-
herrscht. Als Vergleichsreferenz dient eine physiologische Lei-
stungsbreite. Diese funktionelle Diagnostik führt weg von der Vir-
chowschen Morphologie; die klinische Empirie, die experimentelle
Physiologie sucht eine Verbindung von Zellularpathologie und den
klinischen Phänomenen herzustellen. Die klinische Analyse sollte den
Sitz der Krankheit ans Licht befördern, die exakte Analyse führte zu
einer Differenzierung der physikalischen Diagnostik, wie zu einer
Ausweitung des Krankheitsbegriffes.71

    Die Krankheit löst sich von der Metaphysik des Übels, mit der sie jahrhun-
    dertelang verbunden war, und findet in der Sichtbarkeit des Todes die ad-
    äquate Form, in der ihr Gehalt positiv erscheint.72
  Der anatomisch-klinische Blick entstand im Zuge einer epistemo-
logischen Reorganisation der Krankheit. Diese positive Methodik
zerrt die ‘Gegen-Natur’, den Tod, das Übel ans Tageslicht; um diese
Erkenntnisform zu etablieren, mußte der Kranke, so Foucault, in ei-
nen kollektiven und homogenen Raum installiert werden. Im selben
Augenblick definierte sich ein wissenschaftlicher Diskurs, der eine
objektive Korrelation zwischen dem Sichtbaren und dem Aussagbaren
konzipierte. „Man macht sichtbar, indem man sagt, was man sieht.“73
Der Leichnam wurde zum diskursiven Raum, „aus der Einfügung des
Todes in das medizinische Denken ist eine Medizin geboren worden,


 70 Vgl. ebd. S.254-255.
 71 Vgl. Berghoff (1947), S.153-154.
 72 Foucault (1988), S.207.
 73 Ebd. S.207.
34

die sich als Wissenschaft vom Individuum präsentiert.“74 Die Trans-
formation des memento mori: vor dem Tod sind alle gleich.
  Die vorerst unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen geben sich
als medizinisch gleich zu erkennen, arm und reich erleben unter na-
turwissenschaftlichem Blick Krankheit und ärztliche Fürsorge glei-
chermaßen; daraus leitet sich folgerichtig eine Egalisierung der Ärzte
ab. Die Etablierung repräsentativer Vertretungsorgane sollte ärztliche
Interessen in der Gesellschaft durchsetzen. Hinter diesen Forderungen
verbirgt sich kein ökonomischer Zwang, sondern pro-
fessionspolitische Probleme in zeitgenössischem Gewand. Das ärztli-
che Klientel, das Publikum, thematisiert die fachliche Kompetenz.
Der Bürger verschwindet als Adressat, als Vermittler ärztlicher Stan-
desbemühungen. Der Staat avanciert zur primären Apellationsinstanz,
er soll organisatorische Grundlagen der öffentlichen Medizin bereit-
stellen, die Medizin als staatspolitisch relevante Produktivkraft aner-
kennen. Der Ausschluß der Laien, der einheitliche, regulationsbefugte
Stand entspringt, so Göckenjan, aus der These der Bedrohung durch
eine Emanzipation der Laien. Bloß diese Propaganda blieb Rhetorik,
eine ärztliche Vereinigung fand bis über die Mitte des 19. Jahrhun-
derts nicht statt.

     Als Realprozeß findet diese »von oben« statt. Staatsverwaltungen versu-
     chen, sich Beratungs- oder bestimmte Implementationsinstanzen zu schaf-
     fen.75

3.1.2 Rudolf Virchow, die Medizin als Schnittstelle einer ultimativen
naturwissenschaftlichen Anthropologie
 Mit Virchow etabliert sich die Medizin als Träger naturwissen-
schaftlicher Erkenntnisse als soziale Wissenschaft. Aus dem Geist der
Seuchenabwehr entwickeln sich die Anfänge einer Sozialmedizin.
Bakteriologie und Assanierung der Städte prägen die Initiative einer
sozial definierten Medizin. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts kon-
vergieren beschleunigte Industrialisierung, Massenproletariat und E-
pidemien. Die Stadt wird zum Hort der Unruhe und des Aufstandes.


 74 Ebd. S.207.
 75 Göckenjan (1985), S.278.
35

Allen voran die Cholera-Epidemien konstituieren den phantasmati-
schen Anteil, der als rhetorische Strategie in die Medizinierung der
Politik und die Politisierung der Medizin eingeht. In Deutschland zielt
das Projekt einer Medizinalreform auf eine Öffnung des gesamten öf-
fentlichen und privaten Raumes für den sanitär-politischen Blick.
Virchow setzt sich mit seinem Text über die Seuchen und die Volks-
krankheiten von der Rhetorik der bürgerlich-feudalen Gesundheits-,
Hierarchie- und Eigentumsmodell und der „medizinischen Polizey“
des 18. Jahrhunderts völlig ab. Sympathie für die Armen, Kritik an
der Polizei, der Bürokratie und der Nonchalance des Beamtenappara-
tes und der besitzenden Klassen. Bildung und patriotisches Pathos -
eine Volk, ein Staat, alle sind füreinander verantwortlich - sind Ele-
mente der neuen Sozialmedizin.

     Vor einem Hintergrund aus Kriegen, Seuchen, Revolutionen und bürgerli-
     chem Wahn sieht man, wie sich Redeweisen aus der Medizin, der Hygiene,
     der Psychiatrie, der Ökonomie, der soziologischen Betrachtung, der Politik,
     der Kolportage, des journalistischen und polemischen Stils, des Mahnrufs
     sowie des Pessimismus und der Anklage überlagern.76
  Politik und Medizin geben sich als zwei Aspekte eines Anliegens zu
erkennen, der Integration und Verwaltung der Bevölkerung zum
volkswirtschaftlichen Nutzen des Staates und der Affirmation einer
rational-wissenschaftlichen Methodik. Öffentliche Gesundheitspflege
als Existenzsicherung des Staates, aber natürlich auch des Standes.
  Das Jahr 1848 brachte mit Rudolf Virchow eine revolutionäre Zäsur
in der Medizin mit sich. Er erklärte die Medizin zur Totalwis-
senschaft, sie ist der Kern der Entwicklungstheorie und der Motor al-
ler Sozialbewegung. Diese Vorstellung von der Medizin als Mission
einer hygienischen Kultur konstatiert Schipperges77 nicht nur bei
Virchow; besonders die Versammlung der Deutschen Naturforscher
und Ärzte hielt sich für den Nabel der Welt. Schipperges zitiert den
Historiker und Arzt Julius Petersen, der eine hygienische Medizin als
die kommende postulierte; „[die Medizin hat den Auftrag-TB] die



 76 Friedrich/Tietze (1994), S.22.
 77 Schipperges (1984).
36

physiologischen Verhältnisse des Organismus zu allen ihn umgeben-
den Medien und Lebensbedingungen festzustellen.“78
 Die Medizin wurde zum umfassenden Sozialprogramm. Die
naturwissenschaftliche    Methode      avanciert     zur leitenden
Epistemologie in allen Bereichen der Gesellschaft.79
  Anstelle des philosophischen tritt das naturwissenschaftliche Zeital-
ter. Um die Jahrhundertmitte erfolgte dieser Paradigmawechsel. Der
Arzt als Iatrochemiker und Iatrophysiker analysiert die Phänomene
des menschlichen Organismus, die ausschließlich chemisch-physika-
lisch, oder davon abgeleitet, erfaßt werden können.80 Nicht zuletzt
diese Ausschlußhypothese läßt Alexander von Humboldt formulieren:
„In dem Maße als die philosophischen Systeme in den Hintergrund
gedrängt wurden, sind die nüchterne Beobachtung und der gesunde
Menschenverstand in ihr Recht getreten.“81 Virchow fügt denn auch
noch die quasi gesellschaftlich-staatliche Nützlichkeit hinzu:

     Es bedarf keiner besonderen Beweisführung mehr, daß diese Art der Wis-
     senschaft eine nützliche sei. Jedermann im Volke sieht es, welchen Nutzen
     Staat und Gesellschaft von den neuen Anstalten haben. Das alte Wort Ba-
     cons von Verulam ist eine Wahrheit geworden: Scientia est potentia.82
  Claude Bernard, einer der Mediziner, die eine Heilserwartung an die
experimentelle, wissenschaftliche Medizin stellten, beschwor die
Wende; die Zeit der Theorien würde durch experimentell nachvoll-
ziehbare Hypothesen ersetzt werden: „Sie[die Medizin-T.B.] wirft
nicht nur das Joch der Philosophie und der Theologie ab, sie duldet
auch nicht die persönliche Autorität in der Wissenschaft.“83
 Das Primat der wissenschaftlichen Methode war eingesetzt.




 78 Zitiert nach Schipperges (1984), S.25.
 79 Vgl. Schiera (1992), S.81-83.
 80 Vgl. Zeller (1977), S.515.
 81 Zit. n. Schipperges (1984), S.50.
 82 Ebd. S.50.
 83 Ebd. S.51.
37

 Virchow befördert die Medizin zur Zentralwissenschaft vom Men-
schen;

     Obwohl dem Wortlaut nach nur Heilkunst, hat sich die wissenschaftliche
     Medizin immer die Aufgabe gestellt und stellen müssen, die einzige Lehre
     vom Menschen zu enthalten.(1849)84
 Schipperges formuliert drei Punkte dieser Idee von der Zentralwis-
senschaft:
a) die naturwissenschaftliche Methode, die empirisch die Gesetze der
Mechanik anwendet
b) die Analogiebildung hinsichtlich einer Idee vom sozialen „Zellen-
staat“, die Naturwissenschaft wurde zur Sozialwissenschaft
c) ein Sendungsbewußtsein, das den Arzt zum Hohepriester einer E-
volution zum ‘Höheren’ bestimmt, ein kosmopolitischer Aspekt, der
in einer naturwissenschaftlichen Anthropologie mündet.85
  „Ihre letzte Aufgabe als solche ist die Konstituierung der Gesell-
schaft auf physiologischer Grundlage.(1849)“86
 Fazit Virchows:

     Für alles und jedes hat daher die Medizin ein Wort mitzusprechen. (...)
     Niemals mehr wird man vergessen dürfen, daß es die Medizin ist, die alle
     Kenntnisse von den Gesetzen hat, welche den Körper und den Geist zu be-
     stimmen vermögen.87
 Den Nachweis aus der Praxis erbringt Salomon Neuhauser wenig
später, der nach den Erkenntnissen einer medizinischen Studie einer
Stadt das Postulat aufstellt: „Die medizinische Wissenschaft ist eine
soziale Wissenschaft.“88 Das Recht auf Gesundheit wird ausgerufen,
Sachwalter dieser Interessen kann nur die wissenschaftliche Medizin
sein, die Gesundheit tritt endgültig aus der privaten Sphäre des Halb-
schattens ans Licht der staatlichen Öffentlichkeit; Die Konditional-



 84 Ebd. S.52.
 85 Vgl. Schipperges (1984), S.53.
 86 Virchow, zit. n. Schipperges (1984), S.53.
 87 Ebd. S.55.
 88 Ebd. S.55.
38

hygiene verkörperte Wirkung und Instrument öffentlich propagierter
Gesundheit.
 Daß die meisten Krankheiten nicht auf natürlichen, sondern auf ge-
sellschaftlichen Verhältnissen beruhen, tritt nun immer mehr in das
Bewußtsein der Wissenschaftsgeschichte.
  Der Arzt sollte künftig soziale und politische Entscheidungen tref-
fen, die exakte naturwissenschaftliche Methode sollte den menschli-
chen Fortschritt garantieren. Die Wissenschaft ist zur Religion ge-
worden;

     Ausschlaggebend für den Fortschritt wird die Erhebung der Medizin zur
     Naturwissenschaft im höchsten Sinne des Wortes, als Wissenschaft vom
     Menschen, als Anthropologie im weitesten Sinne sein.89
  Der bestimmende Platz der Medizin in der Gesamtarchitektur der
Humanwissenschaften beruht auf ihrer Nähe zu einer anthropologi-
schen Tiefenstruktur; die Gesundheit, die naturwissenschaftlich in-
struierte Gesundheit wird zum Religionssubstitut:

     Denn die Medizin hält dem modernen Menschen das hartnäckige und be-
     ruhigende Gesicht seiner Endlichkeit vor; in ihr wird der Tod ständig be-
     schworen: erlitten und zugleich gebannt; wenn sie dem Menschen ohne
     Unterlaß das Ende ankündigt, das er in sich trägt, so spricht sie ihm auch
     von jener technischen Welt, welche die bewaffnete, positive und volle
     Form seiner Endlichkeit ist.90
 Die Gewährleistung der Lösung der „sozialen Frage“, als ein we-
sentliches Demonstrationsfeld ärztlicher Kompetenz, geht von einer
Profession aus, die kollektiv assoziiert ist; allein eine einheitliche
Standesgruppe vermag diese Sozialreform durchzusetzen; gegenüber
dem Volk, den Laien muß ein Monopolstatus garantiert werden, da
die Zielsetzung sonst unerreichbar bleibt.91
  Die Pädagogisierung der Gesellschaft, d.h. die liberale Durchge-
staltung nach den Prinzipien von Gleichheit und Fortschrittsfähigkeit,
Grundsätze und Methoden der Naturwissenschaft, fällt ebenso in den


 89 Virchow, zit. n. Schipperges (1984), S.58.
 90 Foucault (1988), S.208.
 91 Vgl. Göckenjan (1985), 280-282
39

Aufgabenbereich der Medizin, da sie Trägerin der neuen naturwissen-
schaftlichen Fundierung des Lebens, wie Neugestaltung der Politik
nach naturwissenschaftlichen Prämissen ist. Schritte einer Medi-
kalisierung der Gesellschaft.

     Und die Ärzte liefern zu allem neutralistisch das nötige Know-how, das
     Personal und die effektivste Organisationsform! Die Phantasmagorie ärztli-
     cher Professionspolitik, Probleme nur als technisches Optimierungskalkül
     anerkennen zu wollen.92
 Die Medizin als technische Integrationswissenschaft durch staatli-
che Autorisierung eines homogenen Expertenstandes mit dem Recht
auf Selbstregulation - das ist die liberale Programmatik der ärztlichen
Profession.
  Abschließend läßt Göckenjan durchblicken, daß die Medikalisierung
der Gesellschaft vielmehr an staatliche Regelungsinteressen gebunden
bleibt als an die autonomen Ambitionen einer Berufsgruppe.93Schiera
bestätigt in seiner Studie das Integrationspotential wissenschaftlich
instruierter Normen, v.a. dann, wenn die politische Einflußnahme in
einer bürgerlichen Gesellschaft wenig effektiv bleibt - Wissenschaft
als Sublimierung kollektiver Identität.94




 92 Ebd. S.285.
 93 Vgl. ebd. S.286.
 94 Vgl. Schiera (1992).
40

3.2 Bedingungen einer Sozialdisziplinierung und Pro-
fessionalisierung95
3.2.1 Medizinischer Diskurs und Normvermittlung

      Der historische Prozeß, in dem medizinisches Wissen soziale Autorität ge-
      winnt, der politische, ethische, juristische und literarische Diskurse quasi
      unterworfen sind, tritt in seine entscheidende Phase mit dem 18. Jahrhun-
      dert. Die normative Kraft dieser Begriffsbildung umfaßt alle Entschei-
      dungen, die den Wert menschlichen Lebens im weitesten Sinn umfassen,
      sie dient der Dramatisierung, da sie vorgibt, existentielle Fragen zum The-
      ma zu haben.96
  Alfons Labisch ortet in der Erfassung des Gesundheitsbegriffs eine
prinzipiell normative Kraft und zwar gewissermaßen anthropologisch,
wenn er normal und funktionierend97 gleichsetzt.98 Mit der multifak-
toriellen Ätiologie pathologischer Phänomene erfolgt eine »ganzheit-
liche« Ausweitung des medizinischen Blicks, d.h. eine weitere Ver-
strickung in normative Diskurse; medizinisches Wissen wird multi-
funktional verwertbar und ideologiepolitisch verwendbar.99
  Anz benennt besonders den Zusammenhang der Geschichte der Vor-
stellungen von Krankheit und Gesundheit und der allgemeinen Nor-
men- und Wertediskussion. Er verweist auf die Verwendung „medizi-




 95    Der Begriff der Professionalisierung leitet sich vom englischen Sprachge-
       brauch ab; die Priesterschaft, die Juristen und die Mediziner werden tradi-
       tionell als 'professions' bezeichnet. Der deutsche Sprachgebrauch identifi-
       ziert damit nicht die Abgrenzung einer Reihe von Gruppen von anderen
       Gruppen und deren unterschiedliche historische Entwicklung, sondern die
       Dichotomie: Profi versus Amateur, laienhaft versus berufsmäßig, speziali-
       siert. Das deutsche Äquivalent für 'profession' wäre 'Stand' bzw. 'Standes-
       beruf'. Als wesentliches Standesmerkmal gilt die Autonomie. Unschuld
       führt daher als Alternative den Begriff „Verselbständigung“ ein. Vgl. Un-
       schuld (1978), S.518 und 520-521.
 96 Anz (1989), S.XI.
 97 Funktion ist eine moderner Tautologie zu Gesundheit, aber auch ältere Ge-
     sundheitsvorstellungen rekurrieren auf eine Normalität, eine Ordnung.
 98 Vgl. Labisch (1992), S.14-17.
 99 Vgl. Anz (1989), S.XIII.
41

nische[r] Argumente zur Durchsetzung ethischer und ästhetischer
Normen.“100
  Die Allianz medizinischer und moralischer Diskurse hat für die nor-
mativen Konstruktionen moderner, säkularisierter Gesellschaften eine
erhöhte Anziehungskraft. Denn als normsetzende Sanktionsinstanz
muß hierbei kein metaphysisches Wesen mehr angenommen werden
und auch keine soziale Autorität, deren Legitimität sich bezweifeln
läßt. Die menschliche Natur selbst ist es, die physische und die
psychische, an der man sich nicht straflos versündigen darf.
  Die Rache der Natur, gegen den Frevel abweichenden Verhaltens,
realisiert als Krankheit, ist nichts anderes als die säkularisierte Ver-
sion der von einer Gottheit gesandten Mahnungen und Bestrafungen.
 Gesundheit gilt als positive Sanktion, die normentsprechendes Ver-
halten honoriert und bestärkt. Interpretationen von Gesundheit ver-
weisen auf vorweggenomme Ordnungen.101
  Mit diesen Belegen verknüpft Anz eine soziologische Kommunika-
tionstheorie, d.h. die Beziehung Mensch-Natur funktioniere gleich
einem Prozeß sozialer Interaktion, welcher wiederum auf der Idee der
erwarteten Erwartung102 aufbaut, das nun heißt:
 Normen werden legitimiert unter Berufung auf die »Gesetze« der
Natur, während sie vielmehr abgeleitet sind von den kulturspezifi-
schen Vorstellungen, die man sich über diese »Gesetze« macht.
 Anz weist denn darauf hin, das diese enge Verknüpfung medizini-
scher und moralischer Diskurse besonders das ausgehende
18.Jahrhundert betraf.103
 In den 30er Jahren des 19.Jahrhunderts trat eine Veränderung des
ärztlichen Blicks ein, die moralistische Interpretation psychischer


 100 Ebd. S.XIII.
 101 Vgl. Labisch (1992), S.12.
 102 In sozialen Interaktionsprozessen orientiert sich der Normadressat nicht an
      den tatsächlichen Erwartungen, sondern an der Vorstellung, die er von die-
      sen Erwartungen hat. Vgl. Anz (1989) S.5.
 103 Vgl. ebd. S.6-7.
42

Krankheiten stieß zunehmend auf Ablehnung, wobei die normvermit-
telnde Argumentation und Strategie des Diskurses, wenn auch mit
anderen Inhalten, erhalten blieb. Die psychischen Erkrankungen er-
schienen nun als Begleiterscheinungen organischer Pathologien, d.h.
der moralistische Impetus verlor an Legitimität; die Vertreter dieser
Richtung waren Somatiker benannt. Damit wurde auch die moralische
Selbstverantwortlichkeit für das Leiden in Frage gestellt.
  Diese heute fragwürdige Position stellt in den 30er Jahren des vori-
gen Jahrhunderts allerdings eine Gegenposition zum politisch restau-
rativen Moralismus der „Psychiker“ dar. Bereits in den 40er Jahren
hatte sich die Position der „Somatiker“ durchgesetzt.
 Ein Lehrbuch der Psychiatrie behauptet so, daß zwischen Geistes-
krankheit und moralischem Lebenswandel keinerlei Zusammenhang
besteht, wenngleich psychische Entstehungsursachen geltend gemacht
werden können; hier wird also bereits eine Trennung von Psyche und
Moral vorgenommen und damit die radikale Abtrennung der Somati-
ker, die exklusiv organisch ausgerichtet waren, d.h. psycho- und sozi-
ogenetische Ursachen aus den Augen verloren, überwunden. Der
ganzheitliche, moralisierende Blick der Psychiker und die Befreiung
des Blicks von dem Aspekt der Sittlichkeit war eng verbunden mit der
semantischen Entkopplung der Begriffe „Moral“ und „Psyche“.104
  Dem psychopathologischen Blick war der moralisch-sittliche inhä-
rent.
 Die Exkulpierung der psychisch Kranken, der Verzicht auf einen
moralistisch-pejorativen Krankheitsbegriff war noch nicht vollzogen.
 Anz charakterisiert die Entwicklung des medizinischen Diskurses
von 1800 bis etwa 1850 als naturwissenschaftlichen Positivismus;
damit einher geht eine Monopolisierungstendenz, die dem Mediziner
das alleinige Verfügungsrecht über den Bereich Krankheit zuspricht.
Dem naturwissenschaftlichen ärztlichen Blick allein obliegt die Kom-
petenz, „alle nicht-ärztlichen, namentlich alle poetischen und mora-




 104 Vgl. ebd. S.7-9.
43

listischen Auffassungen des Irreseins sind für dessen Erkenntnis nur
vom allergeringsten Werthe.“105
  Die Grenzen zwischen dem medizinisch-naturwissenschaftlichen
und dem literarischen Diskurs über Krankheit verlaufen dort, wo mo-
ralgenetische und psychogenetische Erklärungsmuster für Krank-
heiten übereinstimmen, dort wo eine positivistische Medizinwissen-
schaft Exklusivität hinsichtlich der Beschäftigung mit Krankheit be-
ansprucht.
 Je weiter sich der Horizont medizinischer Pathologie und Therapie
zum ganzheitlichen Verständnis von Krankheiten hin öffnet, desto
durchlässiger wird er für (möglicherweise mißbräuchliche) Normset-
zungen, die die gesamte Lebenspraxis betreffen.
 Interessant erscheint Anzens These bezüglich des Begriffspaares
„krank und gesund“, das voller moralischer Implikationen steckt, die
noch dazu größtenteils vorbewußt bleiben; er meint, daß es dabei um
höchste Werte säkularisierter Kulturen geht, um die Existenz
schlechthin; deswegen bestimmen die kulturellen Vorstellungen über
Genese, Symptomatik und Therapie von Krankheiten soziale und in-
dividuelle Verhaltensweisen und Verhältnisse - Glück und Heil der
Nation stehen auf dem Spiel.
 Die Logik normvermittelnder Argumentation:
             Einhalten der Norm = gesund
             Nichteinhalten der Norm = pathogen.
 Das Recht auf Wohlbefinden, Gesundheit war schon erklärtes Ziel
der aufgeklärten Moralisten, die den Kranken schuldig sprachen,
normwidriges Verhalten an den Tag zu legen, ihm also die alleinige
Schuld an seiner Krankheit zuwiesen. Die „postaufgeklärte Medizin“
hingegen trachtet, den Kranken zu exkulpieren und die sozialen und
kulturellen Normen als pathogene Faktoren zu beschreiben.106




 105 Arzt Griesinger, zit. nach Anz (1989), S.12
 106 Vgl. ebd. S.15-18.
44

 Also eine Art Kollektivierung, nicht mehr das Individuum, sondern
das Normenkollektiv wird haftbar gemacht. Veränderungen dieser
Werte erscheinen als notwendige Konsequenz.
  Eine Veränderung, ein Perspektivenwechsel erfolgt ab Mitte des
19.Jahrhunderts in dem Maße, indem die Medizinwissenschaft mit-
hilfe epidemiologischer Forschung eine Korrelation zwischen der Zu-
gehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen und der Anfälligkeit für
bestimmte Krankheiten feststellt;107 in dem Maße überkommen sich
die tradierten bürgerlichen Wertvorstellungen, sie sind nicht mehr Ga-
ranten für Gesundheit und Wohlbefinden, sondern im schlimmsten
Fall pathogen und letal. Was der Natur zuwiderläuft, wird krank und
wirkt pathogen. Die Natur als Leerformel, die zu jeder Zeit mit ande-
ren Inhalten angefüllt werden kann; die Natur als auratische Autorität,
die metaphysische Spekulationen oder Gewißheiten ersetzt.108
 Neben dem medizinischen Diskurs, namentlich der Ätiologie, der
Tabus und Vermeidungsregeln bei Strafandrohung produziert, eröff-
net ein weiterer medizinischer Diskurs ein weites Feld mit normativen
Implikationen: die Therapeutik, Diätetik und Hygiene. Also Bereiche,
die der Lebenserhaltung, der Förderung oder der Erhaltung der Ge-
sundheit dienen, die aktiv (oder aggressiv) in die Lebenspraxis ein-
greifen.
  Mit der im 18.Jahrhundert expandierenden Diätetik und Hygiene ge-
rät auch der Alltag des Gesunden (als einem immerhin potentiellen
Patienten) in verstärktem Maße in den Einflußbereich medizinischen
Wissens.
 Die von therapeutischen, diätetischen und hygienischen Vorstellun-
gen gestützte Logik norm- und wertvermittelnder Diskurse legitimiert
bestimmte, hochgewertete Verhaltens- und Lebensformen.109
 Einhalten gewährleistet Gesundheit, Zuwiderhandeln hat Krankheit
zur Folge - die Natur gilt wieder als Sanktionsinstanz.



 107 Vgl. Friedrich/Titze (1994), S.20-30.
 108 Vgl. Lepenies (1992), Kapitel über Wissenschaft und Angst.
 109 Vgl. Anz. S.24-25.
45

  Die Sprache, in der die Natur ihre Vorschriften kundtut, bedarf frei-
lich, wie die Gottes, professioneller Vermittler, die sie zu entziffern
und zu übersetzen verstehen.
  Der Arzt avanciert zum Priester, der tendenziell Monopolansprüche
anmeldet, da er quasi Sprecher der höchsten Autorität, wie des höchs-
ten bürgerlichen Wertes ist.
  Mit der Aufklärung wird Gesundheit zum sozialen Distinktionsmit-
tel, ein quasi bürgerliches Atout im Kampf gegen den an Macht und
Einfluß verlierenden Adel. Die Gesundheit wird zum Ausweis der
Überlegenheit bourgeoiser Normen.
  Die Tatsache, daß Gesundheit in der bürgerlichen Kultur zu einem
absolut positivem Wert heranwächst, Krankheit hingegen zum abso-
luten ‘Unwert’ degradiert wird, erklärt das ausgeprägte Interesse an
der Definition beider Begriffe, ein Interesse, das naturgemäß über ei-
nen fachspezifischen Diskurs hinausgeht, da es weithin als norm-
legitimierendes Argument im rhetorischen Rahmen eingesetzt wird.
  Die Ausschließungprozedur, als normative Präskription, d.h. das
Benennen bestimmter Verhaltensweisen als »krank«, agiert als nega-
tive Sanktion im Mantel wertfreier Deskription. Der soziale Druck,
der mit der Etikettierung »krank« einhergeht, ist ein weit höherer als
der, der mit den Begriffen »häßlich« oder »böse« verknüpft ist.
 In dieser Version normativer Diskursstrategie wird nicht mit Krank-
heit als Vergeltung normwidrigen Verhaltensweisen gedroht, sondern
die Stigmatisierung der Normwidrigkeit als »krank« ist bereits die
Sanktion.
 Krank zu sein, kann vor Sanktionen im strafrechtlichen Diskurs be-
wahren, kann ein Mittel der Arbeitsverweigerung bzw. der Ver-
weigerung als solcher sein, dabei gesellschaftlich akzeptiert, es ent-
bindet ebenso von mancherlei sozialen Verpflichtungen; andererseits
mindert ein Krankheitszustand die vollwertige Mitgliedschaft in der
Gesellschaft; die Verpflichtung gesund zu werden und fachkundige
Hilfe zu konsultieren ist obligatorisch.
  Das Stigma »krank« droht im normkonstituierenden Diskurs mit so-
zial negativen Sanktionen, es erinnert an Sanktionen, die mit Angst
46

besetzt sind; »krank« zu sein bedeutet aus dem „vernünftigen“ Dis-
kurs exkommuniziert zu werden.110
  In diesem Kontext geriert sich die Medizin als mediko-juristischer
Komplex; die Familie, die Schule, die Fabrik, das Militär, die Politik,
das Gericht werden zum Betätigungsfeld einer umfassenden Medizin,
sie funktioniert als Mechanismus der sozialen Kontrolle. Das
19.Jahrhundert fußt im Angelpunkt des Übergangs vom theologischen
zum therapeutischen Staat; vom Polizeystaat - wobei „Polizey“ nicht
als Zwangsfunktion, sondern als umfassender Begriff von Führung,
Regierung und Unterwiseung zu verstehen ist - zum Rechtsstaat.
Soziale Kontrolle gibt sich als Therapie bzw. öffentliche Fürsorge zu
erkennen. Der Medizin kommt die Aufgabe zu, die Verwirklichung
einer Normalisierungsgesellschaft zu gewährleisten.
 Die Medikalisierung der Gesellschaft gibt sich als Profilierungsfeld
v.a. der Ärzteschaft zu erkennen.
  Die Perspektive der Gegenwart, das Unbehagen an einer medizini-
schen Totalvereinnahmung des menschlichen Körpers bietet den An-
laß, richtungsweisende Impulse in der Vergangenheit einer Profession
aufzuspüren, die nahezu monopolistischen Zugriff auf den intimen,
persönlichen Körper hat.

3.2.2 Der Begriff des Monopols und der Macht:
 Die Verwendung des Monopolbegriffs konstituiert sich in unserem
Zusammenhang mehrheitlich aus den Studien Norbert Elias’.
  Der Mechanismus der Monopolbildung: In einer gesellschaftlichen
Entität kämpfen kleinere Einheiten, die durch die größeren interde-
pendent korrespondieren, und nicht durch schon vorhandene Mono-
pole behindert werden am jeweiligen Markt um Subsistenz- und Pro-
duktionsmittel. Elias geht von der Wahrscheinlichkeit aus, daß in-
folge immer weniger über immer mehr Chancen verfügen, d.h. daß
immer mehr in Abhängigkeit von einer kleineren Menge oder Gruppe
geraten.111 Dieser Effekt der Verschiebung der Stärkeverhältnisse


 110 Vgl. ebd. S.28-30.
 111 Vgl. Elias (1989), Bd. 2, S.144.
47

gibt sich sehr vereinfacht, er umgeht mögliche Variationen, intendiert
ist lediglich die Präsentation der Oberflächenstruktur eines Prozesses.
  Elias’ Pointe ist nun die Tatsache, daß in jeder höher differenzierten
Gesellschaft die Verteilung der Abhängigkeit umschlägt; je um-
fassender im Rahmen des Monopolmechanismus die Anzahl der Ab-
hängigen gewachsen ist, desto größer wird die gesellschaftliche Stär-
ke der Abhängigen als Ganzes. Die Monopolisten benötigen zur Ab-
sicherung, Erhaltung und Bewirtschaftung ihres Monopols immer
mehr Abhängige. Es entwickelt sich ein Herrschaftsfeld mit spezifi-
scher gesetzlicher Dynamik: je differenzierter und umfassender dieses
Monopolareal ist, desto komplexer die Abhängigkeiten;

     der oder die Monopolherren [werden-T.B.] zu Zentralfunktionären eines
     funktionsteiligen Apparats, mächtiger vielleicht als andere Funktionäre,
     aber kaum weniger abhängig und gebunden als sie.112
 Die akkumulierten Chancen tendieren dazu den Händen der Mono-
polherren zu entgleiten, in die Hände von Abhängigen zu fallen. Das
Monopol vergesellschaftet sich, es wird zum öffentlichen, zum Staats-
monopol.

     Das immer reicher funktionsteilige Menschengeschlecht als ein Ganzes hat
     ein Eigengesetz, das sich jeder privaten Monopolisierung von Chancen
     immer stärker entgegenstemmt. Die Tendenz der Monopole, etwa des Ge-
     walt- und Steuermonopols, aus „privaten“ zu „öffentlichen“ oder „staatli-
     chen“ Monopolen zu werden, ist nichts anderes als eine Funktion der ge-
     sellschaftlichen Interdependenz.113
  Das System strebt einem Gleichgewicht zu, indem die Akkumula-
tion der Chancen in den Händen einiger weniger verunmöglicht wird;
eine Art Entropie - die gleichmäßige Verteilung von funktionalisierter
Abhängigkeit und Macht.
  Man muß sich also von der Vorstellung befreien, daß Macht etwas
ist, was man besitzt oder das eine Gruppe besitzt, also beispielsweise
die Monopolqualität der Medizin. Foucault akzeptiert den politischen


 112 Ebd. S.148. Diese Anschauung greift später Foucault auf, er spricht von
      der lediglich strategisch günstigeren Position in einem Spannungsfeld von
      Dependenzen.
 113 Ebd. S.152.
48

Wert der Formel: „Sie haben die Macht.“ Analytisch besehen ist die
Macht eine Funktion ihrer Wirkung, die bis in kleinste Elemente des
Sozialen vordringt.

     Sie kommt zur Wirkung oder nicht, das heißt, die Macht ist immer eine be-
     stimmte Form augenblickhafter und beständig wiederholter Zusammenstö-
     ße innerhalb einer bestimmten Anzahl von Individuen.114
  Die Macht entspricht nicht der Polarisierung von Passivität versus
Aktivität. Zwar räumt Foucault ein, daß eine privilegierte Gruppe in
der Gesellschaft existiert, die strategisch eine Polarisierung vor-
täuscht, allein die Wirkung von Macht geht von kleinen Partikeln aus.
Sie wirkt niemals von einem Zentrum aus. „Die Macht ist niemals
monolithisch.“115 Foucaults Machtbegriff grenzt sich gegen die Idee
der Regierungsmacht, gegen die Idee einer Suppression der einen zu-
gunsten der anderen ab; er begreift die Macht schließlich nicht als ge-
regelte Form der Gewalt. Die Souveränität eines Staates, der juridi-
sche Diskurs der Gesetze sind allenfalls Endprodukte: staatliche Insti-
tutionen, Gesetzgebung strategische gesellschaftliche Hegemonien
sind Kristallisationen eines Machtbegriffs, der sich als Feld vielfälti-
ger Kräfterelationen versteht - ein Areal in dem heterogene Vektoren
(die Impulse der Kräfte) ein Spiel wechselseitiger Abhängigkeit, Be-
dingtheit, Isolation und Aporien inszenieren. Die Effekte der Macht
dringen in die periphersten Winkel vor, nicht trotz der Tatsache dieses
instabilen Kraftfeldes, das infolge seiner Ungleichheit permanent
transitorische Machtzustände hervorbringt, sondern gerade weil die
Abkehr von der Vorstellung eines Machtzentrums, einer Sonne der
Souveränität den Blick freimacht für die dissoziierte Macht, die nicht
unter dem Aspekt der zentralen Einheit, sondern unter dem Aspekt
der dezentralen, augenblicklichen Konstitution wirkt.

     Nicht weil sie alles umfaßt, sondern weil sie von überall kommt, ist die
     Macht überall. [...] Die Macht ist der Name, den man komplexen strategi-
     schen Situationen in einer Gesellschaft gibt.116



 114 Foucault (1976), S.114.
 115 Ebd. S.115.
 116 Foucault (1983), S.114.
49

  Die Macht als Chiffre bzw. Wirkung und Effekt von Kräfterelatio-
nen ist auf unzählige Punkte verteilt. Foucault schreibt ihr eine posi-
tive, d.h. kreative Funktion zu. Eine Machtbeziehung repräsentiert
also keinen Überbau der lediglich regulierend (affirmierend oder zen-
surierend) eingreift, nein, die Macht wirkt unmittelbar gebärend; sie
ist etwa ökonomischen Prozessen oder sexuellen Beziehungen nicht
äußerlich, sondern immanent.
  Element der Machtbeziehungen sind Intentionalität und Nicht-Sub-
jektivität. Die Macht impliziert ein Kalkül, Zielsetzungen, eine Ra-
tionalität, allerdings abseits einer Bindung zu einem historischen bzw.
juristischen und natürlichen Subjekt. Die Rationalität der Macht ist
eine Rationalität der Taktiken. Den Kräfteverhältnissen ist eine Stra-
tegie immanent, deren Kenntnis bzw. Dekodierung erst ein Ver-
ständnis ermöglicht. Das Feld der heterogenen Vektoren ist kein
fremdbestimmtes.

     Es geht also darum, sich einer Machtkonzeption zuzuwenden, die das
     Privileg des Gesetzes durch den Gesichtspunkt der Zielsetzung ablöst, das
     Privileg des Verbots durch den Gesichtspunkt der taktischen Effizienz, das
     Privileg der Souveränität durch die Analyse eines vielfältigen und bewegli-
     chen Feldes von Kräfteverhältnissen, in denen sich globale aber niemals
     völlig stabile Herrschaftswirkungen durchsetzen. Das strategische Modell
     soll also das Modell des Rechts ablösen. Und das nicht aufgrund einer spe-
     kulativen Wahl oder einer theoretischen Vorliebe, sondern weil es einer der
     grundlegendsten Züge der abendländischen Gesellschaften ist, daß die
     Kräfteverhältnisse, die lange Zeit im Krieg, in allen Formen des Krieges,
     ihren Hauptausdruck gefunden haben, sich nach und nach in der Ordnung
     der politischen Macht eingerichtet haben.117
  Die Amalgamierung von Staat und Medizin als teleologische Hypo-
these eines Prozesses repräsentiert die Vorstellung, daß jeder Punkt
der Machtausübung ein Ort der Wissensbildung ist, bzw. daß eta-
bliertes, diskretes Wissen die Ausübung von Macht garantiert.

     Das heißt, daß jeder Agent der Macht denen, die ihm die Macht übertragen
     haben, ein bestimmtes und der von ihm ausgeübten Macht entsprechendes
     Wissen wird zurückerstatten müssen.118



 117 Ebd. S.124.
 118 Foucault (1976), S.119.
50

  In diesem Wirkungsfeld versucht sich einerseits die Medizin zu e-
tablieren, andererseits engagiert der Staat seine Agenten als Wis-
sensproduzenten. Dieses Wissen ist seinerseits nun Machtmittel im
Sinne seiner Kontroll- und Sanktionspotenz.
  Die exzessive Verbannung der Autonomie im subjektiven Thera-
pieverhalten durch den naturwissenschaftlich ausgebildeten, profes-
sionellen Mediziner wird im späten 20. Jahrhundert zur existentiellen
Bedrohung; zur Bedrohung nicht nur des Einzelnen, sondern auch zu
der aggregierter Körpermassen, zum nationalökonomischen und frie-
denspolitischen Menetekel. Das nicht mehr finanzierbare Gesund-
heitssystem, eine Stagnation bei Diagnose u.v.a. bei Therapieinno-
vationen nagen an den Wurzeln eines Gesellschaftssystems, welches
auch mittels des öffentlichen Gesundheitsdiskurses seine gegenwär-
tige Struktur etablierte. Der existentielle Fortbestand der okzidentalen
Kultur wird von einem Paradigmawechsel abhängig gemacht; eine
ungestüme Kulturkritik heftet die Befreiung des Subjekts aus dem
Joch der naturwissenschaftlich ausgerichteten Schulmedizin auf ihre
Fahnen.

3.2.3 Sozialdisziplinierung:
 Zweck dieses kurzen Exkurses ist die Eingrenzung des Begriffs, wie
er in unserem Kontext verstanden wird, es handelt sich nicht um eine
Darstellung der Forschungssituation.
  Der Begriff der Sozialdisziplinierung ist als der Aggregatzustand zu
verstehen, der der Disziplinargesellschaft vorangeht. Der Diskurs der
öffentlichen Gesundheit äußert sich als elementares Konstituens im
Kondensationsprozeß einer Gesellschaft, die durch Implementierung
eines neuartigen Diskurses eine Veränderung der Machtgefüge indi-
ziert, die letztlich durch Internalisierung eines zunächst äußeren
Zwanges, dem Zwang zum Selbstzwang, den Weg in Richtung einer
differenzierten Disziplinargesellschaft einschlägt. Zum Selbstzwang
tritt die Langsicht. Augenblickliche Affekte werden Zwecken unter-
geordnet, die weit in der Ferne liegen können. Relevant bleibt die
Tatsache, daß dieser Vorgang nicht von einem oder wenigen Zentren
aus gelenkt wird; der Impuls geht von dezentralen, singulären Teilen
manchmal gleichzeitig, öfter versetzt aus. In einem Funktionskonti-
51

nuum äußern sich Machtansprüche als Wirkungen, die nicht erzwun-
gen werden, sondern sich als Korrelationsfunktion zu erkennen ge-
ben. Norbert Elias nennt das den „Prozeß der Zivilisation“; die Im-
pulse sind nicht von rationalem Kalkül emittiert, nichts Geplantes.
„Hier hat man es mit Erscheinungen, mit Zwängen und Gesetzmä-
ßigkeiten eigener Art zu tun,“119 die weder rationaler noch irrationa-
ler Natur sind. Movens dieses Zivilisationsprozesses ist die fortlau-
fende Differenzierung der gesellschaftlichen Funktionen infolge eines
starken Konkurrenzdruckes.
  Um eine funktionsteilige Gesellschaft aufrecht zu erhalten, bzw. die
Existenz in ihr, bedarf es einer komplexen Regulierung der sozialen
Beziehungen der einzelnen Mitglieder; Elias, der dabei keineswegs an
einen bewußten Vorgang denkt, forciert die Vorstellung einer un-
bewußten Veränderung des psychischen Apparats, eine Art ange-
züchteten Automatismus’, „als Selbstzwang, dessen er [der Einzelne-
T.B.] sich nicht erwehren kann, selbst wenn er es in seinem Bewußt-
sein will.“120 Elias komplettiert dieses Konzept mit der These von der
„Triade der Grundkontrollen“, eine Gesellschaft verknüpft dynamisch
Kontrollen über außermenschliche Ereignisse mit solchen über inner-
gesellschaftliche Zusammenhänge und solchen über individuelle
Affekte.121
  Der Vorgang der Sozialdisziplinierung ist nicht als gerichtete Inter-
vention zu verstehen, wenngleich einige Wenige strategisch einen
privilegierten Platz einnehmen.122 Die Sozialdisziplinierung ist Ef-
fekt und Movens eines diskursiven Gefüges, es handelt sich um

     Verfahren, die nicht mehr mit der Ausnahme, sondern der permanenten
     Kontrolle operieren, die nicht die punktuelle Abschreckung, sondern die
     dauernde Reglementierung in den Vordergrund stellen123




 119 Elias (1989), S.476.
 120 Ebd. S.317.
 121 Elias (1970), Was ist Soziologie? Zitiert nach Labisch (1992), S.31.
 122 Foucault (1976), S.115.
 123 Breuer (1986), S.56.
52

  Das Feld der öffentlichen Gesundheitspflege ist ein weiteres In-
strument der Verfeinerung der Disziplin; die Ärzteschaft profitiert
von dieser Entwicklung, sie beschleunigt sie aus professionspoliti-
schen Interessen, der Staat seinerseits als operationalisierte Dachorga-
nisation der Gesellschaft nützt die dadurch geschaffen Möglichkeiten
einer legitimierten Inventarisierung seiner Mitglieder. Nochmals wie-
derholt sei die Position Foucaults, der sich gegen die Vorstellung ei-
nes institutionalisierten Machtzentrums stellt.

     Nach Foucault hat die Disziplinierung nicht nur den Effekt, die Individuen
     gefügiger und berechenbarer zu machen. Sie macht sie zugleich effizienter,
     leistungsfähiger und - individueller.124
  Die Ärzteschaft und der Staat wären lediglich die strategisch privi-
legierten Institutionen dieses Zivilisationsprozesses.
  Die Technisierung und Industrialisierung der Gesellschaft um die
Mitte des 19. Jahrhunderts initialisierte eine neuerliche gesellschaft-
liche Differenzierung; der Zivilisationsprozeß erforderte eine Verhal-
tensanpassung.

     Die 1831 in Europa einsetzenden Cholera-Epidemien wurden zugleich ein
     Fanal für die Gefahr, die der Allgemeinheit aus den industriellen Agglome-
     rationen mit ihren bislang kaum bekannten und ungelösten Versorgungs-
     problemen erwuchs.125

  Ein Vektor, der über die Popularisierung zur Internalisierung ad-
äquater Gesten führt. In diesem dezentralen, verzahnten Prozeß tritt
nun der Arzt als Stratege auf und konzipiert die naturwissenschaftli-
che Medizin bzw. Hygiene als letzte Instanz bürgerlicher Kultur, Me-
dizin und Ethik sind lediglich zwei Objektivationen der Naturwis-
senschaft.126 Im Rahmen der Durchsetzung dieses Anspruchs wird
der Arzt zum Mediator der sozialen Differenzierung. In dem Moment,
in dem Gesundheit als wissenschaftliche Kategorie akzeptiert wird,
wenn wissenschaftlich begründetes Verhalten als sozial erwünscht



 124 Ebd. S.60.
 125 Labisch (1986), S.272.
 126 Vgl. Labisch (1986), S.273.
53

gilt, avanciert der ehemals marginale Arzt127 zum strategischen
Nutznießer. Andererseits wird die Medizin im Netzwerk inter-
dependenter Abhängigkeiten operationalisiert. Der unbestimmte Vek-
tor der Differenzierung erfaßt den Arzt.

    Über das sekundäre128 Ziel der Gesundheit liefert die Medizin folglich ein
    in seinem Begründungszusammenhang beliebig austauschbares theoreti-
    sches Argumentationsinventar, das einen gesellschaftlich gesetzten An-
    spruch an ein bestimmtes Handeln und Verhalten rationalisiert.129




 127 Vgl. Frevert (1984), S.36-44.
 128 Sekundär deshalb, weil wissenschaftliche Episteme ihrerseits auf Denk-
      und Wertsystemen beruhen.
 129 Labisch (1986), S.281.
54


4 Medizin und Verwaltung

4.1 Die Medizinalreformen als Agitationsforum
  Für die Jahre nach 1848 ortet Göckenjan die Stimuli einer Refor-
mierung des Gesundheitswesens wesentlich im Rahmen politischer
Ambitionen, nicht aber im Feld schlechter oder sich verschlechternder
Arbeitsbedingungen der Ärzte. Was lediglich heißen kann, daß eine
politische Rhetorik letztlich professionale Interessen transportiert.
Der autoritäre, nicht demokratisch legitimierte Lebenskontext mobili-
sierte auch die Ärzteschaft, die mehrheitlich liberalen und de-
mokratischen Vorstellungen verpflichtet war; sie opponierte herr-
schenden gesellschafts- und professionspolitischen Kräften. Politik
und Medizin werden von identen Positionen angedacht: individuelle
Freiheit und Selbstbestimmungsrecht gelten da wie dort als fort-
schrittliche Postulate. Die professionspolitische Forderung nach ei-
nem einheitlichen Ärztestand mit autonomer Verwaltung korrespon-
diert mit der staatspolitischen Forderung nach Entflechtung einer
zentralen, obrigkeitsstaatlichen Administration. Angriffspunkt ist der
Kampf gegen nicht durch Verdienst und Fähigkeit erworbene soziale
Privilegien.130 In Österreich erlahmt der Impuls der fehlgeschlagenen
bürgerlichen Revolution sehr bald, die monarchistisch - konservativen
Kräfte behaupten die Initiative. Die Elemente einer Dezentralisierung
der Bürokratie, wie die Etablierung der autonomen Kommunal-
verwaltung konnten sich nicht durchsetzen. Das Provisorium von
1850 repräsentiert demgemäß den zentralistischen Durchgriff der
Staatsspitze in sämtlichen Bereichen, auch der öffentlichen Gesund-
heitspflege.
  Allerdings kommt hier, im Gestus liberaler Standespolitik, bereits
eine doppelte Moral zum Tragen. Intention der zukünftigen Regelung
des öffentlichen Gesundheitswesens wird eine Privilegierung eines
spezifischen Berufstandes sein; eine Monopolisierung mit Ausschluß-
recht und Selbstverwaltung. Appellationsinstanz ist der Staat, der
ärztliche Pfründe autorisieren soll.


 130 Vgl. Göckenjan (1985), S.267.
55

     Das sind durchaus Privilegienforderungen gegenüber den konkurrierenden
     Laienheilern, der professionspolitischen Gesamtinteressen gegenüber ab-
     weichendem Verhalten von Kollegen, gegenüber staatlichen Aufsichts- und
     Direktionsinteressen.131
  Zwei elementare Markierungen der Medizinalreformbewegung wa-
ren einerseits die erwähnte Vereinheitlichung des Standes, anderer-
seits wurden die Armen als Profilierungsfeld ärztlichen Interesses
entdeckt. Sozialpolitische Ambitionen dienen als Chiffre und Chance
zu Durchsetzung professionspolitischer Anliegen.

     Und Gesundheit wird zum legitimierenden, allgemein gesellschaftlichen
     Orientierungswert der Sozialpolitik.132
  Die Homogenisierung einer Berufsgruppe, Kristallisationspunkt ist
der disparate Zustand der Heilberufe innerhalb ärztlicher Hierarchi-
sierung, kennzeichnet die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dem
Internisten untergeordnet ist der Chirurg und die Geburtskunde, die
vorwiegend von Hebammen ausgeübt wird. Die Ideologie der Ein-
heitlichkeit eines Standes, in der polemischen Auseinandersetzung
mit der Konkurrenz, rekurriert auf die Vorstellung vom kohärenten
menschlichen Körper, der als systemisches Organ nicht teilbar ist,
sondern immer als Ganzes reagiert. Daher leitet sich die Intention der
Kontrolle bzw. der Vertreibung des ‘niederen’, will heißen nicht aka-
demischen Heilpersonals ab. Diese Frage nach einer Gruppenidentität
war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keineswegs von zentra-
ler Relevanz. Stand erscheint synonym für Kunst, als eine Art Ab-
straktum einer ideellen Einheit vorerst individueller, subjektiver Inte-
ressen.
 Göckenjan erblickt ein traditionelles Arztbild: der Arzt als Heil-
künstler, Staat, Wissenschaft und Berufsstand bleiben nachgeordnete
Kategorien. Eventuelle korporative Organisationen dienen v.a. zur
Absicherung der Individualität des Arztes gegenüber einer heteroge-
nen Klientel. Eine Assoziation ist nicht Regelungsinstanz, sondern hat
Patronatsfunktion gegen die Dominanz der Patienten, gegen den
Einfluß des Staates. Die Gewerbeposition der Medizin ist das eigent-


 131 Ebd. S.268.
 132 Ebd. S.269.
56

liche Problem, die Konkurrenzsituation, die finanzielle, existentielle
Abhängigkeit des Arztes am Gesundheitsmarkt. Allein diese Vor-
griffe auf eine spätere Standespolitik blieben nicht unwidersprochen;
die freie Konkurrenz, die Entwicklung der persönlichen Kompetenz,
eine hierarchisierte Behandlung entsprechend sozialer Gegebenheiten
- arm versus reich - beanspruchen Ungebundenheit, eine staatliche
Privilegierung durch korporative Organisationen widerspreche gera-
dezu dem ärztlichen Selbstverständnis.133
  Göckenjan zitiert ein Beispiel, das die Distanz zu professionspoliti-
schen Debatte der späteren Jahre augenfällig macht. Entgegen einer
Form ärztlicher Proto-Standespolitik, die weit entfernt von den uni-
versalen Ansprüchen einer Standesethik ist, die lediglich eine indivi-
duelle, kurative oder präventive Gesundheitssicherung ins Auge faßt,
wettert ein Gegner dieser konzeptuellen Proto-Standespolitik: er
spricht den Ärzten jede Kompetenzfähigkeit in staatspolitischen An-
gelegenheiten ab. Göckenjan resümiert eine nahezu neurotische Ab-
wehrhaltung wider jede Art von Regulationsvorstellung. Differenziert
äußert sich die ökonomische Stellung des Arztes im Zwiespalt von
Absicherung seiner Rolle als Kleingewerbetreibender und der Furcht
vor Reduzierung seines Profits durch eine die Absicherung ga-
rantierende Instanz.134

4.1.1 Exkurs: traditionale Strukturen im Arzt-Patient-Verhältnis
  Um die soziale Stellung des Arztes zu begreifen ist ein kurzer Blick
auf den aus heutiger Sicht frühen prototypischen, medizinischen Ex-
perten notwendig. Noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts war die
Autorität des studierten Arztes zweifelhaft. Huerkamp zitiert Äuße-
rungen eines Arztes von 1843: lapidar konzediert er der Fülle
‘contradictorischer Heilverfahren’ idente Erfolge: ein Teil der Kran-
ken stirbt, ein anderer gesundet.135 Dieses Feld ungesicherter The-
rapieerfolge und noch nicht entwickelter Diagnoseverfahren eröffnete
allen Teilnehmern des Gesundheitsmarktes in etwa gleiche Chancen


 133 Vgl. Göckenjan (1985), S.269-272.
 134 Vgl. ebd. S.273.
 135 Vgl. Huerkamp (1985), S.24.
57

auf Erfolg. Erfolg bedeutet die Erteilung des Behandlungsrechtes. Der
Patient, hier ist ausschließlich die bürgerliche Oberschicht gemeint,
entschied in dieser Situation von einander widersprechender und aus-
schließender Behandlungsmethoden zumeist auf Basis nicht eruierba-
rer Psychologismen. Das Szenario des frühen 19. Jahrhunderts
präsentiert sich geradezu als Inversion unserer gegenwärtigen
Ordinationszimmermedizin: Ehemals umgab sich der Kranke mit
einer illustren Gruppe von Heilern unterschiedlichster Provenienz,
spielte sie gegeneinander aus und entschied intuitiv, nicht-rational
zugunsten eines Anbieters; heute umgibt sich der Mediziner136 mit
einer Vielzahl von Kranken und wählt seinerseits Therapieformen
aus, möglicherweise ebenso intuitiv, nicht-rational, bestimmt aber
unter ökonomischen Gesichtspunkten. Alles in allem finden wir,
pointiert und generalisiert konzipiert, eine Transformation des
Entscheidungsmonopols vor, eine 180°-Wendung der strukturellen
Asymmetrie zugunsten des Experten.
 Dem Arzt des 19. Jahrhunderts in dieser Zwangssituation konnte es
noch nicht gelingen einen der professionellen Autonomie ähnlichen
Zustand auszuspielen, die Fachkompetenz gründete nicht auf exklusiv
kollegialer Kontrolle, sondern auf den Willkürakten zahlungskräftiger
Bürger.

     Insgesamt läßt sich daher die typische Arzt-Patient-Beziehung als ein Pat-
     ronage-System charakterisieren, in dem der einzelne Klient nicht so sehr
     hilfsbedürftiger Patient als vielmehr Dienstherr und Gönner des Arztes war
     und der Arzt weniger die Rolle des autonomen Experten als vielmehr die
     des abhängigen Bediensteten bei seiner vermögenden Klientel spielte.137

4.1.2 Die Medizinalgesetzgebung als obrigkeitliche Intervention und
Fürsorge
 In diesem Kapitel soll versucht werden die juridische Entwicklung
der öffentlichen Gesundheitspflege von 1770 bis vor die große Re-


 136 Hier: grobe Vereinfachung unter Verzicht auf die Erkenntnis, daß jedes so-
     ziale Phänomen in ein Netzwerk unterschiedlichster Vorasusetzungen ein-
     gebunden, also kontextualisiert ist, zugunsten einer simplifizierenden Ver-
     anschaulichung eines sozialisierten Paradigmawechsels.
 137 Huerkamp (1985), S.28.
58

form der Medizinalgesetzgebung von 1870 nachzuzeichnen. Beson-
deres Augenmerk kommt dabei der Organisationsform zu, d.h. wie
konstituiert sich der obrigkeitsstaatliche Einfluß, die zentrale Kon-
trolle. Finden sich Tendenzen, die eine Dissoziation der amtlichen
Gewalt spürbar erscheinen lassen. Ausgangspunkt dieser Untersu-
chung ist das Sanitäts-Hauptnormativ für alle k.k. Erblande vom 2.
Jänner 1770138, Zeuge der Weiterentwicklung ist eine Schrift Joseph
Bernts aus dem Jahre 1819139 und eine Joseph Müllers aus dem Jahre
1844140, ein weiterer Versuch der Strukturanpassung erfolgte mittels
einer provisorischen Organisation der öffentlichen Medizinalverwal-
tung, erlassen per Dekret des Ministerium des Inneren vom 1. Okto-
ber 1850141.
4.1.2.1 Elemente einer kameralistischen Gesundheitspolitik
  Mit dem Normativ von 1770 setzte erstmals ein systematischer Ver-
such ein, das Gesundheitswesen der Monarchie für die Wiener Be-
hörden überschaubar und damit kontrollier- und sanktionierbar zu
gestalten. Zuvor verfügte bereits die Medizinalordnung von Böhmen
von 1753 die Konstituierung einer Sanitätshofdeputation in Wien, die
zum zentralen Planungsbüro der wichtigsten Sanitätsgesetze der the-
resianisch-josephinischen Zeit avancierte; ihr untergeordnet waren die
landesfürstlichen Sanitätskommissionen.142 Diese vermeintlichen o-
bersten Sanitätsbehörden der Länder relativiert Wimmer, im Ge-
gensatz zu Lesky143, in ihrer administrativen, exekutiven Bedeutung;
er vermeint in ihnen keine eigenen Behörden zu erkennen, sondern
vielmehr beratende Gremien innerhalb der „Repräsentation und Kam-




 138 Zitiert nach Macher (1853), Bd.1, S.111-115.
 139 Bernt (1819).
 140 Müller (1844).
 141 Zit. n. RGBl. v. 1.10.1850.
 142 Vgl. John (1790-98), 245-300.
 143 Lesky, Östereichische Gesundheitswesen im Zeitalter des aufgeklärten Ab-
     solutismus, Wien 1959.
59

Kammer“144. Indiz ex negativo ist ihm hierfür der Mangel an Kor-
respondenzen der Wiener Sanitätshofdeputation mit der Grazer Sani-
tätskommission. Wimmer vermutet als Kommunikatoren bzw. Me-
dium die „Repräsentation und Kammer“ und das übergeordnete „Di-
rectorium in publicis et cameralibus“. Die Autonomie der Sani-
tätshofdeputation im Sinne einer zentralen Gesundheitsbehörde bleibt
so zweifelhaft. Die Kompetenzverteilung der theresianisch-josephini-
schen Gesundheitspflege mutet so diffus und wenig koordiniert an.145
  Das Normativ von 1770 bestimmte nun die gleichermaßen stattzu-
findende Kooperation der Landessanitätskommissionen, einerseits mit
der Länderregierung, andererseits mit der Sanitätshofdeputation. Die
Abhängigkeitsstruktur subordinierte die Landeskommission in
„gehörige Abhängigkeit von der Landesregierung und Unserer
Hauptsanität-Hofdeputazion in Wien“146. Sitz der jeweiligen Kom-
missionen, welcher ein oder, bei Bedarf, mehrere Ärzte als Experten
angehörten147, ist die jeweilige Landeshauptstadt.
  Auf der nächst unteren Ebene in der Hierarchie wurden die Kreis-
hauptleute oder Militärkommandanten in den Kreisen und Distrikten
instrumentalisiert; ihnen oblag das selbe Geschäft wie der sogenannte
Hauptkommission inklusive einer demütigen Verpflichtungshaltung,
die regelmäßige Berichterstattung bzw. die Erwartung von Verord-
nungen einfordert. Die Kreishauptleute waren angehalten unter all-
fälliger Beiziehung, d.h. es war kein ständiger Kreisphysiker einge-
setzt, eines Kreisphysikers, Wundarztes und einer Magistratsperson
eben die Angelegenheiten der übergeordneten Kommission in ihrem
Zuständigkeitsbereich durchzuführen.148


 144 Repräsentation und Kammer, als quasi Landesbehörde unterstand der ober-
     sten Behörde für die politische und Finanzverwaltung, dem Directorium in
     publicis et cameralibus; das regionale bzw. lokale Gegenstück in den Län-
     dern bildeten die Kreisämter. Effekte der Haugwitz'schen Reform von
     1749(?). Vgl. Zöllner (1990), S.314.
 145 Vgl. Wimmer (1991), S.40-44.
 146 Macher (1853), Bd.1, S.113.
 147 Vgl. Schauenstein (1863), S.601.
 148 Vgl. Macher (1853), Bd.1, §3, S.113.
60

  Eine Hauptanforderung an die Sanitätskommissionen war die Ge-
währleistung bzw. Aufrechterhaltung des intakten Gesundheitszu-
standes der überantworteten Bevölkerung, insbesondere in bezug auf
ansteckende Krankheiten und Seuchen, daher verfügte das Normativ
die Subordination resp. Abhängigkeit des gesamten Sanitätspersonals,
vom Kreisphysiker abwärts, von der Sanitätskommission, der dazu
quasi richterliche Exekutivgewalt zugesprochen wurde. Das Sanitäts-
personal wurde der „profanen“ Gerichtsbarkeit, was die Satzungen
des Normativs angeht, exterritorialisiert.149 Die Integration oder
vielmehr Inkorporation des noch disparaten Heilpersonals als beam-
tenähnliches Institut erfährt seine Konkretisierung.
 Allein, so Wimmer, die praktische Handhabe blieb aus; die Infor-
mationen wurden weiterhin wie üblich ausgetauscht. Die vorgestellte
Autonomie der Sanitätsbehörde und ihr unmittelbarer Kontakt mit der
Verwaltung - Chimären, zumindest was den Informationsfluß Wiens
mit dem Grazer Gubernium angeht.150
  Die Auflösung der Sanitätshofdeputation, ob wegen obiger Ineffizi-
enz bleibt vorerst dahingestellt, erfolgte per Hofdekret vom 4. Jänner
1776151. Ihre Belange, soweit sie die k.k. Erbländer betrafen über-
nahm die k.k. Hofkanzlei in Wien, sie bildete nun die Pyramiden-
spitze; ab 1817 k.k. vereinigte Hofkanzlei genannt. Parallel fiel in den
Ländern die Leitung des Sanitätswesens der Landesstelle zu. Dieses
behördliche Institut, die spätere k.k. vereinigte Hofkanzlei, stellt die
Folie des Sanitätswesens dar, die uns vorerst als Ausgangsbasis bis
ins Jahr 1842 dient. Innerhalb der Hofkanzlei fungierte ein Referent,
ein k.k. wirklicher Hofrat152, als Organ für Medizinalangelegenheiten
in einem „Materien-Referate“; die anderen Referate waren in der Re-
gel an die entsprechende Provinz gegliedert. In den Kompetenzbe-
reich des Sanitätsreferats fielen sämtliche Angelegenheiten „der Sani-
tätspolizei, alle Stiftungen, Kranken- und Versorgungsanstalten und


 149 Vgl. ebd. S.115,
 150 Vgl. Wimmer (1991), S.44.
 151 Macher (1853), Bd. 1, S.162.
 152 Allh. Entschließung vom 22 Juli 1816, vgl. Müller (1844), S.2.
61

die Gebahrung des Sanitätsfondes.“153 Das Referat war in einen In-
formationsaustausch mit dem monarchischen Staatsoberhaupt und mit
den Hofstellen eingebunden und hatte darüber hinaus Dekrete an die
Länderstellen, im Namen des Monarchen, zu erlassen; der Kontakt
zwischen Hofkanzlei und den Mittelorganen der Medizinalpflege war
hiermit zumindest theoretisch begründet.
  Wie oben erwähnt, bestanden in den einzelnen Gubernien eigene
Sanitätskommissionen in Abhängigkeit sowohl von der Landesstelle,
als auch von der Sanitätshofdeputation; die Insuffizienz dieses Insti-
tuts, so Müller, führte zur Auflösung desselben. Es wurde verfügt,
     daß ohne Abhaltung einer eigenen und besonderen Sanitäts-Commission,
     die Sanitätsgeschäfte, so wie alle anderen, bey jeder Landesstelle in ple-
     no vorgenommen, ..., die Berichte aber zu Handen dieser Hofkanzley ein-
     geschickt und eingestellet werden.154
  Die Leitung des Sanitätswesens wurde den Länderstellen übertra-
gen, denen man Landschafts-Protomediker, betitelt als wirkliche k.k.
Sanitätsräte, zur Seite stellte155. Der Medicus sollte aus der Haupt-
stadt sein - die Ausbreitung des imperium definierte sich über die De-
legierung von sanitären Sonden in die Peripherie. Die Grenzsiche-
rung, Kontumaz- und Kordonsstationen war Sache der militärischen
Sonden. In der Provinz Niederösterreich fiel die Position des Proto-
medikus dem jeweiligen Direktor der medizinischen Fakultät zu.156
 Die Aufhebung des „letzterwähnten Verwaltungs-Systems“157; d.h.
die systemisierten Sanitäts-Commissionen, die nach dem Normativ
von 1770 festgelegt wurden:
     Wie haben daher vorlängst geordnet, daß in jedem Erblande von der lan-
     desregierung eine eigene Sanitätskommission angestellet werde, welche



 153 Ebd. S.2.
 154 Bernt (1819), S.343.
 155 Per Entschließung vom 10. April 1773,
 156 Vgl. Müller (1844), S.3.
 157 Per Zentralorganisierungs-Hofkommissionsdekret v. 20. November und
     23. Dezember 1816; Allerh. Entschließung vom 1. Jänner 1819. Vgl. ebd.
     S.3-4.
62

     aus ein so anderen kaiserl. königl. Räthen bestehen solle, davon der erstere
     den Vorsiz, oder das Präsidium zu führen hat; dieser Kommission ist ein
     geschickter Arzt für beständig, oder so viele in vorfallenden Ergebenheiten
     nöthig wären, beizuziehen.158
  erfolgte schon 1773 mit einer Hofentschließung vom 10. April
(=Nachtrag zum Normativ). Jedes Erblande erhielt einen Land-
schaftsprotomedikus, der bei der Landesstelle in Sanitätssachen Sitz
und Stimme hatte.159 Die Übernahme der Leitung des Sanitätsdiens-
tes durch die Gubernien bestätigen die Äußerungen Uffelmanns. Er
deponiert zwar eine mangelhafte, unvollkommen Exekution der Ver-
ordnungen, er kommt schließlich dahin, die öffentliche Gesund-
heitspflege als im Argen befindlich zu charakterisieren; aber sein Dic-
tum lautet: „Diese Organisation [...-T.B.] blieb, wie sie eben beschrie-
ben, bis in den Anfang der fünfziger Jahre unseres Jahrhunderts be-
stehen.“160
4.1.2.1.1 Der Protomedikus - sanitätspolizeilicher Administrator und
Sonde
  Die oben skizzierte Reorganisierung resultierte in der Übernahme
der Sanitätsangelegenheiten durch die Länderstellen. Das Gesund-
heitswesen avancierte de facto „zu einem Zweige der Publico-
politica“161; bei voller Ratsversammlung behandelt, wie der Landes-
stelle ein eigener Sanitätsreferent zugeordnet wurde. Sein Betäti-
gungsfeld konstituierte sich im Äußerungsareal einer Instruktion für
Protomediker162. Dem Sanitätsreferat der Länderstellen fielen die
selben Verantwortlichkeiten zu, wie der k.k. vereinigten Hofkanzlei.
Diese werden hier verkürzt dargestellt. Wir unterscheiden fünf Berei-
che;


 158 John (1790-98), S.389.
 159 Ebd., S.540.
 160 Uffelmann (1878), S.84; das meint Physici im Lande verstreut und Proto-
      mediker als Berater bei den Landesstellen. Die Realisierung der Physici-
      distribution funktionierte nur sehr mangelhaft.
 161 Müller (1844), S.4.
 162 Allh. Entschließung v. 26. September 1803; HD v. 23. Oktober 1806.
     Vgl.ebd. S.4.
63

(1)zunächst waren alle, für Mensch und Haussäugetier, gesundheits-
   widrigen Einflüsse, nebst Vorschlag an die Landesstelle, aus der
   Welt zu schaffen.
(2)legte man das Vorgehen bei Epidemien und Epizootien fest, d.h.
   die Übernahme der Leitungsfunktion im Eventualfall, die Instrukti-
   on der Kreisärzte und die Berichterstattung an die k.k vereinigte
   Hofkanzlei.
(3)Aufsicht über das Sanitätspersonal.
(4)Kontroll- und Aufsichtfunktion über Kranken-, Gebär-, Findel-,
   Siechen- und Versorgungshäuser.
(5)Verwaltung der den Sanitätsfonds betreffenden Notwendigkeiten
   (Per HD v. 18.8.1808 führte der Protomediker die Sani-
   tätsgeschäfte).
  Müllers Quellen reichen in diesem Zusammenhang bis 1818.163
 Joseph Bernt umreißt das 1819 so:

     Die leitende und verordnende Behörde in Sanitätssachen aber ist und bleibt
     immer nach dem bestehenden Sanitäts-Regulament, und nach der fortwäh-
     renden Beobachtung, die Landesstelle. An solche haben daher die vorge-
     schriebenen Berichte der Kreisämter über den Gesundheitszustand auf dem
     Lande, die Relationen der Kreisphysiker über alle wichtigen Angelegenhei-
     ten, alle Anzeigen in epidemischen Fällen vom Anfange bis zu Ende, die
     jährlichen Berichte über die Bereisung der Kreisphysiker ihrer Bezirke, und
     des Protomedicus, wenn er abgeordnet wird, von dem Lande zu gelangen;
     sie hat darüber auch gehörig zu verfügen, die diensamen Anordnungen zu
     erlassen; über ärztliche und medicinische Gegenstände vorläufig das Gut-
     achten der medicinischen Facultät abzufordern, und überhaupt auf dasjeni-
     ge feste Hand zu haben, was die Sanitäts-Regulaments von Anno 1770 und
     1773, und die nachfolgenden Verordnungen vorschreiben, somit das Sani-
     tätswesen im eigentlichen Verstande zu leiten;164
  Die Position des Provinzial-Sanitätsreferenten firmierte unter dem
Titel ‘wirklicher Rat’; ein Hofdekret vom 10. April 1807 schmälerte
für kurze Zeit die Bedeutung dieses Amtes, als es den Protomedikus
zur rein wissenschaftlichen Informationsvorträgen im Rat ermäch-
tigte, seine volle - ‘wirkliche’ - Ratstätigkeit aber aussetzte; die Un-
zulänglichkeit dieser Verfügung machte das Dekret vom 18. August


 163 Vgl. Müller (1844), S.4-5.
 164 Bernt (1819), S.349.
64

1808 rückgängig, das den Protomedikus zur alleinigen Geschäftsfüh-
rung des Sanitätsreferats legitimierte165; amtiert er in einer Universi-
tätsstadt bzw. befindet sich ein „Lycäum“ in seinem Amtsbereich, so
übernimmt er die Direktorsstelle des medizinisch-chirurgischen Stu-
diums, mit Ausnahme Wiens und Pests. Der Protomediker ist weiters
politischer Zensor, aller in seinen Fachbereich fallenden Texte, mit
Ausnahme der Stadt Padua. In den 30er Jahren in Böhmen zugleich
ordentliches Mitglied der k.k. patriotisch-ökonomischen Gesellschaft,
sowie korrespondierendes Mitglied der k.k. Gesellschaft der Ärzte in
Wien. Die Amtsverrichtungen des Protomedikus erstrecken sich über
vier Sektoren:
 (1)Die beständige Aufsicht über den allgemeinen Gesundheitszu-
    stand
 (2)die Besondere Besorgung der bei Epidemien unter Menschen o-
    der Tieren zu ergreifenden Sanktionen
 (3)die Aufsicht über das ärztliche Personal des jeweiligen Landes
 (4)die Aufsicht über die Krankenhäuser, Gebärhäuser, die Mitauf-
    sicht in Beziehung auf den Gesundheitszustand bei Findlings-,
    Siechen-, Erziehungs-, Zuchthäusern und Gefängnissen.166
  Bis 1839 verfügte er administrativ über die sanitären Angelegenhei-
ten des Seehandels; so erfolgt eine Akkordierung mit den Sanitätsge-
genstände des Landesinneren.167 Eine Allerhöchste Entschließung
vom 29. Dezember 1808 verfügt, daß der Direktor des medizinisch-
chirurgischen Studiums in Wien Protomedikus der k.k. Erbstaaten sei
und hinsichtlich einer Gutachterfunktion für das gesamte Sanitätswe-
sen der Monarchie ernannt ist.168 Resümierend konstatiert Müller,
daß „gegenwärtig [1842-T.B.] die Sanitätsgeschäfte ihrem ganzen
Umfange nach in den Wirkungskreis der Gubernien gehören.“169


 165 Vgl. Macher (1853), Bd. 1, S.459 (=Instruktion f. Protomediker).
 166 Vgl Bernt (1819), S.351,
 167 Vgl. ebd., S.359.
 168 Vgl. Müller (1844), S.5-6.
 169 Ebd. S.7.
65

  Der Aufwind im Professionalisierungsstreben der akademischen
Ärzteschaft prolongierte sich insofern, als den Provinzialsanitätsrefe-
renten in Sachen „Kunstgutachten“ die medizinischen Fakultäten zur
Seite gestellt wurden. Sie fungierten gleichsam als wissenschaftliche
Landesbehörde. Die Fakultät Wien war für alle deutsch-galizisch- und
illyrischen Provinzen autorisiert. Die Provinz Böhmen wurde von
Prag, Venetien von Padua, die Lombardei von Pavia aus versorgt. E-
xekutivkomitee war ausnahmslos die Lehrerversammlung, deren
„Amtswirksamkeit“ erstreckte sich mit Abschluß eines Hof-
kammerdekrets vom 4. Jänner 1839 auf drei Bereiche des öffentlich-
sanitätspolizeilichen Diskurses:
a) Prüfung der sanitären Umstände und daraus resultierende Sanktio-
   nen bei gegebenem Anlaß von Epidemien und Epizootien;
b) Abgabe von „Kollegial-Gutachten“ (s.a. §11 bei Müller bezüglich
   des Abfassungreglements) in Zweifelsfällen bei Kriminalfällen;
c) die „medizinische Voruntersuchung“ von Innovationen auf dem
   Sektor der öffentlichen Gesundheitspflege, exklusive Anlaufstelle
   diesbezüglicher Angelegenheiten war die Wiener medizinische Fa-
   kultät (der vorausgehende Amtslauf erforderte eine Vorlage bei den
   Länderstellen).170

4.1.2.1.2 Der Kreisphysikus - das Vordringen mediko-administrativer
Fürsorge

  Ausgangspunkt der Organisationstrukturen in den einzelnen politi-
schen Kreisen war m.E. das Sanitätshauptnormativ von 1770, das die
Leitung in den einzelnen Verwaltungsdistrikten den Kreishauptleuten
unter allfälliger Beiziehung, d.h. es existierte kein ständiger Kreisphy-
sikus, eines Arztes (später Kreisphysikers) zuwies. Die so
entstandenen Sanitätsrapporte waren der Provinzial-Sanitätskommis-
sion vorzulegen, sowie deren Beschlüsse zu exekutieren waren. Bis
zum Beginn der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts modifizierte man die
Organisation des Physikatswesen, in Reaktionsbildung zu den innen-
und außenpolitischen Veränderungen, so Müller. Den Kreisärzten,


 170 Vgl. Müller (1844), S.8.
66

jetzt als Institut eingeführt171, assistierten „operative Heilkünstler“ (=
Kreis- und Bezirkswundärzte), die die gerichtlichen Leichenbeschau
vornahmen und das Impfwesen betreuten172. Jedem Kreis beispiels-
weise dem niederösterreichischem wurden vier Distriktsärzte zuge-
teilt, d.h. die Errichtung von Distriktsphysikaten sollte die regionale
sanitätspolizeiliche Versorgung verbessern.173 Die anderen Provinzen
zögerten mit der Einrichtung dieses Sanitätsorgans; Böhmen, Mähren
und Galizien zeigten überhaupt keine Anstalten hinsichtlich einer Er-
weiterung des Sanitätspersonals.174

  Die Kreisärzte, -wundärzte und -hebammen wurden von der Lan-
desstelle besetzt, gewöhnlich holte der Landeschef den Vorschlag des
Protomedicus ein. Kreisphysikats- und Kreiswundarztstellen gingen
nur an approbierte, die einen Magister der Geburtshilfe vorweisen
konnten, da sie die Ausbildung und Prüfung von Wehemüttern, die
weit in der Peripherie die Geburtshilfe ausübern wollen, vornehmen
müssen. Zudem muß eine Anwärter auf einen Kreisposten Zeugnisse
über das Studium der gerichtlichen Arzneikunde, der medizinischen
Polizey und der Tierheilkunde vorlegen können und die Landesspra-
che beherrschen. Elementarbedingung ist die Approbierung an einer
erbländischen Universität. Als förderlich erwies sich eine unbestimm-
te Dienstzeit am besten im Allgemeinen Krankenhaus in Wien und
eine nachweisliche literarische, publizistische Tätigkeit des Anwär-
ters.175

  Der Umfang der Verantwortlichkeiten des besoldeten Kreisarztes,
eine Art öffentlicher Beamter, in unmittelbarer Abhängigkeit vom



 171 Hofdekret vom 28. November 1785 bzw. Instruktion für Kreisärzte
     28.9.1804, Macher (1853), Bd. 1.
 172 Schauenstein (1863) moniert hier eine Prolongation eines verderblichen
     Dualismus im öffentlichen Sanitätsdienst, vgl. S.601.
 173 Vgl. Müller (1844), S.12-13.
 174 Vgl. Schauenstein (1863), S.602.
 175 Vgl. Bernt (1819), S.363-369.
67

Kreisamt, zur Erhaltung des allgemeinen Gesundheitszustandes, um-
faßte176:
a) die Ausbildung, d.h. die „wissenschaftliche und sittliche Vervoll-
   kommnung“ des subalternen Sanitätspersonals; er hat besonders
   auf die Winkelärzte zu achten, d.h. das Interdikt dieser Tätigkeit
   durchzusetzen177
b) die Aufsicht über die „besonderen Gesundheitsanstalten“, das
   meint „ die gesetzliche Äußerung des Geschlechtstriebes“178, die
   Gesundheitsverhältnisse der Schwangeren, Gebärenden und Neuge-
   borenen. Die Beobachtung der „allgemeinen Gesundheitsanstal-
   ten“, das meint Kontrolle der Lebensmittel, der Luftqualität etc. in
   Wohnräumen, sowie eine Art prototypischen Konsumentenschutz.
c) die Überprüfung der öffentlichen Krankenpflege, zuerst der „mit-
   telbaren Anstalten“ - Apotheken und Gesundbrunnen, dann die öf-
   fentliche Versorgung durch die „unmittelbaren Anstalten“ bei an-
   steckenden Krankheiten und Epidemien bzw. Epizootien; die Revi-
   sion der Krankenanstalten, d.h. deren ökonomischer und klinischer
   Organe; und der Beerdigungsinstitute.
Sowie die Durchführung von allfälligen kriminalgerichtsärztlichen
oder politisch-administrativen Belangen179. Sein Aufgabenbereich
äußert sich als Analogon des Protomedikers.
 Ein zentrale Verpflichtung des Kreisarztes war die Bereisung seines
Rayons. Gleich einem Satelliten wurde er zur Datenerhebung und -
erfassung auf seine Umlaufbahn geschickt. Da der statistischen Ver-
arbeitung großes Interesse zukam, hatt der Kreisphysikus seine Beo-
bachtungen in entsprechenden Tabellen einzutragen, die als Vordruck
von der Kreisbehörde zur Verfügung gestellt werden. Diese „Relati-
onstabelle“ der Bezirksuntersuchung enthält:



 176 Unterstützung bei dieser Erfüllung seiner Amtspflicht erhielt der Kreisphy-
     sikus von: Ärzten, Wundärzten, Okulisten, Apothekern, Hebammen; Trä-
     ger der Instruktion: Kreisärzte, -wundärzte, -apotheker, -hebammen.
 177 Vgl. Macher (1853), Bd. 1, S.235ff.
 178 Müller (1844), S.14.
 179 Vgl. ebd. S.14.
68

     den Ort, des Wundarztes Nahmen; Gewerb (verkäuflich, persönlich); Prü-
     fungsjahr (aus Wundarzney, aus der Geburtshülfe); Arzneyen (Menge, Be-
     scgaffenheit); Eigenschaften (Geschicklichkeit, Fleiß, Sitten); Hebamme
     (der geprüften Nahme, ob eine nöthig); Ortslage; Beschäftigung der Ein-
     wohner; endemische Krankheiten; vorzügliche Krankheiten des letzten Jah-
     res hindurch; welche der Gesundheit schädliche Umstände da obwalten
     (Sümpfe, Leichenhöfe); Anzahl der Gestorbenen im letzten Jahre (im Ort,
     in der ganzen Pfarre); welche Anstalten daselbst in Ansehung der Gesund-
     heit und Krankenpflege? Ob die Todtenbeschau gehörig besorgt wird? Ob
     und welche Viehseuchen im letzten Jahre: wie viele Stücke gefallen? Ob
     die Sanitätsverordnungen genau beobachtet weren? Bemerkungen über
     Materialisten, Hausirer, Curpfuscher, Giftverkauf, Bemerkungen und Vor-
     schläge zum Gesundheitswohl.180

  Inkludiert in die sanitätspolizeilichen Maßregeln sind in den deut-
schen Provinzen darüber hinaus noch die Stadt- und Herrschaftsärzte,
in den italienischen die Gemeindeärzte; was die Provinzen anderer
Nationalitäten angeht schweigt Müller. Die Ernennung der Stadtärzte
erfolgt grundsätzlich durch die Länderstellen, lediglich in Wien er-
nennt die beiden Stadtärzte, der zweite ist der Magister sanitatis, nach
Vorschlag des Magistrats und der Landestelle der Kaiser; in Prag er-
folgt die Bestellung über Vorschlag des Magistrats und der Stadt-
hauptmannschaft vom Gubernium. Die Herrschaftsärzte, genauere
Differenzierung ihrer hierarchischen Position fehlt, werden von den
Kreisämtern eingesetzt; die Gemeindeärzte von den Munizipialbehör-
den.181

  Der Sanitätsdienst hatte somit seine Exekutivorgane beim Ministe-
rium des Innern (vormals k.k. Hofkanzlei182), bei den Gubernien, den
Kreisämtern, in den Städten bei den Magistraten und Polizeidi-
rektionen, auf dem Lande bei den Dominien. Der Darstellung Schau-


 180 Bernt (1819), S.398. Daraus läßt sich das Desiderat ableiten, eben jene Re-
     lationstabellen als Quellen der Sozialgeschichte allererst zu orten und dann
     auszuwerten.
 181 Vgl. Müller (1844), S.15.
 182 Revolutionsjahr 1848 (Frühjahr): Reorganisation der Staatsverwaltung; die
     Hofstellen, Hofkanzleien und Hofkammern wurden entweder durch Minis-
     terien ersetzt oder liquidiert; Staatsrat und Staatskonferenz substituierte der
     Ministerrat, vgl. Zöllner (1990), S.357.
69

ensteins folgend ergaben sich bis 1850 keine essentiellen Mo-
difikationen der öffentlichen Gesundheitspflege183.
4.1.2.2 Die provisorische Organisation der öffentlichen Medizinal-
verwaltung

  Im Gefolge des Revolutionsjahres 1848, d.h. mit dem Triumph der
monarchisch-konservativen Kräfte in Österreich, der neoabsolutisti-
schen Initiation der franzisko-josephinischen Ära, die Telos einer
konstitutionellen Revolution, einer Sehnsucht nach einem funktionie-
rendem zentralistischen österreichischen Staat war - im Resultat zu-
mindest, in diesem Gefolge etablierte das neue Regime, u.a. für un-
seren Kontext interessant, modifizierte Formen bürokratischer Ein-
richtungen. Die Bezirkshauptmannschaften als Organe der untersten
Verwaltungsebene avancierten auch in den neuen Vorstellungen einer
Medizinalordnung zu einem relevanten Partikel einer „staatsbürgerli-
chen“ Vergesellschaftung184. Die Idee der autonom verwalteten Ge-
meinde als kleinste Einheit der Staatsverwaltung hatte lediglich den
Charakter eines Strohfeuers; die von der Regierung und den Ländern
abhängige Bürokratie behielt sich den nahezu uneingeschränkten
Zugriff bis in den kleinsten Winkel des Staatsganzen vor.185,186 In
diesem Umfeld legte der Minister des Inneren, Bach, einen Entwurf
zur Neugestaltung der öffentlichen Gesundheitspflege vor, der per 1.
Oktober als ein Provisorium zur Organisation des öffentlichen Sani-
tätswesens publiziert wurde.187

 Das Provisorium legt ausdrücklich die absolutistische Intention fest,
der zentralistische Zugriff wird zementiert. Der Staat übernimmt die
oberste Leitung des öffentlichen Medizinalwesens, sowie dessen O-
beraufsicht, d.h. das absolutistische Regime kontrolliert sich selbst. §

 183 Vgl. Schauenstein (1863), S.602.
 184 Vgl. Bruckmüller (1985), S.356-363.
 185 Vgl. Zöllner (1990), S.400.
 186 Vgl. Baltl (1986), S.153.
 187 Vgl. Allgemeines Reichs-Gesetz- und Regierungsblatt für das Kaiserthum
     Österreich, Jg. 1850, 2. Jahreshälfte, Wien 1850, S.1699-1705.
70

3 verfügt die „selbständige Wirksamkeit des Staates“ in Medizi-
nalangelegenheiten, überall dort, wo er es letztlich selbst legiti-
miert188. Die Geschäfte, die den Gemeinden überlassen werden, un-
terliegen ebenso der Überwachungsfunktion des Staates. Die Leitung
des Medizinalwesens in den einzelnen Instanzen kommt den politi-
schen Behörden zu.

 Der damalige Minister des Inneren, Alexander Bach, erläutert die
seinem Entwurf zugrundeliegende Ideologie; die Vorstellung, daß der
öffentlichen Gesundheitspflege nicht integrale, sondern vielmehr inte-
grierende Funktion innerhalb der absolutistischen Administration zu-
kommt, begründet vorerst die enge Verknüpfung mit den politischen
Behörden, sprich das Abhängigkeitsverhältnis. Das Expertentum der
Ärzteschaft, daß nach staatspolitischer Geltung trachtete, hatte sich
noch nicht durchsetzten können. Die öffentliche Gesundheitspflege
oblag durchaus staatlichem Interesse, nicht humanitärer Altruismus,
sondern politisches Kalkül nährte die Bestrebungen zu deren Organi-
sation. Allein die Benenung der Experten als Hilfsorgane rückt das
Verständnis dieses Verwaltungsposten ins Licht ökonomisch-politi-
scher und militärischer Interessen, der absolute Vorrang der Experten,
der Ärzte, war noch nicht verankert, ein umfassend ärztlich geprägtes
Kontrollsystem der öffentliche Gesundheit war erst am Horizont aus-
nehmbar.189


 188 Der genaue Wortlaut: „... aus höheren sanitätspolizeilichen Rücksichten
     oder wegen ihres [der Medizinalangelegenheiten -T.B.] Zusammenhanges
     mit eigentlichen Staatsgeschäften.“
 189 Ich gebe hier den genauen Wortlaut Bachs wieder = Beilagen-Heft zum all-
     gemeinen Reichs-Gesetz-und Regierungsblatte für das Kaiserthum Oester-
     reich, Jg. 1850
       „Bei Festsetzung der Stellung, welche die Medizinalverwaltung künftig
     im Organismus der Staatsverwaltung einnehmen soll, glaubte ich dem
     Grundsatze der Einfachheit vor anderen huldigen zu müssen. Die innigen
     Beziehungen, welche zwischen den sanitäts-polizeilichen Geschäften und
     jenen der politischen Administration überhaupt bestehen, der Umstand,
     dass die Sanitätspolizei einen integrierenden Theil der politischen Thätig-
     keit bildet, und die Erfahrung, dass der glückliche Erfolg administrativer
     Massregeln durch die Einheit der vollziehenden Organe vorzugsweise ge-
     fördert wird, sprechen laut dafür, dass die Medizinalverwaltung von den-
71

  Im Dienst der Exekution des Statuts wurden dem Bezirkshauptmann
ein Bezirksarzt, dem Kreispräsidenten ein Kreismedizinalrat, dem
Statthalter ständige Medizinalkommissionen und dem Minister des
Inneren ein Sanitätsreferent und eine ständige Medizinalkommission,
im Verhältnis der Unterordnung unter die politische Instanz, beige-
geben. Der §5 sieht für größere Städte eigene Regelungen vor. Die
Kommissionen sollten v.a. dort zur Wirkung gelangen, wo Gesetze
und Normen, also weitgreifende, legislative Entscheidungen auf dem
Gebiet der öffentlichen Gesundheitspflege fallen. Diese weitreichen-
den Verdikte sollten von mehreren Experten unterschiedlichster
Kompetenz, von einem sowohl wissenschaftlich, wie politisch ver-
antwortlichen Gremium gefällt werden.190


      selben Behörden ausgehe, denen die politische Administration anvertraut
      ist.
      Den Statthaltern, Kreispräsidenten und Bezirkshauptmännern wird demzu-
      folge innerhalb ihres Amtsgebietes die Exekutionsgewalt in Medizinalan-
      gelegenheiten zuerkannt, und sie sind für ihre Handhabung verantwortlich.
      Soll jedoch dieser Zweig zum wahren Vortheile der Staatsbürger verwaltet
      werden, so müssen die bezüglichen Anordnungen und ihre Ausführung
      sich auf ärztliche Kenntnisse und Erfahrungen stützen.
      Darum stellt es sich als nothwendig heraus, den politischen Funktionären,
      zu deren Wirkungskreis Sanitätsgegenstände gehören, Hilfsorgane bei-
      zugeben, welche mit den nöthigen Fachkenntnissen vertraut und den ent-
      sprechenden Fähigkeiten ausgerüstet sind, damit die technische Leitung
      und Vollziehung der in ihr Fach schlagenden Geschäfte übernehmen.
      Der Arzt bleibt innerhalb seines Wirkungskreises selbständig und unab-
      hängig, in Betreff des Vollzuges von Amtshandlungen aber hat er die An-
      sichten des plitischen Chefs als massgebend zu achten.“ (S.293)
 190 Bach: „ Nach Verschiedenheit der ärztlichen Aufgaben, welche bei den
     einzelnen politischen Behörden zur Lösung kommen, wird auch das
     beigegebene Hilfsorgan ein verschiedenes sein müssen.
     Während bei Behörden von vorherrschend exekutiver Natur es im Interesse
     der Sache und des Dienstes liegt, nur ein einziges tüchtiges Fach-
     Individuum aufzustellen, kann dort, wo es sich um die Leitung des Sani-
     tätswesens und dessen Regelung auf einem grösseren Gebiete, wo es sich
     um Berathung von Gesetzen und Feststellung von Normen, mithin um
     gleichmässige Berücksichtigung der wissenschaftlichen Grundsätze und
     der Eigenthümlichkeit des Landes, der Bevölkerung und der bevorstehen-
     den Einrichtungen handelt, nur von dem Zusammenwirken mehrerer Sach-
     verständigen das gewünschte Resultat mit Grund erwartet werden.“ Ebd.
72



4.1.2.2.1 Zur Organisation im Detail

  Als letztes Glied der Sanitätskette stand der Bezirksarzt im Dienste
der Bezirkshauptmannschaft, seine Befähigung mußte er mittels einer
Prüfung, deren Modalitäten noch im Unklaren lagen, aus der öster-
reichischen ‘medizinischen Polizei’ und der gerichtlichen Medizin
nachweisen. Der Bezirksarzt wird vom Kreispräsidenten auf Vor-
schlag des Kreismedizinalrates ernannt (s.u.). Nach Bachs Dafürhal-
ten sollte dieser Befähigungsnachweis Grundlage jeder Bestellung
zum Staatsarzte in Sanitätsangelegenheiten sein. Schauenstein merkt
den Entwurfcharakter dieser Forderung an, zum Zeitpunkt der Fer-
tigstellung seines Textes, 1863, mangelte es an deren Realisierung.191
In den Aufgabenbereich des Bezirksarztes fielen im wesentlichen, als
mitwirkendes Organ des Bezirkhauptmannes, die Obhut über das im
Bezirk tätige Sanitätspersonal, die Überprüfung der Durchführung der
sanitätspolizeilichen Vorschriften, des sanitären Zustandes des Bezir-
kes, die beratende Tätigkeit bei Epidemien und Epizootien, weiters
hat er bei der Aufstellung von Gemeindeärzten mitzuwirken bzw. die
„medizinisch - polizeiliche Wirksamkeit der Gemeinden“ zu überwa-
chen. Der Kreisregierung war er verpflichtet periodische Berichte ü-
ber die sanitären und gerichtsärztlichen Umstände des übertragenen
Bezirks vorzulegen.




 191 Bach: „ Zu einem erfolgreichen Sanitätsdienste sind dem Staatsarzte ausser
     den gewöhnlichen, ärztlichen Kenntnissen noch andere theils ganz speziel-
     le, gewissen Zweigen der Medizin und Naturwissenschaft Angehörige,
     theils sogar solche nöthig, die dem ärzlichem Fache mehr oder weniger
     fremd sind.
     Die Staatsverwaltung ist daher verpflichtet und berechtigt, bevor sie einem
     Arzte Sanitätsdienste überträgt, sich die Ueberzeugung zu verschaffen,
     dass er denselben auch vollkommen gewachsen sei.
     Aus diesem Grunde halte ich es für nothwendig darauf anzutragen, dass in
     Zukunft Niemand mehr zu einer Anstellung im Sanitätsdienste des Staates
     zugelassen werden dürfe, der seine Befähigung dazu nicht durch eine
     förmliche Prüfung dargethan hat.“ Ebd.
73

  Dem Bezirksarzt hierarchisch übergeordnet, eingedenk der funda-
mentalen Abhängigkeit von den politischen Behörden, ist der Kreis-
Medizinalrat. Er nimmt den Rang eines Kreisrates ein, stellt ein vom
Staat bestelltes Organ dar. Analog zum Bezirksarzt hat er überwa-
chende und konsultative Funktion, in ‘relevanteren’ Fällen hat der
Kreispräsident das Gutachten ärztlicher Kommissionen einzuholen.
Weitere Kompetenzen waren die Aufsicht über die Handhabung der
Medizinalgesetze, die Tätigkeit des im Kreis angestellten Sanitäts-
personals und der Sanitätsinstitutionen; Vorschlagsrecht bzw. -pflicht
bei der Ernennung von Bezirksärzten, von Direktoren der Sanitäts-
anstalten. Der Kreismediziner hatte Instruktionen für das im Staats-
dienste stehende Sanitätspersonal zu konzipieren, jene für die Ge-
meinden hatte er zu begutachten. Die Beratung des Kreispräsidenten
bei der Leitung der staatlichen Sanitätsanstalten, sowie der Exekution
bestehender Medizinalgesetze bzw. die Vorlage von Entwürfen zu
Erlässen neuer Gesetze war ihm zur Pflicht erlassen. Als vom Staat
eingesetztes Organ kam ihm die Kontrolle aller Sanitätsangelegenhei-
ten, die auf Staatskosten verrichtet werden, zu.

  Die Kronländer, d.h. die Statthaltereien, werden in Medizinalange-
legenheiten von einer ständigen Medizinalkommission, die auch be-
gutachtender Körper ist, beraten. Die Mitglieder werden vom Mini-
sterium, d.h. staatlich, ernannt und rekrutieren sich aus einer dem
Kronland angemessenen Zahl von Ärzten, einem Wundarzt, einem
Apotheker und einem Tierarzt. In dieser Expertenkommission hatten
die nicht dem Stand der Ärzte angehörenden Mitglieder zwar das
Recht an den Beratungen teilzunehmen, das Stimmrecht stand ihnen
jedoch nur in Angelegenheiten ihres Faches zu. Zum Vorsitzenden
dieser Kommission wird der am Sitz der Statthalterei eingesetzte
Kreismedizinalrat bestimmt. Der Wirkungskreis und die Art der Ge-
schäftsführung wurden durch eine Instruktion geregelt, die 1851 er-
lassen wurde. Gegenstände der regelmäßigen Kommissionstagungen
waren solche, die die allgemeinen Bereiche des Medizinalwesens im
Kronland betrafen, sowie die Beratung der Berichte die aus dem
Kronland an das Ministerium des Innern ergingen, zu behandeln wa-
ren ferner besorgniserregende Berichte über den Gesundheitszustand
von Menschen und Tieren, v.a. bei allfälligen Epidemien und Epi-
74

zootien; letztlich erörterten die Sitzungen Gegenstände von „meritori-
scher Wichtigkeit“; so wollte es zumindest die von Schauenstein er-
wähnte Instruktion.192

  Das leitende und übergeordnete Institut der sanitären Infrastruktur
bildet nach dem Provisorium der Sanitätsreferent und eine ständige
Medizinalkommission, die beide dem Ministerium des Inneren nach-
gereicht, d.h. in Abhängigkeit zu ihm stehen. Der Sanitätsreferent,
immer ein Arzt, bekleidet den Rang eines Ministerrates, so wie jeder
andere Referent. Die Kommission hat konsultative und begutachtende
Funktion in allen Medizinalangelegenheiten, die den gesamten Staat
betreffen. Sie setzt sich zusammen aus: dem Referenten für Sanitäts-
wesen im Ministerium des Inneren, er ist gleichzeitig Vorsitzender
der Kommission, dem Referenten des Quarantänewesens beim Han-
delsministerium,      dem     ärztlichen  Referenten     beim    Un-
terrichtsministerium, drei Ärzten, einem Wundarzt, einem Apotheker
und einem Tierarzt. Das Stimmrecht war nichtärztlichen Teilnehmern
allerdings nur in Fällen ihrer Fachkompetenz zugedacht. Bach äußert,
in einem Kommentar zur Zusammensetzung der Kommission, die
Unnötigkeit der Einrichtung eines nichtärztliche Referenten, neben
dem Sanitätsreferenten, für rein administrative Gegenstände; ein Er-
folg im Professionalisierungsstreben der Ärzteschaft.193 Die Gewähr-


 192 Vgl. ebd. S.293-294,
 193 Bach wörtlich: „ Gerade im Ministerium, von welchem die oberste Leitung
     der Medizinal-Administration auszugehen hat, wird auf eine möglichst
     gründliche, aber auch zugleich auf eine, den Anforderungen der Zeit und
     der Wissenschaft möglichst entsprechende und folgerichtige Behandlung
     aller wichtigeren Medizinal-Angelegenheiten der sorgfältigste Bedacht ge-
     nommen werden müssen.
     Zur Erreichung dieses Zwecks wird aber auch die ständige Medizinal-
     Kommission aus einer hinreichenden Anzahl ausgezeichneter technischer
     und wissenschaftlicher Kapazitäten zusammenzusetzen und noch überdiess
     dafür zu sorgen sein, dass das Ministerium des Unterrichts in steter Evi-
     denz der wichtigeren Verwaltungsbeschlüsse erhalten und auch das Minis-
     terium des Handels in die Lage gesetzt werde, an allen Kommissionsbe-
     rathungen, welche sich auf die in seine Wirksamkeit gehörigen Medizinal-
     Angelegenheiten beziehen, durch eigene Abgeordnete Theil zu nehmen
     und ihren besonderen Anforderungen Geltung zu verschaffen.
75

leistung des trotzdem reibungslosen Ablaufs diesbezüglicher Angele-
genheiten sichert Bachs persönliche und unmittelbare Einflußnahme;
d.h. das beratende und begutachtende Institut wird unmittelbar vom
Vertreter der Obrigkeitsstaatlichkeit manipuliert.
4.1.2.2.2 Theorie und Praxis, zur Durchführung und Kritik des Provi-
soriums

  Die Installation des politischen Bezirkes als administrative Einheit
hatte statt, allein die Etablierung des Instituts des Bezirksarztes blieb
dem Zufall überlassen. „Dort, wo der Zufall oder frühere Organisatio-
nen Bezirksärzte geschaffen hatte, blieben sie - wo keine waren -
blieb es eben auch beim Alten!“194 Konsequenterweise blieben die in
Aussicht gestellten Kommunalärzte Illusion.195 Die einzigen In-
novationen die auch tatsächlich realisiert wurden waren die ständigen
Medizinalkommissionen in den Kronländern und beim Innenministe-
rium. Das Bach’sche Postulat einer speziellen Schulung des Sanitäts-
personals war zumindest 1863, so Schauenstein, immer noch Utopie.

  Die Organisation des Medizinalwesens in den Landesstellen mu-
tierte nach der allgemeinen Verwaltungsreform vom 19. Jänner 1853
in einer Art Regression auf den Stand zu Beginn des 19. Jahrhunderts.


      Bei einer dergestalt zusammengesetzten Medizinalkommission zerfällt a-
      ber sodann die Nothwedigkeit, einen Nichtarzt als besonderen Referenten
      für alle Medizinalangelegenheiten zu bestellen, welche rein administrativer
      Natur sind.
      Denn abgesehen davon, dass es ohnehin mit Schwierigkeiten verbunden
      ist, die reinen Administrationsgeschäfte im Medizinalfache von jenen zu
      trennen, welche gemischter Natur sind, so werden in Hinkunft auch alle
      wichtigeren Administrationsgegenstände in der medizinalkommission zu
      berathen sein und für die gehörige Ausfertigung und Ausführung der ge-
      fassten Beschlüsse nach Massgabe der der Kommission zu gebenden In-
      struktion wird der ärztliche Bureauchef [=Sanitätsreferent - T.B.] unter
      meiner unmittelbaren Leitung und Ueberwachung gewiss eben so gut, als
      ein Nichtarzt die Fürsorge zu treffen und zugleich die nöthige Evidenz der
      ganzen Geschäftsgebahrung zu überwachen in der Lage sein.„ Ebd. S.294.
 194 Schauenstein (1863), S.610.
 195 Vgl. Güntner (1865), S.382.
76

Die ursprüngliche nach dem Entwurf von 1850 konzipierte Medizi-
nalkommission unter Vorsitz des lokalen Kreismedizinalrates machte
mit dem Erlaß vom 7. Februar 1854 dem Institut eines Sanitätsreferats
Platz. Der Protomedikus, jetzt unter dem Titel „Landsmedizinalrat“,
wird auf Vorschlag des Statthalters vom Innenminister bestellt; er gilt
quasi als Beamter der politischen Behörde, hierarchisch situiert zwi-
schen den Räten und den Sekretären der Landesstelle. Die vom Lan-
deschef vor Ort bestellte Medizinalkommission amtiert unter seinem
Vorsitz; ihre Funktion ist es, der Landestelle Gutachten vorzulegen.
Der direkte staatliche Zugriff der 1850 festgeschrieben wurde, d.h. die
Bestellung der Kommissionsmitglieder durch das Innenministerium
bzw. der Vorsitz durch den ebenfalls staatlich bestimmten Kreismedi-
zinalrat, lockerte sich insofern, als die nunmehrige Organisationsform
der Landesbehörde weitaus größeren Einfluß auf die Kommission
gewährt.

  Die politische Funktion des Bezirksamtes ist es nach der Bestim-
mung vom 13.1.1853, in den ihr im Bezirk untergeordneten Ge-
meinden, die öffentliche Gesundheit zu erhalten, wie sanitätspolizei-
liche Geschäfte zu erledigen. Das hierfür geeignete Organ des Be-
zirksarztes, wie im Entwurf von 1850 gefordert, entbehrt in der be-
hördlichen Organisationsnorm von 1853 allerdings der Erwähnung
(s.o.). Die von den Ärzten geforderte wissenschaftliche Erledigung ist
behördlich noch nicht verankert. Eine legislative Diskrepanz bzw.
Indolenz diesem Administrationsbereich gegenüber ist unübersehbar.
Erst für die Kreisbehörden ist der Kreisarzt systemisiert.196

 Die Gemeinden waren vom Entwurf, d.h. von der aktiven Teilnahme
an der öffentlichen Gesundheitspflege ausgenommen; nur bei Aus-
bruch einer Choleraepidemie war es der Gemeinde gestattet autonom
zu verfahren, allerdings nur in dem Maße als sie erste Instanz bei der
Feststellung der sanitätspolizeilichen Anstalten war, das Kreisamt
hatte ein Weisungsrecht.197 Erst 1862 initiierte man die Dezentralisa-

 196 Vgl. Schauenstein (1863), S.613.
 197 Vgl. Erlaß der k.k. n.ö. Landesregierung vom 15. August 1848, zitiert nach
     Daimer (1898), T. 2, S.186-197.
77

tion, die Länderstellen standen unter geringerer ‘Fürsorge’ der Staats-
obrigkeit bei der Führung von Findel-, Gebär- und Krankenanstalten.
Die neue Gemeindegesetzgebung198 übertrug wesentliche Teile, der
die Salubrität199 betreffenden Agenden an die Gemeindeverwaltung,
dem Staat oblag lediglich die Kontrolle der Durchführung der sani-
tätspolizeilichen Verordnungen. Allein, so Uffelmann, die detaillierte
Spezifizierung dieser Administrationsgeschäfte fehlte und die Ein-
sicht der Gemeinden in die neue Verantwortlichkeit fehlte; der begin-
nenden Dezentralisierung mangelte es zunächst noch an Effi-
zienz.200,201

  Einen Vorstoß in Richtung einer kommunalen Verantwortlichkeit in
Sanitätsgeschäften unternahm die medizinische Fakultät Prags in ei-
ner Eingabe an den Landtag aus dem Jahre 1863. Der Gemeinde bzw.
mehreren Gemeinden im Zusammenschluß sollte die Armenkran-
kenpflege und der öffentliche Sanitätsdienst übertragen werden. Als
ausführende Organe dachte die Fakultät an medizinisches Personal
mit mehrjähriger Erfahrung im öffentlichen Spitalsdienst, das jedoch
nicht von der Gemeinde beamtet werden sollte, das Dienstverhältnis
war vertraglich festzusetzen, hinsichtlich der Pensionierung forderte
sie die für Staatsbeamte geltenden Normen ein. Der Aufgabenbereich
umfaßt die Kompetenzen analog zu denen des Bezirksarztes. Die Rea-
lisierung dieser Petition war bis 1865 noch nicht zu vermerken, einer-


 198 Per Reichsgesetz vom 5.3.1862 wurde den Gemeinden ein selbständiger
      Wirkungskreis übertragen, in dem sie nach freier Selbstbestimmung an-
      ordnen und verfügen kann, auch hinsichtlich der Lebensmittel-, Gesund-
      heits- und Sittlichkeitspolizei, des Armenwesens und der Wohltätigkeits-
      anstalten. Im übertragenen Wirkungskreis unterliegen die Gemeinden den
      Landes- und Reichsgesetzen.
 199 Die Salubrität wird von den Institutionen garantiert, „welche zunächst den
      Schutz des Lebens und der Gesundheit der Staatsgenossen bezwecken und
      zwar dadurch, dass sie die sich aus mannigfachen Einwirkungen der Aus-
      senwelt, wie der socialen Verhältnisse entwickelnden Schädlichkeiten zu
      verhüten oder zu vermindern suchen.“ Schauenstein (1863), S.10.
 200 Vgl. Uffelmann (1878), S.84.
 201 Die Abgrenzung des Wirkungskreises von Gemeinde und Staat wird The-
     ma der Medizinalordnung von 1870 sein.
78

seits fehlten die gesetzlichen Voraussetzungen, andererseits das
Problembewußtsein der Gemeinden.202 „Wenn ihnen [den Gemein-
den-T.B.] schon die Gesundheitspflege und die öffentliche Sicherheit
nicht so sehr am Herzen liegt“203, reklamiert Kraus in seiner Ko-
lumne im Zusammenhang mit der Leichenbeschau und den daraus
resultierenden Querelen (Kosten).

4.1.3 Aspekte einer existentiellen Krise am Gesundheitsmarkt
  Im Vorfeld des Reichssanitätsgesetztes von 1870 präsentiert sich ein
weitaus differenzierteres Bild. Der akademische Ärztestand, der ei-
nerseits durch den internen neuzeitlich-wissenschaftlichen Fortschritt
und die Krankenhausmedizin Selbstbewußtsein für sich in Anspruch
nahm - die zweite Jahrhunderthälfte erlebt nachgerade eine Imple-
mentation der rational-wissenschaftlichen Methode als Erkenntnisin-
strument -, andererseits am Gesundheitsmarkt seine noch nahezu
marginale Position zu gewärtigen hat, konstituiert sich in dieser Phase
als aktiver Teilnehmer an der Vergesellschaftung des industrialisier-
ten Staates. Die prekäre finanzielle Situation des niedergelassenen
Arztes rückte ihn überdies in die Nähe einer Berufsgruppe, die gerade
Ziel der professionalen Aus- und Abgrenzung war.
  Einem Promemoria des steirischen Ärztevereins204 wurde so ein Re-
ferat angeschlossen, welches die Problematik des Zeitungsannon-
censchwindels erörtert.205 Inkriminierte Sujets dieser Inserate sind
Ankündigungen, wie unheilbare Krankheiten zu heilen, die Durch-
führung schwierigster Operationen als problemlos anzupreisen, die
Bewerbung von Wunderarzneien („Arcanum“) etc.
 Der Referent des Vereins hält nichts von einer unmittelbaren ärztli-
chen Kampagne; er antizipiert ein öffentliches Bewußtsein, welches
nur zu vertraut mit den professionspolitischen Anliegen der Ärzte-
schaft ist, „weil ja das Publikum in unseren menschenfreundlichen

 202 Vgl. Güntner(1865), S.391.
 203 ZGM (1865), Probenummer v. 19.12.65.
 204 Macher (1868)
 205 Titel: „Vorkehrungen gegen den Zeitungs-Annoncenschwindel“, Macher
     (1868)
79

Bestrebungen doch nichts als Brotneid erblicken würde“206. Es bleibe
Aufgabe des Staates für die Volksaufklärung einzustehen.
  Die Profession, die diverseste Areale des öffentlichen Lebens zu ih-
ren Agenden erklärte und ihrer Ingerenzlust vehement Unterstützung
angedeihen ließ, tritt im Moment eines potentiellen öffentlichen Wa-
terloo zurück; der indizierte soziale Aufstieg sollte ungebrochen von-
statten gehen. Allfällige Vorkehrungen, die durchzuführen den
Staatsbehörden obliegt, lägen in der Einhaltung bestehender Gesetze
bzw. in der Sanktionierung von Übertretungen - damit sind allerdings
nicht viele Lorbeeren in der Öffentlichkeit zu holen.
  Eine politische Doppelstrategie läßt den Referenten die Laxheit der
Behörden anklagen, deren Amtsauffassung sich darauf reduziert,
„nach althergebrachter Gewohnheit die nie befolgten Gesetze zu re-
publiciren“207. Er moniert die Ahndung von Gesetzwidrigkeiten,
„ohne auf die des Arztes unwürdige Denunciation zu warten“208. Die
Gefährdung der Standesbildung der Ärzte markiert der Hinweis auf
traditionalen, unwissenschaftlichen Umgang mit Therapieformen und
Medikation.

    [...] während jetzt die Geheimnisthuerei in der Medizin das aufgeklärt sein
    wollende Jahrhundert noch so sehr blendet, dass sogar Männer, welche in
    abstracten Wissenschaften als Coriphäen glänzen, den simplen Arzneige-
    heimniskrämer eben so gläubig anstaunen, wie der abergläubische Alpen-
    bewohner.209
 Das öffentliche Vertrauen in eine naturwissenschaftliche Medizin
war selbst in ‘großbürgerlicher’ Atmosphäre nicht dazu angetan eine
Festigung und Konsolidierung dieser Profession zu fördern.
 Die Revision der Sanitätsgesetze soll dem Arzt rechtlichen Schutz
gewähren, gemeint ist v.a. die materielle Absicherung, die die Not-
wendigkeit einer offensichtliche verbreiteten zusätzlichen Einnahme-
quelle, nämlich den Annoncenschwindel, aufhebt; galt es doch bisher:


 206 Ebd. S.27.
 207 Ebd. S.28.
 208 Ebd. S.28.
 209 Ebd. S.29.
80

„entweder ehrlich zu darben, oder eine vermögender Annoncen-
schwindler zu werden.“210 Aus sich heraus fehlte dem Stand die Vita-
lität und Überzeugungskraft eine existentielle Absicherung zu garan-
tieren. Solange die primären Mittel des Gesundheitsmarktes in einem
heterogenen Feld konkurrierten, solange blieb nachgerade die Inan-
spruchnahme der sekundären Mittel ebenso dispers.
 Das Vorgehen gegen brancheninterne Betrüger sollte unter dem As-
pekt der Selbstregelung laufen. Argument: gestützt auf den wissen-
schaftlichen Exklusivitätsanspruch: „Der Staat kann gegen diese
nichts thun, wohl aber ärztliche Körperschaften durch Einsetzung von
Ehrengerichten.“211

4.1.4 Strategeme einer Verselbständigung
  Die Strategeme einer Verselbständigung des Standes begrenzen ihr
Argumentationsfeld mit einer bürokratisch-administrativen Rahmen-
ziehung. Der Staat sollte profanes Charisma vermitteln. Die Refor-
mierung der Medizinalgesetzgebung bot sich als Raum an, in den pro-
fessionspolitisches Argumentationsmaterial verfrachtet wurde. Die
Allianz von Behörde und Stand hatte ihr Vorbild bei den Juristen. Der
Arzt sollte zukünftig Nutznießer staatlichen Machtausflusses werden.
Andererseits hatte der Staat Interesse am Einsatz der Ärzte in eigener
Sache; eine komplementäre Bedarfsbeziehung entwickelte sich
zugunsten beider.
 Im vorliegenden Kontext betrachten wir das professionspolitische
Forum der Ärzteschaft, die Fachpresse.
 In einer Beilage zur ZGM Nr.50 v. 10.12.67 rezensiert Jaromir Mun-
dy den Entwurf des Doktoren-Kollegiums212 vom November d.J.: Zu
Recht weist er auf den nicht existierenden Unterschied in der organi-


 210 Ebd. S.29.
 211 Ebd. S.29.
 212 Das Doktorenkollegium ist ein Relikt aus der Zeit der Zunftfakultät, die
     Fakultät blieb Patronat der Absolventen. 1849 durch das Hochschulorgani-
     sationsgesetz vom Professorenkollegium abgetrennt, aber noch im
     Universitätsverband behalten; 1873 endgültig von der Univerität verbannt.
     Vgl. Lesky (1964), S.128 und 181.
81

organischen Struktur des öffentlichen Sanitätsdienstes im Vergleich
zum bestehenden System von 1850 hin. Einzig die Systemisierung
und Absicherung der finanziellen Forderung wären normiert. Neu ist
darüber hinaus die Idee der Sanitätsräte213 nach Pariser Vorbild.
Mundy hält hier sein eigenes Memoire vor, welches weniger die Per-
sonalfragen eruiert, sondern fundamentale, liberale Vorstellungen
skizziert.
     Ein solches, von einem aus Autoritäten bestehendem Comite verfasste Sta-
     tut, entsprechend der neueren Wissenschaft, müsste als Grundlage eines
     anderen Memoires dienen, welches basirt ist auf dem wichtigen Factor des
     Parlamentarismus, der Oeffentlichkeit, der Volksbildung, der Ausbildung
     von Wohlthätigkeitsanstalten, an denen wir noch arm sind,214
  Mundy legitimiert die ärztliche angestrebte Monopolstellung nicht
direkt über konkrete Organisationsmodelle, sondern auf der Folie phi-
lanthropischer Phraseologie. Dieses November-Memorandum er-
öffnete eine Periode der Rede und Gegenrede, eine Vielzahl an ein-
schlägigen Texten rekurrierte auf die Vorschläge des Doktoren-Kol-
legiums.
4.1.4.1 Dezentralisierung
  Eine Antwort stammt aus der Provinz215, der Gerichtsarzt des k.k.
Landesgerichts in Krakau Leon Blumenstok moniert zunächst, aus
seinem provinziell-peripheren Interesse, den vermeintlichen formellen
Mißgriff des Kollegiums, das den Entwurf einem mit unzureichenden
Kompetenzen ausgestatteten Abgeordnetenhaus übergab. Das Hohe
Haus hätte keine Kompetenz für eine gesamtösterreichische Instituti-
on, wie es das Sanitätswesen darstellt, so Blumenstok. Substantiell
erscheint ihm die Innovation der Bezirksmedizinalräte akzeptabel,
allein die Durchführung müßte genau überdacht werden, denn in Ga-
lizien existiert dieses Organ als Provisorium bereits seit 1867; in der


 213 Der ständige Rat von etwa 12 Mitgliedern, in der Mehrzahl Ärzte, Fachärz-
     te, der sowohl dem Statthalterei- als auch dem Reichssanitätsreferenten
     zugeteilt werde.
 214 ZGM (1867, Nr.50), S.591.
 215 Abgedruckt in ZGM Nr.1, 7.1.68; Nr.2, 14.1.; Nr.3, 21.1; Nr.4, 28.1.; Nr.6,
     11.2.68.
82

durchgesetzten Form erwies es sich als Danaergeschenk. Den Ernen-
nungsmodus möchte aus dem zentralistischen Eck rücken, Blu-
menstok fordert eine dezentrale Ernennung der Bezirksärzte durch die
autonome Bezirksvertretung, nach englischem Vorbild.
     Wir sehen nicht ein, warum auch die Sanitätsorganisation in starre centra-
     listische Formen gepresst werden wird, wenn es wahr ist, dass der neue
     Minister des Inneren [Giskra-T.B.] die Sanitätsreform nach englischem
     Muster durchzuführen beabsichtigt.216
  Als Autoritätsbeweis zieht Blumenstok ein Zitat des englischen Na-
tionalökonomen John Stuart Mill heran: „Die Sanitätsvorschriften
können, trotzdem sie den ganzen Staat betreffen, den Bedürfnissen
der localen Administration entsprechend, nur durch locale Behörden
gehandhabt werden.“ Drei Jahre zuvor redet von anderer Seite der
Gedanke der Pragmatik der Dezentralisierung das Wort: der provin-
zielle Semiotiker rangiert über der zentralistischen, wissenschaftli-
chen Theoriebildung.
     Wir gestehen der Residenzstadt gerne und willig die Suprematie in stren-
     gen wissenschaftlichen Dingen zu - aber für die Verhältnisse anderer prak-
     tischer Zustände wird ihr Urtheil keinem Erfahrenen auch nur halbwegs
     massgebend sein.217
  Diese dezentrale, autonome Beschlußfähigkeit allein verbürgt die
Verbesserung gegenwärtiger Mißstände. Auch Blumenstok argu-
mentiert im Sinne einer Monopolisierung des Ärztestandes - Ärzte
ernennen Ärzte, einziges Korrektiv ist die Ärzteschaft, der Einfluß
oder sogar die Kontrolle durch Branchenfremde erscheint suspekt, die
Monopolisierung wird im Kontext einer Rede der Liberalisierung und
Dezentralisierung angestrebt: Die Dezentralisierung fordert die Be-
stellung des Landechefs und des Landessanitätsrate durch den Lande-
sausschuß mit Bestätigung der Zentralregierung.
     Erster werde aus der Mitte der Bezirksärzte oder der im Land ansässigen
     Medicin-Autoritäten gewählt; ... Der Sanitätsrath bestehe je nach Umfange
     und der Bevölkerung des Landes aus einer grösseren oder geringeren An-
     zahl von ordentlichen und ausserordentlichen Mitgliedern. Erstere werden


 216 ZGM (1868, Nr.3), S.24.
 217 MP (1865,Nr.5), Sp.119.
83

    aus der Landeshauptstadt, letztere aus den in den Provinzialstädten wohn-
    haften hervorragenden Aerzten gewählt.218
  Ebenso sollt sich der Reichssanitätsrat konstituieren, interessant
scheint der Hinweis Blumenstoks auf die effiziente Kontrollfähigkeit
seines Vorschlags; die Inspektoren der obersten Sanitätsbehörde wä-
ren über das ganze Land verstreut: ein Evaluierungsverfahren ein
allgegenwärtiges Phänomen. Die Idee der Kontrollierbarkeit als
Zuckerl für einen monarchischen Staat, um den hermetischen Zirkel
der Standsabgrenzung mit Pfründen abzusichern.
4.1.4.2 Medizin als Sozialwissenschaft
 M.Gauster: Titel: „Noch ein Wort über die Reform des öffentlichen
Gesundheitswesens in Oesterreich.“219

    Das Gesundheitswesen verträgt aber keine Einseitigkeit, keine Exklusivi-
    tät; mitten aus dem vollen Volksleben heraus wächst es, mit allen Wurzeln
    ruht es in ihm; Wesen und Begriff sind kein einseitiges Product der medi-
    cinischen Wissenschaften, nein sie sind den socialen Verhältnissen des
    Völkerrechts entsprungen; und je klarer uns die sociale Seite des Staatenle-
    bens wird, je mehr wir analytisch und durch Kenntnis der Theile wieder
    synthetisch das Volk in allen seinen gegenseitigen Beziehungen die ele-
    mentaren Verhältnisse des öffentlichen Lebens kennen lernen, desto kräfti-
    ger, desto entwickelter, desto umfassender wird sich das öffentliche Ge-
    sundheitswesen zu einem massgebenden Factor des Volkslebens, somit in
    weiterer Consequenz der staatlichen Verwaltung emporschwingen.220
  Das „wir“ des ärztlichen Standes geht die Verbindung mit den So-
zialwissenschaften ein, mit der Intention eine maßgebende Rolle in
der staatlichen Administration zu spielen; der Arzt komplettiert sein
Einflußgebiet, nach dem Exklusivanspruch auf die physisch-
existentielle Komponente der Produktivkräfte expandiert der Mo-
nopolwillen hin zu sozialen, soziologischen Phänomenen der Gesell-
schaft. Die Medizin als Magd der Soziologie, als Hilfswissenschaft
am Weg zum Entscheidungsträger im Staat. Die Medizin als „Lehre
des öffentlichen Wohlseins“ ist Ziel zuvor angeführter Bemühungen;


 218 ZGM (1868, Nr.4), S.33.
 219 ZGM Nr.12, 24.3.68; Nr.13, 31.3.68; Nr. 14, 7.4.68; Nr.16, 21.4.68; Nr.17,
      28.4.68; Nr.20, 19.5.68; Nr.21, 26.5.68; Nr.22, 2.6.68.
 220 ZGM (1868, Nr.12), S.114.
84

die Forderungen und Bedürfnisse des „Volkslebens“ konstituieren das
Recht der öffentlichen Gesundheitspflege und die Pflicht des Staates
demselben gegenüber. Die Ärzte wären die Mittler zwischen Volk
und Staat, autorisierte Organe mit Monopolstellung, mit Kenntnissen
von den Bedürfnissen des Volkes, aber auch Registratur im Rahmen
einer minutiösen Erfassung des Staatsbürgers.
  Das rhetorische Mittel des Bescheidenheitstopos, daß die Medizin
bloß ein Element der Sozialwissenschaften sei, decouvriert sich dort,
wo der Arzt die ‘anderen’ Sozialwissenschaften von der Entschei-
dungsgewalt fernhält, z.B. in den Kommissionen. Das Standesinter-
esse bzw. das Profilierungsstreben der Ärzte äußert sich zudem in
dem von Gauster eingebrachten Zitat, fast Postulat, von der „Identität
der Interessen“. Gemeint ist wohl der Konsens der Staatsbürger, die-
ser findet, so Gauster, seine höchsten Ausdruck im Ge-
sundheitswesen; Verwalter, Organisator dieser Konsensbildung in
ihrer ‘erhabensten’ Ausprägung wäre der Arzt.
  Gauster setzt auf die Fruchtbarmachung der Idee von der Volks-
souveränität und den daraus resultierenden Rechten und Pflichten, um
eine Reform der Medizinalordnung einzufordern auf Basis eben die-
ser Prinzipien. Nicht die absolutistische Sorge um die Produktiv-
kräfte, sondern die Masse des namenlosen Volkes, d.h. das mer-
kantile-staatspolitische Interesse an diesem Reservoir, soll die gesell-
schaftliche Relevanz des Ärztestandes unter Beweis stellen. Der Arzt
als Sozialwissenschaftler vollzieht die erkennungsdienstliche Katalo-
gisierung der Bevölkerung, die einmal vermessen adäquat operatio-
nalisiert werden kann. Pfarrern und Lehrern, ebenso Agenten der
Biopolitik221, verbleibt, in diesem Entwurf, nachgeordnet als Stati-
stiker und Demographen die Rolle als Vorläufer der modernen Sozi-
alwissenschaften.
  So honoriert Gauster zwar die österreichische Spezialgesetzgebung,
die Isolation eben dieser vom Volk, der Schwerpunkt verlagerte sich
in die Kanzleien, das Gesundheitswesen erstarrte zur Kanzleiformel,
so Gauster, führte jedoch zu einer Individualisierung des Sanitätswe-
sens, d.h. die Realisierung gesundheitspolitischer Inhalte war von

 221 Begriff nach Foucault.
85

Einzelwesen und deren subjektiven Interessen abhängig. Selbst der
Entwurf von 1850 mit den Sanitätskommissionen „erstarrte gar bald
unter dem eisigen Hauche einer jeden regen und freien Bewegung ab-
holden Verwaltung“222. Gauster strebt in seinem ‘Prolog’ keinen ra-
dikalen Umsturz des Systems223 an, er denkt an eine Neuformu-
lierung, eine Kompilation und Förderung „[der-T.B.] Keime, die
schon lebensfähig in unserem Gesundheitswesen vorhanden sind“224.
Eine Formulierung Gausters legt den Verdacht nahe, daß die Beru-
fung auf die Interessen des Volkes bzw. die Teilnahme des Volkes am
Reformprozeß aus eine Bedachtnahme auf sehr massive Standesinte-
ressen zurückgeht. „Weil weiter nur ein Factor bei ihrer Lösung, die
Aerzte sie beinahe ausschliesslich ventiliren, wodurch der Regierung
die Sorge vor einseitiger Lösung sich aufdrängt.“225 Gauster erkennt
sehr luzide Strategien, die oberflächlich erkennbare Monopolambitio-
nen im Mantel des staatlich-sozialen Interesses präsentieren.
4.1.4.3 Liberalistische Mahnungen
  Im Schatten/Licht einer ‘liberalen Ära’226 partizipierte die Ärzte-
schaft am politisierenden Jargon. Der Arzt als aufgeklärter Bürger
und Professionist erkannte weitere Impulse eines sozialen Aufstiegs.
Der Arzt als Mittler, Mulitplikator und Profiteur gesamtgesellschaft-
licher Interessen und Tendenzen verschafft sich diesbezüglich Gehör
- v.a. in den Ohren der Staatsadministration - , da die „gegenwärtigen
liberalen Anschauungen [...] geeignet sind, den im ärztlichen Stande
gewiss sehr bedauerlichen Dualismus227 in kurzer Zeit zu beseiti-
gen“228. Maskiert erscheint dieses professionspolitische Interesse, als


 222 ZGM (1868, Nr.13), S.125.
 223 „Der Staat braucht z.B. nicht den grössten Theil des Gesundheitswesens
     wieder an die Gemeinde zurückzugeben, um später es mit Kämpfen und
     Ringen wieder in seine Machtsphäre erwerben zu müssen.“ Ebd.
 224 Ebd.
 225 ZGM (1868, Nr.14), S.132.
 226 Vgl. Zöllner (1990), S.413 ff.
 227 Mit Dualismus ist die 'Chirurgenfrage' indiziert.
 228 Macher (1868), S.12.
86

ein Beispiel von vielen, in der Formulierung, die als Mahnung an die
Staatsbehörden gerichtet ist, vom Hemmschuh einer freien Entwick-
lung des Sanitätswesens.
  An anderer Stelle, bei Jaromir Mundy konstatieren wir ähnlich:
Nach englischem Vorbild moniert er eine Durchführungsordnung in
Sanitätssachen, die dem Parlament (exklusive) legislative Gewalt ein-
räumt, den Kommunen die Ausführung zuteilt und ein Kontrollorgan,
die Reichs-Sanitäts-Inspektoren, einführt. Der Innenminister habe die
Details und Prinzipien des Gesundheitswesen festzusetzen und als
Vorlagen dem Parlament zu präsentieren, d.h. keine Dekrete zu erlas-
sen, und durch ihm verantwortliche Inspektoren die Durchführung im
einzelnen zu überprüfen. Mundy apelliert an politische Ideologeme
amalgamiert mit dem bekannten nationalökonomischen Verweis:
     Würde in solchen Dingen ein Verkennen des Parlamentarismus anhalten,
     so verfielen wir sehr leicht in einen Schein-Konstitutionalismus und eine
     maskirte Autokratie und zwar noch dazu bei einem der wichtigsten Zweige
     der Volksinteressen, nämlich dem Gesundheitswohle des Reiches und sei-
     ner Bewohner.229
  Mundy legt Wert auf die Feststellung, daß nach der gültigen Ver-
fassung die Medizinalgesetzgebung in den Wirkungskreis des
Reichsrates(?) fällt, d.h. die offensichtlich verbreiteten Befürchtun-
gen, daß die Kommunen in jeder Hinsicht autonom verfahren und
damit ein sanitätpolitisches Chaos auslösen, jeglicher Grundlage ent-
behrt. Der de jure Auftrag des Reichsrates ist es die ungeregelte,
indifferente und unkontrollierte Situation in den Kommunen mittels
des neuen Sanitätsstatutes in den Griff zu bekommen. Der Dämon
Cholera, den sich Mundy dienstbar macht, wird zum Apodiktum des
Gesundheitswesen als Reichssache, daß „nicht wieder der chaotische
Unverstand bei solchen Weltplagen [der Cholera-T.B.] die Bevölke-
rung dezimire“230. der Legislative kritisierend stürzt sich Mundy auf
  Konkret die Praxis
die Reformierung der Medizinalgesetzgebung. Er bedauert 18 Jahre
der Versäumnisse, das Provisorium von 1850 wurde tatsächlich in
seinen Hauptteilen nie realisiert, die viermal geänderte politische Ver-

 229 Mundy (1868), S.92.
 230 Ebd. S.94.
87

fassung ist ihm Anlaß das Provisorium dem Genre der Satire zuzu-
ordnen. Als Proponent liberaler Ideologeme moniert der den Usus der
öffentlichen Enquête in administrationstechnischen Angelegenheiten,
wie er ihn in weiten Teilen Europas beobachten kann. Die geheimen
Umtriebe der Regierung, das Faktum der seltenen Beiziehung von
Experten in den Sitzungen der „Comités“ der beiden Par-
lamentshäuser, letztlich die mangelnde Öffentlichkeit von Regie-
rungsenquêten indizieren ihm eine Regression in oder vielmehr eine
Stagnation präkonstitutioneller Politik; das englische System bildet
die Folie einer liberalen u.v.a. in weiterer Folge expertenunterwie-
senen Gesundheitspolitik:
    Gerade das Gegentheil besteht aber jetzt noch im so sonderbar freiheit-
    lichen Oesterreich. [...] Sollte nun die bevorstehende Enquête darüber wie-
    der zu einem Venezianischen Kollegium der berüchtigten schweigenden
    „Dieci“ sich gestalten!!!231
  Schon läßt sich die Besorgnis spüren, daß ohne medizinische Ex-
perten deren individuelles und kollektives Schicksal beschlossen wird
bzw. der ingerenzgierige Arzt die Chance der Etablierung als staats-
politischer Einflüsterer den Fluß hinabschwimmen sah. Mundy kon-
statiert eine paradoxe Situation, deren kritische Masse zuhauf Signale
emittiert, die eine umgehende Neuformulierung der öffentliche Ge-
sundheitspflege zum dringensten Postulat verantwortungsbewußter,
volkswirtschaftlicher Politik macht. Dem zuvor erwähnten Attribut
der Satire gesellt sich das des Kuriosums hinzu, eine aktuelle politi-
sche Verfassung degradiert zunächst Verordnungen, die ihre Geburt
anderen Konstellationen verdanken; Mundys Pointierung findet ihr
zynisches Delta in der Äußerung, daß das Provisorium von 1850 zwar
18 Jahre lang wirksam war, doch ohne je befolgt worden zu sein. Die
ultimative Legitimation einer öffentlichen Gesundheitspflege findet
auch Mundy, unisono mit anderen Medizinexperten, im „Volks-
glück“, d.h. im Feld nationalökonomischen Profits legiert mit libera-
len Ideologemen und in der von Ärzten exklusiv diagnostizier- und
rubrizier- und sanktionierbaren Vorstellung vom möglichst un-
gestörten physischen und psychischen Leben:


 231 Ebd. S.57.
88

     Oder kann man mit offenem Auge und wahrhaftem Munde vom Volksglü-
     cke, möglichst freiheitlicher Entwicklung der Autonomie, von volks-
     wirthschaftlicher Reife, von Förderung des Wohlstandes, vom vernünftigen
     Erwerben, Besteuern und Sparen, vom Schutze des Handels, der Gewerbe,
     der Wissenschaften, der Künste, von intelligenter Bildung, vom Werthe al-
     ler Stände, von gleicher Arbeit, von gleichem Lohne und gleichen Rechten
     und der liberalsten Rechtspflege und Legislation sprechen, wenn man, un-
     bekümmert um das Wie und Warum, die Sanitätsnoth herrschen lässt, und
     nicht nach dem Was sucht, welches dieselbe wenigstens zu vermindern im
     Stande wäre?!232




 232 Ebd. S.59.
89
90


5 Medien und Professionalisierung

5.1 Die Professionalisierung des Ärztestandes
  Die gegenwärtige Position der Medizin als Monopolträgerin233 am
Gesundheitsmarkt währt seit etwa einem Jahrhundert. Das Prestige im
öffentlichen Bewußtsein, die Expertenautorität, bildete sich eben erst
im späten 19. Jahrhundert heraus. Die Bedingungen dieser Entwick-
lung, die von heute zu unterscheidende Professionscharakteristik, das
heterogene Nebeneinander von Dienstleistungen im Ge-
sundheitsbereich234, der sukzessive Aufstieg der Naturwissenschaft
und insbesondere der Medizin an die Stelle der Staatsreligionen be-
schreiben den Kontext dieser Diplomarbeit. Die Wandlung von der
gelehrten zur beratenden und praktizierenden Medizin erfolgte erst
gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Zuvor war die ‘offizielle’ Medizin
nur lose mit den tradierten Kulturemen der Bevölkerung verknüpft.
Die Konsultationen von nicht akademisch gebildeten Heilpersonen
durch die Bevölkerung unterlagen keiner Kontrolle durch einen or-
ganisierten Berufsstand. Noch im späten 19. Jahrhundert und frühen
20. Jahrhundert vertrauten v.a. die Landbevölkerung und die städti-
schen Unterschichten nicht-approbierten Heilern; die sogenannte
‘Volksmedizin’ als magisch-mythischer Konnex zu traditionalen Ver-
gesellschaftungsformen widerstand als spätere „Parallelmedizin“235
der vordrängenden wissenschaftlichen Heilkunst. Für die ersten De-
kaden des 19. Jahrhunderts läßt sich eine derartige Parallelmedizin zu

 233 Es existiert und existierte niemals ein vollständiges Monopol; Ausnahmen
     wären z.B. aktuellerweise die Psychotherapie, Physikotherapien, Alterna-
     tivtherapien etc. und natürlich die selbst oder von nahestehenden Personen
     durchgeführte Therapie. Dann quasi institutionalisiert, etwa die Zeugen Je-
     hovas, die jede ärztliche Kompetenz abstreiten, die katholische Kirche, die
     im Falle dämonischer Obsessionen ärztliche Kompetenz negiert.
 234 Unter dieser Heterogenität ist einerseits die unterschiedliche Provenienz
     des Heilpersonals zu verstehen als auch die dieser Provenienz zugehörige
     Klientengruppe: akademisch gebildete, approbierte Ärzte der großbürgerli-
     chen Klientel, Barbiere und andere Laienheiler der Mehrheit der Bevölke-
     rung, den städtischen Unterschichten und der ländlichen Bevölkerung.
 235 Vgl. Ginzburg (1988): das Indizienparadigma als historischer Gegentrend.
91

einem offiziellen, wissenschaftlichen Medikalsystem nicht behaupten:
Da die nicht expertenorientierte, magische Volksmedizin die mehr-
heitlich einzige Form erfahrener Heilkunst war.236 Die Basis des Ex-
klusivitätsanspruches der Expertenmedizin wurde indessen im 19.
Jahrhundert geschaffen.
  Wenn der Klerus seine Stabilisierung dadurch garantiert wähnte,
daß der Staat des Klerus Dogma stützt, der Jurist durch die Kontrolle
des Zugangs zu den Gerichten, bei denen die Steuerung der politi-
schen Macht lag, über hatte, so kümmerte sich die Medizin um das
Spektrum der gesamten Öffentlichkeit, um ihre Profession zu legi-
timieren und abzusichern; die wissenschaftlich verbindliche, inter-
subjektiv nachvollziehbare Fundierung der naturwissenschaftlichen
Medizin im späten 19. Jahrhundert bot die Chance der Etablierung
eines Professionsmonopols.237

    Erst die eigenständige Konzeptualisierung von Medizin als abgegrenzter
    kultureller Bereich ermöglichte die Entstehung und das Wirken solcher
    Praktiker, die unseren heutigen Ärzten vergleichbar sind.238

5.1.1 Der Begriff der Professionalisierung
  Reinhard Spree239 begreift die historische Entwicklung des Ärzte-
standes als Paradigma für die Darstellung eines generellen Profes-
sionalisierungsbegriffs. Wichtigste Merkmale sind:

    Erlangung berufsgruppenspezifischer Autonomie hinsichtlich des Arbeits-
    inhalts und der Formen der Berufsausübung; Kontrolle des Zugangs zum
    Beruf sowie der Ausbildungsinhalte und Formen; Dominanz der im Berufs-
    feld stattfindenden Arbeitsteilung; Erlangung politisch-gesellschaftlicher
    Handlungsfähigkeit durch verbandsmäßigen Zusammenschluß; Etablierung
    eines Expertenstatus; Propagierung einer besonderen Berufsethik.240
 Als einzig trennscharfes Professionskriterium gilt ihm die gesell-
schaftlich legitimierte, autonome Kontrolle des Berufsgegenstandes

 236 Vgl. Huerkamp (1985), S.36.
 237 Vgl. Freidson (1979), S.16.
 238 Unschuld (1978), S.521.
 239 Spree (1981).
 240 Ebd. S.138.
92

bzw. - inhalts. Das Professionalisierungspotential einer Berufsgruppe
läßt sich an ihre Fähigkeit, einen Absatzmarkt für ihre Leistungen zu
schaffen und an die Macht der monopolistischen Kontrolle der Pro-
fession koppeln. Der von mir verwendete Begriff der Homogenisie-
rung erstreckt sich auf eine Vereinheitlichung der Leistungen, sodaß
das Ausschlußprinzip gegenüber Konkurrenten durchsetzbar wird.
Entscheidende Erfolgsbedingungen sind weiters die Durchsetzung der
Vorstellung von ärztlicher Exklusivität im Bereich der Diagnose und
Therapie und daran anknüpfend die Überwachung des Marktes, d.h.
der Ausschluß anderer Anbieter oder zumindest die Unterwerfung
unter die Kontrolle durch die Berufsgruppe des Arztes.
  Zum Charakter einer Profession241 gehört der Anspruch, „sie sei die
zuverlässigste Autorität hinsichtlich des Wesens der Realität, mit der
sie es zu tun hat.“242 In dem Moment, in dem eine „professionelle“
Methode entwickelt wird, entzieht sie dem Laien die Kompetenz,
schafft gleichsam eine neue soziale Realität. Die diesbezügliche Welt
des Laien wird neu geschaffen. Die einmal erlangte Autoritätsstellung
dieser Profession in der Gesellschaft ermöglicht es ihr, den Gegens-
tand ihrer Arbeit zu verändern bzw. neue Bereiche zu integrieren oder
zu schaffen.243
  Ein weiteres Motiv eines Standesethos war die Vorstellung vom
selbstlosen Dienst an ihrer Klientel, also nicht nur die fachliche Kom-
petenz, auch der Anspruch der ‘Ehrenhaftigkeit’ des gesamten Stan-
des fungierte als integrierendes Merkmal. Zum Zweck der Sanktionie-
rung wurden Verhaltensregeln aufgestellt. Die zentralen Inhalte des



 241 Nach Freidson (1979) ist das distinktive Merkmal einer Profession die ge-
     sellschaftlich und staatlich sanktionierte, v.a. fachliche Autonomie im Ge-
     gensatz zu Beruf. Also, d.h. die Bewertung von außen ist illegitim, diese
     Stellung hat Rechtscharakter. „Eine Profession erhält und behält ihre Stel-
     lung durch die Protektion einer Eliteschicht der Gesellschaft, die davon
     überzeugt wurde, daß die Arbeit der Profession einen speziellen Wert hat.
     Ihre Stellung wird also durch den politischen und wirtschaftlichen Einfluß
     der sie protegierenden Elite gesichert ...“(63)
 242 Ebd. S.1.
 243 Vgl. ebd. S.3.
93

Begriffs sind „das Streben nach selbstloser Dienstleistung“ und „die
Unabhängigkeit in der Ausübung der Berufstätigkeit“.244

5.1.2 Heterogenes Nebeneinander versus Autonomie
 Ein zweites Standbein, neben der Anerkennung wissenschaftlicher
Leistungen durch die Öffentlichkeit, bildet die Entwicklung einer
soziologisch relevanten Grundlage für das Entstehen einer Berufs-
gruppe,

     die dann über die Kriterien zu bestimmen hatte, die einen Menschen zur
     Heiltätigkeit befähigten, die über die alleinige Kompetenz verfügte, den
     richtigen Inhalt und die wirksame Methode der Ausführung medizinischer
     Aufgaben zu bestimmen, und die schließlich von denen, die ihre Hilfe nö-
     tig zu haben glaubten, freiwillig konsultiert wurde.245
  Das heterogene Nebeneinander der am Gesundheitsmarkt konkur-
rierenden Anbieter von Dienstleistungen verhinderte zunächst den
Aufstieg irgendeiner Gruppe. Eine erste stabile Unterscheidungsvor-
aussetzung bildete der von der Universität verliehene Titel eines
„Doktors“. Die mittelalterliche Universität schuf erste administrative
Distinktionskriterien für die Etablierung einer spezifischen Dienst-
leistungsgruppe. Die Bedeutung der höheren Bildung in den damali-
gen Eliten führte zur Unterstützung der akademischen Ärzte durch die
Obrigkeit, die den Weg in Richtung Autonomie förderte und der Me-
dizin eine offizielle Kontrolle über ihre Arbeit avisierte246. Die Ent-
stehung der Gilden unterstützte zwar die Abgrenzung zu anderen
Heilberufen, allein ein breitgestreutes Vertrauen der Bevölkerung in
die sogeartete Ärzteschaft war nicht etabliert. Nicht einmal die obers-
ten Schichten der Gesellschaft, Adel und Bürgerliche, überant-
worteten den Ärzten die alleinige Obhut über ihre physische Verwal-
tung. Die Gründung nationaler medizinischer Berufsverbände im spä-
ten 19. Jahrhundert gab einen weiteren Impuls in Richtung eines pro-
fessionellen Monopols.



 244 Unschuld (1978), S.520.
 245 Freidson (1979), S.17.
 246 Vgl. ebd. S.23.
94

 Die Autonomie präsentiert sich als konstitutiv für die Profession.
Die Berechtigung leitet sich nach Freidson von drei Behauptungen ab:
erstens der esoterische und komplizierte Charakter des fachlichen
Wissens schließt den Laien konsequenterweise aus;
zweitens garantiert das Berufsethos (Dienst am Volkskörper) ein ho-
hes Verantwortungsbewußtsein der Professionisten;
drittens durch den Mechanismus der Selbstregelung, d.h. die Pro-
fession überwacht die dem Ethos adäquate Berufsausübung und ahn-
det Verfehlungen.
     Das System der Selbstregelung z. B., das häufig als eines der Kriterien für
     eine Profession bezeichnet wird, soll die Kompetenz der Mitglieder garan-
     tieren ...247
  Die Profession erscheint als einzige Quelle der Kompetenz, ihr E-
thos rechtfertigt den Anspruch auf Selbstbestimmung. Das Be-
rufsethos, als zentrales Moment der Arbeitsbedingungen, begründet
das Vertrauen in die altruistische Haltung des Arztes, der die vorge-
fundenen Arbeitsbedingungen nicht zum eigenen Vorteil ausnutzt: ein
so qualifiziertes Ethos befördert eine Monopolstellung. Das Fachwis-
sen als primäres Element garantiert andererseits den Arbeitsinhalt.248

  Die notwendige Hilfe des Staates als Grundlage für die Kontrolle
der Medizin über ihre Arbeit affirmiert den politischen Charakter die-
ses Unternehmens. Das Interesse der Standesvertreter versucht, die
Unternehmungen des Staates für sich nutzbar zu machen. Die Koope-
ration zwischen Staat und Profession gilt als Folie einer zu entwi-
ckelnden Autonomie, d.h. aber auch, daß der souveräne Staat als Ab-
hängigkeit stiftendes Element fungiert. Freidson erklärt, daß der Staat
zwar die Kontrolle über die fachliche Seite der Arbeit dem Berufs-
stand überläßt, die Kontrolle über die soziale und wirtschaftliche Or-
ganisation sich aber vorbehält (gilt fürs 19. Jahrhundert, allerdings
hier: liberale Tendenzen, die den Arzt als freien Unternehmer sehen,
der sich niederlassen und arbeiten kann, wo es ihm beliebt). Der Ver-
lust dieses Kontrollbereichs ist nicht konstitutiv für professionelle


 247 Einleitung des Hg. Robert Bierstedt, in ebd. S.III.
 248 Vgl. ebd. S.297.
95

Autonomie.249 Der esoterische Anspruch allein gewährt autonomie-
stiftende Dynamik. Nicht einmal die Beurteilung der Berufsausübung
stehe einem Laien zu. Diese Ausschließungsstrategie impliziert die
Aufweichung eines allfälligen staatlich verordneten Rahmens.
5.1.2.1 Strategeme einer Homogenisierung

5.1.2.1.1 Illegalisierung der Konkurrenz
  In der ZGM-Probenummer vom 26.12.65 ortet Kraus bedenkliche
Lücken in der Medizinalordnung, eine in der damaligen Ärzteschaft
durchaus gängige Diagnose. Seine Phraseologie bemäntelt das Stan-
desinteresse mit der Sorge um das Wohl der Bürger: das Überhand-
nehmen der Kurpfuscherei vor allem auf dem ‘flachen Lande’, die den
Ärzten tatsächlich den Rang streitig machte, quasi die Bedrohung der
erst zu bildenden Monopolstellung des akademisch gebildeten Arztes,
sei zu verhindern. Die bis dato geltenden Bestimmungen250 erwiesen
sich, so Kraus, als insuffizient; neue müssen her:

    Hier tritt es wieder klar zu Tage, wie nachtheilig es ist, wenn solche Nor-
    men ohne den Beirath Sachverständiger statuiert werden, gewiss würde
    keine ärztliche Corporation der berührten Textirung das Wort geredet ha-
    ben, weil sie die Folgen vorhergesehen hätte, die eingetreten sind.251
 Das „wuchernde Unkraut der Curpfuscherei“ wird zum Attentäter an
Wissenschaft, Leben und Volksgesundheit stigmatisiert. Nicht zuletzt
die offenbar beträchtlichen Erträge nähren die Schärfe der Polemik.
Die Kurpfuscher können „Tausende von Gulden als Geschenk oder
Douceure von ähnlichem Werthe annehmen, (...) ohne befürchten zu
müssen, von dem Arme der Justiz gefasst und der verdienten Strafe zu
verfallen“252.
  Eine ganz anderen Ton schlägt die Darstellung Carl Müllers, Ge-
richts- und Stadtarzt in Brüx, an.253 Mit einer nonchalenten Geste


 249 Vgl. ebd. S.23-24.
 250 § 343 des damals geltenden Strafgesetzbuches.
 251 ZGM (1865, Probenummer), S.55.
 252 Ebd.
 253 ZGM (1868, Nr.7).
96

nennt er den Anlaßgrund für die Reformbestrebungen innerhalb der
Ärzteschaft -

     Klagen über die unsichere Stellung des Arztes als Heilkünstler im Staate
     und dem Publicum gegenüber - Klagen über die Beeinträchtigung des
     Standes in seinem Erwerbe, besonders die Klagen über die riesig emporwu-
     chernde Curpfuscherei254.255
  Angelpunkt auch seiner Kritik ist der § 343 des Strafgesetzbuches,
der zwar die Kurpfuscherei strafbar macht, doch mit der Formulierung
„gewerbmässig“ eine Hintertür offen läßt, „durch die [das] in der Re-
gel jeder Beanzeigte entschlüpft“256. Müller denkt nun, daß der Ent-
wurf der medizinischen Fakultät zur Organisation des Medizinal-
wesens wenig an den unbefriedigenden Verhältnissen ändern werde,
da der Stand der Ärzte, die einzelnen Grundrechte nicht be-
rücksichtigt wurden. Einzig probates Mittel ist ihm die Aufklärung
des Volkes in medizinischen Angelegenheiten - Information bewahrt
vor Täuschung. Der Zirkelschluß präsentiert sich als Aufklärung
durch Ärzte, daraus resultiert ein Professionsvorsprung (Vertrauens-
vorsprung, Manipulation) der Ärzte. Dieser Public-Relations-
Intervention folgt der Aufruf nach staatlicher Sanktionierung, „soll es
besser werden, so müssen die Aerzte ebenso mitwirken, wie der Staat,
in dem sie wirken“257.
 Eine andere Invektive zielt auf die Wundärzte ab, die angeblich
nach einer simplen Prüfung die Rechte und den Titel eines Doktors
der Medizin erhalten, diese Vorgangsweise stört eben den Aufbau ei-


 254 Ebd. S.65.
 255 Kraus beklagt in seiner Kolumne, Nr.7, (1866): „Fürwahr, dieser einge-
     schleppte Krebsschaden [die Curpfuscherei-T.B.] bläht sich auch bei uns
     in einer Weise auf, dass es nunmehr hoch an der Zeit ist, die Behörden
     zum nachsichtslosesten Einschreiten aufzufordern, soll die Bevölkerung al-
     ler Gauen des Kaiserstaates an Gesundheit und Vermögen nicht grossen
     Schaden erleiden und die verbrieften Rechte der Aerzte und Apotheker in
     der unverantwortlichsten Weise mit Füssen getreten werden.“(86) Hier ein
     unverblümter Hinweis auf Standesinteresse, abgesichert mit Volkswohl-
     fahrt und Staatsvermögen.
 256 ZGM (1868, Nr.7), S.65.
 257 Ebd. S.66.
97

nes homogenen Standes. Müller führt letztlich ins Treffen, daß die
Reformideen auf eine Modifikation des Sanitätswesens aus sind, die
Unterstützung des ärztlichen Standes jedoch, im Interesse der Be-
rufsausübung, d.h. auch die erfolgreiche Verdrängung der ‘Curpfu-
scherei’ aus ihrem Tätigkeitsbereich, nicht zu kurz kommen dürfe.

    Dem Arzte muss in seinem Erwerbe gesetzlicher Schutz durch Landes- und
    Reichsgesetze gewährt sein [...] Darin liegt das beste Mittel gegen die lei-
    dige Curpfuscherei, die bereits Alles überwuchert. Endlich müssen die Be-
    soldungen der im Staatsdienste verwendeten Aerzte, entsprechend denen
    anderer Staatsdiener, geregelt werden.258
  Aus dem Promemoria Machers 1868: Ein, dem Promemoria zuge-
fügtes Referat thematisiert einen Bereich, der nochmals dieses exi-
stentielles Fragezeichen zeichnet. Der Vortragende alteriert sich über
die Kurpfuscherei und formuliert thesenartig Sanktionen zur Abwehr
ebendieser. Die Kurpfuscherei, die exuberante Blüten trieb vermittels
des Engagements vonseiten der Hebammen, Apotheker, Medizi-
nalwarenhändler etc., gefährde den Staat und die Gesellschaft; die
Gefahr für den Ärztestand benennt er nicht. Verantwortlich für diese
Übelstände war ihm die ungebildete, abergläubische Bevölkerung, die
Laxheit der politischen Behörden und Justizbehörden u.v.a. der Dua-
lismus innerhalb des medizinischen Personals, der sämtliche Mecha-
nismen einer hermetischen Profession (s. Freidson) verhindert.259
  Als Maßnahme zur Abwendung der ‘Gefahr’ für Staat und Gesell-
schaft empfiehlt er eine verstärkte Förderung des naturwissenschaft-
lichen Unterrichts beim Volk: der propagierte Einzug rational-wis-
senschaftlicher Episteme in die Alltagsmentalität. Eine Abänderung
der Rigorosenordnung bzw. die Einebnung der disparaten, heteroge-
nen medizinischen Ausbildungsvarianten. Den Einfluß ärztlicher
Standesvertreter auf die Strafprozeßordnung.260
 Reinhard Spree bezweifelt die tatsächliche finanzielle Konkurrenz
durch die Laienmedizin. Ein Aspekt der Illegalisierung scheint ihm
bis ins 20 Jahrhundert hinaus die eminente Schwierigkeit „am Markt

 258 Ebd. S.74.
 259 Vgl. Macher (1868), S.30.
 260 Vgl. ebd. S.31.
98

für gesundheitliche Dienstleistungen ein ärztliches Monopol zu er-
richten“261. Zudem ist die Illegalisierung eine polemischen Strategie
zur Verdrängung traditionaler Therapieformen zugunsten des wis-
senschaftlichen Paradigmas der Schulmedizin. Der interne wissen-
schaftliche Fortschritt hatte nur bescheidene erfolgreiche Therapiein-
novationen anzubieten, möglicherweise eine Konsequenz des thera-
peutischen Nihilismus v.a. der Zweiten Wiener Schule um Rokitansky
und Skoda.
  Als eine weitere Folge ist wahrscheinlich eine Verschlechterung der
Gesundheitsverhältnisse zu bemerken. Die Verdrängung der
traditionalen Heilberufe bekam v.a. die Landbevölkerung und die
städtischen Unterschichten zu spüren, wenngleich die Effizienz der
Sanktionierung der Verbote gerade in diesem sozialen Bereich schwer
kontrollierbar bleibt.
5.1.2.1.2 Exkurs: Ausbildung und Prüfungen des heilärztlichen Per-
sonals


  Ein Hofdekret vom 28. Juni 1786 organisiert die Ausbildung des
geprüften Heilpersonals. Die dualistische Systemisierung umfaßte
einen großen fünfjährigen Kurs für Ärzte und höhere Wundärzte und
einen kleineren zweijährigen Kurs für Zivil- und Landwundärzte. Die
Gruppe der Wundärzte unterschied sich somit in zwei Klassen, die
Magister und Doktoren der Chirurgie und die Land- und Zivilwund-
ärzte. Das fünfjährige medizinisch-chirugische Studium schließt eine
dreijährigen Kurs ein, der Theorie und Hilfswissenschaften vermittelt
und einen zweijährigen Kurs zur speciellen Therapie und Klinik.262
 Der og. zweijährige Studien-Kurs für Zivil- und Landwundärzte ist
denjenigen vorbehalten, die bei einem Meister eine Lehre abgeschlos-
sen haben. Die ohne Freibrief müssen Zeugnisse von der Normal-
Schule vorlegen und einen dreijährigen Kurs absolvieren.263Lehrlin-


 261 Spree (1981), S.152.
 262 Vgl. Bernt (1819), S.83-84.
 263 Vgl. ebd., S.87.
99

ge, die lediglich Vorlesungen besuchen, werden nach der Freispre-
chung nicht als ordentliche Schüler der Wundarzneykunst in die Ver-
zeichnisse eingetragen264, sondern mit dem Zusatz ‘Lehrling’ stigma-
tisiert - Versatzstücke einer umfassenderen distinktiven Dichotomie
von gelernt vs. ungelernt.
  Daneben bestand noch die Einrichtung der k.k. Lyceen, dabei han-
delte es sich um eine abgesonderte klinische Schule mit zwölf Betten
für die medizinischen und zwölf Betten für die chirurgische Klinik.
Die Finanzierung erfolgt über den Studien-Fond. Der Studienplan ist
ident mit dem universitären Kurs für Land- und Zivilwundärzte.265
 Parallel wurde 1807 ein k.k. Privat-Institut für chirurgische
Operateure an der Wiener Universität gegründet: sechs Personen, die
den 2-jährigen Unterricht in Wundarzneykunst absolviert haben. Die
Ausbildungsdauer betrug zwei Jahre durch den Professor für
praktische Wundarzneykunst.2661843 wurde das Institut erweitert, ein
zweites wurde an der 2. chirurgischen Klinik eingerichtet. Da diese
Ausbildung hinsichtlich der Besetzung einschlägiger Dienststellen
Bevorzugung erfuhr, drängte man darauf, daß nur promovierte Ärzte
mit Stipendien für diesen Kurs versorgt werden267.
  Mit einem Hofkanzleidekret vom 17. Februar 1804 wurde eine lan-
desweit gültige Regelung des Studienwesens etabliert, die den Zulauf
zu den medizinisch-chirurgischen Studien an den Universitäten der
Monarchie steuert. Das Studien-Hofcommissions-Decret vom 20. Ap-
ril 1833 spezifiziert die Organisierung der Studien; bis 1872 erhielt
sich ein Dualismus in der Ausbildung. Die zwei Kategorien teilten
sich in Ärzte, Doktoren der Medizin, und Wundärzte, das sind Dokto-
ren, Magister und Patrone der Chirurgie. Die Prüfung und Diplomie-
rung der sogenannten „Bruchärzte“ wurde 1810 eingestellt. Das me-
dizinische Studium wurde ausschließlich an den Universitäten betrie-
ben; das chirurgische Studium zerfiel in zwei Klassen:


 264 Vgl. Frank (1817), Bd.6 2.Teil, 362.
 265 Vgl. Bernt (1819), S.91-92.
 266 Vgl. Bernt (1819), S.90 und Frank (1817), S.355.
 267 Vgl. Schauenstein (1863), S.315.
100

 1. das höhere Studium an den Universitäten approbierte die Dokto-
    ren und Magister der Chirurgie aus. Voraussetzung für den Ma-
    gister war die erfolgreiche Absolvierung der 6. Gymnasialklasse
    und ein dreijähriges Fachstudium für Patrone, nicht zwingend an
    einer Universität, und ein viertes an der Universität. Nach der Pat-
    ronatsprüfung war eine praktische Prüfung vorgesehen: einen
    anatomische Sektion und einen Operation an einer Leiche.
 2. das niedere chirurgische Studium an den Lyceen bzw. medizi-
    nisch-chirurgische Lehranstalten - zuvor gab es noch vereinzelt
    Kurse an den Universitäten bildete die Patrone der Chirurgie aus.
    Das Patronat war niemals ein akademischer Titel. Voraussetzung
    war der Abschluß der 4. Gymnasialklasse oder ein vorgelegter
    Lehrbrief (zur Lehre s.u.). Das Fachstudium über drei Jahre hatte
    nach jedem Jahrgang eine Prüfung, deren positiver Ausgang für
    den Aufstieg in den nächsten Jahrgang zwingend war. Ehemalige
    Lehrlinge mußten einen zweimonatigen Spitalsdienst (medizini-
    sche/chirurgische Abteilung) absolvieren. Absolventen die direkt
    aus dem Gymnasium in das Fachstudium eintraten mußten einen
    dreimonatigen unentgeltlichen Praktikantendienst im Spital ab-
    solvieren. Dazu kam ein zweimonatiger praktischer Unterricht in
    Geburtshilfe (die Prüfung bestand aus einer Entbindung am Phan-
    tom oder an der Leiche) und eine sechswöchige Praxis an einer
    Findelanstalt zwecks Impfunterricht. Die Prüfung für das Patronat
    der Chirurgie umfaßte Anatomie, theoretische und praktische
    Medizin und Chirurgie sowie Staatsarzneikunde. Das Diplom
    wurde in deutscher Sprache ausgestellt; approbiert als Wund- und
    Geburtsärzte.
  Die Lehrzeit und Vorbildung war nach dem Muster für Gewerbe ge-
ordnet. Die Aufnahme erfolgte über das chirurgische Gremium, das
den Kandidaten einem Lehrherren (=Wundarzt) zuwies. Nach dreijäh-
riger Lehrzeit erfolgte die Freisprechung nach einer Prüfung vor den
chirurgischen Gremium zum chirurgischen Gehilfen (Subjekt), bestä-
tigt durch ein Lehrzeugnis.
 1786 gründete Joseph II. zur Heranbildung von Militärärzten die
medizinisch-chirurgische Josephsakademie. Hierorts unterrichtete
man sowohl das höhere als auch das niedere medizinisch-chirurgische
101

Studium. Die Diplome der Universitäten und der Josephsakademie
waren gleichwertig. Die Problematik dieser Institution spiegelt sich in
der relativ kurzen Lebensdauer wider; 1848 eingestellt, 1854 wieder
errichtet und 1873 endgültig aufgelassen.
  Für das Doktorat der Medizin war ein fünfjähriges Universitätsstu-
dium vorgeschrieben, welches 2 Rigorosen umfaßte. Das Doktorat der
Medizin war bis zum Erlaß des Studien-Hofcommissions-Decretes
vom 8. Oktober 1843 unbeschränkt zugänglich, danach konnten nur
noch graduierte Doktoren der Medizin dieses Doktorat nach zweijäh-
riger Studienzeit erwerben, eine massive Einschränkung und symboli-
sche Degradierung der Chirurgie.
  Eine Besonderheit war das Magisterium der Geburtshilfe, das vor al-
lem für die Anstellung im öffentlichen Sanitätsdienst erforderlich
war. Lediglich Absolventen der höheren medizinisch-chirurgischen
Studien konnten dieses postgraduate erwerben.
  Der Wundarzt, dem es nicht gestattet war den Titel ‘Arzt’ zutragen,
da er v.a., so eine Erlaß vom 14. März 1882, die Ausbildungsunter-
schiede und Kompetenzen bezeichnen sollte, als Ausbildung und
letzthin als Profession mußte sich ab der Mitte der 1840er Jahre ver-
gegenwärtigen, daß er das vorläufige Ende einer Geschichte miterlebt.
Mit einem Erlaß des Unterrichtsministeriums vom 13. August 1848
wurde das niedrige chirurgische Studium an Universitäten sowie die
Ausbildung zum Magister der Chirurgie aufgehoben.
  Der Dualismus in der Ausbildung wurde mit einer Verordnung des
Ministers für Cultus und Unterricht vom 15. April 1872 abgelöst von
einer einheitlichen Ausbildung, die die Eigenart und Genealogie des
Wundarztes in eine professionelle Vorgeschichte verdrängte. Bereits
ein Erlaß des Unterrichts- und Cultusministeriums vom 16. August
1849 deutet in Richtung einer Vereinheitlichung der Ausbildung bzw.
nur einer Kategorie von Ärzten. Sowohl Patrone als auch Magister
der Chirurgie konnten entweder den medizinischen oder den chirurgi-
sche Doktorgrad in relativ kurzer Zeit erwerben. Allerdings auch nur
bis in das Jahr 1853; ab dann war per Erlaß des Unterrichtsministeri-
ums einerseits eine absolvierte Matura erforderlich, andererseits wur-
de das Fakultätsstudium für approbierte Wundärzte (Patrone) auf
zehn, für Magister auf sechs Jahre festgelegt.
102

  Für das zahnärztliche Studium war mindestens das Diplom des Pat-
rons der Chirurgie unerläßlich.268
5.1.2.1.3 Integration und Einebnung der Vielfalt


  Der schon erwähnte vielgestaltige Gesundheitsmarkt erfuhr eine
Einengung einerseits durch die Illegalisierung einer oder mehrerer
Anbietergruppen, andererseits durch eine Erweiterung des Macht-
einflusses einer Gruppe, nämlich der akademischen Ärzte, zuungun-
sten einer schwächer legitimierten Gruppe von ‘Heilern’. Die dispa-
rate Segmentierung des Gesundheitsmarktes wurde von den mono-
polistischen Taktiken der Ärzteschaft zunächst überwunden, zunächst
deswegen, da in den folgenden Jahrzehnten erneut eine Aufsplitterung
zu beobachten ist. Jetzt allerdings unter Standeskontrolle. Die Spezia-
lisierung erfolgte in den Grenzen einer m.E. definierten Autonomie.
  Die Vereinheitlichung des Gesundheitsmarktes ist Resultat einer
komplexen Dynamik, Aspekte dieser Bewegung versucht diese Erör-
terung zu eruieren, ein Aspekt im konkreten Kontext ist die Manipu-
lation von Wissen269, das meint v.a. die Strategie den Wert des von
Konkurrenten gehaltenen Wissens herabzusetzen. Hinter einer Po-
lemik, die scheinbare Objektivität einsetzt, agieren politische Interes-
sen.

      „Es besteht keine andere objektive Notwendigkeit für derartige Auseinan-
      dersetzungen als das Bemühen um erweiterte Kontrolle über die in Frage
      kommenden primären und dann vor allem sekundären Mittel.270
  Die späten 60er Jahre des 19. Jahrhunderts in Österreich wiesen eine
signifikante Beachtung der Chirurgenfrage auf. Stolperstein für die
‘mindergebildeten’ Wundärzte sollte eben auch ein Wissensmonopol
im Bereich des öffentlichen Sanitätsdienstes sein. Die Physikats-




 268 Vgl. Daimer (1896), Bd.1, S.349-365.
 269 Vgl. Unschuld (1978), S.152.
 270 Ebd. S.533.
103

prüfung271 sollte nur dem gewährt werden, der das kanonisierte Wis-
sen eines akademische instruierten Arztes nachweisen konnte. Jeder
andere, d.h. ein Wundarzt, würde infolge seines defizitären Wissens
die Wohlfahrt des gesamten Staates gefährden, so die Stan-
despolemik. Diese öffentliche Tätigkeit stand deswegen im Brenn-
punkt, da die Ärzteschaft davon einen Standesbonus ableitete - ein
Wundarzt an dieser Position wäre der unüberwindliche Spaltpilz einer
Professionalisierungsbewegung.
 Die Inkorporation dieser Heilergruppe stand so im Dienste einer
Expansion. Das Korsett einer gemeinsamen, verbindlichen Ausbil-
dung wird zum Element einer fortschreitenden Verselbständigung.

     Ein[-T.B.] formelles Studium vermittelt nicht allein Fähigkeiten und dient
     auch nicht nur der Auslese, es ist darüber hinaus ein wichtiges Element der
     Integration von Neumitgliedern in die Denk- und Handlungsart der Gruppe
     und trägt so zur Kontinuität der Wahrung spezifischer Interessen bei.272
 Aus einem Memorandum des Doktorenkollegiums der Uni Wien
1867 in ZGM Nr.49:
  Revisionsbedürftig erscheint der Fakultätsvertretung die diskontinu-
ierliche Qualifizierung, das heterogene Feld der Doktoren der Me-
dizin, der Doktoren, Magister und Patrone der Chirurgie. Die Nachtei-
le und Gefahren, so der Entwurf, dieser Disparität äußern sich nir-
gends drastischer, als in den Fällen, wo die Behörden sich in Sanitäts-
angelegenheiten und besonders in gerichtsärzlichen Fällen „des Ra-
thes und Gutachtens halbgebildeter Heilindividuen aus den unteren
Kategorien des ärztlichen Standes bedienen, oder bedienen müs-
sen“273. Ihr Vorschlag geht dahin alle niederen chirurgischen Schulen
aufzulassen und „in Hinkunft an allen medicinisch-chirurgischen
Lehranstalten nur mehr Heilärzte von gleicher Qualifikation und mit
gleicher Berechtigung“274 auszubilden. Wieder eine Schritt zur Ver-

 271 Per Verordnung wurde am 21. März 1873 die Physikatsprüfung eingeführt,
     die unerläßlich für eine Anstellung im öffentlichen Sanitätsdienst war. Die
     erste Prüfung sollte im Oktober 1873 abgenommen werden.
 272 Unschuld (1978), S.535.
 273 ZGM (1867, Nr.51), S.598.
 274 Ebd. S.599.
104

einheitlichung im Monopolinteresse eines Standes unter Hinweis auf
die Gefahr für das Allgemeinwohl.
  Letztendlich bietet das Instrument der Physikatsprüfung ein weiteres
Mittel zur Spezifizierung und Kontrolle des eigenen Standes, ein
straff organisiertes Spezialistentum garantiert ein solides Gerüst beim
Aufbau eines Monopols. Daher deponiert das Kollegium die Idee der
Physikatsprüfung für Kandidaten des öffentlichen Sanitätsdienstes.

      Demnach würden in Hinkunft nur solche Aerzte zu öffentlichen Anstellun-
      gen gelangen können, welche als Doctoren der gesamten Heilkunde und
      nach zurückgelegter vorgeschriebener Spitalspraxis auch noch das Physi-
      catsexamen mit gutem Erfolge abgelegt hätten.275
  In gleicher Weise argumentiert Mathias Macher in einer Anmerkung
zu einer Vorlage der Vereins der Ärzte der Steiermark, er fordert eine
strenge Prüfung aus der Staatsarzneikunde als conditio sine qua non
einer Anstellung im öffentlichen Sanitätsdienst. Gleichzeitig eröffnet
die Idee der Realisierung einer Ärztekammer die Chance zur Revision
des Sanitätswesens, so Macher, „die Emancipation desselben von dem
allzugrossen nachtheiligen Einflusse fachunkundiger Laien“276.
  Der Gerichtsarzt Leon Blumenstok aus Krakau: Die Problematik der
Gerichtsärzte will Blumenstok mittels eines nachvollziehbaren Aus-
bildungsweges in den Griff bekommen, der Nachweis einer ge-
richtsärztlichen Praxis in Form einer Aspirantentätigkeit an einer Ge-
richtsbehörde. Im Sinne der Konsolidierung eines homogenen Be-
rufstandes fordert er den Ausschluß der Wundärzte von solchen Stel-
len; dieser Forderung schickt er eine Desavouierung hinterdrein, so
gibt es „unter den Gerichtsärzten nicht nur Wund-, sondern auch gra-
duierte Aerzte [gibt], freilich solche, die aus alten Chirurgen junge
Doctoren der Medicin geworden, die des Schreibens nicht vollkom-
men kundig sind“277. In diesem Sinne unterstützt er die Forderung
nach Auflösung der Chirurgenschulen .




 275 Ebd. S.615.
 276 ZGM (1868, Nr.5), S.45.
 277 ZGM (1868, Nr.6), S.54.
105

  Die Hauptversammlung des Vereins der Ärzte der Steiermark be-
auftragte am 16. Juli 1868 Dr. Macher mit der Anfertigung eines Pro-
memoria auf Basis der gefaßten Beschlüsse. Das „I. Comité“ für wis-
senschaftliche Interessen war mit der Ausarbeitung eines Vorschlags
zur Medizinalreform betraut. Im Vorwort verzeichnet Macher eine
totale Vernachlässigung des Sanitätswesens bis „an die Grenze der
Verkommenheit“278 nach der politischen Reorganisation von 1853.

  Der Referent des I. Comités Dr. Blodig beantragt im Zusammenhang
der Frage nach einer Reforms des Studiums der Heilkunde, daß aus-
nahmslos nur eine Kategorie von Ärzten herangebildet werde. Im
Sinne einer Homogenisierung des Berufstandes sollte eine Speziali-
sierung erst nach Absolvierung des Studiums der gesamten Medizin
ermöglicht werden; Ärzte, die eine öffentliche Anstellung anstreben,
müßten sich einer speziellen Prüfung unterziehen (der Physikatsprü-
fung).
  Eine der essentiellsten Voraussetzungen erschien der steirischen
(und nicht nur dieser) Interessenvertetung die Lösung der „Chirurgen-
frage“, das meint die Auflösung der Studien für Patrone und Magister
der Chirurgie.279 Das Referat des Comités für Standesinteressen emp-
fiehlt eben die Aufhebung des sogenannten niederen medizinisch-
chirurgischen Lehrkurses. Die Tatsache, daß der frühere Mangel an
Ärzten es notwendig machte quasi halbgebildeten Wundärzten Kom-
petenzen hinsichtlich einer innerlichen Therapie einzuräumen, sieht
der Referent Dr. Schwarzl keineswegs mehr gegeben; die aktuelle po-
litische Verfassungs- und Verwaltungsrealität begünstigt seiner An-
sicht nach die Ansiedlung von Ärzten, da die Landesvertretungen und
die autonomen Gemeinden die materielle Existenz der anzustellenden
Ärzte sichern sollten. Hier dürfte der Wunsch Vater des Gedankens
gewesen sein, fehlt doch in jeder Hinsicht der plausible Nachweis der
Umsetzung der Verordnungen in die Realität, ich verweise auf dies-
bezügliche Anmerkungen der Quellen280. Vielmehr geht die Forde-

 278 Macher (1868), S.4.
 279 Vgl. ebd. S.8.
 280 Vgl. Uffelmann (1878), S.84 und ZGM (1866,Nr.14), S.170.
106

rung nach Sistierung des ‘halbärztlichen’ Heilpersonals in Richtung
einer Vereinheitlichung und Einebnung einer noch disparaten Profes-
sion.
  Unisono mit anderen Medizinern verlangt Macher im Promemoria
des steirischen Ärztevereins die Installation einer Überprüfung der
Fähigkeiten einer Mediziners, der um Anstellung im Sanitätswesen
ansucht. Nach Mundy sollte dies dergestalt verbürgt werden, indem
eine Lehrstuhl für „öffentliches Gesundheitswohl“ geschaffen wird,
thematische Schwerpunkte wären im theoretischen Kursus das Sani-
tätswesen im Allgemeinen, im praktischen Gerichtsmedizin mit Se-
zierübungen, forensische Chemie, Toxikologie, Histologie und Ve-
terinärkunde.281
  Die Denunzierung der Wundarztausbildung als unvollständig schloß
die Chirurgen konsequenterweise von der Physikatsprüfung aus, die
ein Spezialwissen vermitteln sollte, welches allerdings auf dem aka-
demischen Titel eines ‘Doktors’ gründe: er allein garantiere ein ad-
äquates Maß an Allgemein- und Fachwissen, so Gauster.282 Den Chi-
rurgen wurde per Antrag der Enquête-Commission das theoretische
Recht auf Zulassung zur Physikatsprüfung vorerst gewährt; die For-
mulierung des Wirkungs- und Aufgabenbereichs des Physikats, das
primär prophylaktische und hygienische Medizin und nicht thera-
peutische zu exekutieren hatte, rekurrierte auf die Denunzierung des
Ausbildungsmangel der Chirurgen und damit verbunden auf einen
Wissensmangel im nicht heilkundlichen Bereich. Der Wundarzt wur-
de vom Physikatsdienst ausgeschlossen.283
  Den erhobenen Vorwurf der Einschränkung ärztlicher Anstellungen
für Chirurgen begegnet Gauster mit dem Hinweis auf die gleiche Pra-
xisberechtigung, die ihnen vielfältige Betätigungsmöglichkeiten in
den Gemeinden einräumt.




 281 Vgl. Mundy (1868), S.89.
 282 Vgl. Gauster (1869 c), S.5.
 283 Vgl.ebd. S.6.
107

    Die Kommission hat bei Besprechung der Besorgung der öffentlichen
    Krankenpflege durch die Gemeinde selbst die beiden Kategorien von Aerz-
    ten gleichgestellt.284
 Die Kommission entschied in ihren Anträgen, so Gauster, auf Aus-
schließung der Wundärzte von der Wahl zu den Landessanitätsräten
mit der Begründung, daß diese Kollegien

    nicht die Interessen des ärztlichen Standes und Berufes, sondern blos die
    der medizinischen Wissenschaften und insbesondere das Hygienische zu
    vertreten haben.285
  Das passive Wahlrecht war ihnen gewährt. Die Gleichstellung in der
Behandlung im öffentlichen Dienst mit Ärzten im Bereich der Pensio-
nierung bzw. der Versorgung von Witwen und Waisen postulierte die
Kommission. In Anbetracht der Kommisionsbeschlüsse moniert Gau-
ster Zufriedenheit auf seiten der Chirurgen: die Gleichstellung in der
Praxis wäre eine bereits erstaunliche Konzession; Gauster betreibt die
fachliche Diskriminierung soweit, daß die Gesundheit der Bevölke-
rung durch die hohe Zahl an minder ausgebildeten Wundärzten auf
dem Spiel steht, v.a. gibt er zu Bedenken, daß „gleiche Praxisrechte
durch ein kürzeres, billigeres und minder allseitiges, so wie minder
eingehendes Studium erworben werden können“286.
  Die Versorgung der Staatsbürger mit minder qualifiziertem Personal
wird zum Menetekel und lanciert so die Einforderung und Affir-
mation einer universalen, vereinheitlichten Ausbildung unter dem Pat-
ronat der akademischen Ärzteschaft. Der Ausschluß von wissen-
schaftlich „Höherwertigem“ gründet im Ausbildungsdefizit der Wun-
därzte, das Gegenteil wäre Hybris. Die Konzessionen erhalten ihre
Berechtigung vor dem Hintergrund der Schließung der Chirurgen-
schulen (bzw. Umwandlung in universitäre Einrichtungen) und einer
Einebnung der Ausbildungsformen, d.h. einer Inkorporation der Wun-
därzte in die Ausbildungsschemata der universitären, universalen
Medizin.287 Wenn Gauster die Einheit wissenschaftlicher Erkenntnis

 284 Ebd. S.7.
 285 Ebd. S.7.
 286 Ebd. S.8.
 287 Vgl. ebd. S.8.
108

und öffentlichen Wohls proklamiert, dann um die Einheit und Unteil-
barkeit des menschlichen Körpers zu propagieren und sich gegen eine
pragmatischen Fragmentarisierung des Leibes auszusprechen: ledig-
lich ein Maß, d.h. eine Ausbildung und eine Profession ist legitim.288
  Professionspolitisch interessant bleibt die Diskussion über die Ü-
bergangsperiode bzw. über die von Gauster erwartete Ablöse der
Wundärzte durch ‘universal’ gebildete Allgemeinmediziner. Den
Verweis auf durchwegs erträgliche ökonomische Verhältnisse der
Ärzte quittiert er mit dem Begriff von der Transformation der prie-
sterartigen Stellung zur gewerblich-geschäftlichen Position des Arztes
und damit einhergehendem ökonomischen Avancement.289
 Zielsetzung dieser Vereinheitlichung ist die künftige Verbindung
von Wundärzte und Ärzten in freien Assoziationen.290
  Hoffmanns, eine zusätzliche Quelle, Sorge um die Substituierung
des 1850er Provisoriums durch definitiv gesetzliche Regelungen be-
zieht sich v.a. auf die Organisation des Dienstverhältnisses bzw. auf
die Neuformulierung der Ausbildungsideen. Um eine hinreichend
große Anzahl entsprechend ausgebildeter Ärzte für die öffentliche
Gesundheitspflege zu garantieren, fordert er ein Examen aus dem
Fach der Staatsarzneikunde. Die Funktion der Selbstkontrolle im
Rahmen der professionspolitischen Abschottungsinteressen wäre da-
mit gestützt. Der Ausschluß anderer Berufsgruppen erneut bekräf-
tigt.291

5.1.3 Autonomiebestrebungen und staatlicher Interventionismus
  Fehlendes Expertenwissen im frühen 19. Jahrhundert, verhinderte
noch die Autonomie einer Berufsgruppe im Rahmen einer angestreb-
ten Monopolbildung; ein übriges tat das unstrukturierte Nebeneinan-
der heterogener Gruppen, die therapeutische Dienstleistungen anboten
- den akademischen Ärzten, einer kleinen Teilgruppe, war es noch


 288 Vgl. d. S.9.
 289 Vgl. mit den Motiven der Illegalisierung der 'Kurpfuscher'.
 290 Vgl. Gauster (1869 c), S.10.
 291 Vgl. Hofffmann, (1867), S.7.
109

nicht möglich ihren Exklusivitätsanspruch anzumelden. Es lassen sich
allerdings schon für diese Periode Vereinheitlichungstendenzen beo-
bachten. Der staatliche Proto-Interventionismus, das staatliche Inte-
resse an einer medizinischen Inventarisierung, d.h. Kontrolle der psy-
cho-physischen Befindlichkeiten seiner Bevölkerung, an einer kon-
trollierenden medizinischen Infrastruktur im Sinne einer ‘medicini-
schen Polizey’, bildete das ausgeprägteste Movens.
  Das ärztliche Heilpersonal hatte die Stellung von öffentlichen Ge-
sundheitsbeamten292, auch der nicht öffentlich angestellte Arzt war in
disziplinarrechtlicher Hinsicht den staatlichen Beamten gleichgestellt.
Von daher erklärt sich ein Abhängigkeitsverhältnis, das nicht zuletzt
in dem Hofkanzleidekret vom 3. November 1808 verschriftet ist. Der
Arzt, der seine Ausbildung ausschließlich an eine österreichischen
Hochschule bzw. an der Josephsakademie erhalten konnte, bleibt in-
nerhalb einer Provinz dem Gubernium bzw. dem Kreisamt des Dist-
rikts untergeordnet.293 Die nicht gesetzlich geregelte Honorarfrage
widerfährt Schauenstein als Beeinträchtigung der ärztlichen Tätigkeit,
ist der Arzt doch „dadurch der Willkür des Einzelnen preisgege-
ben“294. Ein Blick auf diese in aller Kürze entworfene Skizze offen-
bart eine nachgerade aporetische Konzeption: Einerseits der noch
verhüllte Appell an eine generell staatlich geregelte Dotation ärztli-
cher Tätigkeit, andererseits die als Suppression erfahrene Abhängig-
keit von staatlichen Behörden. Schauenstein polarisiert in der patheti-
schen Begriffsfindung von Rechten und Pflichten.295 Ein Arztstand,
der durch sein wissenschaftliches Selbstverständnis gestärkt, durch
seine Strategien dem Staat nahezu unentbehrlich erschien, der Nutz-
nießer, Instrument und Effekt einer Vergesellschaftung der wissen-
schaftlichen Expertise war, wird späterhin einflußreicher punkten in
der Rechte/Pflichten-Diskussion. Die Gestaltung des Gesundheitswe-


 292 Ein Hinweis auf diese Position ist Befreiung von der Erwerbssteuer per 31.
     Dezember 1812, da das Heilpersonal „ in gewisser Beziehung als Staats-
     diener anzusehen [ist-T.B.].“ Zit. nach Schauenstein, S.370.
 293 Vgl. ebd. S.331-334.
 294 Ebd. S.367.
 295 Vgl. ebd. S.328-331.
110

sens, mithin der ärztlichen Arbeits- und Lebenswelt wird zumindest
bis ans Ende des 20. Jahrhunderts ein zentrales soziales Integrations-
programm darstellen.
 Die gesamtgesellschaftliche Legitimation der akademischen Ärzte-
schaft mußte allerdings noch bis ins frühe 20. Jahrhundert ausbleiben;
der nur sporadische Kontakt, v.a. mit der armen und der Land-
bevölkerung verhinderte jede essentielle Vertrauensbildung.

      Die gelehrten Ärzte besaßen nur ausgesprochen partikularistische Absatz-
      chancen auf dem Markt für medizinische Dienstleistungen, der als einheit-
      licher gar nicht existierte, sondern in eine Reihe relativ unverbundener
      Teilmärkte zerfiel.296
  Da der expertenorientierte, auf akademische Bildung aufbauende,
öffentlich anerkannte Diskurs zwecks Monopolisierung nicht durch-
setzbar war, entwickelte sich die Strategie einer Standardisierung der
Ausbildung, d.h. auch eine Integration vermeintlich ‘niedriger’ Hei-
ler. Die Erweiterung der so instruierten Berufsgruppe ermöglichte ei-
ne Dominanz über die verblieben, also ausgeschlossenen, diagno-
stischen und therapeutischen Dienstleistungen. Der Begriff der Ho-
mogenisierung beinhaltet so eine zahlenmäßige Verringerung und
Hierarchisierung der Heilberufe. Das staatliche Engagement, das einer
Verringerung diverser Subgruppen im Bereich der Heilberufe Vor-
schub leistete, war begünstigt durch den Umstand, daß die Ausbil-
dung von staatlich kontrollierten und finanzierten Institutionen vor-
genommen wurde.
  Ab der Jahrhundertmitte beschleunigte sich der Homogenisierungs-
prozeß, eine zunehmende Differenzierung der Gesellschaft vor der
Folie der Szientifizierung der Lebenspraxis begünstigte das Exper-
tentum.

      Durch die Integration von Innerer Medizin, Chirurgie und Geburtshilfe hat-
      te sich die Gruppe der akademisch gebildeten Ärzte nach Sozialisation und
      sozialem Status homogenisiert. Sie erfuhr insgesamt eine Status-
      Anhebung, so daß die Vereinheitlichung auf diesem Gebiet als ein Schritt
      kollektiver sozialer Mobilität nach oben interpretiert werden kann [...] Die-
      ser Vorgang könnte deshalb erstaunlich erscheinen, weil er keineswegs



 296 Huerkamp (1985), S.42.
111

     durch popularisierte Fortschritte der medizinischen Wissenschaft oder gar
     durch gesellschaftlich anerkannte Verbesserungen ärztlicher Diagnose und
     Therapie legitimierbar war.297
 In Österreich erfolgte die Integration der Chirurgen erst nach dem
Reichssanitätsgesetz von 1870, durch die Rigorosenordnung vom 15.
April 1872, die nur mehr einen Doktor der gesamten Heilkunde
promovierte.
  Noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts trotzte ein traditionales
Weltverständnis der elitären und esoterischen Wissenschaft. Das Ver-
trauen der Bevölkerung in sozial näherstehende, traditionale Heilbe-
rufe war dominant; auch die sozialen Eliten hatten, ob der medizini-
schen Praxis, wenig Vertrauen in den akademisch gebildeten Ärzte-
stand. Die Privilegierung dieser Berufsgruppe bzw. die Förderung
ihrer Autonomie- bzw. Monopolbestrebungen ist dann nur noch im
Rahmen staatlich-bürokratischen Interesses zu begreifen298. Neben
der gesellschaftlichen Aufwertung einer Teilgruppe des Bildungsbür-
gertums erkennt Spree als weitaus plausibleren Anlaß die im Kontext
der Medizinalreformen erweiterten „infrastrukturellen Regulierungs-
und Kontrollmöglichkeiten im gesundheitspolizeilichen Sinne“299.
Das monarchistische System benötigte für stabilisierende Funktionen
keine medizinischen Experten und Therapeuten, sondern Charismati-
ker, eine hoheitlich begründete Autorität, in zahlen- und ausbil-
dungsmäßig überschau- und kontrollierbarer Menge.
  Beispielhaft koppelt sich an dieses Staatsinteresse die Diskussion
um die Reorganisation des öffentlichen Gesundheitswesens in Öster-
reich. Das standespolitische Interesse fügt sich nahtlos ein in die Am-
bitionen der Behörde. Die provisorische Organisation von 1850 er-
füllte in der Durchführungspraxis weder die Absichten des Staates
noch die der Profession. Der Laie stellt sich Hoffmann als potentieller
Verhinderer dar. Die Nutzbarmachung für die Volkswirtschaft hängt
vom Ausschluß der Laien bzw. von einer starken Reduktion ihrer e-
ventualen Einflußnahme ab.


 297 Spree (1981), 142-143.
 298 Vgl. ebd. S.143.
 299 Ebd. S.144.
112

       Denn was könnten die besten, vernünftigsten und wohlmeinendsten
       Rathschläge wohl nützen, wenn sie entweder ganz unausgeführt blieben,
       oder wenn sie von Laien ohne Verständnis der Sache, willkürlich modifi-
       ciert und verkümmert zur Ausführung gelangen.300
  Mehr Einfluß der Expertokratie, allein der ungebildete Laie wird
zum Dämon der Verhinderung des Fortschritts, mithin der staatlichen
Wohlfahrt - eine Phraseologie, die mit Drohgebärden um Aner-
kennung buhlt. Folie dieses erweiterten Manipulationspotentials wä-
re: autonome und selbständige Leitung der Sanitätsangelegenheiten,
welche in oberster Instanz durch ein selbständiges Sanitätsdepar-
tement, Leitung: Reichs- oder Staatsmedizinalrat, repräsentiert wird.
Dieses sollte dem Staatsministerium, dem Innenministerium oder dem
Ministerium für Cultus und Unterricht inkorporiert sein301. Ergän-
zend sollte den Sanitätsreferenten (Medizinalräten) bei den Statthalte-
rien bzw. beim Ministerium „Concepts- und Kanzleipersonal“ zur
Bewältigung ihrer „Bureau-Geschäfte“ ein ständiger Sanitätsrat zur
Verfügung gestellt werden.
    Die Sanitätsräte hätten die Vollmacht:
•  Personalentscheidungen zu treffen
•  wissenschaftliche Fragen zu behandeln
•  die Abgabe supraarbitreller Gutachten
•  deren Mitglieder wären ideale Prüfer des Examens aus Staatsarz-
   neikunde. Die Dotation der bei Beratungen der Sanitätsräte betei-
   ligten Mediziner sei sicherzustellen nach dem Motto: „Time is
   monney and study wants time.“302
  Ein bedeutsames Element stellt die Kriminalisierung von Teilen des
Heilpersonals dar, v.a. der Kurpfuscher bzw. des durch sie reprä-
sentierten, traditionellen laienmedizinische Verfahrens. Die Medizi-
nalreformen förderten in diesem Sinne die Aufwertung einer Teil-
gruppe zuungunsten einer anderen, d.h. Illegalisierung der sogenann-
ten laikalen Medizin; „Enteignung der Gesundheit“ würde man heute
sagen.


    300 Hoffmann, S.14
    301 Vgl. ebd. S.14
    302 Hoffmann, S.15.
113

5.1.3.1 Ärztekammern: Institute der Autonomie
  Die Vereinsbildung stellt im Rahmen der Professionalisierung einen
Schritt aus der staatlichen Kontrolle dar. „Ein Aerztetag in Oester-
reich!“303 Die Vereine waren wichtiges Sprachrohr für die Propa-
gierung ärztlicher Standesinteressen. Noch bevor es zu Konstitution
von Standesordnungen kam, war die Funktion der Ärztevereine we-
sentlich der Austausch von wissenschaftlicher Information und ge-
selliges Beisammensein. Die Formulierung standespolitischer Be-
lange gegenüber den Medizinalbehörden304, d.h. die Politisierung des
Vereinswesens, der Widerstand gegen staatliche Regelungs- und Kon-
trollmechanismen verfestigte sich im Zuge der Reformdebatten zum
Gesundheitswesen. Die Zwitterstellung des Arztes, einerseits Beamter
andererseits Gewerbetreibender305, präsentiert sich als essentieller
Impuls ärztlicher Professionalisierung. Die Ärzteschaft erfaßte auch
die Chance, durch aktive Teilnahme am öffentlichen Ge-
sundheitswesen, ihre Standesinteressen zu befördern. Eine freie As-
soziierung erwuchs so zum ersehnten Organ der Interessen v.a. dem
Staat gegenüber.
 Aus einem Beitrag Gausters in ZGM: Titel: „Noch ein Wort über die
Reform des öffentlichen Gesundheitswesens in Oesterreich.“306
  Ein organisatorisches Konzept bildet den Rahmen bzw. notwendi-
gen Anlaß eine ärztliche Assoziierung zu beschwören: Die Bestellung
der Gremiumsmitglieder307 erfolge durch Staat, Land und durch freie
Wahl aus den ärztlichen Korporationen, die so gewährleistete admini-
strative Heterogenität sollte sie zum ausgleichenden Element der öf-
fentlichen Verwaltung machen, und zwar überall dort wo Kompetenz-
schwierigkeiten auftauchen. Die Furcht vor einem Überhandnehmen
der Fachwissenschaften im Verwaltungsbereich entkräftet Gauster un-


 303 Gauster (1868 b), S.5.
 304 Vgl. Spree (1981), S.148.
 305 Vgl. Schauenstein (1863), S.330.
 306 Als Fortsetzungsserie erschienen in ZGM: Nr.12, 1868 - Nr.22, 1868.
 307 Es handelt sich um den Prototyp eines „hygienischen Fach-Kollegiums“,
     das der behördlichen Landesstelle als wissenschaftliche Quelle dienen soll.
114

ter Hinweis auf die Suprematie der staatlichen Administrativbehörden
insgesamt; Aufgabe der Experten sei der Kampf gegen inkompetente,
ingerenzhabende Laienorgane der Gesundheitsverwaltung. Den kor-
porativen Zusammenhalt, der den Erfolg verspricht, präzisiert Gauster
in Schlagworten: „Wahrung und Förderung der wissenschaftlichen
Forderungen einander gegenüber und nach aussen, corporative Ver-
tretung der vitalen Interessen des Berufstandes.“308 Als Modell dient
ihm das sächsische Vorbild, das von der Vorstellung ausgeht, daß der
ärztliche Berufsstand mit den hygienischen Interessen des Staates,
respektive der Bevölkerung ident ist. Für Österreich sieht er noch eine
weiten Weg zu diesem Ideal professionspolitischer Bestrebungen; er-
klärtes Ziel ist die Identifizierung, allerdings erst nach dem dahinter
verborgenen Existenzkampf einer Berufsgruppe, die in einem noch
heterogenen Berufs- und Bedürfnisfeld um ihre Vormachtstellung
kämpft.

      Diese Identificierung ist ein Ideal, welchem wir noch sehr fernestehen und
      dem ärztlichen Berufstande gelten im grossen Ganzen seine engeren Be-
      rufsinteressen mindestens eben so viel, um nicht zu sagen mehr, als die all-
      gemeinen hygienischen; und daraus kann man ihm keinen Vorwurf ma-
      chen, denn er ist in einem harten und zwar immer härteren materiellen
      Kampfe begriffen um Sicherung der Einzelexistenz, er ist in den Ueber-
      gangszustand von gelehrter Kunstausübung in das gesellschaftliche Leben
      der Neuzeit gelangt, wo es erst gesicherte Stellung zu erringen gilt.309
  Die Idee einer Ärztekammer310, analog zur bestehenden Handels-
oder Ackerbaukammer, gründet sich in einer Situation, die die ma-
terielle Existenz der akademischen Ärzteschaft als noch nicht gesi-
chert vorfindet.
  Gauster erinnert, an anderer Stelle, an die Kundgebungen der En-
quête-Kommission, die, im Sinne einer konstruktiven Standespolitik,
künftig vereinheitlichte Ausbildung der Ärzte zu garantieren und die
Chirurgenfrage einer Lösung zuzuführen vorschlägt: die Ausbil-
dungsgleichheit der Zukunft beseitigt ein elementares Hemmnis ärzt-
licher Assoziationen. Der Enquête war es hingegen nicht möglich eine

 308 ZGM (1868, Nr.17), S.166.
 309 Ebd. S.166.
 310 Realisiert 1891.
115

juristische Regelung des ärztlichen Assoziationswesens zu erarbeiten.
Gauster moniert die Selbstverständlichkeit, die breit verankert ist, die
die Relevanz eines solchen Vereines für die Wissenschaft, private und
öffentliche Hygiene und nicht zuletzt für den Stand unzweifelhaft an-
erkennt.311 Die Vereinsbildung der Ärzte oszillierte zwischen den Po-
len: freie Assoziation und staatlich beeinflußter Korporation, wobei
Gauster unter korporativ die zwangsweise Mitgliedschaft versteht.
Die Entscheidung fiel zugunsten jener aus, da, so Gauster, grundsätz-
liche Unvereinbarkeiten zwischen ‘hygienischer’ Sorgfaltspflicht und
ärztlichen Sonderinteressen herrschen: „In kräftiger, freier Assoziie-
rung werden sie ihre Interessen viel energischer betonen und zur Gel-
tung bringen können.“312
  Trotz der in Aussicht gestellten vereinheitlichten Ausbildung der
Ärzte fürchtet Gauster eine Meinungspluralität, im Kontext des öf-
fentlich tätigen Arztes, die professionspolitisch negative Folgen zei-
tigt. Freien Assoziationen käme hierbei eine Filterfunktion zu, diese
Konsensualisierung vermittelt ein geschlossenes Auftreten in der Öf-
fentlichkeit - eine Art PR-Effekt der Standespolitik.313 Schrec-
kensbild bleibt ihm eine staatlich vermittelte Vereinigung, die einem
liberalen Zeitgeist widerspricht. Die corporate identity, der PR-Effekt
solcher freier Vereine wird zu unabdingbaren Folie ärztlicher Profes-
sionspolitik.
  Ein Kommentar der MP (1865, Nr.25) erweitert die Wirkung einer
Vereinigung aus föderalistischer Perspektive. Die Hypostasierung am
Nullpunkt der öffentlichen Sanitätspflege soll nun nicht durch die In-
itiative einzelner Individuen bzw. Gremien reorganisiert werden. Al-
lein eine Art Ärzteverein konzipiert als ständige Interessenvertretung,
„nicht eine Association von vorübergehender Natur“, zwecks Pression
auf die Durchführung einer Reorganisation der Medizinalverfassung,
die staatlich legitimiert ist, in die öffentliche Gesundheitspflege in-



 311 Vgl. Gauster (1869 b), S.2.
 312 Ebd. S.2.
 313 Metalegitimation ist wieder die damit verbundene Förderung des öffentli-
     chen Gesundheitswesens; vgl. Gauster ebd. S.3.
116

volviert ist und ihre Interna autonom verwaltet und regelt, kann diese
Reform gewährleisten.314
 Der anonyme Autor sieht v.a. die Funktion dieses Vereins in der
Einebnung der Kluft zwischen Residenzstadt und Provinz. Als Mittel
gegen die Privilegierung einzelner Körperschaften (bspw. Doktoren-
Kollegium) im Rahmen der Neufassung der Medizinalgesetzge-
bung.315
  Es läßt sich ein Anstieg der Autorität der wissenschaftlichen Medi-
zin konstatieren, doch keineswegs eine unangefochtene Monopolstel-
lung. Einerseits zollten nicht alle gesellschaftlichen Gruppen und
Subgruppen der naturwissenschaftlichen Medizin Vertrauen; die Ab-
satzmöglichkeiten der Ärzte am Gesundheitsmarkt verbesserten sich
nicht generell. Darüber hinaus verbesserten sich zwar die Diagnose-
verfahren der Schulmediziner (Röntgenologie, Bakteriologie), bloß in
den Bereichen der Therapie hatten die akademische gebildeten Ärzte
kaum der Laienmedizin überlegene Leistungen anzubieten.316 Aller-
dings stützt sich der professionale Anspruch auf Autonomie v.a. nicht
auf die Überlegenheit seines Wissen über andere Formen von Erfah-
rung und Erkenntnis, sondern auf die Autorität oder Fähigkeit der Be-
rufsgruppe ebendiese Überlegenheit gesellschaftlich glaubhaft zu ma-
chen und staatliche Unterstützung für die Vertreibung, Illegalisierung
etc. der Konkurrenz zu reklamieren.317
5.1.3.2 Staat und Arzt: Aspekte einer Wechselwirkung
 Gesundheit ist kein Ziel an sich, sondern Metapher der modernen
Disziplinierung des Lebens.318 Von Interesse ist die Offenlegung und
Strategie der Metaphernkonstitution; hier unter dem Aspekt berufs-
politischer Standesinteressen. Der Ärztestand als ein Mediator, Nutz-
nießer und Beschleuniger der zivilisatorischen Disziplinierung.


 314 Vgl. MP (1865)Nr.25, Sp.611.
 315 Vgl. ebd. Sp.613.
 316 Vgl. Spree (1981), S.153.
 317 Vgl. Huerkamp (1985), S.57,
 318 Vgl. Barthel (1989), S.8.
117

  Gesundheit als distinkter, öffentlich-politischer Diskurs, d.h. öf-
fentliche Gesundheit gilt nicht als humanitärer Wert an sich, sondern
als operationalisierte Funktion; mithin stellt sich die Frage nach Ak-
teuren und Institutionen, politischen Strategien und Techniken, die im
Diskurs über öffentliche Gesundheit konvergieren. Zwei Prot-
agonisten dieses Diskurses treten hervor, der Staat und der Ärzte-
stand, ihre Interessen an einer kollektiven, expertenunterwiesenen
Gesundheitsfürsorge verdichten sich unter dem Deckmantel des Telos
einer säkularen Herstellbarkeit und Machbarkeit von Gesundheit
(=Glück) zur Vorstellung einerseits der Ausbildung einer homogenen
Berufsgruppe mit Monopolanspruch, als Verwalter der Physis, ande-
rerseits als Mittel zur Inventarisierung und positiv-optimistischen
Kontrolle und Lenkung der Bevölkerung eines Staates mit dem Ziel
der gesundheitlichen Optimierung des Reservoirs an Produktivkräften
und Soldaten.

     Krankheit und Gesundheit werden hier erstmals aus der lebensweltlichen
     Kompetenz des Laien herausgerissen und zum systematischen Objekt ge-
     samtgesellschaftlicher Steuerungsmaßnahmen und expertenangeleiteter
     Sozialisierungsbemühungen gemacht.319
  Der vorliegende Text versucht diese These Barthels, die er für die
zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts aufstellt, für die zweite Hälfte des
19. Jahrhunderts im Kontext der Reform der Sanitätsgesetzgebung
aufzunehmen und ihren Anspruch auf Gültigkeit im Rahmen eines
noch nicht abgeschlossenen Prozesses zu analysieren. Immerhin ver-
meint Göckenjan zwischen 1800 und 1850 keine wesentliche Ver-
änderung der ärztlichen Praxis zu erkennen.320 Der angesprochene
Prozeß meint die Ausbildung eines homogenen Berufsstandes mit
Monopolambitionen und die Exekution und Förderung der staatlichen
Kontrolle einer Gesellschaft, die am Wendepunkt (bzw. bereits nach
der Wende) von feudaler Ordnung zu absolutistischen bzw. konstitu-
tionellen Strukturen, Industrialisierung etc., der Ausbildung bzw. Bes-
tätigung nationalstaatlicher Ideen steht.



 319 Ebd. S.9.
 320 Vgl. Göckenjan (1985), S.238.
118

 Als Quellen unserer Analyse dienen uns selbständig erschienene
professionspolitische Schriften oder Artikel bzw. Artikelserien in
Fachzeitschriften, siehe Vorwort (Fraktur).

  Das Standesinteresse manifestiert sich etwa bei Dr. L. Gottlieb
Kraus, Arzt und Herausgeber der ZGM321, in der Feststellung, daß
der naturwissenschaftlich gebildete Sanitätsbeamte die einzige Ga-
rantie für die staatliche Ressource bietet, nämlich für die Arbeits- und
Leistungsfähigkeit des Bürgers, der allein den Wert eines Staates rep-
räsentiert. Wenn die maßgebenden Stellen, so Kraus, das erkannt ha-
ben, wird auch die Monopolstellung des Sanitätsbeamten gebührend
honoriert werden.322 Zunächst noch differenziert verweist er auf den
Arzt als Sanitätsbeamten, letztlich profitiert der gesamte Stand von
der Konnexion mit der staatlichen Obrigkeit. Die Allianz der beiden
Proponenten erscheint besonders von medizinischer Seite inauguriert:
das noch unvollkommen konturierte Professionsprofil benötigt einen
staatlichen Begründungszusammenhang. Andererseits wissen wir
vom staatlichen Interesse an der administrativen Durchdringung der
Bevölkerung auf möglichst unverdächtige Weise, der medizinische
Charismatiker biete sich hier geradezu an.

 In ähnlicher Manier erinnert eine Teilorganisation der medizini-
schen Fakultät den Staat, wenn auch selbstbewußter, d.h. an den Ehr-


 321 Die ZGM erschien erstmals im Dezember 1865. Motiviert durch die '
     Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen' konstituierte sich ein Periodikum.
     Die programmatische Präambel der Redaktion beruft sich auf Fortschritte
     in den Teilbereichen der medizinischen Wissenschaft, Stichwort: Zweite
     Wiener Schule. Allein die Staats-Arzneikunde führt ein stiefmütterliches
     Dasein. Der besondere Verdienst, der den wissenschaftlichen Fortschritt
     ermöglichte, kam den wissenschaftlichen Periodika zu. Analog formiert
     sich der Bergründungszusammenhang für die Publikation eines Fachblatts
     für die Bereiche der Staats-Arzneikunde. Um die Jahreswende 1865/66
     war die ZGM diesbezüglich das einzige Organ in Österreich. Die letzte
     Ausgabe erschien am 25. August 1868. Die Redaktion votierte für eine Fu-
     sion mit den „ Blättern für Staatsarzneikunde „, herausgegeben von der „
     Allgemeinen Wiener medicinischen Zeitung „. Die ZGM wurde von der
     AMZ absorbiert.
 322 Vgl. ZGM (1866, Nr.46), S.539.
119

geiz und das Über-Ich der Verwaltung appellierend, an seine Aufga-
be. Der Abdruck eines Memorandums des Doktorenkollegiums vom
18. November 1867 der Wiener medizinischen Fakultät an das Hohe
Haus bezüglich der Organisation des öffentlichen Sanitätsdienstes
erhellt die rhetorische Strategie.323 Die Denkschrift legitimiert ihre
diesbezügliche Autorität mit der Wohlfahrt des Staates, die den Nati-
onalreichtum konstituiert. Einziges kompetentes Organ ist der ärzt-
liche Stand, ist doch
    die Sorge für das Gesundheitswohl der Bevölkerung in der That eine der
    ersten Aufgaben der Administration in jedem wohlverwalteten Staate [sei],
    so dass überhaupt weder eine geregelte politische Verwaltung, noch eine
    generelle Justizpflege ohne ständigen Beirath tüchtiger ärztlicher Sachver-
    ständiger bestehen kann.324
 Der Arzt hat damit die exklusive Autorität zu Sicherung der staatli-
chen Produktions- und Wehrkraft bei der Administration hinterlegt.
 Um diesen Aspekt in der Professionsideologie quasi flächendeckend
plausibel einzusetzen und damit Druck auf die politischen Behörden
auszuüben, erschien die Mobilisierung der Bevölkerung günstig. Der
Arzt und engagierte Professionspolitiker Moriz Gauster verknüpft
Verwaltung und Standesinteresse kontextuell.
  In der ZGM 1868 fordert er ein festgeschriebenes Statut der Ge-
sundheitsverwaltung ein, damit öffentliches Recht sichergestellt sei,
damit man aus dem Provisorium von 1850 herauskomme, damit das
öffentliche Gesundheitswesen ins Bewußtsein der Bevölkerung rücke,
so Gauster. Das lokale bzw. kommunale Recht und die dar-
ausfolgende Pflicht in sanitätspolizeilicher Hinsicht muß installiert
werden, eine Normierung der kommunalen Verwaltungsexekutive
vorgenommen werden. Der Landesgesetzgebung muß die Möglichkeit
eingeräumt werden, der länderspezifischen Situation adäquate Sankti-
onen bereitstellen zu können. Zur Verbreitung dieser Reformen, zur
Verbreitung des verdeckten professionspolitischen Interesses muß die
Öffentlichkeit gewonnen werden;



 323 Abgedruckt in ZGM Nr.48, 26.11.67; Nr.48, 3.12.67; Nr.51,17.12.67.
 324 ZGM (1867, Nr.48), S.560.
120

      durch Popularisierung der Wissenschaft, durch nimmer müde Besprechung
      der einschlägigen Fragen für den in volkswirthschaftlicher Hinsicht vitalen
      Einfluß des öffentlichen Gesundheitswesens.325
 Hoffmann ein Mitstreiter Gausters affirmiert dieses Strategem. Die
Sorge um die öffentliche Gesundheit ist eine der wichtigsten Aufga-
ben der Administration, die „doch nur durch Aerzte besorgt werden
kann“326.
  Hoffmann variiert den Appell an die Schutzfunktion des Staates. Im
Sinne einer Marktbereinigung sollte der Status des Arztes als alleini-
ger Therapeut gesetzlich garantiert werden. Die Auseinandersetzung
mit „Curpfuschern“ und Vertretern außerhalb einer sich konzeptua-
lisierenden Heilkunde, die die Ärzte wohl nicht für sich entscheiden
konnten, sollte vom Staat geregelt werden. Argument: Das Interesse
des Staates, die Wohlfahrt ist ident mit dem Interesse der Staatsbür-
ger. Um diesen Plan durchzusetzen, d.h. die Eliminierung der
„Curpfuscherei“, müßte der Staat zunächst für eine ausreichende
Menge an ausgebildeten Medizinern sorgen: eine Delegationsgeste an
die oberste Administrationsinstanz zur Förderung berufspolitischer
Homogenisierungambitionen. „Diese Sorge wird unter allen Umstän-
den immer das Augenmerk einer weisen Regierung bleiben.“327
  Der Dämon Cholera, den Mundy, ein prominenter Professionspoli-
tiker, sich dienstbar macht, wird zum Apodiktum des Gesundheits-
wesens als Reichssache, „daß nicht wieder der chaotische Unverstand
bei solchen Weltplagen [der Cholera-T.B.] die Bevölkerung dezimi-
re.“328
  Die ultimative Legitimation einer öffentlichen Gesundheitspflege
findet auch Mundy, unisono mit anderen Medizinexperten, im
„Volksglück“, d.h. im Feld nationalökonomischen Profits legiert mit
liberalen Ideologemen und in der von Ärzten exklusiv diagnostizier-




 325 ZGM (1868, Nr.21), S.209.
 326 Hoffmann (1867), S.3
 327 Ebd. S.4.
 328 Mundy (1868), S.94
121

und rubrizier- und sanktionierbaren Vorstellung vom möglichst un-
gestörten physischen und psychischen Leben:
    Oder kann man mit offenem Auge und wahrhaftem Munde vom Volksglü-
    cke, möglichst freiheitlicher Entwicklung der Autonomie, von volks-
    wirthschaftlicher Reife, von Förderung des Wohlstandes, vom vernünftigen
    Erwerben, Besteuern und Sparen, vom Schutze des Handels, der Gewerbe,
    der Wissenschaften, der Künste, von intelligenter Bildung, vom Werthe al-
    ler Stände, von gleicher Arbeit, von gleichem Lohne und gleichen Rechten
    und der liberalsten Rechtspflege und Legislation sprechen, wenn man, un-
    bekümmert um das Wie und Warum, die Sanitätsnoth herrschen lässt, und
    nicht nach dem Was sucht, welches dieselbe wenigstens zu vermindern im
    Stande wäre?!329
  Das Schreckgespenst des Pauperismus, die hohe Mortalitätsrate und
die Krankenstandquote in den Wiener Spitälern mutieren zumindest
in zweiter Linie zum potentiellen Demonstrationsfeld ärztlicher
Kompetenz. Die Evaporationen der Kloaken, beschworene Vorboten
der Cholera, die ungeklärte „Wasserfrage“, die Ermangelung einer
„Unrath-Wegschaffungsakte“, also Staub, Unrat und „entfesseltes
Leuchtgas“ formiert Mundy zu einer diabolischen Allianz, deren He-
gemonie Anlaß genug für entsprechende Reformen sein müßte.
    Ist nur das winzigste Anzeichen vorhanden, welches uns zu der Hoffnung
    berechtigt, dass wir ein gegliedertes Sanitäts-Statut für das Reich und sepa-
    rirte Akte für die Stände und das Land bald erhalten werden, und zwar sol-
    che, die den P o s t u l a t e n der heutigen Wissenschaft entsprechen! Lei-
    der nicht die geringste. Der Pauperismus wächst in bedeutenden Dimensio-
    nen sichtlich und mit demselbem das Bettelwesen und durch beide natür-
    lich wieder die Infektions-Krankheiten.330
 Der Arzt schlüpft in die Rolle des Anwalts der Armen: zur Verhin-
derung des Übergreifens in diesem Areal entstandener Krankheiten
auf die bürgerliche Gesellschaft. Der Topos der Angst vor Anstec-
kung nährt die Initiation oder Bestätigung des Arztes als Wahrer der
Volksgesundheit zum nationalökonomischen Wohle des Staates.
 Der Notstand ärztlicher Public Relations Tätigkeit läßt sich an der
Feststellung Mundys ablesen, wenn er beklagt, daß zwar die Fach-
presse ein höchst aktives und resolutes Forum der Standesinteressen

 329 Ebd. S.59.
 330 Ebd. S.88.
122

abgibt, die politische Presse, das Parlament und der Rest der Öffent-
lichkeit nur wenig bis überhaupt nicht Notiz von der aktuellen Dis-
kussion nehmen.331 Es liegt nun nahe, wenn die Faktizität der Aus-
sage zu verifizieren ist, die Andienerei der Ärzte an die staatliche
Administration als einzig mögliche PR-Tätigkeit zu deuten, der Druck
einer öffentlichen Meinungsbildung war doch nicht zu erreichen. Die
Funktion des Arztes als Opinion-Leader war um die Mitte des 19.
Jahrhunderts noch nicht essentiell ausgeprägt. Die Kluft zwischen
ärztlichem Selbstverständnis und öffentlichem Feedback ist ein Fin-
gerzeig für die militante, energische Argumentation eines Be-
rufstandes, der Höhenluft wittert.
  Stringent dann auch das Unternehmen des öffentlichen Gesund-
heitswesens zur Reichssache zu erheben bzw. erstmalig vor Augen zu
führen. Die Folie England dient ihm als Erkenntnismodell „[wie-T.B.]
wir Oesterreicher, bis jetzt noch parlamentarische Wickelkinder, uns
belehren können, in welches Ressort die öffentliche Ge-
sundheitspflege gehört“332.
 Die Vernachlässigung der Dringlichkeit einer Sanitätsreform ahndet
Mundy mit einem beinah kriminellem Verdikt: „wenn nicht die Be-
schädigung des Gesundheitswohles der Völker im Kaiserstaate in Per-
manenz, d.h. in saecula saeculorum erklärt werden soll.“333
  In der Nr.34 der MH von 1862 erscheint im Feuilleton ein Text un-
ter dem Titel: „Das öffentliche Sanitätswesen in Oesterreich. Briefe
aus der Unterwelt, von einem verstorbenem Medizinalbeamten.“ Die
rhetorische Figur der Prosopopöie einsetzend, prätendiert der Brief-
schreiber eine suprazeitliche Perspektive der unbefangenen Objektivi-
tät. Die kulturkritische Maskerade liefert von ihrer zynisch-koketten
Ruhestatt eine Einschätzung der Lage des öffentlichen Ge-
sundheitswesens. Allein die Gelassenheit eines Toten, meint der Au-
tor, gestattet es unter Verzicht persönlicher Interessen die Sache der
Profession zu vertreten. Die Briefe: posthume Professionsliteratur.


 331 Vgl. ebd. S.90
 332 Ebd. S.91.
 333 Ebd. S.94.
123

 Die öffentliche Gesundheitspflege in Österreich: ein Stück kahles
Land, eine Wüstenei; der Sanitätsbeamte eine schlecht bestallter Gärt-
ner auf infertilem Boden. Ein Wust wirkungsloser Verordnungen:
Ausfluß einer hilflosen, konzeptlosen Bürokratie.
  Die nötige Plattform erfolgreicher Pflege der öffentlichen Gesund-
heit, die Information und Überzeugung der Massen fehlt in weiten
Bereichen. Die persuasive Rhetorik sollte bis in den intimen Raum
der Familie vordringen. Die Winkel und Nischen der Behausungen
gelten ihm als Widerstandsnester bornierter Bürger: die Erschließung
des einzigartigen Körpers als ultimatives Ziel des Interesses. Die Ad-
ministration hat es bisher verabsäumt, ihre Überwachungs- und Kon-
trollinstanzen hier erfolgreich einzunisten. Die Sorglosigkeit in dieser
elementaren Zelle des Staates hat zur Folge,
     dass der Tod täglich eine grosse Zahl von Menschen fortreisst, deren grös-
     sere Mehrzahl nicht gestorben sein würde, wenn die durch menschliche
     Kraft abweislichen Schädlichkeiten von ihnen abgewehrt worden wären.
     Wie viele aber siechen dahin, als Opfer einer vernachlässigten allgemeinen
     Gesundheitspflege.334
  Der Gärtner-Arzt wächst angesichts dieses Mißstandes zur tragen-
den Figur, zum Atlas des Nationalvermögens. Die Wertschöpfung der
Produktivkräfte, die Wartung ihrer Lebensdauer, d.h. Leistungs-
fähigkeit, wird zum erklärten profanen Ziel des jenseitigen Brief-
schreibers. In einer rhetorischen Wendung exkludiert er altruistische
Motive in einer Zeit des rationalen Fortschritts; Momente der Kul-
turkritik erinnern an die Schmerzen des Kranken und die Tränen der
Zurückgebliebenen, die vom Rattern der Eisenbahnschwellen und
dem Surren der Telegrafendrähte übertönt werden.335
  An den zeitgenössischen Utilitarismus appelierend wird der volks-
wirtschaftliche Nutzen einer funktionierenden öffentlichen Gesund-
heitspflege ex negativo proklamiert: die nationalökonomischen Ver-
luste monieren geradezu ein verstärktes Augenmerk v.a. des Staates
auf das Sanitätswesen. Besonders dann, wenn angrenzende westliche
und nördliche Nachbarstaaten diesen Garten zum Blühen bringen. Pa-

 334 MH (1862, Nr.34), S.325.
 335 Vgl. ebd. S.325.
124

radigma seiner Argumentation ist die Quantifizierung des Subjekts
bzw. des aggregierten Subjekts, der Bevölkerung. Der Staatsbürger
wird monetarisiert: von der Windel bis zum Leichentuch und Sarg
verursacht er (Un-) Kosten. Die Rückzahlung dieser Spesen hat wäh-
rend seiner aktiven Produktionszeit statt. Des Jenseitigen Logik
schreibt einer verkürzten Lebenszeit nicht nur eine Minderung der
positiven Leistung zu; im Krankheitsfall kippt der ehemals Produk-
tive und wird zur Last des Bruttosozialproduktes. Hier ist der An-
gelpunkt des Arztes im Dienste der öffentliche Gesundheitspflege:
      So wird der Einfluss begreiflich der eine Vergrösserung des
      Menschenkapitals, welches im Stande wäre, nicht nur jene kontrahirten
      Schulden zu tilgen, sondern auch frisches Vermögen zu erwerben, auf
      unsere    im     Allgemeinen     nichts   weniger  als   erfreulichen
      volkswirthschaftlichen Zustände üben müsste.336
 Der Österreicher hat durchschnittlich 12 Jahre Zeit seine ‘Schulden’
zurück zu erstatten,
      nicht nur um die Kosten [seiner- T.B.] eigenen erwerblosen Jugend, son-
      dern auch die der noch im erwerbsunfähigen Alter Verstorbenen zurückzu-
      bezahlen, und gewissermassen die der lebenden unproduktiven Generation
      vorzustrecken.337
 Und:

      Jedes Jahr, welches bei uns den feindlichen Gewalten zu Gunsten einer
      Verlängerung der mittleren Lebensdauer abgezwungen wird, kann in Geld-
      werth berechnet einer Summe von beiläufig 3 Milliarden Gulden gleich
      geachtet werden; und wenn es ein Mittel gibt, jenen Zweck zu erreichen, so
      liegt dieses nur in einer vernünftigen, gehörig geleiteten Gesundheitspflege,
      deren Kosten gar nicht im Vergleiche zu den resultirenden Segnungen ste-
      hen, welche in erster Linie das Individuum, in letzter aber den Staat treffen,
      dessen politisches Ansehen mit einer kräftigen und vermögenden Bevölke-
      rung wächst.338
  Volksgesundheit resultiert somit „nicht als schlichte Befindlichkeit,
als Wert an sich oder unambitioniertes Gewahrnehmen eines leibli-



 336 MH (1862,Nr.34), S.325.
 337 Ebd. S.325.
 338 Ebd. S.325.
125

chen Glücks“339, sondern als Ertrag einer expertengesteuerten Ver-
waltung des menschlichen Körpers. Der Profit dient fortan als mate-
rialisiertes Produkt des souveränen Staates, als ökonomische Res-
source und wehrfähige Agressions- oder Defensivmaschine. Die Ü-
berwachung der Staatsbürger unter diesem Aspekt garantiert darüber
hinaus die verhüllte Installation eines Machtanspruches, der sich suk-
zessive von traditionalen Legitimationsmotiven (Gott, Geburt ...) hin
zur Idee des Gesellschaftsvertrags zwecks allgemeiner Wohlfahrt auf
Basis von Vernunft und Fortschritt emanzipiert.
  Die Entdeckung der Gesundheit des einzelnen so wie die aggregier-
ter Körper-Massen avanciert im Österreich des 19. Jahrhunderts zum
gesellschaftlich relevanten Gegenstandsbereich. Die Konsolidierung
einer „Biomacht“, die Entwicklung historisch neuartiger Machttech-
niken; die Gesundheit wird zum Gegenstand der Herrschaftsausübung
dann und dort, wo der Körper zur ökonomischen, militärischen und
sozialen Ressource wird.
  Das feudale Zwangssystem operierte ineffektiv, unrational; ein Ver-
schleißmechanismus ohne Kalkül und systematischen Zugriff. Die
neue kapitalistische Ökonomie seit 1800, gleichsam Transforma-
tionsprodukt einer Abschöpfungsideologie, die sich subtiler als per-
manenter Renditenbezieher begreift, beschränkt sich nicht auf die
Ausbeutung der Produktivkräfte

    sondern [die Ausbeutung ist -T.B.] nur noch ein Element unter anderen E-
    lementen, die an der Anreizung, Verstärkung, Kontrolle, Überwachung,
    Steigerung und Organisation der unterworfenen Kräfte arbeiten: diese
    Macht ist dazu bestimmt, Kräfte hervorzubringen, wachsen zu lassen und
    zu ordnen, anstatt sie zu hemmen, zu beugen oder zu vernichten.340
  Mit dem Foucaultschen Begriff der „Biomacht“, ein Bündel ver-
schiedenster Techniken zur Unterwerfung der Körper und zur Kon-
trolle der Bevölkerung mit dem Ziel einer subtilen Verwaltung des
Körpers und des Lebens erfassen wir eine komplementäre Korre-
spondenz zwischen kapitalistischer Produktionsweise und der techni-



 339 Barthel (1989), S.10.
 340 Foucault (1983), S.163.
126

schen Infrastruktur des neuen Vergesellschaftungstypus, der Bio-
macht.

      Die Abstimmung der Menschenakkumulation mit der Kapital-
      akkumulation, die Anpassung des Bevölkerungswachstums an die Expan-
      sion der Produktivkräfte und die Verteilung des Profits wurden durch die
      Ausübung der Bio-Macht in ihren vielfältigen Formen und Verfahren er-
      möglicht.341
  Einen Gegenstandsbereich dieser „Biomacht“ nimmt die „Biopoli-
tik“ ein: im 18. Jahrhundert entdeckt sie die Bevölkerung als aggre-
gierten Massenkörper; die Bevölkerung präsentiert sich als Reichtum,
als Kapital. Aus dem feudal domestizierten Volk wird d i e kapitalis-
tische Bevölkerung, ein Apparat mit vielerlei Variablen - Sterblich-
keit, Geburtenrate, Ernährungsweise, Morbidität, Krankheiten u.s.f.
Der Mensch reflektiert sich in einem Raum, der dem Körper günstige
und weniger günstige Lebensbedingungen zur Verfügung stellt. Die
ehemalige Kontingenz des Lebens, die Schicksalhaftigkeit des Todes
mutiert zum „Macht-Wissen“; das politische Kalkül erkennt und er-
faßt das Leben; die Verantwortung für das Leben verschafft der
Macht Zugang zum Körper - das biologische Leben tritt in die Sphäre
der politisch-bürokratischen Administration ein.342 Das 19. Jahrhun-
dert ist mit dieser Erkenntnis vertraut, allein der Verweis auf die Be-
völkerung als Ressource sowie deren Wartung geriert sich als Topos
bzw. Leitmotiv medizinischer Standesinteressen. Die Bevölkerung als
Objekt politischer Strategien, in unserem Fall gesundheitspolitischer
Strategien, ist nach den Köpfen der Mediziner nur marginal eingenis-
tet in der Verwaltungssystematik der österreichischen Regierung. Die
Bevölkerung als kolossales Investitionsobjekt; um sie operationali-
sierbar, d.h. beherrschbar zu machen, entstanden die „technischen So-
zialwissenschaften - Menschenwissenschaften.“343 Die Verstaatli-
chung der Biopolitik ist im 19. Jahrhundert Ergebnis der Förderung
obiger Tendenzen durch die Obrigkeiten (Ausgehend von Maria The-
resia und Joseph II., s. Kapitel Reformen). Der Staat des 19. Jahrhun-


 341 Ebd. S.168.
 342 Vgl. ebd. S.170.
 343 Barthel (1989), S.19.
127

derts etabliert sich als technischer Leiter der „Monokulturpflanzung“
Mensch; strategisch, im Sinne der Foucaultschen Analytik der Macht.
Der zentralistische Staat ist an der präzisen Erfassung, Förderung und
Verwaltung seiner Ressourcen interessiert. Ein mediko-administra-
tiver Apparat exekutiert die umfassende Wartung der vitalen Interes-
sen der Bevölkerung. Neben der staatlichen Intervention in die Intim-
sphäre des Menschen, neben dem laizistischen Zugriff auf den Kör-
per, versucht sich im späten 18. und im 19. Jahrhundert e i n e noch
undifferenzierte, heterogene Berufsgruppe im Kontext der Biopolitik
als unumgänglicher Garant und Experte optimaler Wertschöpfung der
menschlichen Ressource eines zentralistischen Staates zu etablieren,
die Ärzte.

    Tatsächlich gehe ich von der leitenden Voraussetzung aus, daß die Ärzte,
    der ärztliche Stand, nicht als erste Beweger und Initiatoren, vielmehr als
    Mittler, Mediatoren und normenverkündende Anwälte der modernen Ge-
    sundheitsobsession zu begreifen sind. Sie können sich nur - in allerdings
    dramatisch inszenierter Weise - zu Gehör bringen, wo sie an die gesell-
    schaftlichen Strukturbedingungen und die eben nicht-medizinischen, d.h.
    übergeordneten sozialen Zwecksetzungen anknüpfen; erst die im Prozeß
    der Zivilisation ausdifferenzierten biopolitischen/staatlichen Kontrollme-
    chanismen und die spezifischen Problemlagen/Erfordernisse der bürgerli-
    chen Disziplinar-Gesellschaft als sozialem System ermöglichen es den
    Ärzten, sich als gesamtgesellschaftlich relevante Profession in Szene zu
    setzen.344

  Noch nach der Mitte des 19. Jahrhunderts scheint der professions-
politische Notstand der Ärzte zu bestehen. Bestechend bleibt jedoch
das Selbstvertrauen als Folie ihrer Forderungen und Drohungen. Die
Idee des Fortschritts und die positivistische Wissenschaftsgläubigkeit
kreisen als Trabanten um das ärztliche Unternehmen einer Etablie-
rung als Treuhänder der menschlichen Physis.

 Als Quellen fungieren die in Fachzeitschriften formulierten Argu-
mente im Vorfeld der Reform der Sanitätsgesetzgebung. Auch au-
ßerhalb des hermetischen Diskurses der Medizinwissenschaft wird die




 344 Ebd. S.22.
128

naturwissenschaftliche Autorität als profundes Argument der Ver-
selbständigung eines Standes eingesetzt.
  In der Probenummer der ZGM v. 5.12.1865 moniert der Heraus-
geber Gottlieb Kraus in der für die Medizinalgesetzgebung eingerich-
teten Kolumne mit dem Titel „Medicinalgesetzgebung“ die naturwis-
senschaftlichen Fortschritte, die der Sanitätsgesetzgebung als ratio-
nelle und solide Folie dienen; er honoriert den Einsatz der öffentli-
chen Gesundheitspflege im Dienste der Volkswirtschaft; die Büros
der Medizinalverwaltung in Europa substituieren obsolete Hypothe-
sen durch wissenschaftliche Faktizität, allein in Österreich ist man
„im Departement für Medicinalangelegenheiten einer behäbigen Ruhe
hingegeben“345. Kraus erwartet mit dem neuen Sanitätsreferenten im
Innenministerium eine effizientere Rolle des Sanitätswesens in der
Staatsverwaltung, legitimiert er das ärztliche Professionsinteresse
doch zweckgebunden mit der Förderung der Volkswirtschaft.

  Im Rahmen seine Entwurfs zur Neuorganisation des öffentlichen
Gesundheitswesens346 räumt Gauster den ‘hygienischen Fach-Kolle-
gien’347 einen fachlich selbständigen, umfassenden und initiativen
Wirkungsbereich ein; dieses Expertengremium garantiert im profes-
sionspolitischen Interesse die flächendeckende Hegemonie des ärzt-
lichen Standes in wissenschaftlichen und sogar administrativen Fra-
gen, es trägt bei zur Ausschließung einer etwaigen Laienkritik.

      In diesen Fachcollegien fänden Staat und Land und in strittigen Fällen auch
      die Gemeinde die wissenschaftliche und theilweise administrative Autori-
      tät, deren Discussionen, Beschlüsse und Rathschläge erst der Verwaltung
      des öffentlichen Gesundheitswesens so recht den Geist der Wissen-
      schaftlichkeit, des Fortschritts, der consequenten wissenschaftlichen Kritik
      erhalten, und sie einerseits gegen bureaukratische Einseitigkeit und an-
      dererseits gegen Gleichgültigkeit der Selbstverwaltungskörper und der
      Aerzte schirmen würde.348


 345 Probenummer ZGM vom 5.12.1865, S.8.
 346 „Noch ein Wort über die Reform des öffentlichen Gesundheitswesens in
     Oesterreich.“ In: ZGM 1868 Nr.12- Nr.22.
 347 Informationsinstitut bei den Länderstellen
 348 ZGM (1868) Nr.16, S.154
129

  Das Goldene Kalb des Fortschritts, der positivistischen Wissen-
schaftsgläubigkeit weiht dieses Instrument ärztlicher Einflußnahme
für staatstragende Funktionen. Die Ärzte als die Agitatoren eines ra-
dikalen Fortschrittglaubens verkünden als einzig befugte Ingenieure
der Wissenschaftlichkeit die Wahrheit des Universums, zumindest des
irdischen.

 Für das 18. Jahrhundert kann Barthel noch diagnostizieren:

     Gerade die mangelnde soziale Reputation und Autorität ist das verhohlene
     Antriebsmoment der von ihnen so fanatisch betriebenen Gesundheitspropa-
     ganda, die schließlich zur allein medizinisch-ärztlichen Mission stilisiert
     wird.349
 Die Situation der österreichischen Ärzteschaft nach der Mitte des
19. Jahrhunderts unterscheidet sich im Vergleich nur geringfügig.
5.1.3.2.1 Staatsdienst als Prestigegewinn
  Als Quelle dient wieder die Fachpresse, erstes Beispiel ist ein Bei-
trag zum Gemeindearztsystem in Österreich.
  Präambel dieser Studie ist eine grundsätzlich positive Haltung in
dieser Sache: eine erfolgreiche öffentliche Gesundheitspflege beruht
auf einer adäquaten Menge von Exekutivorganen bis in die Kommu-
nen, die kleinsten Verwaltungseinheiten, hinein. Legitimation seines
Postulats - letztlich ein pium desiderium - ist eine dreihundertjährige
Spur: „das Streben den Arzt zu einem bleibendem Domizil mittelst
festgestellter Honorarien zu binden350„, ortet er bereits in einer Poli-
zeiordnung vom 8. Oktober 1552. Dr. Linzbauer, der Verfasser des
Artikels, konstruiert so eine Genealogie des Gemeindearztes; eines
„Localarztes „, der, zumeist von der Grundherrschaft finanziert, ku-
rativ und therapeutisch tätig war. Wobei einzuschränken bleibt, daß
Dienstleistungen im Sinne einer öffentlichen Gesundheitspflege nicht
oder nur rudimentär vorhanden waren. Der Autor moniert in diesem
Kontext, daß es allein Aufgabe der Regierung sei den Arzt im öf-



 349 Barthel (1989), S.22.
 350 AMZ (1857, Nr.13), S.66.
130

fentliche Dienst zu finanzieren.351 Die Kategorisierung der Honorar-
leistung auf Basis der unterschiedlichen Verwendung wird zu pro-
fessionspolitischen Forderung der Ärzteschaft an den Staat.
  In den folgenden Jahrhunderten, so gestaltet es Linzbauer, wurden
Gemeinden, die unter akuten v.a. epidemischen Plagen litten (etwa
die ‘orientalische Pest’ in Ungarn 1705-1713) mit Landschaftsärzten
versorgt. In der Regierungszeit Maria Theresias wurde dieses Institut,
das in zunehmendem Maß sanitätspolizeiliche Agenden (Vorläufer
der späteren öffentlichen Gesundheitspflege) übernahm, zum Verwal-
tungsprinzip. 1852 erging ein Gemeindegesetz, das die systematische
Einsetzung der Kommunalärzte festschrieb: eine genealogische Bürg-
schaft für die Notwendigkeit des Gemeindearztes, insistiert Linzbau-
er.
  Das professionspolitische Interesse drängt auf eine gleichmäßige
Verteilung auf dem ‘flachen Land’, gestützt durch das bereits geläu-
fige Motiv der Sicherung der nationalökonomischen Belange. Hier
konvergieren in der Feder des Standespolitikers die komplementären
Interessen zweier Protagonisten des Diskurses der öffentlichen Ge-
sundheit.
      Aber gleichwie es die bisher mitgetheilten Einwürfe nicht vermochten, e-
      bensowenig werden auch die übrigen hier übergangenen Einwendungen die
      höheren Ansichten der Regierung zu schwächen im Stande sein, welche sie
      bestimmten, zum Wohl der Bevölkerung, wie auch zur Sicherung des ärzt-
      lichen Standes die in Rede stehende höchst wohlthätige und den Bedürf-
      nissen der Jetztzeit ganz entsprechende Institution ins Leben rufen.352
 Einem ebenfalls professionspolitischen Einwand eines Gegners, der
durch die Einführung dieses Medizinalsystems einen Pauperismus
erwartet - ein ärztliches Proletariat, begegnet Linzbauer mit dem as-
ketischen Zynismus einer Besoldung, die dem bescheidenen Gemein-
dearzt die ‘entbehrlichen Bedürfnisse’ deckt. Nebenbei, so Linzbauer,
spricht doch niemand analog vom geistlichen Proletariat in den Ge-




 351 AMZ (1857, Nr.14), S.68.
 352 Ebd. S.74
131

meinden.353 Die Verknüpfung mit dem öffentlichem Apparat ver-
spräche hingegen einen unschätzbaren Statuszuwachs.
     So lange der Arzt nur als „frei ausübender Heilkünstler“ in der großen so-
     zialen Gemeinschaft dasteht, und dieser seiner Stellung zufolge haupt-
     sächlich nur darauf bedacht sein muss, auf leichtere und ergiebigere Weise,
     mehr zu erwerben; so lange wird auch der „ärztliche Stand“ seine verdiente
     ganze Würdigung im geselligen Leben sich nie zu erringen vermögen.354
  Linzbauer arrangiert einen professionspolitischen Vergleich zwi-
schen Juristen und Ärzten, um substantielle Differenzen deutlich zu
machen. Strategisches Ziel der Professionen ist ihm, gründend auf der
Gemeinsamkeit beider: Verlorenes wieder zu erringen, Wiedergut-
machung für geschehenes Unrecht. Dem Arzt komme dabei die weit-
aus diffizilere und veranwortungsvollere Aufgabe zu; problema-
tischer, da er sich als Sachwalter und Wartungsbetrieb des höchsten
Guts der bürgerlichen Gesellschaft arrivierte: Das höchste Gut, die
Gesundheit, dessen Träger der unversehrte Körper ist.
  Die Thematisierung der Unersetzlichkeit, des Irreversiblen - das
Empfinden einer beschädigten körperlichen Subjektivität, der Verlust
der Integrität - soll die Problematik des ärztlichen Berufes enthül-
len.355
 Zusätzlich übernimmt ein etabliertes, juristisches Gefüge anfallende
Restrisiken: ein differenziertes Institut delegiert Veranwortlichkeiten
und schützt den einzelnen Professionisten vor der Lynche erbitterter
Klienten (nicht immer erfolgreich).
  Die Organisationsstruktur der Juristen, ihre Verankerung in der öf-
fentlichen Verwaltung, konvergiert in diesem Vergleich zum mate-
rialen Postulat einer zukünftigen assoziierten Ärzteschaft im Rahmen
einer öffentlichen Gesundheitspflege: der exoterische Ort, dessen Ab-
glanz den ehemals marginalen Arzt zum leuchtenden Apostel eines
bürgerliche-säkularen Chiliasmus’ erhebt und nicht zuletzt dessen
profane Begehrlichkeiten entsprechend abdeckt. Eine exekutive, teils


 353 Vgl. AMZ (1857,Nr.15).
 354 Ebd. S.75.
 355 Vgl. ebd. S.85.
132

legislative Tätigkeit garantiert darüber hinaus wachsenden Einfluß in
obersten staatlichen Gremien, transformiert ärztliche Autorität auf
staatspolitisches Niveau: professionspolitische Legitimation von
höchster Stelle.
      Mit der Neugestaltung des österreichischen Kaiserstaates, wo das bürger-
      lich soziale Leben einen so mächtigen Aufschwung erhielt, einer so tief-
      greifenden Regelung zugeführt wird, seit das Ruder der obersten politi-
      schen Verwaltung mit Weisheit und Umsicht eine kräftige und überall hin
      wohlthuend wirkende Hand lenkt, ist auch der Medizin eine weiteres Feld
      der Anwendung, und ihrem jünger, dem Arzte selbst, ein thatenreicheres
      Wirken eingeräumt worden. - Der Arzt soll ferner nicht nur allein als „Pri-
      vatheilkünstler“ dem leidenen (Einzelnen) Privaten dienen müssen, - er soll
      mit seiner Wissenschaft ausgerüstet in den innigsten Verband mit der bür-
      gerlichen sozialen Gemeinschaft treten, und in der Sphäre des „öffentlichen
      Gesundheitswohl“ für die Gesammtbevölkerung auch für jene, die nicht
      sein Patient sind, schaffen und wirken.356
  Linzbauer resümiert in der bekannten professionspolitischen Phra-
seologie, die nicht zuletzt die Utopie des Wunsches birgt. Je diffe-
renzierter, strukturierter, qualifizierter und kultivierter ein Staat, umso
ausgeprägter und nuancierter sind Normen und Einrichtungen der öf-
fentlichen Gesundheitspflege.
 Die Gemeinde als autonomes Verwaltungsorgan wird zum Ge-
währsmann, Bewahrer und Mäzen des höchsten Gutes bürgerlichen
Selbstverständnisses: der Gesundheit.
      Diese zu erhalten, zu bewahren, muss demnach eine der ernstesten Sorgen
      sein, und der betraute verlässliche Wächter dieses so wünschenswerthen
      Gemeingutes, der Arzt, ist eines der nöthigsten Organe bei der Neugestal-
      tung der freien, inneren Verwaltung einer Gemeinde.357
  Die komplementäre Funktion des Arztes äußert sich in seiner Ope-
rationalisierung. Im Sinne Foucaultscher Diversifizierung der Macht
eröffnet der Arzt den intimen Raum des subjektiven Körpers einer
ihm äußerlich bleibenden Logik der Vermessung, Sanktionierung und
Verwaltung. Der Arzt als unbewußter Agent einer gesellschaftlichen
Transformation installiert die neuartigen Techniken der Macht, um im


 356 Ebd. S.75.
 357 AMZ (1857, Nr.16), S.76.
133

gleichen Atemzug sein diesbezügliches Primat anzumelden: Mediator
und Nutznießer; Effekt und Instrument in Personalunion.
  Reinlichkeits-, Gesundheits-, Armen-, Sittlichkeits-, Bau-, Feuer-
und Gemeindepolizei: Ressorts der Gemeinde nach § 119 des Ge-
meindegesetzes von 1849 im ‘natürlichen’ Wirkungskreis. Linzbauer
läßt keinen Zweifel aufkommen, daß „zur vollkommenen Durchfüh-
rung dieser Geschäfte ein besonders fachkundiges Organ bei der Ge-
meinde unumgänglich nothwendig sei, und wer, ausser dem Arzte,
könnte wohl dieses Organ sein?“358, lautet seine rhetorische Frage.
    Die österreichische Regierung leitet somit den Arzt ( dessen heilkünstleri-
    scher Beruf, die Fälle der öffentlichen Armenkrankenpflege ausgenommen,
    an sich nur immer ein Privat - Wirken genannt werden kann ) durch die,
    den freien Gemeinden anvertraute Pflicht der unmittelbaren Ueberwachung
    und Handhabung des öffentlichen Gesundheitswohls, als das fachkundige
    Organ, auf die Bahn des öffentlichen Dienstes in der Sphäre der politischen
    Verwaltung, und würdigt dadurch den ärztlichen Stand in einer Weise, wie
    derselbe nie mehr gewürdigt werden kann, und hebt die Medizin auf die
    höchste Stufe ihrer Anwendbarkeit und Bestimmung.359
   Der Status der medizinischen Experten in der obersten Medizinal-
kommission ist ein Dorn im Auge des Standespolitikers Mundy, ihre
Statistenexistenz gegenüber den minsteriellen Referenten. Als Ziel
einer innovativen Organisation des Gesundheitswesens dämmert ihm
eine Kommission, die mit ständigen charismatischen Expertenautori-
täten aus naturwissenschaftlichem und ökonomischem Bereich besetzt
ist. „Wo bleiben die in England, Frankreich, Preussen etc. solchen
Kommissionen permanent angehörigen Autoritäten in Sanitäts-
sachen?!“360, tönt sein zorniger Hilfeschrei.
  Der Mediziner im Staatsdienst, ein bereits existierendes Instrument,
war nun freilich adäquat zu systemisieren. Die Klage über Dotation
und Positionierung in der behördlichen Hierarchie findet sich leitmo-
tivisch in den Texten zur Reform des Gesundheitswesens.




 358 AMZ (1857, Nr.15), S.75.
 359 AMZ (1857, Nr.17), S.87.
 360 Mundy (1868), S.61.
134

  15 Jahre Stagnation. Das Provisorium von 1850 blieb provisorisch.
Der absolute Stillstand im Sanitätswesen sowohl in formaler als auch
in substantieller Umsetzung. Ansatzpunkte der Kritik (wie gehabt) im
Rekurs auf Äußerungen Dr. Hoffmanns in einer Sitzung der k.k. Ge-
sellschaft der Ärzte 1864:
• die niedrige Besoldung der provisorischen Sanitätsbeamten
• die inferiore Stellung der Bezirksärzte, die den jüngsten Kreis-
  kommissären gleichgestellt sind, und zwar rechtlich, nicht jedoch
  finanziell.361
      Soll es den ärztlichen Mitgliedern der Beamtenhierarchie niemals gegönnt
      werden, innerhalb eines festbegrenzten Wirkungskreises, unbeirrt durch die
      Connivenz eines jüngsten Kreiskommissärs, im kühlen Schatten einer zu
      hoffenden anständigen Pension ihr Doctorsdiplom durch das Leben zu tra-
      gen?362
  Mittels einer rhetorischen Engführung konvergieren nun Standes-
und Staats-(Volks-) Interessen. Eine Medizinalgesetzgebung, deren
Wurzeln hundert Jahre alt sind indiziert einen Fäulnisprozeß, der die-
se öffentliche Sorgfaltspflicht bald zur transitorischen Anekdote
transformiert: „die Impfung [wird- T.B.] zum seltenen pathologischen
Versuch und die Massregeln gegen Epidemien [werden -T.B.] zu lo-
benswerthen humanitären Einzelbestrebungen herabsinken! 363
 Parallel dazu scheint Hoffmann eine präzise Formulierung zur fi-
nanziellen Absicherung angebracht, denn ein im Staatsdienst be-
schäftigter Mediziner, d.h. einer, der die ökonomischen und militäri-
schen Ressourcen inventarisiert und betreut, hat ein Recht auf eine
ausreichende Dotation. Es geht nicht an „den ärztlichen Stand gleich-
sam als ex offo Wohltäter aller Welt“364 zu stigmatisieren.
 Was die Gleichstellung mit den übrigen Staatsbeamten anlangt
meint Hoffmann, daß der Arzt im öffentlichen Dienst n i c h t
w i r k l i c h den Beamtenstatus anstrebt. Vor allem, da der meist be-


 361 Vgl. MP (1865, Nr.25), Sp.610.
 362 Ebd. Sp.611.
 363 Ebd. Sp.611.
 364 Hoffmann (1867), S.8.
135

scheidene Dienstrang des im öffentlichen Gesundheitswesen ange-
stellten Arztes „auf die Vermehrung der allgemeinen Achtung und
Werthschätzung derselben nur einen sehr untergeordneten und gerin-
gen Einfluss geübt [hat -T.B.]“365. Es handelt sich hierbei wohl um
eine Verweigerung rhetorischer Art, die Betonung liegt auf dem hie-
rarchisch bescheidenen Titel.
  Die angestrebte Reform sollte daher die Dotation der unterschiedli-
chen Sanitätsposten systemisieren. Der öffentlich bedienstete Arzt
sollte nicht auf die Privatpraxis als Neben- bzw. Haupterwerbsquelle
angewiesen sein, gestattet bleibe sie jedoch allemal. Eine Harmoni-
sierung und Anhebung der Gehälter im Bereich des Sanitätspersonals
skizziert er so: Das öffentliche Sanitätspersonal bildet einen einzigen
„Concretalstatus“, der von Wirkungskreis und Leistung die Dotation
ableitet, sowie die vertikale Mobilität regelt.366 Das Dienstverhältnis
des Arztes zur politischen Behörde wird zwar als Subordinationsver-
hältnis verstanden, jedoch ob seiner fachlichen Autorität ist die Ab-
hängigkeit lediglich eine formelle, sieht sich der Mediziner doch als
Repräsentant der von ihm vertretenen höheren Sanitätsbehörde, also
eigentlich nur ihr gegenüber weisungsgebunden. „Das liegt eben in
der unabhängigen Macht der ärztlichen Fachwissenschaft, in welcher
der Arzt der Behörde gegenüber immer nur als Rathgeber erscheinen
kann.“367 In seinem Wirkungskreis sei er autonom, kein behördlicher
Befehl kann sein fachliches Urteil modifizieren, so die Hoffmannsche
Autonomievorstellung hinsichtlich des Berufstandes. Daraus resultiert
der Gedanke die substantielle Autonomie in den formellen Bereich
der amtlichen Rhetorik zu transponieren, d.h. „nicht der Decret-, son-
dern der Notenstyl [sollte -T.B.] Anwendung finden, weil es ja allge-
mein Brauch ist, dass man um Rath ersucht und nicht befiehlt“368.
Auch diese Momente lassen den Drang nach Unabhängigkeit von
staatlicher Einflußnahme erkennen: Mechanismen der Selbstregulati-
on - Impulse, die im besonderen die Assoziationsfrage nähren.


 365 Ebd. S.9.
 366 Vgl. ebd. S.11.
 367 Ebd. S.12.
 368 Ebd. S.12.
136

  Das Provisorium interpretierte das Dienstverhältnis noch abhängig
von der individuellen Anschauung des jeweiligen Amtsvorstandes,
ein reformbedürftiges Übel, so Hoffmann:
      Selbstverständlich erscheint es, dass eigentlich nur die gemeinschaftliche
      höhere Behörde (Oberbehörde), welcher die obere Leitung des Sani-
      tätswesens obliegt (wie ehedem die Kreisämter und nach deren Aufhebung
      die Statthaltereien), die naturgemässe vorgesetzte Behörde für die im öf-
      fentlichen Sanitätsdienste angestellten Aerzte sein kann [...] indem, strenge
      genommen, die den Unterbehörden zur Besorgung des öffentlichen Sani-
      tätsdienstes beigegebene Aerzte nur als exponierte Dienstesorgane jener
      oberen Sanitätsbehörde erscheinen.369
 Die Distribution der akademischen Experten zum Vorteil des Staates
könne ebenfalls nur von Experten (=Medizinern) vorgenommen wer-
den. Die Sanitätsreferenten der Behörden allein seien dazu befugt.
      Demnach erscheint es also unbedingt wünschenswerth und nothwendig
      [notwendig, da die Entscheidung eines Laien gefährlich (sic!) sei -T.B.],
      dass alle ärztlichen Dienstes- und Personalangelegenheiten von den betrof-
      fenen Behörden nur in Uebereinstimmung mit den diesfälligen Anträgen
      competenter Fachreferate erledigt werden.370
  Das Provisorium von 1850 und die Durchführungspraxis verlief
wohl anders. Der Laie stellt sich Hoffmann als potentieller Verhin-
derer dar. Mehr Einfluß der Expertokratie, allein der ungebildete Laie
wird zum Dämon der Verhinderung des Fortschritts, mithin der staat-
lichen Wohlfahrt - eine Phraseologie, die mit Drohgebärden um An-
erkennung buhlt.
  Nicht anders tönt Krausens Lamento in der ZGM 1866 über die ju-
ristische Stellung des Medizinalbeamten, der der politischen Behörde
subordiniert ist. „Es kommt leider zu häufig vor, dass die Physiker
den widerwärtigen Chicanen von dem Augenblicke an ausgesetzt
sind, wo sie bei Commissionen einer anderen Meinung zu sein wagen,
als der regierende - Pascha.“371 Weiterer Kritikpunkt ist das Besol-
dungschema, das den Medizinalbeamten eine Privatpraxis als Neben-
erwerb aufzwängt.


 369 Ebd. S.12.
 370 Ebd. S.13.
 371 ZGM (1866, Nr.46), S.539.
137

  Die Edierung eines ‘Medicinalcodex’ erscheint ihm unumgänglich
für eine effiziente Sanitätspflege. Kraus referiert eine Vorschlag der
„Presse“, die nach preußischem Muster den Referenten in Sanitäts-
sachen durch ein Medicinalcollegium substituiern wollte. Allein der
entscheidende Moment, so Kraus, sei nicht die Organisation der lei-
tenden Stelle, sondern deren Befugnisse, d.h. die Möglichkeit des
unmittelbaren Einflusses auf die Regierung bzw. die Unterstützung
dieser bei den Beschlüssen der Sanitätsstelle.372
  Den Abschluß der Denkschrift des Doktorenkollegiums von 1867
bildet der Vorschlag einer Systemisierung des im öffentlichen Dienst
stehenden ärztlichen Personals, das Standesinteresse und das Profes-
sionalisierungsstreben wünschen eine Gleichbehandlung, was Dotie-
rung, Rang und Aufstiegsmuster angeht, mit den Staatsbeamten, also
eine staatlich garantierte Relevanz des ärztlichen Standes im Dienste
der Volkswirtschaft. Letztlich verbleibt dem Kollegium noch die Ein-
mahnung der Aufwendung von finanziellen Mitteln für den öf-
fentlichen Sanitätsdienst:
    Das Sanitätswesen kann da nicht floriren, wo die eigentlichen Träger des-
    selben, die im öffentlichen Dienste wirkenden Aerzte, meist ein sorgenvol-
    les Dasein fristen, und die Mehrzahl derselben die besten Kräfte dem tägli-
    chen Broterwerbe, d.i. der Privatpraxis, anstatt dem öffentlichen Dienstin-
    teresse - zu widmen gezwungen ist.373
  Eine zugegeben sanfte Warnung, daß die Monopolisten zur Wah-
rung der staatlichen Produktivkraft ihrer Bedeutung gemäß entlohnt
werden.




 372 Vgl. ZGM (1867, Nr.43), S.504.
 373 ZGM (1867, Nr.51), S.630.
138


6 Fazit

  Barthels wohl entscheidene Feststellung beruht auf der methodi-
schen Differenzierung vom gesellschaftspolitischen Diskurs der Ge-
sundheit und seiner fanatisch betriebenen Verkündigung durch die
Ärzte; d.h. er distanziert sich von einer Medizinkritik, die der Ärz-
teschaft bzw. der naturwissenschaftlichen Medizin Omnipotenz zu-
schreibt; eine Kritik, die fälschlich davon ausgeht, so Barthel, daß ei-
ne Berufsgruppe „die Funktionsbedingungen ihrer Definitionspotenz
und Machtausübung selbst herstellen und gesamtgesellschaftlich auf-
zwingen [kann -T.B.]“.374
  Der etablierte Arzt gilt ihm vielmehr als funktionalisierte und ope-
rationalisierte Antwort auf die herrschenden gesellschaftlichen
Macht- und Interessenskonstellationen. Dazu gehört auch die These
von der Untermauerung der bürgerlichen Herrschaft mit einer ratio-
nal-wissenschaftlichen Anthropologie.375 Beobachtungsareal dieser
Arbeit, vor dem Hintergrund dieses networks, ist die ‘Verkündi-
gungsliteratur’; d.h. es wird versucht Strategeme einer internen Soli-
darisierungkampagne zu eruieren. Noch um 1850 bot der sozio-kul-
turelle Kontext nicht die abgesicherten und legitimierten Existenz-
konditionen der Gegenwart für den Ärztestand. Die Abgrenzung von
den nicht akademischen „Curpfuschern“ und den „halbgebildeten“
Chirurgen gehörte genauso dazu, wie der Kampf um adäquate Besol-
dung und einen cursus honorum, v.a. im Staatsdienst. Die Durchset-
zungsfähigkeit ist folglich in Korrelation zu den augenblicklichen ge-
samtgesellschaftlichen Strukturbedingungen zu sehen.
  Der Arzt greift vehement in den gesundheitspolitischen Diskurs ein,
er erkennt das Profilierungspotential dieser öffentlichen Angele-
genheit. Dieser Bereich wird „zu einem Forum, wo sie [die Ärzte-
schaft -T.B.] sich als ergebene Staatsdiener, als berufene Bevölke-
rungspolitiker und Strategen der kollektiven Gesundheit, sowie als


 374 Barthel (1989), S.23.
 375 Vgl. Labisch (1992), S.107.
139

auserwählte gesellschaftsförderliche Profession zu Gehör bringen
können.“376 Einer Staatsorganisation, die interessiert ist, aus feuda-
listischen Bahnen auszubrechen, oder die zentralistisch-kapitalistische
Systeme affirmieren möchte, reden sie von der Medikalisierung der
Gesellschaft als unausweichliches Patentrezept der effizienten Aus-
bildung moderner Lebensformen. Die öffentliche Gesundheit (natur-
gemäß, geradezu als conditio sine qua non, ebenso die individuelle
Gesundheit), die Wohlfahrt konsolidiert sich in diesem Kursus als
zentraler Parameter ‘zivilisierter’ Staatenbildung; letztlich ein Pa-
rameter effizienter „Massenmenschenhaltung“ für den Dienst einer
fortschrittsgläubigen Gesellschaft am Projekt der Moderne, für unse-
ren Fall adaptiert, als teleologische Glücksverheißung des produzier-
ten Mehrwerts.
  Das überbordende Geltungsstreben der Ärzte kumuliert in einer
Hybris: den Göttern gleich eröffnet die Realität vor ihrem naturwis-
senschaftlichen Blick ihre Strukturen und Chiffren, der Arzt analy-
siert ein Segment der Wirklichkeit, generalisiert dieses und negiert in
extremis die Existenz eines anderen Blicks respektive einer anderen,
als der ihm bekannten Tatsächlichkeit: Der Arzt als „Weltspezialist“:

     das bedeutet nicht, daß sie [die Ärzte -T.B.] die ganze Welt kennen oder al-
     les über sie wissen, sondern daß sie nicht anstehen, den absoluten Sinn des-
     sen, was jedermann weiß und tut, können und wissen zu wollen. Sie bean-
     spruchen die Expertenherrschaft für die absoluten Bestimmungen dieser
     ganzen Wirklichkeit selbst.377
  Mit diesem Anspruch formierte sich die Ärzteschaft zum obersten
Interpreten und Polizisten des menschlichen Intimraumes, wie der
interpersonalen Interaktionsareale. Die Instrumentalisierung und Me-
chanisierung des Körpers, auch der aggregierter Körper-Massen als
bürgerlich, aufgeklärte Naturbeherrschung bereitete das Feld des ärzt-
lichen Prestigegewinns. Selbstverständlich nahmen die Ärzte an die-
sem Prozeß teil, zunächst einmal als aufgeklärte Bürger, gleichzeitig
weit massiver als verborgene, vermittelnde Instanz bürgerlicher Rati-
onalisierung der Lebenspraxis. Barthel negiert die Vorstellung, der


 376 Barthel (1989), S.24.
 377 Berger/Luckmann (1969), S.125.
140

Arzt, die Medizin sei autonomes Movens der Totalmedika-
lisierungsidee.378
  Die sozialstrukturellen Voraussetzungen bilden das populationisti-
sche Kalkül des Staates und das bürgerliche Distinktionsmerkmal
„Gesundheit“ als Stabilisations- und Abgrenzungsmoment v.a. ge-
genüber dem Adel, administrativ-technisch subsumierbar unter dem
Begriff „Biomacht“. Der Arzt wird so zum Multiplikator einer ge-
sellschaftlichen Dynamik, zum Nutznießer einer Entwicklung im Sin-
ne seiner standespolitischen Interessen. Auch wenn Bleker meint,
vornehmlich der Staat funktionalisiert Mensch und Medizin379. Als
Verwalter der Physis (s.o.), versehen mit einem Anspruch von Omni-
potenz, v.a. in den Bereichen der individuellen und kollektiven
Lebensführung, der Staat als zentrale Appellationsinstanz ist
grundsätzlich in die Argumentationsstrategie der Ärzteschaft invol-
viert. Das medizinische Hegemonie- bzw. Monopolstreben
konvergiert mit weit umfassenderen Vergesellschaftungsvorgängen;
die Ärzte „schlüpfen in die Rolle des Vermittlers ge-
sellschaftspolitischer Zwecksetzungen - die Verbesserung,
Qualifizierung, Disziplinierung von Populationen und Individuen
über das Ziel der Gesundheit.“380 Das Einlösen solcher Bedingungen
steht noch im Kampf mit einer traditionalen Gesellschaft.
 Kondensat: Zwei maßgebende Faktoren begründen den eminenten
Geltungsdrang der Ärzte. Erstens die problematische soziale Lage,
zweitens die Schwierigkeiten bei der Durchsetzung ihres Autoritäts-
anspruches gegenüber traditionellen Therapieformen; der demos war
zunächst noch zu überzeugen.




 378 Vgl. Barthel (1989), S.26.
 379 Vgl. Bleker (1983), S.230-231.
 380 Barthel (1989), S.41.
141
142


7 Abkürzungen



 RGBl = Allgemeines Reichs-Gesetz- und Regierungsblatt für das
    Kaiserthum Österreich
 ZGM = Zeitschrift für gerichtliche Medicin, öffentliche    Ge-
sundheitspflege und Medicinalgesetzgebung
 AMZ = Allgemeine Wiener medizinische Zeitung
 MH = Wiener Medizinal-Halle. Zeitschrift für praktische Ärzte
  MP = Wiener Medizinische Presse (Fortsetzung der Wiener Medi-
zinal-Halle)
 WIZ = Waldheim’s Illustrierte Zeitung
143
144


8 Bibliographie


Allgemeine Wiener medizinische Zeitung, Nr.13-Nr.17 (1857) und
         Nr.35 (1858)
Allgemeines Reichs-Gesetz- und Regierungsblatt für das Kaiserthum
         Österreich, Jg. 1850, 2. Jahreshälfte, Wien (1850); Beila-
         genheft zum allgemeinen Reichs-Gesetz-und Regierungs-
         blatte für das Kaiserthum Österreich, Jg. 1850.
Anonym, Der gegenwärtige Zustand der öffentlichen Gesundheits-
        pflege in Österreich mit besonderer Berücksichtigung des
        localen Sanitätsdienstes bei contagiösen Krankheiten im
        Kronlande Nieder-Oestereich, Besprechung der neueren
        diesbezüglichen Sanitätsverordnungen von einem Sanitäts-
        beamten, Wien (1880) [=Separatdruck aus dem „Med. Chir.
        Centralblatt“ Nr.13 etc., J.1879 u. 1880]
Anz, Thomas, Gesund oder krank? Medizin, Moral und Ästhetik in
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        [=Metzler Studienausgabe].
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145

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Gauster, Moriz, Rückblicke auf die Anträge der Enquête-Commission
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         den Jahren 1830, 1831 und 1832, nebst einer Darstellung
148

         der Brechdurchfalls-Epidemie in der k.k. Haupt- und Resi-
         denzstadt Wien, wie auch auf dem flachen Lande in Nieder-
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Sieches Volk Macht Siechen Staat

  • 1. »SIECHES VOLK MACHT SIECHEN STAAT« Arzt, Stand und Staat im 19. Jahrhundert Thomas N. BURG
  • 2. 2
  • 3. 3 INHALTSVERZEICHNIS 1 Einführung: Zur Genealogie des medizinischen Experten. ..... 7 2 Einleitung: Zwischen Selbstbestimmung und Enteignung .... 13 2.1 Marginalien zu einem gegenwärtigen Dilemma, Ivan Illichs Polemik gegen die Schulmedizin: .......................................... 13 2.1.1 Verlust an Autonomie............................................................. 16 2.1.2 Aspekte einer Medizinkritik und einer Kritik des Begriffs Gesundheit .................................................................... 20 2.2 Zur Erfindung der Krankheit und der souverän konzeptualisierten Heilkunde. ................................................ 22 3 Wissenschaft, Macht und Norm ............................................. 27 3.1 Die Szientifizierung der Medizin........................................... 27 3.1.1 Der leidenschaftslose Blick der Klinik................................... 27 3.1.2 Rudolf Virchow, die Medizin als Schnittstelle einer ultimativen naturwissenschaftlichen Anthropologie............. 34 3.2 Bedingungen einer Sozialdisziplinierung und Professionalisierung................................................................ 40 3.2.1 Medizinischer Diskurs und Normvermittlung........................ 40 3.2.2 Der Begriff des Monopols und der Macht: ............................ 46 3.2.3 Sozialdisziplinierung: ............................................................. 50 4 Medizin und Verwaltung ........................................................ 54 4.1 Die Medizinalreformen als Agitationsforum.......................... 54 4.1.1 Exkurs: traditionale Strukturen im Arzt-Patient-Verhältnis .. 56 4.1.2 Die Medizinalgesetzgebung als obrigkeitliche Intervention und Fürsorge .................................................................... 57 4.1.2.1 Elemente einer kameralistischen Gesundheitspolitik ............ 58
  • 4. 4 4.1.2.1.1 Der Protomedikus - sanitätspolizeilicher Administrator und Sonde 62 4.1.2.1.2 Der Kreisphysikus - das Vordringen mediko- administrativer Fürsorge 65 4.1.2.2 Die provisorische Organisation der öffentlichen Medizinalverwaltung .................................................. 69 4.1.2.2.1 Zur Organisation im Detail 72 4.1.2.2.2 Theorie und Praxis, zur Durchführung und Kritik des Provisoriums 75 4.1.3 Aspekte einer existentiellen Krise am Gesundheits- markt .................................................................... 78 4.1.4 Strategeme einer Verselbständigung .......................... 80 4.1.4.1 Dezentralisierung......................................................... 81 4.1.4.2 Medizin als Sozialwissenschaft................................... 83 4.1.4.3 Liberalistische Mahnungen.......................................... 85 5 Medien und Professionalisierung ................................ 90 5.1 Die Professionalisierung des Ärztestandes ................. 90 5.1.1 Der Begriff der Professionalisierung........................... 91 5.1.2 Heterogenes Nebeneinander versus Autonomie.......... 93 5.1.2.1 Strategeme einer Homogenisierung............................. 95 5.1.2.1.1 Illegalisierung der Konkurrenz 95 5.1.2.1.2 Exkurs: Ausbildung und Prüfungen des heilärztlichen Personals 98 5.1.2.1.3 Integration und Einebnung der Vielfalt 102 5.1.3 Autonomiebestrebungen und staatlicher Interventionismus ..................................................... 108 5.1.3.1 Ärztekammern: Institute der Autonomie................... 113
  • 5. 5 5.1.3.2 Staat und Arzt: Aspekte einer Wechselwirkung ....... 116 5.1.3.2.1 Staatsdienst als Prestigegewinn 129 6 Fazit ................................................................................... 138 7 Abkürzungen ..................................................................... 142 8 Bibliographie .................................................................... 144
  • 6. 6
  • 7. 7 1 Einführung: Zur Genealogie des medizinischen Ex- perten. Die Medizin und deren Repräsentanten, die Ärzteschaft, präsentie- ren sich heute als geschlossene Profession in einer konzeptualisierten Heilkunde. Die Medizingeschichtsschreibung gibt sich als heroische Erfolgserzählung zu erkennen: erzählt wird mehrheitlich der techni- sche Fortschritt der Medizin, die vermehrte Durchsetzung der ärztli- chen Erklärungsmuster in Krisenfällen und die Biographie relevanter Standesvertreter sowie die Geschichte der Institutionen. Alles in al- lem eben die Erfolgsstory, die allgemein bekannt ist, die die autorita- tive Geste der „Götter in weiß“ legitimiert. Ein gebrochenes Selbst- verständnis, ein nicht länger finanzierbarer Gesundheitsmarkt und wiederaufflammende Renitenz der Klientel ermöglichten den Blick auf die Konstituierung dieses Sektors der bürgerlichen Lebenspraxis. Seit den 70er Jahren erfolgt eine kritische Betrachtung des neuzeit- lich-rationalen Konzepts Gesundheit und damit des Heilpersonals, das auf dem Gesundheitsmarkt reüssiert hat. Der Impuls ging von Texten Michel Foucaults, Thomas S. Szasz, Thomas McKeowns (s.Bibliographie) und polemisch zugespitzt von einem Text Ivan Il- lichs (s.u.) aus. All diesen Texten gemeinsam war die kritische Analy- se einer etwas mehr als hundert Jahre alten sozialen Praxis. Die Kri- senintervention im psycho-physischen Bereich wurde einer Berufs- gruppe überantwortet, die die Ausbildung und Kontrolle ihrer Tätig- keit weitgehend autonom regelt; eine Profession, die die Wahrneh- mung und die sozialen Sanktionen ausgesuchter vitaler Phänomene entscheidend mitbestimmt, in manchen Situationen exklusiv verwal- tet. Ein Regelwerkzeug, das, ob seiner weitreichenden Zugriffsmög- lichkeit - die Aufhebung der Körpergrenze, naturgemäß das Interesse der Verwaltung, des Staates weckte, der es auch verstand sich das Po- tential einer solchen Registratur und solcher Handlungsanleitungen zunutze zu machen. Neuerdings stellte der sozialhistorisch orientierte Neuzeithistoriker Robert Jütte (s. Bibliographie) das Interesse für seinen Gegenstand, der medizinische Alltag in der frühen Neuzeit in Köln, in den Zu- sammenhang mit einem Unbehagen an der gegenwärtigen „medikalen
  • 8. 8 Kultur“. In Deutschland entwic??kelt sich, soziologisch bzw. sozial- historisch orientiert, in den 80er Jahren eine interessierte Forschungs- tätigkeit an den Aspekten der Medizingeschichte, die bislang einer professionalistischen Historiographie zum Opfer gefallen waren (s. Bibliographie). Das Außerachtgelassene, das Verdrängte. Die Effekte und Instrumente der medikalen Intrige. Das heteronome Interesse an der Instrumentalisierung von Gesund- heit und Krankheit sowie an deren Agenten rückt ins Zentrum histori- scher Analyse. Mich interessierten die Strategien der Konsolidierung des Arztstandes, d.h. Abgrenzung nach außen, Konsolidierung nach innen; Autonomie und Monopol auf dem Gesundheitsmarkt. Als Scharnierstelle bot sich die Periode vor der wichtigen Neuordnung des Gesundheitsmarktes in Österreich, der Medizinalgesetzgebung von 1870, an. Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts begann sich der akademische Arzt zu etablieren; hier interessierte mich dessen inter- ner Konsolidierungsdiskurs. Ziel der vorliegenden Studie war es über den Umweg einer äußeren Geschichte der Fakten, Verordnungen und objektivierbarer Entwicklungen, d.h. solcher Entwicklungen, die auf uns gekommen sind und unbewußt die Verlierer im Gepäck mit sich herumtragen bzw. damit beschäftigt sind den ehemaligen Triumph abzusichern, Ziel war es den Strategien der Verselbständigung eines Berufsstandes nachzugehen. Was interessiert nun an den rhetorischen Strategien? Einerseits las- sen sich relevante Aspekte der Professionalisierungstheorien bestäti- gen. Andererseits kann mit Hilfe der aus den Professionalisierungs- theorien abgeleiteten Kriterien eine historisch bedeutsame Entwick- lung erfaßt werden. In unserem konkreten Zusammenhang handelt es sich um den Versuch, den gelungenen Versuch, der Ärzteschaft auf dem Gesundheitsmarkt eine dominante Stellung zu erringen. Die Pro- fessionsliteratur ist daher nicht im Sinne einer Abbildtheorie Wider- schein einer Realität, auch nicht verzerrter, sondern eher im Sinne ei- ner Diskurstheorie als Forum zur Schaffung symbolischer Identifika- tionsstiftung zu verstehen. Damit bietet sie allerdings die Möglichkeit historische Verlaufsanalysen herzustellen. D.h. der Prozeß der Stan- desetablierung erfolgte als integrales Element auch auf symbolischer Ebene. Der Stand schuf eine damit befaßte Standespresse, die Nach-
  • 9. 9 richtenpresse räumte naturgemäß der Konsolidierung des Ärztestan- des wenig Platz ein. Ihr Ringen hinsichtlich administrativ- bürokratischer Einflußnahme bezeichnet den thematischen Raum des Diskurses. Der Aufstieg des Arztes im 19. Jahrhundert wird in diesem Text ü- ber disparate Fragestellungen verfolgt. Als Beleg für die Relevanz der Themenstellung wird einleitend ein Text Ivan Illichs referiert, der auf polemische Art und Weise die Schulmedizin decouvriert, indem er ihre enteignenden Konzepte bezüglich der Sorge um den Körper und das Krisenphänomen Krankheit/Tod decouvriert. Als vergeltende Ra- che - „Nemesis“ - konstatiert er den pathogenen Charakter moderner Heilkundekonzepte. Von dieser Folie ausgehend interessierte ich mich für einen entscheidende Moment in der Entwicklung des Ärzte- standes und versuchte wie mit einem Stroboskop Licht auf einige As- pekte der Professionalisierung der Ärzte in Österreich im vorigen Jahrhundert zu ziehen. Die methodische Orientierung eruierte im wesentlichen zwei diskre- te Kontexte: • die zunehmende Verwissenschaftlichung weiter, v.a. städtischer Lebensbereiche mit Konzentration auf die Effekte im medizini- schen Sektor. Ein wichtiges Moment ist die Erfassung des Ortes, von dem aus der wissenschaftliche Arzt, der Medicus spricht, von wo bezieht er seine Legitimation und wer legitimiert den Ort? Was sind die Kriterien dieser räumlichen Wechselbeziehung? Anamnestische Aufzeichnungen, Expertisen, epidemiologische Re- gistratur und meteorologische Iuxtaposition, nosologisches Hie- rarchien - Bauelemente des Diskurses der Ärzte im 19. Jahrhun- dert. Die zwingende Frage lautet: wer spricht? von wo? wo findet man den Ort, das Epizentrum? Der Status des Arztes garantiert die Wirksamkeit des ärztlichen Wortes, es kann nicht irgendwer sprechen. Dieses magische Statut ausgestattet mit der Macht Le- ben und Tod zu bannen erfährt an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert eine fundamentale Wendung: die Gesundheit wird zum normativen Parameter einer ökonomisch ausgerichteten Be- völkerungspraktik. Die Kriterien des Wissens und der Kompetenz werden reformuliert; neue Räume werden kolonialisiert.
  • 10. 10 Welcher Ort? Das Krankenhaus ist der institutionelle Platz, der legi- time Ursprung. Auch die Privatpraxis, das Laboratorium und die Bibliothek. Das Krankenhaus läßt die Privatpraxis hinter sich. So wuchert die Bibliothek, das traditionelle Buch, der Glossaristenei- fer tritt hinter die massenhafte, dokumentarische Registratur der Maschine Krankenhaus zurück.1 Das Krankenhaus ist dieser dramatische Ort der Konstituierung. Ü- bereinstimmend konstatiert die diesbezügliche Literatur eine Zä- sur um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert.2 Das Hospital, ehemals Verwahrungsanstalt, Asyl und auch Heilanstalt avanciert zum Krankenhaus, d.h. die Implementation neuer Rhythmen, Strukturen, eines andersartigen Regimes bestimmt die "totale In- stitution Krankenhaus". Ein für den Fortschritt der Profession maßgeblicher Moment. Die Arzt-Patient-Beziehung erfährt eine prinzipielle Neuordnung. Im Krankenhaus ist alles anders als im Haus der Kranken. Es gibt keine Öffentlichkeit, keine Kontrolle durch anwesende Verwandte bzw. konkurrierendes Heilpersonal. Der Arzt hat exklusiven Zugriff auf den Kranken, die Möglichkei- ten für die Patienten die Kooperation zu verweigern sind einge- schränkt. Rigide Hausordnungen disziplinieren den Kranken, sie integrieren ihn in ein rationelles Zeit-, Observations-, Dokumen- tations- und Verhaltensregime. Das Krankenhaus war v.a. Diszip- linierungsinstrument der Unterschichten. Das wichtigste moralische Problem, das von der Idee der Klinik aufgewor- fen worden war, lautete: Mit welchem Recht durfte man einen Kranken, den die Armut gezwungen hat, im Spital Hilfe zu suchen, zum Objekt der klinischen Beobachtung machen. Der Kranke wollte eine Hilfe, deren abso- lutes Objekt er war, insofern sie für ihn konzipiert wurde; nun aber braucht man ihn für einen Zweck, für den er Objekt ist, und zwar relatives Objekt, da dessen Entzifferung dazu bestimmt ist, andere Kranke besser erkennen zu können.3 Das Krankenhaus bzw. das Konzept der Hospitalisierung war in eine Art double-bind-Situation verstrickt. Einerseits gestattete es dem 1 Vgl. Foucault (1992), S.77-79. 2 Vgl. Göckenjan (1985), S.214-237. 3 Foucault (1988), S.98-99.
  • 11. 11 Bösen, der Krankheit zu erscheinen, die Wahrheit konnte dort nicht länger verborgen bleiben: ein Bestiarum von Kranken und Krankheiten. Andererseits sollte der homogene, diskrete Raum den Kranken von den schädliche Einflüssen seines privaten Mi- lieus befreien und die wahre Natur der Krankheit produzieren. Die Ambiguität dieses Konzepts, hier Ort der Erkenntnis, da La- bor mit pathologischen Substanzen, erhält dann Relevanz, wenn Ivan Illich die iatrogenen (=durch medizinische Intervention ver- ursachte) Leiden als Beleg für seine Thesen heranzieht. Die sektorale Auflösung der Körperintegrität übergeht die Individualitäten; die Zuordnung erfolgt nach Krankheitsbildern. Die Individualität des Kranken wird als hinderlich ignoriert, der Kranke wird so zum passiven Zeichenträger. In den objektivierten Ordnungsraum strömen die Kliniker und Studenten, hier ergeben sich neuartige Forschungs- und Lehrmöglichkeiten. Die Klinik der Krankenanstalt bietet ein reichhaltiges Forschungsmaterial. Ungehindert durchlaufen die Ärzte diesen Trainingsparcour, von hier geht auch die Spezialisierung der Fächer aus. Allen voran die Etablierung der pathologischen Anatomie. Ausgehend von einer Physikalisierung der Untersuchungsmethoden wird der Kranke vermessen und kategorisiert. Die Autopsie avanciert zur zentralen Bestimmung von Krankheits- und Therapieverlauf. Die hippokra- tische Verlaufsbeobachtung wird abgelöst von einer neuen physi- kalischen Investigation, geleitet von der postmortalen Sektion e- tablieren sich erstmals systematische pathologische Einheiten. Erst von der Autopsie fiel Licht auf das Wesen der Krankheit. Zwei wesentliche Aspekte kulminieren also im Krankenhaus: einer- seits die Schaffung eines kollektiven, homogenen Raumes, der exklusiv vom Arzt beherrscht wird. Andererseits entwickelt sich in der Klinik ein wissenschaftlicher Krankheitsbegriff bzw. eine wissenschaftliche Methode, die wiederum die alleinige Kompe- tenz des Arztes fordert. Krankheit ist nun auch sprachlich verwis- senschaftlicht. Der medizinische Jargon indiziert den Übergang medizinischen Laienwissens in einen spezialisierte Domäne.
  • 12. 12 • die Einbettung der analysierten Berufsgruppe in umfassendere Konzepte von Macht, Machtausübung, Monopol, v.a. relevant als eine enge, professionspolitisch bedeutsame Verflechtung von Staat und Medizin unterstellt wird. Der vorgestellte Machtbegriff nimmt Abstand von einer solaren Konzeption, die einer Person oder einer Gruppe Macht zuspricht und geht von einem dichten Netz von gegenseitigen Abhängigkeiten aus. Macht wäre die Be- zeichnung dieses Konzepts. Dies bedeutet nicht, daß alle Invol- vierten gleich positioniert sind; was bleibt sind strategisch günsti- gere Positionen. Kein Ort ist von der Macht unabhängig, kein Ort, keine Person, keine Gruppe emittiert sie exklusiv. Die dualistische Verfahrensweise, die sich aus og. Absichten ergibt tendiert im Prozeß ihres Einsatzes zur Einebnung der methodischen Differenzen. Der Autor versteht sich nicht als Schöpfer eines kohärenten Ausschnittes historischer Wirklichkeit. Da die Wiederauferstehung des Abwesenden, der Geschichte als ineffiziente Illusion abgelehnt wird, der Historiker als Gestalter der vorgestellten Wirklichkeit auftritt, wird in zunehmenden Maße die Involvierung des Autors in die Analytik des Textes beobachtet.
  • 13. 13 2 Einleitung: Zwischen Selbstbestimmung und Ent- eignung 2.1 Marginalien zu einem gegenwärtigen Dilemma, Ivan Il- lichs Polemik gegen die Schulmedizin: Während der letzten Generationen hat das ärztliche Monopol über das Ge- sundheitswesen sich unkontrolliert ausgedehnt und unser Recht an unserem eigenen Körper beschnitten. Den Ärzten hat die Gesellschaft das aus- schließliche Recht übertragen, zu bestimmen, wer krank ist oder sein darf und was für ihn getan werden soll. Abweichung ist heute nur dann »legi- tim«, wenn sie eine medizinische Interpretation und Intervention verdient und letztlich rechtfertigt.4 Die Effizienz ärztlicher Bemühungen, Krankheit bzw. den Begriff davon zu kontrollieren, ist der von Priestern gleichzustellen. Epi- demien beispielsweise machten ihr Auftreten und Verschwinden von medizinischen Abwehrstrategien niemals abhängig. Illich5 meint, daß etwa die Tuberkulose ohne ärztliches Zutun zum Zeitpunkt der Ent- deckung des Bazillus durch Robert Koch bereits ihre Virulenz einge- büßt hatte, und daß, als die Antibiotika-Therapie zur Routine wurde, um 1945-50 die Erkrankungsrate auf 48 von 10000 Einwohnern ge- sunken war. Für den Höhepunkt der Tb in New York gibt Illich eine Rate von 700 an. Gleiches gilt für Cholera, Ruhr und Typhus. Für die Kinderkrankheiten, wie etwa Keuchhusten, Scharlach verzeichnet er einen 90%igen Rückgang der Mortalitätsrate in der Zeit von 1860 bis 1965, also bevor verbreitet Antibiotika und Schutzimpfungen einge- setzt wurden. Illich macht dafür die Verbesserungen auf hygieni- schem Gebiet, der Wohnungsverhältnisse und im Bereich der Er- nährung verantwortlich. Dem Faktor der Ernährung scheint besondere Relevanz zuzukommen, als daß in Ländern der Dritten Welt die Mor- talitätsrate, unabhängig von der ärztlichen Versorgung, höher ist. Das Kommen und Gehen unterschiedlichster Krankheiten im Laufe von wenigen Generationen ist nicht Verdienst ärztlicher Praxis. Die Mor- talität, oder besser Veränderungen in dieser, war immer abhängig in 4 Illich (1983), S.12. 5 Ebenda.
  • 14. 14 Funktion von Umweltbedingungen, vom soziokulturellen Lebenskon- text. Die Analyse der Krankheitstrends von einem Jahrhundert kürt die Umwelt zur bestimmenden Determinante des gesundheitlichen Allgemeinzustandes einer Population. Elemente der Umwelt sind Er- nährung, Hygiene und soziopolitische Gleich- oder Ungleichheit. Moderne Kultur-Techniken wie Seife, Impfnadel, Kondom, also keine ursprünglich medizinischen Gerätschaften, oft von Ärzten ein- gesetzt und entwickelt, bedingten eine Verschiebung der Mortalität6, die Lebenserwartung stieg; indes kein spezifisch medizinischer Pa- rameter steht in signifikantem Zusammenhang mit dem Rückgang der Krankheitslast. Illich registriert lediglich eine Forderung zur Neudefi- nition von Morbidität, aber keine Verringerung, dort wo z.B. neue Diagnose- und Therapietechniken eingesetzt werden.7 Der ärztliche Exklusivitätsanspruch gründet keineswegs auf objektiv verifizierbaren Therapieerfolgen, wenngleich der Berufsstand dies suggerieren will - solcherart lautet die Elementarthese Illichs. Der ur- sprüngliche, angestammte Bereich des Arztes, die Diagnose und die Therapie, sollte sich als nicht ausreichende Legitimationsbasis her- ausstellen; der Staat als Apellationsinstanz, die Integration des Arztes in staatliche Kontroll- und Machtstrukturen und die Patronanz der staatlichen Bürokratie erwiesen sich wesentlich förderlicher im Rah- men einer Konsolidierung der ärztlichen Profession. Ein wesentlicher Parameter in der Illichschen Argumentation ist der Begriff der „sozialen Iatrogenesis“(s.u.), er verkörpert die pathogenen Effekte der vergesellschafteten Medizin. Die Wirklichkeit der 1970er Jahre, die Illich als Vorlage seiner Betrachtung diente, stellt einen kumulativen Höhepunkt in der Entwicklungsgeschichte der Professi- on dar. Die Ärzteschaft initiierte ihr soziales Avancement im Kontext der bürgerlichen Aufklärung; zunächst emanzipierte sich Gesundheit als zentraler gesellschaftlicher Wert, als Distinktionsmerkmal des auf- geklärten Bürgers gegen die Aristokratie und als Indikator bzw. Ga- 6 Zur Begriffsfestlegung vgl. Vasold (1991), S.8. 7 Vgl. Illich, S.20-28.
  • 15. 15 rant für eine nationalökonomisch erfolgreiche und wehrfähige Nation. Die Medizin wurde zum Index eines umfassend verstandenen Auf- schwungs - nichts belebte die Hoffnung auf ein besseres Leben mehr, als die Hoffnung für das Leben selbst. Das Streben nach Glück be- gann mit dem Streben nach Gesundheit. Die Aufklärung, im wesentli- chen eine philosophische Revolution, verknüpfte die Medizin mit den Naturwissenschaften. Die Proponenten dieser Bewegung sahen sich als Ärzte/Heiler einer kranken Zivilisation. Die Gesundheit erstrahlt als Fokus eines jeden Geheimnisses. Selbst der philosophische Geist ist in funktionaler Abhängigkeit einer allgemeinen Gesundheit. Medicine, it seemed, was transforming itself from a medival mystery, from the furtive ally of alchemy and astrology, into a thoroughly philosophical science, and this association of the new philosophy with the art of healing proved to the thinkers of the day the strength of both.8 Gesundheit/Krankheit als Metaphern für gut/böse. Diese ‘medizini- sche’ Metaphern legitimierten das destruktive Potential der philo- sophes, der Kampf gegen ein mittelalterliches Christentum präsentiert sich als gerechter Krieg gegen eine böse Krankheit. In the rhetoric of the Enlightenment, the conquest of nature and the con- quest of revealed religion were one: a struggle for health. If the philosophes were missionaries, they were medical missionaries.9 Im 19. Jahrhundert intensivierte sich die Kooperation zwischen Pro- fession und Staat; die medizinische Inventarisierung der Bevölkerung, ihre politische Anatomie und die regulierende Kontrolle der Bio-Poli- tik10 als subtiles Herrschaftsinstrument adelte die ausführenden Ingenieure mit den Vorrechten einer Profession11. In dem Moment, wo die Bevölkerung eines Staates als Ressource erkannt wird, geben sich Variablen ihrer Konstitution zu erkennen; Geburtsrate, Mortalität, Morbidität und Letalität werden zu Indizes der Wert- schöpfung. Die Ökonomie des Körpers und der von den Produktiv- kräften geschaffene Mehrwert werden zum Objekt der Begierde des 8 Gay (1977), S.13. 9 Ebd., S.16. 10 Vgl. Foucault (1983), S.166. 11 Zum Begriff der Profession: Freidson (s.u.)
  • 16. 16 Mehrwert werden zum Objekt der Begierde des kapitalistischen Staa- tes. Die Totenbeschau und die gerichtliche Obduktion erweiterten den Zugriff auf den toten Körper. Differenzierte Überwachungs- und Kon- trollsysteme werden notwendig; die Klassifizierung, Hierarchisierung und Qualifizierung von Individuen mittels naturwissenschaftlicher Diagnostik avanciert zum elementaren Sortier- und Normierungskri- terium. Sobald sich nun eine Normgesellschaft entwickelt, wird die Medizin, die ja die Wissenschaft vom Normalen und Pathologischen ist, zur Königin der Wissenschaften.12 2.1.1 Verlust an Autonomie Illichs Begriff der „sozialen Iatrogenesis“ stellt den Kristallisations- punkt dieser Kulturkritik dar. Soziale Iatrogenesis bedeutet eine Funktionalisierung des Körpers, eine Bürokratisierung, eine Institu- tionalisierung der Leiden, eine Einschränkung der autonomen Ent- scheidung des Individuums bezüglich seines Körpers, eine Ausschal- tung der Selbstverantwortung zugunsten eines Molochs, der seine ei- genen Kunden produziert bzw. die Erkenntnisfähigkeit im Einzelnen unterdrückt. Sie ist Folge des radikalen Monopols13, so Illich, der Ärzteschaft, bei gleichzeitiger Suppression der Autonomie.14 Die maligne Ausbreitung der Medizin [...]: sie macht die gegenseitige Pfle- ge und den selbstverantwortlichen Gebrauch von Heilmitteln zum De- likt.15 Die soziale Kontrolle der Bevölkerung durch das medizinische System [ist- T.B.] eine der wichtigsten ökonomischen Aktivitäten.16 12 Foucault (1976), S.84. 13 Ein radikales Monopol kann nur Anspruch bleiben, zumindest Reste autono- mer, individueller Therapie sind nicht auszuschließen. 14 Vgl. Illich (1983), S.48-50. 15 Ebd. S.50. 16 Ebd. S.51.
  • 17. 17 Medizin schafft immer Krankheit als sozialen Status. Der gesell- schaftlich anerkannte Heiler vermittelt den Individuen soziale Mög- lichkeiten, sich als Kranke zu verhalten. Medizin ist eine moralische Größe, sie hat die Macht zu bestimmen wer angepaßt oder abweichend ist und vergibt dementsprechend Zen- suren, sie akzeptiert Leid und Tod, oder sie negiert beides, je nach Kodex. Die aufgesetzte Trennung von Medizin und Moral ermöglichte erst den ungeheuren Autoritätszuwachs, die Rückbindung der Medizin auf wissenschaftliche Prinzipien abseits von Gesetz und Religion, erlaub- te den Nimbus der wertfreien Aussage.17 Die einzelnen politischen Systeme organisieren die Pathologie nach ver- schiedenen Krankheiten und schaffen damit unterschiedliche Kategorien von Nachfrage, Versorgung und unbefriedigten Bedürfnissen.18 Illich weist darauf hin, daß die Macht des Arztes ebenso soziale Ka- tegorien schafft; die Gesellschaft gruppiert sich zu Mengen von sol- chen, die arbeitsunfähig sind, von solchen, die Soldaten werden dür- fen, die den Führerschein erwerben oder nicht erwerben dürfen, von solchen, die in andere Länder einreisen oder nicht einreisen dürfen, von solchen, die tot sind, die krank sind, die gesund sind etc. Die Tat- sache, daß der Arzt über Gesundheit und Krankheit entscheidet und die Menschen begutachtet, kategorisiert und zuordnet, entzieht den einzelnen Mitgliedern einer Sozietät die autonome Ent- scheidungsfähigkeit über den eigenen Status, der Unmündigkeit und Bevormundung ist damit der Weg bereitet.19,20 Die[se] Lebensfrist beginnt mit der pränatalen Untersuchung, bei der der Arzt entscheidet, ob und wie der Fötus zur Welt kommen darf, und es en- det mit einer Eintragung in die Krankenakte, die den Abbruch der Wieder- 17 Vgl. Temkin (1981). 18 Illich (1983), S.65. 19 Vgl. ebd. S.93-95. 20 Die autonome Beschäftigung mit der eigenen Körperlichkeit wird an institu- tionelle Monopole delegiert; regelmäßige „check-ups“, vom Arbeitgeber fi- nanziert, bestimmen den sozialen Standort und entheben den Einzelnen gänzlich der Verantwortung für sein Leben.
  • 18. 18 belebungsversuche auf der Intensivstation anordnet. Zwischen Geburt und Exitus fügt dieses Paket bio-medizinischer Kontrollen sich bestens in eine urbane Landschaft ein, die wie ein mechanischer Uterus gebaut ist.21 Illich versteht unter einer Medikalisierung des Lebens die über- mächtige Entscheidungsgewalt und das Manipulationspotential der Medizin (oder der Ärzteschaft) von der pränatalen Eugenik über Kreißsaal, Pubertät, Mensis, bis zu Klimakterium und Pensionie- rungsperiode zuungunsten eines autonomen Körperverständnisses des einzelnen. Er versteht die Medizin nicht nur als Spiegel einer Gesellschaft, de- ren soziale Kokons, i.e. die Familie, die Nachbarschaftsbeziehungen, die Subsistenzfunktion der Umwelt, zerstört wurden, seiner Meinung zufolge verstärkt und reproduziert die Medizin diesen Prozeß. Sie biologisiert, die als nach Therapie rufend verstandenen Äußerungen des Individuums und prägt damit eine Konsumhaltung, die Vorbe- dingung einer kapitalistischen Wertschöpfung und Produktionsideo- logie ist.22 Zu den Konsequenzen dieser Diagnose: In jedem Fall fügen sie dem biophysikalischen Zustand einen sozialen Sta- tus hinzu, der sich auf ein vorgeblich autoritatives Urteil stützt.23 Grundsätzlich überträgt der Arzt dem diagnostizierten Menschen Rechte, Pflichten, Erleichterungen und temporäre Stigmata, wenn es sich um reversible Phänomene handelt. Eine medizinische Diagnose unterwirft den Betroffenen der Autori- tät von Spezialisten: Sobald eine Gesellschaft sich zur präventiven Treibjagd auf die Krankheit rüstet, nimmt die Diagnose epidemische Formen an. Dieser letzte Triumph der therapeutischen Kultur verwandelt die Unabhängigkeit des durch- schnittlich Gesunden in eine unzulässige Form der Abweichung.24 21 Illich (1983), S.96. 22 Vgl. ebd. S.107. 23 Ebd. S.108. 24 Ebd. S.117.
  • 19. 19 Die Konsequenz ist die verpflichtende Prävention, wenn mit den volkswirtschaftlichen Schäden argumentiert wird. Das System schafft bei Strafandrohung seine eigenen Kunden. Der erste Berufsstand, der die Gesundheitspflege monopolisiert, ist der Arzt im späten 20. Jahrhundert.25 Illich vermerkt, daß bei vermehrter Aufmerksamkeit für eine tech- nisierte Medizin, die symbolische, nichttechnische Funktion zunimmt. Als nichttechnischen Eingriff versteht er gewissermaßen den Placebo- Effekt, den Eintritt des Patienten in den Mythos Medizin, der Arzt als Schamane. Als heilend in diesem Sinne kann auch ein negativer Pla- cebo, eine unnötige Medikation, ein Gift, eine unnötige Operation verstanden werden. Nach Illich, sind die gesundheitsschädlichen Ne- benwirkungen von Eingriffen solcher Art die dominierenden.26 „Die Ärzte behalten sich das unbestrittene Recht vor, zu definieren, was Krankheit ist [...].“27 Illich konstatiert die Entwicklung des modernen Begriffs von der Krankenrolle etwa um die Jahrhundertwende. „[Diese Krankenrolle- T.B.] definiert Abweichung als Sonderfall legitimen Verhaltens vom offiziell selektierten Konsumenten in einem industriellen Milieu.“28 Mit Foucault vermerkt Illich eine Veränderung in der Rolle des Arz- tes; weg vom Moralisten, hin zum wissenschaftlichen (klinischen), aufgeklärten Unternehmer, dessen Hauptaufgabe darin bestand, dem Kranken die Verantwortung für seine Krankheit abzusprechen. Neue Krankheitskategorien waren nötig, Krankheit wurde für den Arzt zum Gegenstand von Bio- oder Soziotechnik. Dieses Rollenbild konnte nur solange existieren, wie Ärzte an den unbeschränkten Erfolg ihrer Therapien glaubten, ihn zumindest be- haupteten und die Bevölkerung diesen Optimismus teilte.29 25 Ebd. S.135. 26 Vgl. ebd. S.137. 27 Ebd. S.140. 28 Ebd. S.143. 29 Vgl. ebd. S.144-145.
  • 20. 20 2.1.2 Aspekte einer Medizinkritik und einer Kritik des Begriffs Ge- sundheit Parallel zur Etablierung eines Höchststandes einer technoiden Mo- nopolmedizin setzte eine massive Kritik an dieser Medizin ein. Sie wurde nicht zuletzt als subtiles Machtinstrument enttarnt, mit Illich gerierte sie sich als Nemesis einer in die Irre geleiteten hochindu- strialisierten Gesellschaft. Von der frühen Kritik eines Michel Fou- cault, Thomas Szasz mit wissenschaftlichem Anspruch bis zur popu- lären Medienkampagne sah und sieht sich die Medizin inmitten einer Identitätskrise.30 Medizin und Gesellschaft, als dialektische Relation gedacht, erfahren einen Bruch ihres Selbstverständnisses. Wissen- schaft, Praxis und die Organisation der vergesellschafteten Versor- gungsansprüche wurden und werden zusehends von Nicht-Experten, Laien (sic!), diskursiv seziert: Historiker, Soziologen, Mediziner, Po- litiker, Ökonomen et cetera nehmen am Revitalisierungsprozeß teil. Revitalisierung deshalb, weil ich glaube, daß der Dekonstruktion ob- soleter Inhalte eine differenzierte Rekonstruktion eines ‘zeitgemäßen’ Verständnisses von Medizin folgt, das meint, daß in einem Zivilisati- onsprozeß einmal etablierte Standards gesellschaftlich überformt, wie auch immer, weiterleben. Das Lamento einer verlorengegangenen Autonomie, die eitle Ent- mündigung des Laien, die Restitution ebendieser Selbstverantwor- tung, die so heftig betrieben wird, ist nichts anderes als „die Selbstin- tegration in das Weltsystem zum kategorischen Imperativ“31 zu erhe- ben, im Sinne eines Eliasschen Konzepts von Selbstzwang und Lang- sicht(s.u.). Illich einst erbitterter Verfechter der Wiedereinsetzung von Gesundheit als Funktion von Selbstverantwortung denunziert nun diese Begriffe als abgelutschte Hülsen neuzeitlicher Rationalität. Der Nimbus der Machbarkeit, die Objektivierung von Gesundheit hat statt in einer Welt subjektiver Vernunft32. Illich verabschiedet sich von diesen aufklärerischen Idealen, er nennt es Selbstbegrenzung: „Um 30 Vgl. Labisch (1992), S.8-10. 31 Illich (1992), S.51. 32 Objektive versus subjektive Vernunft, nach Horckheimers „Kritik an der in- strumentellen Vernunft.“
  • 21. 21 jetzt würdig leben zu können, muß ich entschieden auf Gesundheit und Verantwortung verzichten“33. Er meint „epistemologische Aske- se“, wenn er auf etablierte, aufklärerische Axiome verzichtet. Illichs pointiert vorgeführter Begriff von Gesundheit/Leben der postindus- triellen Gegenwart als Erhaltung und Selbststeuerung des Immunsy- stems, wird von ihm als Devianz vom okzidental-christlichen Myste- rium des Lebensbegriffes, von dessen Konnex zu einer objektiven, göttlichen Vernunft, gesehen. „Objektivierte sich das Verhältnis der Menschen zur Natur, wurde auch das Verhältnis der Menschen zu ihrem Körper objektiviert.“34 Diese Objektivierung der Welt, die der Inthronisation der subjektiven Vernunft entspricht, entzaubert das Le- ben als magischen Text. Illich, der bessere Christ: „So gesehen ist die Vorstellung vom Le- ben, das sich auf die Erhaltungsphase eines Immunsystems reduzieren läßt, nicht nur Idol, nicht nur Fratze, sondern Lästerung“35. Die Aske- se, der Verzicht auf Gesundheit/Leben und Verantwortung dafür er- möglicht, so Illich, eine der Gegenwart entsprechende Praxis der Lei- denskunst.36 Illich redet einer Verweigerung, der nicht zuletzt durch ihn beförderten Decouvrierung des neuzeitlich-aufklärerischen Axi- oms ‘Gesundheit’, das Wort. Neuzeitliche Rationalität gewährleistet keine Orientierung mehr, die Restitution einer objektiven, vielleicht christlichen, Vernunft mittels asketischer Selbstbegrenzung wird Il- lich zum Programm. Ivan Illich vereint in sich nun zwei grundsätzlich gegenläufige Hal- tungen der Kritik beispielhaft. Einerseits die rationale Analytik der Medizin mit der Konsequenz des Tyrannenmordes, der Sturz des Ex- perten und die Inthronisation des selbstverantwortlichen Laien. Ande- rerseits, zwanzig Jahre später im Anschluß an eine postmoderne Kri- tik an der Moderne, stößt er sein eigenes Konzept von sich und ent- 33 Illich (1992), S.51. 34 Labisch (1992), S.25. 35 Illich (1992), S.52. 36 Mir dämmert hier eine Rückwendung zu einem mittelalterlichen Gesund- heitsbegriff: Gesundheit einer transzendentalen Sinnstiftung untergeordnet, also marginalisiert.
  • 22. 22 läßt sich und sein Programm aus der Fetischisierung der Gesundheit. Seine Argumentation präsentiert sich linear, der Enthüllung der Me- dizin als selbstgerechte Verwalter von Gesundheit/Leben folgt die Enthüllung der Gesundheit als Metapher/Formel/Paradigma der neu- zeitlich-rationalen Gesellschaft. Von daher kommt das Interesse die- ser Diplomarbeit an einer Sequenz im Prozeß einer neuzeitlich-ra- tionalen Verfestigung, an der Professionalisierung der Ärzteschaft, die ich nicht nur, wie Foucault, als Effekt und Instrument eines Kon- textes sehe, sondern mit Illich als aktive Teilnehmer. 2.2 Zur Erfindung der Krankheit und der souverän konzep- tualisierten Heilkunde. Die Französische Revolution transformierte den Zustand der Krank- heit aus der Privatsphäre ins Licht des öffentlichen Interesses. Das Postulat, die Gesellschaft in einen Zustand ursprünglicher Gesundheit zurückzuführen, gründete auf der Vorstellung, daß Freiheit, Brüder- lichkeit und Gleichheit das Übel Krankheit vertreiben sollten. Ge- sundheit wurde zum Bürgerrecht und zur Bürgerpflicht; Gesundheit wird unabdingbar für ein bürgerliches Leben, denn gesund ist syn- onym für moralisch opportun.37 Die Betreuung fiel noch den Angehö- rigen bzw. der Nachbarschaft zu. Doch diätetische Aktionsprogramme sollten bereits die Volksgesundheit garantieren. Die Illusion einer krankheitsfreien Gesellschaft begann als politisches Programm. Krankheit sei ein Symptom politischer Korruption und würde eliminiert, sobald die Regierung in Ordnung gebracht wäre.38 Mit der Restauration erstand die Idee, der Arzt solle Krankheit ver- meiden, besser beseitigen. Der Arzt wurde zum Kulturheros, vor al- lem aufgrund eines magischen Rituals, welches die Vorstellung von der gesunden Volksgemeinschaft, Gesundheit als erstes Bürgerrecht, gewährleisten sollte. Die Verquickung von Krankheit und Gesundheit mit öffentlichen Mitteln erforderte eine Operationalisierung der bei- den Begriffe. 37 Vgl. Labisch (1992), S.107. 38 Illich (1975), S.116.
  • 23. 23 Bisher galt die Heilkunst als integrierter Bestandteil einer allgemei- nen Krisenbewältigung, die Krise selbst war ein Element der Syste- merhaltung, sie war Sanktion für grenzüberschreitendes Verhalten; noch fehlte eine eigenständig konzeptualisierte Heilkunde. Um solch eine Konzeption zu etablieren, mußten Wert- und Normsysteme im Zuge der Aufklärung überformt werden.39 Leiden mußten in objektive Krankheiten verwandelt werden. Spe- zifische Krankheiten mußten klinisch definiert und verifiziert werden, damit Funktionäre sie in Klinikstationen, Berichten, Budgets und Mu- seen unterbringen konnten.40 „Der kranke Mensch »verschwand aus der medizinischen Kosmologie«. Aus der »Krankengeschichte« wur- de die »Krankheitsgeschichte«.“41 Die Verselbständigung einer konzeptualisierten Heilkunde korre- spondiert mit herrschenden gesellschaftlichen Organisationsformen, d.h. mit der Verteilung der Kontrolle über die in einer Gesellschaft verfügbaren Mittel. Unschuld42 unterscheidet zwischen primären Mitteln, das wären medizinisches Wissen, medizinische Fähigkeiten, medizinische Technologie u.s.f. und sekundären Mitteln, worunter er die gesellschaftlich vorgesehenen Vergütungen für die Inanspruch- nahme primärer Mittel oder Dienstleistungen subsumiert. Die Ver- selbständigung oder Professionalisierung legitimiert sich nicht aus sich selbst heraus, aus einer internen Logik, sondern konstituiert sich in einer Verflechtung gesellschaftlicher Differenzierung, die einem Expertentum Vorschub leistet. Das 19. Jahrhundert organisiert sich nun zunehmend als arbeitsteilige Industriegesellschaft; die Kontrolle und Handhabung der Mittel fällt in die Hände von Experten oder umgekehrt, die Formierung des Expertentums fungiert als Antwort auf eine soziale Differenzierung. 39 Vgl. Unschuld (1978), S.523. 40 Vgl. Illich (1975), S.118. 41 Labisch (1992), S.109. 42 Vgl. Unschuld (1978), S.525.
  • 24. 24 Ob es die Anfertigung von Kleidungs- oder die Produktion von Nahrungs- mittelrohstoffen ist, sie alle sind weitestgehend der Kontrolle der Allge- meinheit43 entzogen und derjenigen von Experten überantwortet.44 Die Medizin argumentierte bereits in einen präparierten Raum hin- ein, die Verräumlichung des spezialisierten Wissen. Daher fordert die Medizin politische Macht, aus sich selbst heraus, nicht religiös oder obrigkeitlich legitimiert, beanspruchte sie normative Kraft. Medizi- nisch-wissenschaftlich erfaßte Gesundheit wurde zu einem Flucht- punkt instrumentalisiert, der die in vielerlei Machtzentren zerfallende bürgerliche Gesellschaft45 außerhalb formal organisierter Institutio- nen ordnen sollte. Diese [Normalitätsvorstellungen/Gesundheit-T.B.] konnten eine aus immer kleineren sozialen Einheiten bestehende Gesellschaft sinnhaft orientieren, soweit der Körper und die Deutung seiner Normalität in irgendeiner Form als Bezugspunkt angenommen werden konnten.46 Das Dilemma der Gegenwart erschöpft sich nicht in der Paradoxie von faktischer medizinischer Insuffizienz und radikalem Monopolan- spruch; der Kampf um Erhaltung ärztlicher Monopolstellungen hat er- neut begonnen. Zunehmend erweitert sich die Berufsgruppe - der Ge- sundheitsmarkt erweitert mit einem immer differenzierteren Angebot die Inventarisierung der Gesellschaft. Der etablierte Ärztestand kämpft um alte Privilegien. Die amtliche Macht über die Definition von Realität hat ihren Gipfel er- reicht und ist im Abstieg begriffen. Derzeit arbeitet eine verwirrende Mix- tur von High-Tech und Kräuterweisheit, bioengineering und autogenen Körperübungen an der Schaffung empfundener Realität, einschließlich des Körpers.47 43 Gilt für städtische Siedlungsformen; allerdings erfolgte die Etablierung einer konzeptualisierten Heilkunde hier zuerst. 44 Unschuld (1978), S.530. 45 Die bürgerliche Sozialisierung ersetzte das eine solare Machtzentrum durch eine Vielzahl von hierarchischen Einbindungen. 46 Labisch (1992), S.111. 47 Illich (1987), S.49.
  • 25. 25 Die Tatsache einer Differenzierung des Gesundheitsmarktes im spä- ten 20. Jahrhundert läßt die Betrachtung eines entscheidenden Mo- ments in der ehemals aufstrebenden Karriere des Ärztestandes schon als Ouvertüre eines Dominanzverlustes oder zumindest einer Ver- schiebung erscheinen. Das 19. Jahrhundert spiegelt so einen profes- sionspolitischen Kampf, der mit anderen Vorzeichen im späten 20. Jahrhundert fortgesetzt wird. Ziel und Resultat der Professionspolitik der Ärzteschaft im 19. Jahrhundert war die Monopolisierung und eine autonome Organisations- und Kontrollstruktur. Die Folie und die Strategeme dieser Ambitionen interessieren uns.
  • 26. 26
  • 27. 27 3 Wissenschaft, Macht und Norm 3.1 Die Szientifizierung der Medizin. 3.1.1 Der leidenschaftslose Blick der Klinik Einen grundlegenden Impuls erhält die Konsolidierung des Ärzte- standes ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Einzug der naturwis- senschaftlichen Fundierung in die Epistemologie der Medizin schafft eine neuen Bezugsrahmen. Der Paradigmawechsel im abendländi- schen Denken, der die mathematische, cartesianische Methode zum ersten Epistem erhob, reüssierte in der Medizin erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Wissenschaft eignet v.a. im deutschen Sprachraum ein massiv integrierendes Potential. Da eine Kluft zwischen Führungsansprüchen und -fähigkeiten und den konkreten Herrschaftsmitteln bestand, übte die Wissenschaft eine stärkere soziale Funktion aus, als in den Frank- reich oder England. Kollektive, bürgerliche Identität definierte sich über die Bindung an Bildung und ultimativ an die Wissenschaft. Die Medizin als Naturwissenschaft vorgestellt ist nur der erfolgreichste Vertreter einer funktionalisierten Wissenschaft. Eine ganze Schicht und eine kollektive Versicherung stützten diese Unternehmung. Krankheit, Gesundheit und Medizin sind nur ein Spielfeld in der Kon- solidierung und Sublimierung der bürgerlichen Gesellschaft. Schieras Studie kreist um diese Fragestellung: Es soll gezeigt werden, wie neue Schichten, im Übergang vom ständischen Sozialgefüge zur bürgerlichen Gesellschaft, dank des Wechselverhältnisses von Wissenschaft, Bildung und öffentlicher Meinung zunächst die ihnen gemäße soziale und politische Wissenschaft entwickelten und dann, unter Anwendung ideologisch und wissenschaftlich abgestützter Verteidigungs- und Absicherungsstrategien, ihre gesellschaftliche Führungsstellung etablierten und ausbauten.48 Was auf Erden noch Utopie war, wurde in die virtuelle Realität der Wissenschaft verschoben. Die Medizin im deutschsprachigen Bereich hatte mit der romantischen, naturphilosophischen Weltsicht einen 48 Schiera (1992), S.19.
  • 28. 28 starken Gegenpol zu überwinden. Die Ergebnisse der Wiener und Pa- riser Medizin sickerten denn auch zäh ein.49 Die Mitte des 19. Jahrhunderts war geprägt von der Vorstellung ei- ner Medizin bzw. von der Imagination eines Krankheitsbegriffes, der den anatomischen Blick zum Primat erhob. Das anatomische Verfah- ren korrespondierte mit den Ideen des Positivismus, der nach Auguste Comte die Erkenntnis der Gesetze der Phänomene von der positiven Denkweise, d.h. einer Methode, die frei von Spekulation und Meta- physik ist, ermöglicht sah und lediglich die realen Erscheinungen er- faßte und sie mithilfe exakter wissenschaftlicher Methoden analysier- te.50 In der Medizin bedeutete dies, daß durch die Analyse der einzel- nen Teile die Gesetze ihres Baus und ihres Wirkens gegeben seien. Der Körper erschien als technischer Automat, der durch die Vernunft des Mechaniker-Arztes darstellbar und verständlich wurde. Die patho- logische Anatomie oder vielmehr die anatomische Pathologie war Fundament einer Heilkunde, die lokalisierte, organgebundene Idee vom Sitz der Krankheit.51 Der lokale Befund, die Organveränderung galt als Bedingung und Ursache der Symptome. Die Krankheit hatte ihren organischen Sitz. Die Wiener Schule ging in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts über rein sachliche Erörterungen hinaus, sie be- gab sich auf das Feld der Metaphysik, es finden sich „spekulative Er- örterungen der natürlichen Heilaktionen, teils noch im Banne der hu- moralen Krisenlehre oder der solidaren, vitalistischen Systeme, teils im Geiste der mannigfachen modifizierten Naturphilosophie.“52 Rokitansky, ein Kliniker der zweiten Wiener Schule, stellt exem- plarisch den idealistischen Arzt dar, der den Hippokratischen Grund- satz vertritt und die Naturheilkraft proklamiert: die Natur bei ihren Heilbestrebungen nicht hemmen53; gleichwohl Rokitansky, jetzt als 49 Vgl. Shryock (1940), S.159. 50 Vgl. Göckenjan (1985), S.308. 51 Vgl. Berghoff (1947), S.145. 52 Ebd. S.139. 53 Diese distanzierte Haltung äußert sich verdichtet im 'therapeutischen Nihi- lismus' der Zweiten Wiener Schule um Rokitansky, Skoda und Joseph Dietl.
  • 29. 29 Initiator der Szientifizierung, die deutschsprachige Heilkunde aus ih- rer naturphilosophischen Spekulation54 zu stoßen gedachte. Die Wie- ner Medizinal-Halle, eine Fachzeitschrift zitiert den Medizinhistoriker Hirschel aus Dresden, der Rokitansky als den Begründer der neuen pathologischen Anatomie apostrophiert, wenigstens für das gegen die französischen Leistungen gleichgültig gebliebene Deutschland. Sie [Rokitansky und Skoda -T.B.] stürzten das Reich der Träume und der Theorien und setzten die Erfahrung dafür auf den Thron.55 Ein zeitgenössisches Enkomion auf Rokitansky, anläßlich seiner Rede zur Jahressitzung der kaiserlichen Akademie der Wissenschaf- ten, positioniert seine Arbeit als Ergebnis einer physikalischen Rich- tung beim Studium der physiologischen Zustände des Gesund- und des Krankseins: er [Rokitansky -T.B.] weist nach, wie die Medicin, nachdem sie sich von der Annahme einer von den bekannten Naturkräften verschiedenen Le- benskraft lossagte, in die Reihe der Naturwissenschaften eingetreten, dass sie selbst eine Wissenschaft sei.56 Eine Wissenschaftlichkeit mit Einschränkung allerdings, diese Rich- tung vermag niemals das Rätsel des Lebens völlig zu lösen, so der Kommentar. Die Ambiguität seiner Person demonstriert sich in die- sem Feld, hielt er doch an einer Restauration der Humoralpathologie fest, seine Krasenlehre postulierte den Sitz der Krankheit im Blut, der Krase.57 Rokitanskys spekulative Theorie wurde bald von Virchow 54 Die naturphilosophische Richtung bzw. die romantische Medizin gründet auf der These vom Leben als galvanischer Prozeß. Eine allgemeine Naturkraft wirkt in dieser Dynamik von Expansion oder positiver Elektrizität und Kon- traktion oder negativer Elektrizität; ein sich unaufhörlich perpetuierender Zirkel von Reproduktion und Desorganisation. Die Krankheit bestimmt sich so als von inneren, dynamischen Lebenskräften organisiert. Vgl. Lesky (1965), S.103. 55 Medizinal-Halle (1862, Nr.15), S.140. 56 AMZ, (1858, Nr.35), S.137. 57 Vgl. Lesky (1965), S.134-135.
  • 30. 30 widerlegt und kann als eine der letzten Nachwehen nicht-rationaler Wissenschaftlichkeit gewertet werden.58 Zentrum seiner rational-empirischen Forschungen war der Lei- chenhof des Wiener Allgemeinen Krankenhauses59, die Prosektur versorgte ihn mit einem Forschungsmaterial, das neuartige Episteme des kranken bzw. toten Körpers gebar. Das 19. Jahrhundert war die Hoch-Zeit der Sektion, der Vormachtstellung der Pathologie. Während seiner Laufbahn als Pathologe soll Karl von Roki- tansky, einer der Begründer dieses Faches, um die 25.000 Diagnosen ge- stellt haben. Seine Abteilung am Allgemeinen Wiener Krankenhaus nahm während seiner Amtszeit rund 2.000 Leichenöffnungen (einen großen An- teil stellen dabei Irre) pro Jahr vor - insgesamt über 80.000 nach dieser Schätzung -, wahrscheinlich mehr als in der gesamten vergangenen Ge- schichte der Medizin.60 Erst spät tauschte Rokitansky seinen Arbeitsplatz, der einem Koh- lenmagazin zur Ehre gereichte, mit einer repräsentativen Bühne ein. 1862 wurde das pathologisch-anatomische Institut eröffnet. „Eine Zierde der Residenz.“61 Leskys Fazit versteigt sich in eine pittoreske Momentaufnahme in- tellektueller Patho- bzw. Nekrophilie. Denn mit der ganzen naiven Sinnenhaftigkeit seiner Anschauung hat er sich dem sicht- und wahrnehmbaren Krankheitsprodukt hingegeben.62 Allerdings zeugt ein anderer Text von der Obsession Rokitanskys. Im März 1866 beging R. die dreißigtausendste, durch ihn vorgenommene Leichensection festlich im Kreise mehrerer Freunde.63 Die Diskursivierung des Leichnams initiierte eine neuartige Patho- logensprache, ein objektivierendes, abstrahierendes Lexikon. Das pa- thologische Produkt trat aus der subjektiven, mythischen Semiologie 58 Vgl. Shryock (1940), S.164. 59 Vgl. Martin (1847), S.91-92. 60 Laqueur (1992), S.214. 61 WIZ (1862), Nr.27, 5. Juli. 62 Lesky (1965), S.131. 63 Wurzbach (1874), S.289.
  • 31. 31 ein in die Korrelation von innerem Organ-Geschehen und sichtbaren Befund - in die Kausalität von anatomischem Substrat und klinischem Symptom. Gegen die naturphilosphische Vorstellung einer von diffu- sen Kräften verursachten Gleichgewichtsstörung behauptet Roki- tansky die Idee des nachweisbaren „Krankheitsprozesses“, der sich in Funktion der Zeit entwickelt.64 Diese organizistisch-makroskopische Pathologie legitimierte die moderne Medizin als esoterischen Diskurs über die Endlichkeit des Menschen, gleichzeitig bot sie als positive Wendung die Hoffnung eines restaurativen Eingriffs in den ehemals verschlossenen, nun zugänglichen und sprachlich konstituierten Raum. Das Problem der damaligen klinisch-anatomischen Befunde war die Unkenntnis der Pathogenese, der Ätiologie, die Befunde waren immer nur Produkt der Krankheit, nie sie selbst. Es fehlte noch ein Konnex zwischen physiologischer Leistung des Organismus und der durch eine Pathologie veränderten. Noch fehlte eine pathologische Physio- logie, die abseits von naturphilosophischen Modellen argumentiert.65 Mit Johannes Müller, der eine Kooperation von anatomischen und physiologischen Grundlagen forderte, tritt nun diese Physiologie in die Welt. Die Entdeckung der kernhaltigen Zelle im tierischen Organismus durch Schwann veränderte die gültigen Konzepte vom menschlichen Organismus; die Einheit alles Organischen, die Zelle als letzte mor- phologische Einheit des Lebens zu erkennen, eröffnete die Gelegen- heit, die elementaren Krankheitsphänomene an der Zelle kennenzu- lernen. Der Blick dieser differenzierten Lokalisation erscheint als konsequente Weiterentwicklung der organgebundenen Pathologie und der von Xavier Bichat entfalteten Pathologie der Gewebe. Der Blick auf immer kleinere anatomische Partikel verstellte zunehmend den Blick auf den Kranken, allein die Krankheit stand im Vordergrund.66 64 Vgl. Lesky (1965), S.132-135. 65 Vgl. Berghoff (1947), S.135. 66 Vgl. Shryock (1940), S.125 u. 135.
  • 32. 32 Rudolf Virchow (s.u.) konnte darauf aufbauend seine Zellularpatho- logie formulieren, „die Zelle war nicht nur der anatomische Ele- mentarorganismus, sondern auch die Stätte physiologischen und pa- thologischen Geschehens“67. Sie hat ein Eigenleben, ihre Existenz vollzieht sich demnach in Form von Reaktionen auf nutritive, forma- tive und funktionelle Reize. Krankheit erscheint demgemäß nicht mehr als abgeschlossenes Phänomen, sondern als ein Prozeß, der den selben Gesetzen gehorcht wie der physiologische Organismus; Krankheit ist somit nicht mehr der Gegensatz von Gesundheit, son- dern nur noch graduell different. Die Zelle war nun Sitz der Krank- heit. Das Wesen der Krankheit solle am Ort ihrer Erscheinung er- forscht werden. Virchows Theorie wandte sich gegen die ontologi- sche Krankheitsauffassung der naturhistorischen Schule, die einen Parasiten als Krankheitsursache bestimmte; andererseits wurde seine Lehre als ‘ontologische’ bezeichnet, da „ein scharf umschriebenes wesenhaftes Objekt“, das allerdings keine eigene Existenzform war, „sondern nur den durch die abnormen Bedingungen veränderten Kör- perteil darstellte“68, zum Ausgangspunkt der Krankheit gemacht. Die örtliche-anatomische Krankheit sollte anhand der klinischen Bilder ermittelt werden. Die Medizin verkehrte dieses Bild, allein von der Krankheit aus ist die Gesundheit zu verstehen. Die Verschmelzung von pathologischer Anatomie und Physiologie bedeu- tet die konzeptionelle Verschmelzung von Gesundheit und Krankheit aus der Perspektive des Endzustandes: Krankheit ist das natürliche Experiment des Körpers, Gesundheit ist eine erkennbare Entwicklungsstufe hin zum Leichenbefund.69 Der unproblematische Begriff der Gesundheit mutiert zu der Idee eines Kontinuums von Krankheit und Gesundheit, zum gleitenden Übergang vom Normalen zum Pathologischen. Als Konsequenz ergibt sich die Inthronisation des medizinischen Eingriffs als Konzept der Gesunderhaltung, medizinische Normen substituieren die tradi- 67 Berghoff (1947), S.150. 68 Ebd. S.151. 69 Göckenjan (1985), S.254,
  • 33. 33 tionellen sozialen Krankheitskoordinaten. Die Abschaffung der Selbstregulationsfähigkeit eines positiven Körperkonzepts bildete die Grundlage einer Absicherung gegen einen systematischen Zweifel an der Kompetenz der Ärzte - ein professionspolitisches Argument.70 Der anatomisch-pathologische Krankheitsbegriff auf physiologi- scher Basis konnte zweifellos nicht alle bekannten Krankheitspro- zesse, wie zum Beispiel die Neurosen, erklären. Hier tritt nun der funktionelle Krankheitsbegriff in Erscheinung, der auf der Dichoto- mie Suffizienz und Insuffizienz gründet und die Pathologie be- herrscht. Als Vergleichsreferenz dient eine physiologische Lei- stungsbreite. Diese funktionelle Diagnostik führt weg von der Vir- chowschen Morphologie; die klinische Empirie, die experimentelle Physiologie sucht eine Verbindung von Zellularpathologie und den klinischen Phänomenen herzustellen. Die klinische Analyse sollte den Sitz der Krankheit ans Licht befördern, die exakte Analyse führte zu einer Differenzierung der physikalischen Diagnostik, wie zu einer Ausweitung des Krankheitsbegriffes.71 Die Krankheit löst sich von der Metaphysik des Übels, mit der sie jahrhun- dertelang verbunden war, und findet in der Sichtbarkeit des Todes die ad- äquate Form, in der ihr Gehalt positiv erscheint.72 Der anatomisch-klinische Blick entstand im Zuge einer epistemo- logischen Reorganisation der Krankheit. Diese positive Methodik zerrt die ‘Gegen-Natur’, den Tod, das Übel ans Tageslicht; um diese Erkenntnisform zu etablieren, mußte der Kranke, so Foucault, in ei- nen kollektiven und homogenen Raum installiert werden. Im selben Augenblick definierte sich ein wissenschaftlicher Diskurs, der eine objektive Korrelation zwischen dem Sichtbaren und dem Aussagbaren konzipierte. „Man macht sichtbar, indem man sagt, was man sieht.“73 Der Leichnam wurde zum diskursiven Raum, „aus der Einfügung des Todes in das medizinische Denken ist eine Medizin geboren worden, 70 Vgl. ebd. S.254-255. 71 Vgl. Berghoff (1947), S.153-154. 72 Foucault (1988), S.207. 73 Ebd. S.207.
  • 34. 34 die sich als Wissenschaft vom Individuum präsentiert.“74 Die Trans- formation des memento mori: vor dem Tod sind alle gleich. Die vorerst unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen geben sich als medizinisch gleich zu erkennen, arm und reich erleben unter na- turwissenschaftlichem Blick Krankheit und ärztliche Fürsorge glei- chermaßen; daraus leitet sich folgerichtig eine Egalisierung der Ärzte ab. Die Etablierung repräsentativer Vertretungsorgane sollte ärztliche Interessen in der Gesellschaft durchsetzen. Hinter diesen Forderungen verbirgt sich kein ökonomischer Zwang, sondern pro- fessionspolitische Probleme in zeitgenössischem Gewand. Das ärztli- che Klientel, das Publikum, thematisiert die fachliche Kompetenz. Der Bürger verschwindet als Adressat, als Vermittler ärztlicher Stan- desbemühungen. Der Staat avanciert zur primären Apellationsinstanz, er soll organisatorische Grundlagen der öffentlichen Medizin bereit- stellen, die Medizin als staatspolitisch relevante Produktivkraft aner- kennen. Der Ausschluß der Laien, der einheitliche, regulationsbefugte Stand entspringt, so Göckenjan, aus der These der Bedrohung durch eine Emanzipation der Laien. Bloß diese Propaganda blieb Rhetorik, eine ärztliche Vereinigung fand bis über die Mitte des 19. Jahrhun- derts nicht statt. Als Realprozeß findet diese »von oben« statt. Staatsverwaltungen versu- chen, sich Beratungs- oder bestimmte Implementationsinstanzen zu schaf- fen.75 3.1.2 Rudolf Virchow, die Medizin als Schnittstelle einer ultimativen naturwissenschaftlichen Anthropologie Mit Virchow etabliert sich die Medizin als Träger naturwissen- schaftlicher Erkenntnisse als soziale Wissenschaft. Aus dem Geist der Seuchenabwehr entwickeln sich die Anfänge einer Sozialmedizin. Bakteriologie und Assanierung der Städte prägen die Initiative einer sozial definierten Medizin. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts kon- vergieren beschleunigte Industrialisierung, Massenproletariat und E- pidemien. Die Stadt wird zum Hort der Unruhe und des Aufstandes. 74 Ebd. S.207. 75 Göckenjan (1985), S.278.
  • 35. 35 Allen voran die Cholera-Epidemien konstituieren den phantasmati- schen Anteil, der als rhetorische Strategie in die Medizinierung der Politik und die Politisierung der Medizin eingeht. In Deutschland zielt das Projekt einer Medizinalreform auf eine Öffnung des gesamten öf- fentlichen und privaten Raumes für den sanitär-politischen Blick. Virchow setzt sich mit seinem Text über die Seuchen und die Volks- krankheiten von der Rhetorik der bürgerlich-feudalen Gesundheits-, Hierarchie- und Eigentumsmodell und der „medizinischen Polizey“ des 18. Jahrhunderts völlig ab. Sympathie für die Armen, Kritik an der Polizei, der Bürokratie und der Nonchalance des Beamtenappara- tes und der besitzenden Klassen. Bildung und patriotisches Pathos - eine Volk, ein Staat, alle sind füreinander verantwortlich - sind Ele- mente der neuen Sozialmedizin. Vor einem Hintergrund aus Kriegen, Seuchen, Revolutionen und bürgerli- chem Wahn sieht man, wie sich Redeweisen aus der Medizin, der Hygiene, der Psychiatrie, der Ökonomie, der soziologischen Betrachtung, der Politik, der Kolportage, des journalistischen und polemischen Stils, des Mahnrufs sowie des Pessimismus und der Anklage überlagern.76 Politik und Medizin geben sich als zwei Aspekte eines Anliegens zu erkennen, der Integration und Verwaltung der Bevölkerung zum volkswirtschaftlichen Nutzen des Staates und der Affirmation einer rational-wissenschaftlichen Methodik. Öffentliche Gesundheitspflege als Existenzsicherung des Staates, aber natürlich auch des Standes. Das Jahr 1848 brachte mit Rudolf Virchow eine revolutionäre Zäsur in der Medizin mit sich. Er erklärte die Medizin zur Totalwis- senschaft, sie ist der Kern der Entwicklungstheorie und der Motor al- ler Sozialbewegung. Diese Vorstellung von der Medizin als Mission einer hygienischen Kultur konstatiert Schipperges77 nicht nur bei Virchow; besonders die Versammlung der Deutschen Naturforscher und Ärzte hielt sich für den Nabel der Welt. Schipperges zitiert den Historiker und Arzt Julius Petersen, der eine hygienische Medizin als die kommende postulierte; „[die Medizin hat den Auftrag-TB] die 76 Friedrich/Tietze (1994), S.22. 77 Schipperges (1984).
  • 36. 36 physiologischen Verhältnisse des Organismus zu allen ihn umgeben- den Medien und Lebensbedingungen festzustellen.“78 Die Medizin wurde zum umfassenden Sozialprogramm. Die naturwissenschaftliche Methode avanciert zur leitenden Epistemologie in allen Bereichen der Gesellschaft.79 Anstelle des philosophischen tritt das naturwissenschaftliche Zeital- ter. Um die Jahrhundertmitte erfolgte dieser Paradigmawechsel. Der Arzt als Iatrochemiker und Iatrophysiker analysiert die Phänomene des menschlichen Organismus, die ausschließlich chemisch-physika- lisch, oder davon abgeleitet, erfaßt werden können.80 Nicht zuletzt diese Ausschlußhypothese läßt Alexander von Humboldt formulieren: „In dem Maße als die philosophischen Systeme in den Hintergrund gedrängt wurden, sind die nüchterne Beobachtung und der gesunde Menschenverstand in ihr Recht getreten.“81 Virchow fügt denn auch noch die quasi gesellschaftlich-staatliche Nützlichkeit hinzu: Es bedarf keiner besonderen Beweisführung mehr, daß diese Art der Wis- senschaft eine nützliche sei. Jedermann im Volke sieht es, welchen Nutzen Staat und Gesellschaft von den neuen Anstalten haben. Das alte Wort Ba- cons von Verulam ist eine Wahrheit geworden: Scientia est potentia.82 Claude Bernard, einer der Mediziner, die eine Heilserwartung an die experimentelle, wissenschaftliche Medizin stellten, beschwor die Wende; die Zeit der Theorien würde durch experimentell nachvoll- ziehbare Hypothesen ersetzt werden: „Sie[die Medizin-T.B.] wirft nicht nur das Joch der Philosophie und der Theologie ab, sie duldet auch nicht die persönliche Autorität in der Wissenschaft.“83 Das Primat der wissenschaftlichen Methode war eingesetzt. 78 Zitiert nach Schipperges (1984), S.25. 79 Vgl. Schiera (1992), S.81-83. 80 Vgl. Zeller (1977), S.515. 81 Zit. n. Schipperges (1984), S.50. 82 Ebd. S.50. 83 Ebd. S.51.
  • 37. 37 Virchow befördert die Medizin zur Zentralwissenschaft vom Men- schen; Obwohl dem Wortlaut nach nur Heilkunst, hat sich die wissenschaftliche Medizin immer die Aufgabe gestellt und stellen müssen, die einzige Lehre vom Menschen zu enthalten.(1849)84 Schipperges formuliert drei Punkte dieser Idee von der Zentralwis- senschaft: a) die naturwissenschaftliche Methode, die empirisch die Gesetze der Mechanik anwendet b) die Analogiebildung hinsichtlich einer Idee vom sozialen „Zellen- staat“, die Naturwissenschaft wurde zur Sozialwissenschaft c) ein Sendungsbewußtsein, das den Arzt zum Hohepriester einer E- volution zum ‘Höheren’ bestimmt, ein kosmopolitischer Aspekt, der in einer naturwissenschaftlichen Anthropologie mündet.85 „Ihre letzte Aufgabe als solche ist die Konstituierung der Gesell- schaft auf physiologischer Grundlage.(1849)“86 Fazit Virchows: Für alles und jedes hat daher die Medizin ein Wort mitzusprechen. (...) Niemals mehr wird man vergessen dürfen, daß es die Medizin ist, die alle Kenntnisse von den Gesetzen hat, welche den Körper und den Geist zu be- stimmen vermögen.87 Den Nachweis aus der Praxis erbringt Salomon Neuhauser wenig später, der nach den Erkenntnissen einer medizinischen Studie einer Stadt das Postulat aufstellt: „Die medizinische Wissenschaft ist eine soziale Wissenschaft.“88 Das Recht auf Gesundheit wird ausgerufen, Sachwalter dieser Interessen kann nur die wissenschaftliche Medizin sein, die Gesundheit tritt endgültig aus der privaten Sphäre des Halb- schattens ans Licht der staatlichen Öffentlichkeit; Die Konditional- 84 Ebd. S.52. 85 Vgl. Schipperges (1984), S.53. 86 Virchow, zit. n. Schipperges (1984), S.53. 87 Ebd. S.55. 88 Ebd. S.55.
  • 38. 38 hygiene verkörperte Wirkung und Instrument öffentlich propagierter Gesundheit. Daß die meisten Krankheiten nicht auf natürlichen, sondern auf ge- sellschaftlichen Verhältnissen beruhen, tritt nun immer mehr in das Bewußtsein der Wissenschaftsgeschichte. Der Arzt sollte künftig soziale und politische Entscheidungen tref- fen, die exakte naturwissenschaftliche Methode sollte den menschli- chen Fortschritt garantieren. Die Wissenschaft ist zur Religion ge- worden; Ausschlaggebend für den Fortschritt wird die Erhebung der Medizin zur Naturwissenschaft im höchsten Sinne des Wortes, als Wissenschaft vom Menschen, als Anthropologie im weitesten Sinne sein.89 Der bestimmende Platz der Medizin in der Gesamtarchitektur der Humanwissenschaften beruht auf ihrer Nähe zu einer anthropologi- schen Tiefenstruktur; die Gesundheit, die naturwissenschaftlich in- struierte Gesundheit wird zum Religionssubstitut: Denn die Medizin hält dem modernen Menschen das hartnäckige und be- ruhigende Gesicht seiner Endlichkeit vor; in ihr wird der Tod ständig be- schworen: erlitten und zugleich gebannt; wenn sie dem Menschen ohne Unterlaß das Ende ankündigt, das er in sich trägt, so spricht sie ihm auch von jener technischen Welt, welche die bewaffnete, positive und volle Form seiner Endlichkeit ist.90 Die Gewährleistung der Lösung der „sozialen Frage“, als ein we- sentliches Demonstrationsfeld ärztlicher Kompetenz, geht von einer Profession aus, die kollektiv assoziiert ist; allein eine einheitliche Standesgruppe vermag diese Sozialreform durchzusetzen; gegenüber dem Volk, den Laien muß ein Monopolstatus garantiert werden, da die Zielsetzung sonst unerreichbar bleibt.91 Die Pädagogisierung der Gesellschaft, d.h. die liberale Durchge- staltung nach den Prinzipien von Gleichheit und Fortschrittsfähigkeit, Grundsätze und Methoden der Naturwissenschaft, fällt ebenso in den 89 Virchow, zit. n. Schipperges (1984), S.58. 90 Foucault (1988), S.208. 91 Vgl. Göckenjan (1985), 280-282
  • 39. 39 Aufgabenbereich der Medizin, da sie Trägerin der neuen naturwissen- schaftlichen Fundierung des Lebens, wie Neugestaltung der Politik nach naturwissenschaftlichen Prämissen ist. Schritte einer Medi- kalisierung der Gesellschaft. Und die Ärzte liefern zu allem neutralistisch das nötige Know-how, das Personal und die effektivste Organisationsform! Die Phantasmagorie ärztli- cher Professionspolitik, Probleme nur als technisches Optimierungskalkül anerkennen zu wollen.92 Die Medizin als technische Integrationswissenschaft durch staatli- che Autorisierung eines homogenen Expertenstandes mit dem Recht auf Selbstregulation - das ist die liberale Programmatik der ärztlichen Profession. Abschließend läßt Göckenjan durchblicken, daß die Medikalisierung der Gesellschaft vielmehr an staatliche Regelungsinteressen gebunden bleibt als an die autonomen Ambitionen einer Berufsgruppe.93Schiera bestätigt in seiner Studie das Integrationspotential wissenschaftlich instruierter Normen, v.a. dann, wenn die politische Einflußnahme in einer bürgerlichen Gesellschaft wenig effektiv bleibt - Wissenschaft als Sublimierung kollektiver Identität.94 92 Ebd. S.285. 93 Vgl. ebd. S.286. 94 Vgl. Schiera (1992).
  • 40. 40 3.2 Bedingungen einer Sozialdisziplinierung und Pro- fessionalisierung95 3.2.1 Medizinischer Diskurs und Normvermittlung Der historische Prozeß, in dem medizinisches Wissen soziale Autorität ge- winnt, der politische, ethische, juristische und literarische Diskurse quasi unterworfen sind, tritt in seine entscheidende Phase mit dem 18. Jahrhun- dert. Die normative Kraft dieser Begriffsbildung umfaßt alle Entschei- dungen, die den Wert menschlichen Lebens im weitesten Sinn umfassen, sie dient der Dramatisierung, da sie vorgibt, existentielle Fragen zum The- ma zu haben.96 Alfons Labisch ortet in der Erfassung des Gesundheitsbegriffs eine prinzipiell normative Kraft und zwar gewissermaßen anthropologisch, wenn er normal und funktionierend97 gleichsetzt.98 Mit der multifak- toriellen Ätiologie pathologischer Phänomene erfolgt eine »ganzheit- liche« Ausweitung des medizinischen Blicks, d.h. eine weitere Ver- strickung in normative Diskurse; medizinisches Wissen wird multi- funktional verwertbar und ideologiepolitisch verwendbar.99 Anz benennt besonders den Zusammenhang der Geschichte der Vor- stellungen von Krankheit und Gesundheit und der allgemeinen Nor- men- und Wertediskussion. Er verweist auf die Verwendung „medizi- 95 Der Begriff der Professionalisierung leitet sich vom englischen Sprachge- brauch ab; die Priesterschaft, die Juristen und die Mediziner werden tradi- tionell als 'professions' bezeichnet. Der deutsche Sprachgebrauch identifi- ziert damit nicht die Abgrenzung einer Reihe von Gruppen von anderen Gruppen und deren unterschiedliche historische Entwicklung, sondern die Dichotomie: Profi versus Amateur, laienhaft versus berufsmäßig, speziali- siert. Das deutsche Äquivalent für 'profession' wäre 'Stand' bzw. 'Standes- beruf'. Als wesentliches Standesmerkmal gilt die Autonomie. Unschuld führt daher als Alternative den Begriff „Verselbständigung“ ein. Vgl. Un- schuld (1978), S.518 und 520-521. 96 Anz (1989), S.XI. 97 Funktion ist eine moderner Tautologie zu Gesundheit, aber auch ältere Ge- sundheitsvorstellungen rekurrieren auf eine Normalität, eine Ordnung. 98 Vgl. Labisch (1992), S.14-17. 99 Vgl. Anz (1989), S.XIII.
  • 41. 41 nische[r] Argumente zur Durchsetzung ethischer und ästhetischer Normen.“100 Die Allianz medizinischer und moralischer Diskurse hat für die nor- mativen Konstruktionen moderner, säkularisierter Gesellschaften eine erhöhte Anziehungskraft. Denn als normsetzende Sanktionsinstanz muß hierbei kein metaphysisches Wesen mehr angenommen werden und auch keine soziale Autorität, deren Legitimität sich bezweifeln läßt. Die menschliche Natur selbst ist es, die physische und die psychische, an der man sich nicht straflos versündigen darf. Die Rache der Natur, gegen den Frevel abweichenden Verhaltens, realisiert als Krankheit, ist nichts anderes als die säkularisierte Ver- sion der von einer Gottheit gesandten Mahnungen und Bestrafungen. Gesundheit gilt als positive Sanktion, die normentsprechendes Ver- halten honoriert und bestärkt. Interpretationen von Gesundheit ver- weisen auf vorweggenomme Ordnungen.101 Mit diesen Belegen verknüpft Anz eine soziologische Kommunika- tionstheorie, d.h. die Beziehung Mensch-Natur funktioniere gleich einem Prozeß sozialer Interaktion, welcher wiederum auf der Idee der erwarteten Erwartung102 aufbaut, das nun heißt: Normen werden legitimiert unter Berufung auf die »Gesetze« der Natur, während sie vielmehr abgeleitet sind von den kulturspezifi- schen Vorstellungen, die man sich über diese »Gesetze« macht. Anz weist denn darauf hin, das diese enge Verknüpfung medizini- scher und moralischer Diskurse besonders das ausgehende 18.Jahrhundert betraf.103 In den 30er Jahren des 19.Jahrhunderts trat eine Veränderung des ärztlichen Blicks ein, die moralistische Interpretation psychischer 100 Ebd. S.XIII. 101 Vgl. Labisch (1992), S.12. 102 In sozialen Interaktionsprozessen orientiert sich der Normadressat nicht an den tatsächlichen Erwartungen, sondern an der Vorstellung, die er von die- sen Erwartungen hat. Vgl. Anz (1989) S.5. 103 Vgl. ebd. S.6-7.
  • 42. 42 Krankheiten stieß zunehmend auf Ablehnung, wobei die normvermit- telnde Argumentation und Strategie des Diskurses, wenn auch mit anderen Inhalten, erhalten blieb. Die psychischen Erkrankungen er- schienen nun als Begleiterscheinungen organischer Pathologien, d.h. der moralistische Impetus verlor an Legitimität; die Vertreter dieser Richtung waren Somatiker benannt. Damit wurde auch die moralische Selbstverantwortlichkeit für das Leiden in Frage gestellt. Diese heute fragwürdige Position stellt in den 30er Jahren des vori- gen Jahrhunderts allerdings eine Gegenposition zum politisch restau- rativen Moralismus der „Psychiker“ dar. Bereits in den 40er Jahren hatte sich die Position der „Somatiker“ durchgesetzt. Ein Lehrbuch der Psychiatrie behauptet so, daß zwischen Geistes- krankheit und moralischem Lebenswandel keinerlei Zusammenhang besteht, wenngleich psychische Entstehungsursachen geltend gemacht werden können; hier wird also bereits eine Trennung von Psyche und Moral vorgenommen und damit die radikale Abtrennung der Somati- ker, die exklusiv organisch ausgerichtet waren, d.h. psycho- und sozi- ogenetische Ursachen aus den Augen verloren, überwunden. Der ganzheitliche, moralisierende Blick der Psychiker und die Befreiung des Blicks von dem Aspekt der Sittlichkeit war eng verbunden mit der semantischen Entkopplung der Begriffe „Moral“ und „Psyche“.104 Dem psychopathologischen Blick war der moralisch-sittliche inhä- rent. Die Exkulpierung der psychisch Kranken, der Verzicht auf einen moralistisch-pejorativen Krankheitsbegriff war noch nicht vollzogen. Anz charakterisiert die Entwicklung des medizinischen Diskurses von 1800 bis etwa 1850 als naturwissenschaftlichen Positivismus; damit einher geht eine Monopolisierungstendenz, die dem Mediziner das alleinige Verfügungsrecht über den Bereich Krankheit zuspricht. Dem naturwissenschaftlichen ärztlichen Blick allein obliegt die Kom- petenz, „alle nicht-ärztlichen, namentlich alle poetischen und mora- 104 Vgl. ebd. S.7-9.
  • 43. 43 listischen Auffassungen des Irreseins sind für dessen Erkenntnis nur vom allergeringsten Werthe.“105 Die Grenzen zwischen dem medizinisch-naturwissenschaftlichen und dem literarischen Diskurs über Krankheit verlaufen dort, wo mo- ralgenetische und psychogenetische Erklärungsmuster für Krank- heiten übereinstimmen, dort wo eine positivistische Medizinwissen- schaft Exklusivität hinsichtlich der Beschäftigung mit Krankheit be- ansprucht. Je weiter sich der Horizont medizinischer Pathologie und Therapie zum ganzheitlichen Verständnis von Krankheiten hin öffnet, desto durchlässiger wird er für (möglicherweise mißbräuchliche) Normset- zungen, die die gesamte Lebenspraxis betreffen. Interessant erscheint Anzens These bezüglich des Begriffspaares „krank und gesund“, das voller moralischer Implikationen steckt, die noch dazu größtenteils vorbewußt bleiben; er meint, daß es dabei um höchste Werte säkularisierter Kulturen geht, um die Existenz schlechthin; deswegen bestimmen die kulturellen Vorstellungen über Genese, Symptomatik und Therapie von Krankheiten soziale und in- dividuelle Verhaltensweisen und Verhältnisse - Glück und Heil der Nation stehen auf dem Spiel. Die Logik normvermittelnder Argumentation: Einhalten der Norm = gesund Nichteinhalten der Norm = pathogen. Das Recht auf Wohlbefinden, Gesundheit war schon erklärtes Ziel der aufgeklärten Moralisten, die den Kranken schuldig sprachen, normwidriges Verhalten an den Tag zu legen, ihm also die alleinige Schuld an seiner Krankheit zuwiesen. Die „postaufgeklärte Medizin“ hingegen trachtet, den Kranken zu exkulpieren und die sozialen und kulturellen Normen als pathogene Faktoren zu beschreiben.106 105 Arzt Griesinger, zit. nach Anz (1989), S.12 106 Vgl. ebd. S.15-18.
  • 44. 44 Also eine Art Kollektivierung, nicht mehr das Individuum, sondern das Normenkollektiv wird haftbar gemacht. Veränderungen dieser Werte erscheinen als notwendige Konsequenz. Eine Veränderung, ein Perspektivenwechsel erfolgt ab Mitte des 19.Jahrhunderts in dem Maße, indem die Medizinwissenschaft mit- hilfe epidemiologischer Forschung eine Korrelation zwischen der Zu- gehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen und der Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten feststellt;107 in dem Maße überkommen sich die tradierten bürgerlichen Wertvorstellungen, sie sind nicht mehr Ga- ranten für Gesundheit und Wohlbefinden, sondern im schlimmsten Fall pathogen und letal. Was der Natur zuwiderläuft, wird krank und wirkt pathogen. Die Natur als Leerformel, die zu jeder Zeit mit ande- ren Inhalten angefüllt werden kann; die Natur als auratische Autorität, die metaphysische Spekulationen oder Gewißheiten ersetzt.108 Neben dem medizinischen Diskurs, namentlich der Ätiologie, der Tabus und Vermeidungsregeln bei Strafandrohung produziert, eröff- net ein weiterer medizinischer Diskurs ein weites Feld mit normativen Implikationen: die Therapeutik, Diätetik und Hygiene. Also Bereiche, die der Lebenserhaltung, der Förderung oder der Erhaltung der Ge- sundheit dienen, die aktiv (oder aggressiv) in die Lebenspraxis ein- greifen. Mit der im 18.Jahrhundert expandierenden Diätetik und Hygiene ge- rät auch der Alltag des Gesunden (als einem immerhin potentiellen Patienten) in verstärktem Maße in den Einflußbereich medizinischen Wissens. Die von therapeutischen, diätetischen und hygienischen Vorstellun- gen gestützte Logik norm- und wertvermittelnder Diskurse legitimiert bestimmte, hochgewertete Verhaltens- und Lebensformen.109 Einhalten gewährleistet Gesundheit, Zuwiderhandeln hat Krankheit zur Folge - die Natur gilt wieder als Sanktionsinstanz. 107 Vgl. Friedrich/Titze (1994), S.20-30. 108 Vgl. Lepenies (1992), Kapitel über Wissenschaft und Angst. 109 Vgl. Anz. S.24-25.
  • 45. 45 Die Sprache, in der die Natur ihre Vorschriften kundtut, bedarf frei- lich, wie die Gottes, professioneller Vermittler, die sie zu entziffern und zu übersetzen verstehen. Der Arzt avanciert zum Priester, der tendenziell Monopolansprüche anmeldet, da er quasi Sprecher der höchsten Autorität, wie des höchs- ten bürgerlichen Wertes ist. Mit der Aufklärung wird Gesundheit zum sozialen Distinktionsmit- tel, ein quasi bürgerliches Atout im Kampf gegen den an Macht und Einfluß verlierenden Adel. Die Gesundheit wird zum Ausweis der Überlegenheit bourgeoiser Normen. Die Tatsache, daß Gesundheit in der bürgerlichen Kultur zu einem absolut positivem Wert heranwächst, Krankheit hingegen zum abso- luten ‘Unwert’ degradiert wird, erklärt das ausgeprägte Interesse an der Definition beider Begriffe, ein Interesse, das naturgemäß über ei- nen fachspezifischen Diskurs hinausgeht, da es weithin als norm- legitimierendes Argument im rhetorischen Rahmen eingesetzt wird. Die Ausschließungprozedur, als normative Präskription, d.h. das Benennen bestimmter Verhaltensweisen als »krank«, agiert als nega- tive Sanktion im Mantel wertfreier Deskription. Der soziale Druck, der mit der Etikettierung »krank« einhergeht, ist ein weit höherer als der, der mit den Begriffen »häßlich« oder »böse« verknüpft ist. In dieser Version normativer Diskursstrategie wird nicht mit Krank- heit als Vergeltung normwidrigen Verhaltensweisen gedroht, sondern die Stigmatisierung der Normwidrigkeit als »krank« ist bereits die Sanktion. Krank zu sein, kann vor Sanktionen im strafrechtlichen Diskurs be- wahren, kann ein Mittel der Arbeitsverweigerung bzw. der Ver- weigerung als solcher sein, dabei gesellschaftlich akzeptiert, es ent- bindet ebenso von mancherlei sozialen Verpflichtungen; andererseits mindert ein Krankheitszustand die vollwertige Mitgliedschaft in der Gesellschaft; die Verpflichtung gesund zu werden und fachkundige Hilfe zu konsultieren ist obligatorisch. Das Stigma »krank« droht im normkonstituierenden Diskurs mit so- zial negativen Sanktionen, es erinnert an Sanktionen, die mit Angst
  • 46. 46 besetzt sind; »krank« zu sein bedeutet aus dem „vernünftigen“ Dis- kurs exkommuniziert zu werden.110 In diesem Kontext geriert sich die Medizin als mediko-juristischer Komplex; die Familie, die Schule, die Fabrik, das Militär, die Politik, das Gericht werden zum Betätigungsfeld einer umfassenden Medizin, sie funktioniert als Mechanismus der sozialen Kontrolle. Das 19.Jahrhundert fußt im Angelpunkt des Übergangs vom theologischen zum therapeutischen Staat; vom Polizeystaat - wobei „Polizey“ nicht als Zwangsfunktion, sondern als umfassender Begriff von Führung, Regierung und Unterwiseung zu verstehen ist - zum Rechtsstaat. Soziale Kontrolle gibt sich als Therapie bzw. öffentliche Fürsorge zu erkennen. Der Medizin kommt die Aufgabe zu, die Verwirklichung einer Normalisierungsgesellschaft zu gewährleisten. Die Medikalisierung der Gesellschaft gibt sich als Profilierungsfeld v.a. der Ärzteschaft zu erkennen. Die Perspektive der Gegenwart, das Unbehagen an einer medizini- schen Totalvereinnahmung des menschlichen Körpers bietet den An- laß, richtungsweisende Impulse in der Vergangenheit einer Profession aufzuspüren, die nahezu monopolistischen Zugriff auf den intimen, persönlichen Körper hat. 3.2.2 Der Begriff des Monopols und der Macht: Die Verwendung des Monopolbegriffs konstituiert sich in unserem Zusammenhang mehrheitlich aus den Studien Norbert Elias’. Der Mechanismus der Monopolbildung: In einer gesellschaftlichen Entität kämpfen kleinere Einheiten, die durch die größeren interde- pendent korrespondieren, und nicht durch schon vorhandene Mono- pole behindert werden am jeweiligen Markt um Subsistenz- und Pro- duktionsmittel. Elias geht von der Wahrscheinlichkeit aus, daß in- folge immer weniger über immer mehr Chancen verfügen, d.h. daß immer mehr in Abhängigkeit von einer kleineren Menge oder Gruppe geraten.111 Dieser Effekt der Verschiebung der Stärkeverhältnisse 110 Vgl. ebd. S.28-30. 111 Vgl. Elias (1989), Bd. 2, S.144.
  • 47. 47 gibt sich sehr vereinfacht, er umgeht mögliche Variationen, intendiert ist lediglich die Präsentation der Oberflächenstruktur eines Prozesses. Elias’ Pointe ist nun die Tatsache, daß in jeder höher differenzierten Gesellschaft die Verteilung der Abhängigkeit umschlägt; je um- fassender im Rahmen des Monopolmechanismus die Anzahl der Ab- hängigen gewachsen ist, desto größer wird die gesellschaftliche Stär- ke der Abhängigen als Ganzes. Die Monopolisten benötigen zur Ab- sicherung, Erhaltung und Bewirtschaftung ihres Monopols immer mehr Abhängige. Es entwickelt sich ein Herrschaftsfeld mit spezifi- scher gesetzlicher Dynamik: je differenzierter und umfassender dieses Monopolareal ist, desto komplexer die Abhängigkeiten; der oder die Monopolherren [werden-T.B.] zu Zentralfunktionären eines funktionsteiligen Apparats, mächtiger vielleicht als andere Funktionäre, aber kaum weniger abhängig und gebunden als sie.112 Die akkumulierten Chancen tendieren dazu den Händen der Mono- polherren zu entgleiten, in die Hände von Abhängigen zu fallen. Das Monopol vergesellschaftet sich, es wird zum öffentlichen, zum Staats- monopol. Das immer reicher funktionsteilige Menschengeschlecht als ein Ganzes hat ein Eigengesetz, das sich jeder privaten Monopolisierung von Chancen immer stärker entgegenstemmt. Die Tendenz der Monopole, etwa des Ge- walt- und Steuermonopols, aus „privaten“ zu „öffentlichen“ oder „staatli- chen“ Monopolen zu werden, ist nichts anderes als eine Funktion der ge- sellschaftlichen Interdependenz.113 Das System strebt einem Gleichgewicht zu, indem die Akkumula- tion der Chancen in den Händen einiger weniger verunmöglicht wird; eine Art Entropie - die gleichmäßige Verteilung von funktionalisierter Abhängigkeit und Macht. Man muß sich also von der Vorstellung befreien, daß Macht etwas ist, was man besitzt oder das eine Gruppe besitzt, also beispielsweise die Monopolqualität der Medizin. Foucault akzeptiert den politischen 112 Ebd. S.148. Diese Anschauung greift später Foucault auf, er spricht von der lediglich strategisch günstigeren Position in einem Spannungsfeld von Dependenzen. 113 Ebd. S.152.
  • 48. 48 Wert der Formel: „Sie haben die Macht.“ Analytisch besehen ist die Macht eine Funktion ihrer Wirkung, die bis in kleinste Elemente des Sozialen vordringt. Sie kommt zur Wirkung oder nicht, das heißt, die Macht ist immer eine be- stimmte Form augenblickhafter und beständig wiederholter Zusammenstö- ße innerhalb einer bestimmten Anzahl von Individuen.114 Die Macht entspricht nicht der Polarisierung von Passivität versus Aktivität. Zwar räumt Foucault ein, daß eine privilegierte Gruppe in der Gesellschaft existiert, die strategisch eine Polarisierung vor- täuscht, allein die Wirkung von Macht geht von kleinen Partikeln aus. Sie wirkt niemals von einem Zentrum aus. „Die Macht ist niemals monolithisch.“115 Foucaults Machtbegriff grenzt sich gegen die Idee der Regierungsmacht, gegen die Idee einer Suppression der einen zu- gunsten der anderen ab; er begreift die Macht schließlich nicht als ge- regelte Form der Gewalt. Die Souveränität eines Staates, der juridi- sche Diskurs der Gesetze sind allenfalls Endprodukte: staatliche Insti- tutionen, Gesetzgebung strategische gesellschaftliche Hegemonien sind Kristallisationen eines Machtbegriffs, der sich als Feld vielfälti- ger Kräfterelationen versteht - ein Areal in dem heterogene Vektoren (die Impulse der Kräfte) ein Spiel wechselseitiger Abhängigkeit, Be- dingtheit, Isolation und Aporien inszenieren. Die Effekte der Macht dringen in die periphersten Winkel vor, nicht trotz der Tatsache dieses instabilen Kraftfeldes, das infolge seiner Ungleichheit permanent transitorische Machtzustände hervorbringt, sondern gerade weil die Abkehr von der Vorstellung eines Machtzentrums, einer Sonne der Souveränität den Blick freimacht für die dissoziierte Macht, die nicht unter dem Aspekt der zentralen Einheit, sondern unter dem Aspekt der dezentralen, augenblicklichen Konstitution wirkt. Nicht weil sie alles umfaßt, sondern weil sie von überall kommt, ist die Macht überall. [...] Die Macht ist der Name, den man komplexen strategi- schen Situationen in einer Gesellschaft gibt.116 114 Foucault (1976), S.114. 115 Ebd. S.115. 116 Foucault (1983), S.114.
  • 49. 49 Die Macht als Chiffre bzw. Wirkung und Effekt von Kräfterelatio- nen ist auf unzählige Punkte verteilt. Foucault schreibt ihr eine posi- tive, d.h. kreative Funktion zu. Eine Machtbeziehung repräsentiert also keinen Überbau der lediglich regulierend (affirmierend oder zen- surierend) eingreift, nein, die Macht wirkt unmittelbar gebärend; sie ist etwa ökonomischen Prozessen oder sexuellen Beziehungen nicht äußerlich, sondern immanent. Element der Machtbeziehungen sind Intentionalität und Nicht-Sub- jektivität. Die Macht impliziert ein Kalkül, Zielsetzungen, eine Ra- tionalität, allerdings abseits einer Bindung zu einem historischen bzw. juristischen und natürlichen Subjekt. Die Rationalität der Macht ist eine Rationalität der Taktiken. Den Kräfteverhältnissen ist eine Stra- tegie immanent, deren Kenntnis bzw. Dekodierung erst ein Ver- ständnis ermöglicht. Das Feld der heterogenen Vektoren ist kein fremdbestimmtes. Es geht also darum, sich einer Machtkonzeption zuzuwenden, die das Privileg des Gesetzes durch den Gesichtspunkt der Zielsetzung ablöst, das Privileg des Verbots durch den Gesichtspunkt der taktischen Effizienz, das Privileg der Souveränität durch die Analyse eines vielfältigen und bewegli- chen Feldes von Kräfteverhältnissen, in denen sich globale aber niemals völlig stabile Herrschaftswirkungen durchsetzen. Das strategische Modell soll also das Modell des Rechts ablösen. Und das nicht aufgrund einer spe- kulativen Wahl oder einer theoretischen Vorliebe, sondern weil es einer der grundlegendsten Züge der abendländischen Gesellschaften ist, daß die Kräfteverhältnisse, die lange Zeit im Krieg, in allen Formen des Krieges, ihren Hauptausdruck gefunden haben, sich nach und nach in der Ordnung der politischen Macht eingerichtet haben.117 Die Amalgamierung von Staat und Medizin als teleologische Hypo- these eines Prozesses repräsentiert die Vorstellung, daß jeder Punkt der Machtausübung ein Ort der Wissensbildung ist, bzw. daß eta- bliertes, diskretes Wissen die Ausübung von Macht garantiert. Das heißt, daß jeder Agent der Macht denen, die ihm die Macht übertragen haben, ein bestimmtes und der von ihm ausgeübten Macht entsprechendes Wissen wird zurückerstatten müssen.118 117 Ebd. S.124. 118 Foucault (1976), S.119.
  • 50. 50 In diesem Wirkungsfeld versucht sich einerseits die Medizin zu e- tablieren, andererseits engagiert der Staat seine Agenten als Wis- sensproduzenten. Dieses Wissen ist seinerseits nun Machtmittel im Sinne seiner Kontroll- und Sanktionspotenz. Die exzessive Verbannung der Autonomie im subjektiven Thera- pieverhalten durch den naturwissenschaftlich ausgebildeten, profes- sionellen Mediziner wird im späten 20. Jahrhundert zur existentiellen Bedrohung; zur Bedrohung nicht nur des Einzelnen, sondern auch zu der aggregierter Körpermassen, zum nationalökonomischen und frie- denspolitischen Menetekel. Das nicht mehr finanzierbare Gesund- heitssystem, eine Stagnation bei Diagnose u.v.a. bei Therapieinno- vationen nagen an den Wurzeln eines Gesellschaftssystems, welches auch mittels des öffentlichen Gesundheitsdiskurses seine gegenwär- tige Struktur etablierte. Der existentielle Fortbestand der okzidentalen Kultur wird von einem Paradigmawechsel abhängig gemacht; eine ungestüme Kulturkritik heftet die Befreiung des Subjekts aus dem Joch der naturwissenschaftlich ausgerichteten Schulmedizin auf ihre Fahnen. 3.2.3 Sozialdisziplinierung: Zweck dieses kurzen Exkurses ist die Eingrenzung des Begriffs, wie er in unserem Kontext verstanden wird, es handelt sich nicht um eine Darstellung der Forschungssituation. Der Begriff der Sozialdisziplinierung ist als der Aggregatzustand zu verstehen, der der Disziplinargesellschaft vorangeht. Der Diskurs der öffentlichen Gesundheit äußert sich als elementares Konstituens im Kondensationsprozeß einer Gesellschaft, die durch Implementierung eines neuartigen Diskurses eine Veränderung der Machtgefüge indi- ziert, die letztlich durch Internalisierung eines zunächst äußeren Zwanges, dem Zwang zum Selbstzwang, den Weg in Richtung einer differenzierten Disziplinargesellschaft einschlägt. Zum Selbstzwang tritt die Langsicht. Augenblickliche Affekte werden Zwecken unter- geordnet, die weit in der Ferne liegen können. Relevant bleibt die Tatsache, daß dieser Vorgang nicht von einem oder wenigen Zentren aus gelenkt wird; der Impuls geht von dezentralen, singulären Teilen manchmal gleichzeitig, öfter versetzt aus. In einem Funktionskonti-
  • 51. 51 nuum äußern sich Machtansprüche als Wirkungen, die nicht erzwun- gen werden, sondern sich als Korrelationsfunktion zu erkennen ge- ben. Norbert Elias nennt das den „Prozeß der Zivilisation“; die Im- pulse sind nicht von rationalem Kalkül emittiert, nichts Geplantes. „Hier hat man es mit Erscheinungen, mit Zwängen und Gesetzmä- ßigkeiten eigener Art zu tun,“119 die weder rationaler noch irrationa- ler Natur sind. Movens dieses Zivilisationsprozesses ist die fortlau- fende Differenzierung der gesellschaftlichen Funktionen infolge eines starken Konkurrenzdruckes. Um eine funktionsteilige Gesellschaft aufrecht zu erhalten, bzw. die Existenz in ihr, bedarf es einer komplexen Regulierung der sozialen Beziehungen der einzelnen Mitglieder; Elias, der dabei keineswegs an einen bewußten Vorgang denkt, forciert die Vorstellung einer un- bewußten Veränderung des psychischen Apparats, eine Art ange- züchteten Automatismus’, „als Selbstzwang, dessen er [der Einzelne- T.B.] sich nicht erwehren kann, selbst wenn er es in seinem Bewußt- sein will.“120 Elias komplettiert dieses Konzept mit der These von der „Triade der Grundkontrollen“, eine Gesellschaft verknüpft dynamisch Kontrollen über außermenschliche Ereignisse mit solchen über inner- gesellschaftliche Zusammenhänge und solchen über individuelle Affekte.121 Der Vorgang der Sozialdisziplinierung ist nicht als gerichtete Inter- vention zu verstehen, wenngleich einige Wenige strategisch einen privilegierten Platz einnehmen.122 Die Sozialdisziplinierung ist Ef- fekt und Movens eines diskursiven Gefüges, es handelt sich um Verfahren, die nicht mehr mit der Ausnahme, sondern der permanenten Kontrolle operieren, die nicht die punktuelle Abschreckung, sondern die dauernde Reglementierung in den Vordergrund stellen123 119 Elias (1989), S.476. 120 Ebd. S.317. 121 Elias (1970), Was ist Soziologie? Zitiert nach Labisch (1992), S.31. 122 Foucault (1976), S.115. 123 Breuer (1986), S.56.
  • 52. 52 Das Feld der öffentlichen Gesundheitspflege ist ein weiteres In- strument der Verfeinerung der Disziplin; die Ärzteschaft profitiert von dieser Entwicklung, sie beschleunigt sie aus professionspoliti- schen Interessen, der Staat seinerseits als operationalisierte Dachorga- nisation der Gesellschaft nützt die dadurch geschaffen Möglichkeiten einer legitimierten Inventarisierung seiner Mitglieder. Nochmals wie- derholt sei die Position Foucaults, der sich gegen die Vorstellung ei- nes institutionalisierten Machtzentrums stellt. Nach Foucault hat die Disziplinierung nicht nur den Effekt, die Individuen gefügiger und berechenbarer zu machen. Sie macht sie zugleich effizienter, leistungsfähiger und - individueller.124 Die Ärzteschaft und der Staat wären lediglich die strategisch privi- legierten Institutionen dieses Zivilisationsprozesses. Die Technisierung und Industrialisierung der Gesellschaft um die Mitte des 19. Jahrhunderts initialisierte eine neuerliche gesellschaft- liche Differenzierung; der Zivilisationsprozeß erforderte eine Verhal- tensanpassung. Die 1831 in Europa einsetzenden Cholera-Epidemien wurden zugleich ein Fanal für die Gefahr, die der Allgemeinheit aus den industriellen Agglome- rationen mit ihren bislang kaum bekannten und ungelösten Versorgungs- problemen erwuchs.125 Ein Vektor, der über die Popularisierung zur Internalisierung ad- äquater Gesten führt. In diesem dezentralen, verzahnten Prozeß tritt nun der Arzt als Stratege auf und konzipiert die naturwissenschaftli- che Medizin bzw. Hygiene als letzte Instanz bürgerlicher Kultur, Me- dizin und Ethik sind lediglich zwei Objektivationen der Naturwis- senschaft.126 Im Rahmen der Durchsetzung dieses Anspruchs wird der Arzt zum Mediator der sozialen Differenzierung. In dem Moment, in dem Gesundheit als wissenschaftliche Kategorie akzeptiert wird, wenn wissenschaftlich begründetes Verhalten als sozial erwünscht 124 Ebd. S.60. 125 Labisch (1986), S.272. 126 Vgl. Labisch (1986), S.273.
  • 53. 53 gilt, avanciert der ehemals marginale Arzt127 zum strategischen Nutznießer. Andererseits wird die Medizin im Netzwerk inter- dependenter Abhängigkeiten operationalisiert. Der unbestimmte Vek- tor der Differenzierung erfaßt den Arzt. Über das sekundäre128 Ziel der Gesundheit liefert die Medizin folglich ein in seinem Begründungszusammenhang beliebig austauschbares theoreti- sches Argumentationsinventar, das einen gesellschaftlich gesetzten An- spruch an ein bestimmtes Handeln und Verhalten rationalisiert.129 127 Vgl. Frevert (1984), S.36-44. 128 Sekundär deshalb, weil wissenschaftliche Episteme ihrerseits auf Denk- und Wertsystemen beruhen. 129 Labisch (1986), S.281.
  • 54. 54 4 Medizin und Verwaltung 4.1 Die Medizinalreformen als Agitationsforum Für die Jahre nach 1848 ortet Göckenjan die Stimuli einer Refor- mierung des Gesundheitswesens wesentlich im Rahmen politischer Ambitionen, nicht aber im Feld schlechter oder sich verschlechternder Arbeitsbedingungen der Ärzte. Was lediglich heißen kann, daß eine politische Rhetorik letztlich professionale Interessen transportiert. Der autoritäre, nicht demokratisch legitimierte Lebenskontext mobili- sierte auch die Ärzteschaft, die mehrheitlich liberalen und de- mokratischen Vorstellungen verpflichtet war; sie opponierte herr- schenden gesellschafts- und professionspolitischen Kräften. Politik und Medizin werden von identen Positionen angedacht: individuelle Freiheit und Selbstbestimmungsrecht gelten da wie dort als fort- schrittliche Postulate. Die professionspolitische Forderung nach ei- nem einheitlichen Ärztestand mit autonomer Verwaltung korrespon- diert mit der staatspolitischen Forderung nach Entflechtung einer zentralen, obrigkeitsstaatlichen Administration. Angriffspunkt ist der Kampf gegen nicht durch Verdienst und Fähigkeit erworbene soziale Privilegien.130 In Österreich erlahmt der Impuls der fehlgeschlagenen bürgerlichen Revolution sehr bald, die monarchistisch - konservativen Kräfte behaupten die Initiative. Die Elemente einer Dezentralisierung der Bürokratie, wie die Etablierung der autonomen Kommunal- verwaltung konnten sich nicht durchsetzen. Das Provisorium von 1850 repräsentiert demgemäß den zentralistischen Durchgriff der Staatsspitze in sämtlichen Bereichen, auch der öffentlichen Gesund- heitspflege. Allerdings kommt hier, im Gestus liberaler Standespolitik, bereits eine doppelte Moral zum Tragen. Intention der zukünftigen Regelung des öffentlichen Gesundheitswesens wird eine Privilegierung eines spezifischen Berufstandes sein; eine Monopolisierung mit Ausschluß- recht und Selbstverwaltung. Appellationsinstanz ist der Staat, der ärztliche Pfründe autorisieren soll. 130 Vgl. Göckenjan (1985), S.267.
  • 55. 55 Das sind durchaus Privilegienforderungen gegenüber den konkurrierenden Laienheilern, der professionspolitischen Gesamtinteressen gegenüber ab- weichendem Verhalten von Kollegen, gegenüber staatlichen Aufsichts- und Direktionsinteressen.131 Zwei elementare Markierungen der Medizinalreformbewegung wa- ren einerseits die erwähnte Vereinheitlichung des Standes, anderer- seits wurden die Armen als Profilierungsfeld ärztlichen Interesses entdeckt. Sozialpolitische Ambitionen dienen als Chiffre und Chance zu Durchsetzung professionspolitischer Anliegen. Und Gesundheit wird zum legitimierenden, allgemein gesellschaftlichen Orientierungswert der Sozialpolitik.132 Die Homogenisierung einer Berufsgruppe, Kristallisationspunkt ist der disparate Zustand der Heilberufe innerhalb ärztlicher Hierarchi- sierung, kennzeichnet die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dem Internisten untergeordnet ist der Chirurg und die Geburtskunde, die vorwiegend von Hebammen ausgeübt wird. Die Ideologie der Ein- heitlichkeit eines Standes, in der polemischen Auseinandersetzung mit der Konkurrenz, rekurriert auf die Vorstellung vom kohärenten menschlichen Körper, der als systemisches Organ nicht teilbar ist, sondern immer als Ganzes reagiert. Daher leitet sich die Intention der Kontrolle bzw. der Vertreibung des ‘niederen’, will heißen nicht aka- demischen Heilpersonals ab. Diese Frage nach einer Gruppenidentität war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keineswegs von zentra- ler Relevanz. Stand erscheint synonym für Kunst, als eine Art Ab- straktum einer ideellen Einheit vorerst individueller, subjektiver Inte- ressen. Göckenjan erblickt ein traditionelles Arztbild: der Arzt als Heil- künstler, Staat, Wissenschaft und Berufsstand bleiben nachgeordnete Kategorien. Eventuelle korporative Organisationen dienen v.a. zur Absicherung der Individualität des Arztes gegenüber einer heteroge- nen Klientel. Eine Assoziation ist nicht Regelungsinstanz, sondern hat Patronatsfunktion gegen die Dominanz der Patienten, gegen den Einfluß des Staates. Die Gewerbeposition der Medizin ist das eigent- 131 Ebd. S.268. 132 Ebd. S.269.
  • 56. 56 liche Problem, die Konkurrenzsituation, die finanzielle, existentielle Abhängigkeit des Arztes am Gesundheitsmarkt. Allein diese Vor- griffe auf eine spätere Standespolitik blieben nicht unwidersprochen; die freie Konkurrenz, die Entwicklung der persönlichen Kompetenz, eine hierarchisierte Behandlung entsprechend sozialer Gegebenheiten - arm versus reich - beanspruchen Ungebundenheit, eine staatliche Privilegierung durch korporative Organisationen widerspreche gera- dezu dem ärztlichen Selbstverständnis.133 Göckenjan zitiert ein Beispiel, das die Distanz zu professionspoliti- schen Debatte der späteren Jahre augenfällig macht. Entgegen einer Form ärztlicher Proto-Standespolitik, die weit entfernt von den uni- versalen Ansprüchen einer Standesethik ist, die lediglich eine indivi- duelle, kurative oder präventive Gesundheitssicherung ins Auge faßt, wettert ein Gegner dieser konzeptuellen Proto-Standespolitik: er spricht den Ärzten jede Kompetenzfähigkeit in staatspolitischen An- gelegenheiten ab. Göckenjan resümiert eine nahezu neurotische Ab- wehrhaltung wider jede Art von Regulationsvorstellung. Differenziert äußert sich die ökonomische Stellung des Arztes im Zwiespalt von Absicherung seiner Rolle als Kleingewerbetreibender und der Furcht vor Reduzierung seines Profits durch eine die Absicherung ga- rantierende Instanz.134 4.1.1 Exkurs: traditionale Strukturen im Arzt-Patient-Verhältnis Um die soziale Stellung des Arztes zu begreifen ist ein kurzer Blick auf den aus heutiger Sicht frühen prototypischen, medizinischen Ex- perten notwendig. Noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts war die Autorität des studierten Arztes zweifelhaft. Huerkamp zitiert Äuße- rungen eines Arztes von 1843: lapidar konzediert er der Fülle ‘contradictorischer Heilverfahren’ idente Erfolge: ein Teil der Kran- ken stirbt, ein anderer gesundet.135 Dieses Feld ungesicherter The- rapieerfolge und noch nicht entwickelter Diagnoseverfahren eröffnete allen Teilnehmern des Gesundheitsmarktes in etwa gleiche Chancen 133 Vgl. Göckenjan (1985), S.269-272. 134 Vgl. ebd. S.273. 135 Vgl. Huerkamp (1985), S.24.
  • 57. 57 auf Erfolg. Erfolg bedeutet die Erteilung des Behandlungsrechtes. Der Patient, hier ist ausschließlich die bürgerliche Oberschicht gemeint, entschied in dieser Situation von einander widersprechender und aus- schließender Behandlungsmethoden zumeist auf Basis nicht eruierba- rer Psychologismen. Das Szenario des frühen 19. Jahrhunderts präsentiert sich geradezu als Inversion unserer gegenwärtigen Ordinationszimmermedizin: Ehemals umgab sich der Kranke mit einer illustren Gruppe von Heilern unterschiedlichster Provenienz, spielte sie gegeneinander aus und entschied intuitiv, nicht-rational zugunsten eines Anbieters; heute umgibt sich der Mediziner136 mit einer Vielzahl von Kranken und wählt seinerseits Therapieformen aus, möglicherweise ebenso intuitiv, nicht-rational, bestimmt aber unter ökonomischen Gesichtspunkten. Alles in allem finden wir, pointiert und generalisiert konzipiert, eine Transformation des Entscheidungsmonopols vor, eine 180°-Wendung der strukturellen Asymmetrie zugunsten des Experten. Dem Arzt des 19. Jahrhunderts in dieser Zwangssituation konnte es noch nicht gelingen einen der professionellen Autonomie ähnlichen Zustand auszuspielen, die Fachkompetenz gründete nicht auf exklusiv kollegialer Kontrolle, sondern auf den Willkürakten zahlungskräftiger Bürger. Insgesamt läßt sich daher die typische Arzt-Patient-Beziehung als ein Pat- ronage-System charakterisieren, in dem der einzelne Klient nicht so sehr hilfsbedürftiger Patient als vielmehr Dienstherr und Gönner des Arztes war und der Arzt weniger die Rolle des autonomen Experten als vielmehr die des abhängigen Bediensteten bei seiner vermögenden Klientel spielte.137 4.1.2 Die Medizinalgesetzgebung als obrigkeitliche Intervention und Fürsorge In diesem Kapitel soll versucht werden die juridische Entwicklung der öffentlichen Gesundheitspflege von 1770 bis vor die große Re- 136 Hier: grobe Vereinfachung unter Verzicht auf die Erkenntnis, daß jedes so- ziale Phänomen in ein Netzwerk unterschiedlichster Vorasusetzungen ein- gebunden, also kontextualisiert ist, zugunsten einer simplifizierenden Ver- anschaulichung eines sozialisierten Paradigmawechsels. 137 Huerkamp (1985), S.28.
  • 58. 58 form der Medizinalgesetzgebung von 1870 nachzuzeichnen. Beson- deres Augenmerk kommt dabei der Organisationsform zu, d.h. wie konstituiert sich der obrigkeitsstaatliche Einfluß, die zentrale Kon- trolle. Finden sich Tendenzen, die eine Dissoziation der amtlichen Gewalt spürbar erscheinen lassen. Ausgangspunkt dieser Untersu- chung ist das Sanitäts-Hauptnormativ für alle k.k. Erblande vom 2. Jänner 1770138, Zeuge der Weiterentwicklung ist eine Schrift Joseph Bernts aus dem Jahre 1819139 und eine Joseph Müllers aus dem Jahre 1844140, ein weiterer Versuch der Strukturanpassung erfolgte mittels einer provisorischen Organisation der öffentlichen Medizinalverwal- tung, erlassen per Dekret des Ministerium des Inneren vom 1. Okto- ber 1850141. 4.1.2.1 Elemente einer kameralistischen Gesundheitspolitik Mit dem Normativ von 1770 setzte erstmals ein systematischer Ver- such ein, das Gesundheitswesen der Monarchie für die Wiener Be- hörden überschaubar und damit kontrollier- und sanktionierbar zu gestalten. Zuvor verfügte bereits die Medizinalordnung von Böhmen von 1753 die Konstituierung einer Sanitätshofdeputation in Wien, die zum zentralen Planungsbüro der wichtigsten Sanitätsgesetze der the- resianisch-josephinischen Zeit avancierte; ihr untergeordnet waren die landesfürstlichen Sanitätskommissionen.142 Diese vermeintlichen o- bersten Sanitätsbehörden der Länder relativiert Wimmer, im Ge- gensatz zu Lesky143, in ihrer administrativen, exekutiven Bedeutung; er vermeint in ihnen keine eigenen Behörden zu erkennen, sondern vielmehr beratende Gremien innerhalb der „Repräsentation und Kam- 138 Zitiert nach Macher (1853), Bd.1, S.111-115. 139 Bernt (1819). 140 Müller (1844). 141 Zit. n. RGBl. v. 1.10.1850. 142 Vgl. John (1790-98), 245-300. 143 Lesky, Östereichische Gesundheitswesen im Zeitalter des aufgeklärten Ab- solutismus, Wien 1959.
  • 59. 59 Kammer“144. Indiz ex negativo ist ihm hierfür der Mangel an Kor- respondenzen der Wiener Sanitätshofdeputation mit der Grazer Sani- tätskommission. Wimmer vermutet als Kommunikatoren bzw. Me- dium die „Repräsentation und Kammer“ und das übergeordnete „Di- rectorium in publicis et cameralibus“. Die Autonomie der Sani- tätshofdeputation im Sinne einer zentralen Gesundheitsbehörde bleibt so zweifelhaft. Die Kompetenzverteilung der theresianisch-josephini- schen Gesundheitspflege mutet so diffus und wenig koordiniert an.145 Das Normativ von 1770 bestimmte nun die gleichermaßen stattzu- findende Kooperation der Landessanitätskommissionen, einerseits mit der Länderregierung, andererseits mit der Sanitätshofdeputation. Die Abhängigkeitsstruktur subordinierte die Landeskommission in „gehörige Abhängigkeit von der Landesregierung und Unserer Hauptsanität-Hofdeputazion in Wien“146. Sitz der jeweiligen Kom- missionen, welcher ein oder, bei Bedarf, mehrere Ärzte als Experten angehörten147, ist die jeweilige Landeshauptstadt. Auf der nächst unteren Ebene in der Hierarchie wurden die Kreis- hauptleute oder Militärkommandanten in den Kreisen und Distrikten instrumentalisiert; ihnen oblag das selbe Geschäft wie der sogenannte Hauptkommission inklusive einer demütigen Verpflichtungshaltung, die regelmäßige Berichterstattung bzw. die Erwartung von Verord- nungen einfordert. Die Kreishauptleute waren angehalten unter all- fälliger Beiziehung, d.h. es war kein ständiger Kreisphysiker einge- setzt, eines Kreisphysikers, Wundarztes und einer Magistratsperson eben die Angelegenheiten der übergeordneten Kommission in ihrem Zuständigkeitsbereich durchzuführen.148 144 Repräsentation und Kammer, als quasi Landesbehörde unterstand der ober- sten Behörde für die politische und Finanzverwaltung, dem Directorium in publicis et cameralibus; das regionale bzw. lokale Gegenstück in den Län- dern bildeten die Kreisämter. Effekte der Haugwitz'schen Reform von 1749(?). Vgl. Zöllner (1990), S.314. 145 Vgl. Wimmer (1991), S.40-44. 146 Macher (1853), Bd.1, S.113. 147 Vgl. Schauenstein (1863), S.601. 148 Vgl. Macher (1853), Bd.1, §3, S.113.
  • 60. 60 Eine Hauptanforderung an die Sanitätskommissionen war die Ge- währleistung bzw. Aufrechterhaltung des intakten Gesundheitszu- standes der überantworteten Bevölkerung, insbesondere in bezug auf ansteckende Krankheiten und Seuchen, daher verfügte das Normativ die Subordination resp. Abhängigkeit des gesamten Sanitätspersonals, vom Kreisphysiker abwärts, von der Sanitätskommission, der dazu quasi richterliche Exekutivgewalt zugesprochen wurde. Das Sanitäts- personal wurde der „profanen“ Gerichtsbarkeit, was die Satzungen des Normativs angeht, exterritorialisiert.149 Die Integration oder vielmehr Inkorporation des noch disparaten Heilpersonals als beam- tenähnliches Institut erfährt seine Konkretisierung. Allein, so Wimmer, die praktische Handhabe blieb aus; die Infor- mationen wurden weiterhin wie üblich ausgetauscht. Die vorgestellte Autonomie der Sanitätsbehörde und ihr unmittelbarer Kontakt mit der Verwaltung - Chimären, zumindest was den Informationsfluß Wiens mit dem Grazer Gubernium angeht.150 Die Auflösung der Sanitätshofdeputation, ob wegen obiger Ineffizi- enz bleibt vorerst dahingestellt, erfolgte per Hofdekret vom 4. Jänner 1776151. Ihre Belange, soweit sie die k.k. Erbländer betrafen über- nahm die k.k. Hofkanzlei in Wien, sie bildete nun die Pyramiden- spitze; ab 1817 k.k. vereinigte Hofkanzlei genannt. Parallel fiel in den Ländern die Leitung des Sanitätswesens der Landesstelle zu. Dieses behördliche Institut, die spätere k.k. vereinigte Hofkanzlei, stellt die Folie des Sanitätswesens dar, die uns vorerst als Ausgangsbasis bis ins Jahr 1842 dient. Innerhalb der Hofkanzlei fungierte ein Referent, ein k.k. wirklicher Hofrat152, als Organ für Medizinalangelegenheiten in einem „Materien-Referate“; die anderen Referate waren in der Re- gel an die entsprechende Provinz gegliedert. In den Kompetenzbe- reich des Sanitätsreferats fielen sämtliche Angelegenheiten „der Sani- tätspolizei, alle Stiftungen, Kranken- und Versorgungsanstalten und 149 Vgl. ebd. S.115, 150 Vgl. Wimmer (1991), S.44. 151 Macher (1853), Bd. 1, S.162. 152 Allh. Entschließung vom 22 Juli 1816, vgl. Müller (1844), S.2.
  • 61. 61 die Gebahrung des Sanitätsfondes.“153 Das Referat war in einen In- formationsaustausch mit dem monarchischen Staatsoberhaupt und mit den Hofstellen eingebunden und hatte darüber hinaus Dekrete an die Länderstellen, im Namen des Monarchen, zu erlassen; der Kontakt zwischen Hofkanzlei und den Mittelorganen der Medizinalpflege war hiermit zumindest theoretisch begründet. Wie oben erwähnt, bestanden in den einzelnen Gubernien eigene Sanitätskommissionen in Abhängigkeit sowohl von der Landesstelle, als auch von der Sanitätshofdeputation; die Insuffizienz dieses Insti- tuts, so Müller, führte zur Auflösung desselben. Es wurde verfügt, daß ohne Abhaltung einer eigenen und besonderen Sanitäts-Commission, die Sanitätsgeschäfte, so wie alle anderen, bey jeder Landesstelle in ple- no vorgenommen, ..., die Berichte aber zu Handen dieser Hofkanzley ein- geschickt und eingestellet werden.154 Die Leitung des Sanitätswesens wurde den Länderstellen übertra- gen, denen man Landschafts-Protomediker, betitelt als wirkliche k.k. Sanitätsräte, zur Seite stellte155. Der Medicus sollte aus der Haupt- stadt sein - die Ausbreitung des imperium definierte sich über die De- legierung von sanitären Sonden in die Peripherie. Die Grenzsiche- rung, Kontumaz- und Kordonsstationen war Sache der militärischen Sonden. In der Provinz Niederösterreich fiel die Position des Proto- medikus dem jeweiligen Direktor der medizinischen Fakultät zu.156 Die Aufhebung des „letzterwähnten Verwaltungs-Systems“157; d.h. die systemisierten Sanitäts-Commissionen, die nach dem Normativ von 1770 festgelegt wurden: Wie haben daher vorlängst geordnet, daß in jedem Erblande von der lan- desregierung eine eigene Sanitätskommission angestellet werde, welche 153 Ebd. S.2. 154 Bernt (1819), S.343. 155 Per Entschließung vom 10. April 1773, 156 Vgl. Müller (1844), S.3. 157 Per Zentralorganisierungs-Hofkommissionsdekret v. 20. November und 23. Dezember 1816; Allerh. Entschließung vom 1. Jänner 1819. Vgl. ebd. S.3-4.
  • 62. 62 aus ein so anderen kaiserl. königl. Räthen bestehen solle, davon der erstere den Vorsiz, oder das Präsidium zu führen hat; dieser Kommission ist ein geschickter Arzt für beständig, oder so viele in vorfallenden Ergebenheiten nöthig wären, beizuziehen.158 erfolgte schon 1773 mit einer Hofentschließung vom 10. April (=Nachtrag zum Normativ). Jedes Erblande erhielt einen Land- schaftsprotomedikus, der bei der Landesstelle in Sanitätssachen Sitz und Stimme hatte.159 Die Übernahme der Leitung des Sanitätsdiens- tes durch die Gubernien bestätigen die Äußerungen Uffelmanns. Er deponiert zwar eine mangelhafte, unvollkommen Exekution der Ver- ordnungen, er kommt schließlich dahin, die öffentliche Gesund- heitspflege als im Argen befindlich zu charakterisieren; aber sein Dic- tum lautet: „Diese Organisation [...-T.B.] blieb, wie sie eben beschrie- ben, bis in den Anfang der fünfziger Jahre unseres Jahrhunderts be- stehen.“160 4.1.2.1.1 Der Protomedikus - sanitätspolizeilicher Administrator und Sonde Die oben skizzierte Reorganisierung resultierte in der Übernahme der Sanitätsangelegenheiten durch die Länderstellen. Das Gesund- heitswesen avancierte de facto „zu einem Zweige der Publico- politica“161; bei voller Ratsversammlung behandelt, wie der Landes- stelle ein eigener Sanitätsreferent zugeordnet wurde. Sein Betäti- gungsfeld konstituierte sich im Äußerungsareal einer Instruktion für Protomediker162. Dem Sanitätsreferat der Länderstellen fielen die selben Verantwortlichkeiten zu, wie der k.k. vereinigten Hofkanzlei. Diese werden hier verkürzt dargestellt. Wir unterscheiden fünf Berei- che; 158 John (1790-98), S.389. 159 Ebd., S.540. 160 Uffelmann (1878), S.84; das meint Physici im Lande verstreut und Proto- mediker als Berater bei den Landesstellen. Die Realisierung der Physici- distribution funktionierte nur sehr mangelhaft. 161 Müller (1844), S.4. 162 Allh. Entschließung v. 26. September 1803; HD v. 23. Oktober 1806. Vgl.ebd. S.4.
  • 63. 63 (1)zunächst waren alle, für Mensch und Haussäugetier, gesundheits- widrigen Einflüsse, nebst Vorschlag an die Landesstelle, aus der Welt zu schaffen. (2)legte man das Vorgehen bei Epidemien und Epizootien fest, d.h. die Übernahme der Leitungsfunktion im Eventualfall, die Instrukti- on der Kreisärzte und die Berichterstattung an die k.k vereinigte Hofkanzlei. (3)Aufsicht über das Sanitätspersonal. (4)Kontroll- und Aufsichtfunktion über Kranken-, Gebär-, Findel-, Siechen- und Versorgungshäuser. (5)Verwaltung der den Sanitätsfonds betreffenden Notwendigkeiten (Per HD v. 18.8.1808 führte der Protomediker die Sani- tätsgeschäfte). Müllers Quellen reichen in diesem Zusammenhang bis 1818.163 Joseph Bernt umreißt das 1819 so: Die leitende und verordnende Behörde in Sanitätssachen aber ist und bleibt immer nach dem bestehenden Sanitäts-Regulament, und nach der fortwäh- renden Beobachtung, die Landesstelle. An solche haben daher die vorge- schriebenen Berichte der Kreisämter über den Gesundheitszustand auf dem Lande, die Relationen der Kreisphysiker über alle wichtigen Angelegenhei- ten, alle Anzeigen in epidemischen Fällen vom Anfange bis zu Ende, die jährlichen Berichte über die Bereisung der Kreisphysiker ihrer Bezirke, und des Protomedicus, wenn er abgeordnet wird, von dem Lande zu gelangen; sie hat darüber auch gehörig zu verfügen, die diensamen Anordnungen zu erlassen; über ärztliche und medicinische Gegenstände vorläufig das Gut- achten der medicinischen Facultät abzufordern, und überhaupt auf dasjeni- ge feste Hand zu haben, was die Sanitäts-Regulaments von Anno 1770 und 1773, und die nachfolgenden Verordnungen vorschreiben, somit das Sani- tätswesen im eigentlichen Verstande zu leiten;164 Die Position des Provinzial-Sanitätsreferenten firmierte unter dem Titel ‘wirklicher Rat’; ein Hofdekret vom 10. April 1807 schmälerte für kurze Zeit die Bedeutung dieses Amtes, als es den Protomedikus zur rein wissenschaftlichen Informationsvorträgen im Rat ermäch- tigte, seine volle - ‘wirkliche’ - Ratstätigkeit aber aussetzte; die Un- zulänglichkeit dieser Verfügung machte das Dekret vom 18. August 163 Vgl. Müller (1844), S.4-5. 164 Bernt (1819), S.349.
  • 64. 64 1808 rückgängig, das den Protomedikus zur alleinigen Geschäftsfüh- rung des Sanitätsreferats legitimierte165; amtiert er in einer Universi- tätsstadt bzw. befindet sich ein „Lycäum“ in seinem Amtsbereich, so übernimmt er die Direktorsstelle des medizinisch-chirurgischen Stu- diums, mit Ausnahme Wiens und Pests. Der Protomediker ist weiters politischer Zensor, aller in seinen Fachbereich fallenden Texte, mit Ausnahme der Stadt Padua. In den 30er Jahren in Böhmen zugleich ordentliches Mitglied der k.k. patriotisch-ökonomischen Gesellschaft, sowie korrespondierendes Mitglied der k.k. Gesellschaft der Ärzte in Wien. Die Amtsverrichtungen des Protomedikus erstrecken sich über vier Sektoren: (1)Die beständige Aufsicht über den allgemeinen Gesundheitszu- stand (2)die Besondere Besorgung der bei Epidemien unter Menschen o- der Tieren zu ergreifenden Sanktionen (3)die Aufsicht über das ärztliche Personal des jeweiligen Landes (4)die Aufsicht über die Krankenhäuser, Gebärhäuser, die Mitauf- sicht in Beziehung auf den Gesundheitszustand bei Findlings-, Siechen-, Erziehungs-, Zuchthäusern und Gefängnissen.166 Bis 1839 verfügte er administrativ über die sanitären Angelegenhei- ten des Seehandels; so erfolgt eine Akkordierung mit den Sanitätsge- genstände des Landesinneren.167 Eine Allerhöchste Entschließung vom 29. Dezember 1808 verfügt, daß der Direktor des medizinisch- chirurgischen Studiums in Wien Protomedikus der k.k. Erbstaaten sei und hinsichtlich einer Gutachterfunktion für das gesamte Sanitätswe- sen der Monarchie ernannt ist.168 Resümierend konstatiert Müller, daß „gegenwärtig [1842-T.B.] die Sanitätsgeschäfte ihrem ganzen Umfange nach in den Wirkungskreis der Gubernien gehören.“169 165 Vgl. Macher (1853), Bd. 1, S.459 (=Instruktion f. Protomediker). 166 Vgl Bernt (1819), S.351, 167 Vgl. ebd., S.359. 168 Vgl. Müller (1844), S.5-6. 169 Ebd. S.7.
  • 65. 65 Der Aufwind im Professionalisierungsstreben der akademischen Ärzteschaft prolongierte sich insofern, als den Provinzialsanitätsrefe- renten in Sachen „Kunstgutachten“ die medizinischen Fakultäten zur Seite gestellt wurden. Sie fungierten gleichsam als wissenschaftliche Landesbehörde. Die Fakultät Wien war für alle deutsch-galizisch- und illyrischen Provinzen autorisiert. Die Provinz Böhmen wurde von Prag, Venetien von Padua, die Lombardei von Pavia aus versorgt. E- xekutivkomitee war ausnahmslos die Lehrerversammlung, deren „Amtswirksamkeit“ erstreckte sich mit Abschluß eines Hof- kammerdekrets vom 4. Jänner 1839 auf drei Bereiche des öffentlich- sanitätspolizeilichen Diskurses: a) Prüfung der sanitären Umstände und daraus resultierende Sanktio- nen bei gegebenem Anlaß von Epidemien und Epizootien; b) Abgabe von „Kollegial-Gutachten“ (s.a. §11 bei Müller bezüglich des Abfassungreglements) in Zweifelsfällen bei Kriminalfällen; c) die „medizinische Voruntersuchung“ von Innovationen auf dem Sektor der öffentlichen Gesundheitspflege, exklusive Anlaufstelle diesbezüglicher Angelegenheiten war die Wiener medizinische Fa- kultät (der vorausgehende Amtslauf erforderte eine Vorlage bei den Länderstellen).170 4.1.2.1.2 Der Kreisphysikus - das Vordringen mediko-administrativer Fürsorge Ausgangspunkt der Organisationstrukturen in den einzelnen politi- schen Kreisen war m.E. das Sanitätshauptnormativ von 1770, das die Leitung in den einzelnen Verwaltungsdistrikten den Kreishauptleuten unter allfälliger Beiziehung, d.h. es existierte kein ständiger Kreisphy- sikus, eines Arztes (später Kreisphysikers) zuwies. Die so entstandenen Sanitätsrapporte waren der Provinzial-Sanitätskommis- sion vorzulegen, sowie deren Beschlüsse zu exekutieren waren. Bis zum Beginn der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts modifizierte man die Organisation des Physikatswesen, in Reaktionsbildung zu den innen- und außenpolitischen Veränderungen, so Müller. Den Kreisärzten, 170 Vgl. Müller (1844), S.8.
  • 66. 66 jetzt als Institut eingeführt171, assistierten „operative Heilkünstler“ (= Kreis- und Bezirkswundärzte), die die gerichtlichen Leichenbeschau vornahmen und das Impfwesen betreuten172. Jedem Kreis beispiels- weise dem niederösterreichischem wurden vier Distriktsärzte zuge- teilt, d.h. die Errichtung von Distriktsphysikaten sollte die regionale sanitätspolizeiliche Versorgung verbessern.173 Die anderen Provinzen zögerten mit der Einrichtung dieses Sanitätsorgans; Böhmen, Mähren und Galizien zeigten überhaupt keine Anstalten hinsichtlich einer Er- weiterung des Sanitätspersonals.174 Die Kreisärzte, -wundärzte und -hebammen wurden von der Lan- desstelle besetzt, gewöhnlich holte der Landeschef den Vorschlag des Protomedicus ein. Kreisphysikats- und Kreiswundarztstellen gingen nur an approbierte, die einen Magister der Geburtshilfe vorweisen konnten, da sie die Ausbildung und Prüfung von Wehemüttern, die weit in der Peripherie die Geburtshilfe ausübern wollen, vornehmen müssen. Zudem muß eine Anwärter auf einen Kreisposten Zeugnisse über das Studium der gerichtlichen Arzneikunde, der medizinischen Polizey und der Tierheilkunde vorlegen können und die Landesspra- che beherrschen. Elementarbedingung ist die Approbierung an einer erbländischen Universität. Als förderlich erwies sich eine unbestimm- te Dienstzeit am besten im Allgemeinen Krankenhaus in Wien und eine nachweisliche literarische, publizistische Tätigkeit des Anwär- ters.175 Der Umfang der Verantwortlichkeiten des besoldeten Kreisarztes, eine Art öffentlicher Beamter, in unmittelbarer Abhängigkeit vom 171 Hofdekret vom 28. November 1785 bzw. Instruktion für Kreisärzte 28.9.1804, Macher (1853), Bd. 1. 172 Schauenstein (1863) moniert hier eine Prolongation eines verderblichen Dualismus im öffentlichen Sanitätsdienst, vgl. S.601. 173 Vgl. Müller (1844), S.12-13. 174 Vgl. Schauenstein (1863), S.602. 175 Vgl. Bernt (1819), S.363-369.
  • 67. 67 Kreisamt, zur Erhaltung des allgemeinen Gesundheitszustandes, um- faßte176: a) die Ausbildung, d.h. die „wissenschaftliche und sittliche Vervoll- kommnung“ des subalternen Sanitätspersonals; er hat besonders auf die Winkelärzte zu achten, d.h. das Interdikt dieser Tätigkeit durchzusetzen177 b) die Aufsicht über die „besonderen Gesundheitsanstalten“, das meint „ die gesetzliche Äußerung des Geschlechtstriebes“178, die Gesundheitsverhältnisse der Schwangeren, Gebärenden und Neuge- borenen. Die Beobachtung der „allgemeinen Gesundheitsanstal- ten“, das meint Kontrolle der Lebensmittel, der Luftqualität etc. in Wohnräumen, sowie eine Art prototypischen Konsumentenschutz. c) die Überprüfung der öffentlichen Krankenpflege, zuerst der „mit- telbaren Anstalten“ - Apotheken und Gesundbrunnen, dann die öf- fentliche Versorgung durch die „unmittelbaren Anstalten“ bei an- steckenden Krankheiten und Epidemien bzw. Epizootien; die Revi- sion der Krankenanstalten, d.h. deren ökonomischer und klinischer Organe; und der Beerdigungsinstitute. Sowie die Durchführung von allfälligen kriminalgerichtsärztlichen oder politisch-administrativen Belangen179. Sein Aufgabenbereich äußert sich als Analogon des Protomedikers. Ein zentrale Verpflichtung des Kreisarztes war die Bereisung seines Rayons. Gleich einem Satelliten wurde er zur Datenerhebung und - erfassung auf seine Umlaufbahn geschickt. Da der statistischen Ver- arbeitung großes Interesse zukam, hatt der Kreisphysikus seine Beo- bachtungen in entsprechenden Tabellen einzutragen, die als Vordruck von der Kreisbehörde zur Verfügung gestellt werden. Diese „Relati- onstabelle“ der Bezirksuntersuchung enthält: 176 Unterstützung bei dieser Erfüllung seiner Amtspflicht erhielt der Kreisphy- sikus von: Ärzten, Wundärzten, Okulisten, Apothekern, Hebammen; Trä- ger der Instruktion: Kreisärzte, -wundärzte, -apotheker, -hebammen. 177 Vgl. Macher (1853), Bd. 1, S.235ff. 178 Müller (1844), S.14. 179 Vgl. ebd. S.14.
  • 68. 68 den Ort, des Wundarztes Nahmen; Gewerb (verkäuflich, persönlich); Prü- fungsjahr (aus Wundarzney, aus der Geburtshülfe); Arzneyen (Menge, Be- scgaffenheit); Eigenschaften (Geschicklichkeit, Fleiß, Sitten); Hebamme (der geprüften Nahme, ob eine nöthig); Ortslage; Beschäftigung der Ein- wohner; endemische Krankheiten; vorzügliche Krankheiten des letzten Jah- res hindurch; welche der Gesundheit schädliche Umstände da obwalten (Sümpfe, Leichenhöfe); Anzahl der Gestorbenen im letzten Jahre (im Ort, in der ganzen Pfarre); welche Anstalten daselbst in Ansehung der Gesund- heit und Krankenpflege? Ob die Todtenbeschau gehörig besorgt wird? Ob und welche Viehseuchen im letzten Jahre: wie viele Stücke gefallen? Ob die Sanitätsverordnungen genau beobachtet weren? Bemerkungen über Materialisten, Hausirer, Curpfuscher, Giftverkauf, Bemerkungen und Vor- schläge zum Gesundheitswohl.180 Inkludiert in die sanitätspolizeilichen Maßregeln sind in den deut- schen Provinzen darüber hinaus noch die Stadt- und Herrschaftsärzte, in den italienischen die Gemeindeärzte; was die Provinzen anderer Nationalitäten angeht schweigt Müller. Die Ernennung der Stadtärzte erfolgt grundsätzlich durch die Länderstellen, lediglich in Wien er- nennt die beiden Stadtärzte, der zweite ist der Magister sanitatis, nach Vorschlag des Magistrats und der Landestelle der Kaiser; in Prag er- folgt die Bestellung über Vorschlag des Magistrats und der Stadt- hauptmannschaft vom Gubernium. Die Herrschaftsärzte, genauere Differenzierung ihrer hierarchischen Position fehlt, werden von den Kreisämtern eingesetzt; die Gemeindeärzte von den Munizipialbehör- den.181 Der Sanitätsdienst hatte somit seine Exekutivorgane beim Ministe- rium des Innern (vormals k.k. Hofkanzlei182), bei den Gubernien, den Kreisämtern, in den Städten bei den Magistraten und Polizeidi- rektionen, auf dem Lande bei den Dominien. Der Darstellung Schau- 180 Bernt (1819), S.398. Daraus läßt sich das Desiderat ableiten, eben jene Re- lationstabellen als Quellen der Sozialgeschichte allererst zu orten und dann auszuwerten. 181 Vgl. Müller (1844), S.15. 182 Revolutionsjahr 1848 (Frühjahr): Reorganisation der Staatsverwaltung; die Hofstellen, Hofkanzleien und Hofkammern wurden entweder durch Minis- terien ersetzt oder liquidiert; Staatsrat und Staatskonferenz substituierte der Ministerrat, vgl. Zöllner (1990), S.357.
  • 69. 69 ensteins folgend ergaben sich bis 1850 keine essentiellen Mo- difikationen der öffentlichen Gesundheitspflege183. 4.1.2.2 Die provisorische Organisation der öffentlichen Medizinal- verwaltung Im Gefolge des Revolutionsjahres 1848, d.h. mit dem Triumph der monarchisch-konservativen Kräfte in Österreich, der neoabsolutisti- schen Initiation der franzisko-josephinischen Ära, die Telos einer konstitutionellen Revolution, einer Sehnsucht nach einem funktionie- rendem zentralistischen österreichischen Staat war - im Resultat zu- mindest, in diesem Gefolge etablierte das neue Regime, u.a. für un- seren Kontext interessant, modifizierte Formen bürokratischer Ein- richtungen. Die Bezirkshauptmannschaften als Organe der untersten Verwaltungsebene avancierten auch in den neuen Vorstellungen einer Medizinalordnung zu einem relevanten Partikel einer „staatsbürgerli- chen“ Vergesellschaftung184. Die Idee der autonom verwalteten Ge- meinde als kleinste Einheit der Staatsverwaltung hatte lediglich den Charakter eines Strohfeuers; die von der Regierung und den Ländern abhängige Bürokratie behielt sich den nahezu uneingeschränkten Zugriff bis in den kleinsten Winkel des Staatsganzen vor.185,186 In diesem Umfeld legte der Minister des Inneren, Bach, einen Entwurf zur Neugestaltung der öffentlichen Gesundheitspflege vor, der per 1. Oktober als ein Provisorium zur Organisation des öffentlichen Sani- tätswesens publiziert wurde.187 Das Provisorium legt ausdrücklich die absolutistische Intention fest, der zentralistische Zugriff wird zementiert. Der Staat übernimmt die oberste Leitung des öffentlichen Medizinalwesens, sowie dessen O- beraufsicht, d.h. das absolutistische Regime kontrolliert sich selbst. § 183 Vgl. Schauenstein (1863), S.602. 184 Vgl. Bruckmüller (1985), S.356-363. 185 Vgl. Zöllner (1990), S.400. 186 Vgl. Baltl (1986), S.153. 187 Vgl. Allgemeines Reichs-Gesetz- und Regierungsblatt für das Kaiserthum Österreich, Jg. 1850, 2. Jahreshälfte, Wien 1850, S.1699-1705.
  • 70. 70 3 verfügt die „selbständige Wirksamkeit des Staates“ in Medizi- nalangelegenheiten, überall dort, wo er es letztlich selbst legiti- miert188. Die Geschäfte, die den Gemeinden überlassen werden, un- terliegen ebenso der Überwachungsfunktion des Staates. Die Leitung des Medizinalwesens in den einzelnen Instanzen kommt den politi- schen Behörden zu. Der damalige Minister des Inneren, Alexander Bach, erläutert die seinem Entwurf zugrundeliegende Ideologie; die Vorstellung, daß der öffentlichen Gesundheitspflege nicht integrale, sondern vielmehr inte- grierende Funktion innerhalb der absolutistischen Administration zu- kommt, begründet vorerst die enge Verknüpfung mit den politischen Behörden, sprich das Abhängigkeitsverhältnis. Das Expertentum der Ärzteschaft, daß nach staatspolitischer Geltung trachtete, hatte sich noch nicht durchsetzten können. Die öffentliche Gesundheitspflege oblag durchaus staatlichem Interesse, nicht humanitärer Altruismus, sondern politisches Kalkül nährte die Bestrebungen zu deren Organi- sation. Allein die Benenung der Experten als Hilfsorgane rückt das Verständnis dieses Verwaltungsposten ins Licht ökonomisch-politi- scher und militärischer Interessen, der absolute Vorrang der Experten, der Ärzte, war noch nicht verankert, ein umfassend ärztlich geprägtes Kontrollsystem der öffentliche Gesundheit war erst am Horizont aus- nehmbar.189 188 Der genaue Wortlaut: „... aus höheren sanitätspolizeilichen Rücksichten oder wegen ihres [der Medizinalangelegenheiten -T.B.] Zusammenhanges mit eigentlichen Staatsgeschäften.“ 189 Ich gebe hier den genauen Wortlaut Bachs wieder = Beilagen-Heft zum all- gemeinen Reichs-Gesetz-und Regierungsblatte für das Kaiserthum Oester- reich, Jg. 1850 „Bei Festsetzung der Stellung, welche die Medizinalverwaltung künftig im Organismus der Staatsverwaltung einnehmen soll, glaubte ich dem Grundsatze der Einfachheit vor anderen huldigen zu müssen. Die innigen Beziehungen, welche zwischen den sanitäts-polizeilichen Geschäften und jenen der politischen Administration überhaupt bestehen, der Umstand, dass die Sanitätspolizei einen integrierenden Theil der politischen Thätig- keit bildet, und die Erfahrung, dass der glückliche Erfolg administrativer Massregeln durch die Einheit der vollziehenden Organe vorzugsweise ge- fördert wird, sprechen laut dafür, dass die Medizinalverwaltung von den-
  • 71. 71 Im Dienst der Exekution des Statuts wurden dem Bezirkshauptmann ein Bezirksarzt, dem Kreispräsidenten ein Kreismedizinalrat, dem Statthalter ständige Medizinalkommissionen und dem Minister des Inneren ein Sanitätsreferent und eine ständige Medizinalkommission, im Verhältnis der Unterordnung unter die politische Instanz, beige- geben. Der §5 sieht für größere Städte eigene Regelungen vor. Die Kommissionen sollten v.a. dort zur Wirkung gelangen, wo Gesetze und Normen, also weitgreifende, legislative Entscheidungen auf dem Gebiet der öffentlichen Gesundheitspflege fallen. Diese weitreichen- den Verdikte sollten von mehreren Experten unterschiedlichster Kompetenz, von einem sowohl wissenschaftlich, wie politisch ver- antwortlichen Gremium gefällt werden.190 selben Behörden ausgehe, denen die politische Administration anvertraut ist. Den Statthaltern, Kreispräsidenten und Bezirkshauptmännern wird demzu- folge innerhalb ihres Amtsgebietes die Exekutionsgewalt in Medizinalan- gelegenheiten zuerkannt, und sie sind für ihre Handhabung verantwortlich. Soll jedoch dieser Zweig zum wahren Vortheile der Staatsbürger verwaltet werden, so müssen die bezüglichen Anordnungen und ihre Ausführung sich auf ärztliche Kenntnisse und Erfahrungen stützen. Darum stellt es sich als nothwendig heraus, den politischen Funktionären, zu deren Wirkungskreis Sanitätsgegenstände gehören, Hilfsorgane bei- zugeben, welche mit den nöthigen Fachkenntnissen vertraut und den ent- sprechenden Fähigkeiten ausgerüstet sind, damit die technische Leitung und Vollziehung der in ihr Fach schlagenden Geschäfte übernehmen. Der Arzt bleibt innerhalb seines Wirkungskreises selbständig und unab- hängig, in Betreff des Vollzuges von Amtshandlungen aber hat er die An- sichten des plitischen Chefs als massgebend zu achten.“ (S.293) 190 Bach: „ Nach Verschiedenheit der ärztlichen Aufgaben, welche bei den einzelnen politischen Behörden zur Lösung kommen, wird auch das beigegebene Hilfsorgan ein verschiedenes sein müssen. Während bei Behörden von vorherrschend exekutiver Natur es im Interesse der Sache und des Dienstes liegt, nur ein einziges tüchtiges Fach- Individuum aufzustellen, kann dort, wo es sich um die Leitung des Sani- tätswesens und dessen Regelung auf einem grösseren Gebiete, wo es sich um Berathung von Gesetzen und Feststellung von Normen, mithin um gleichmässige Berücksichtigung der wissenschaftlichen Grundsätze und der Eigenthümlichkeit des Landes, der Bevölkerung und der bevorstehen- den Einrichtungen handelt, nur von dem Zusammenwirken mehrerer Sach- verständigen das gewünschte Resultat mit Grund erwartet werden.“ Ebd.
  • 72. 72 4.1.2.2.1 Zur Organisation im Detail Als letztes Glied der Sanitätskette stand der Bezirksarzt im Dienste der Bezirkshauptmannschaft, seine Befähigung mußte er mittels einer Prüfung, deren Modalitäten noch im Unklaren lagen, aus der öster- reichischen ‘medizinischen Polizei’ und der gerichtlichen Medizin nachweisen. Der Bezirksarzt wird vom Kreispräsidenten auf Vor- schlag des Kreismedizinalrates ernannt (s.u.). Nach Bachs Dafürhal- ten sollte dieser Befähigungsnachweis Grundlage jeder Bestellung zum Staatsarzte in Sanitätsangelegenheiten sein. Schauenstein merkt den Entwurfcharakter dieser Forderung an, zum Zeitpunkt der Fer- tigstellung seines Textes, 1863, mangelte es an deren Realisierung.191 In den Aufgabenbereich des Bezirksarztes fielen im wesentlichen, als mitwirkendes Organ des Bezirkhauptmannes, die Obhut über das im Bezirk tätige Sanitätspersonal, die Überprüfung der Durchführung der sanitätspolizeilichen Vorschriften, des sanitären Zustandes des Bezir- kes, die beratende Tätigkeit bei Epidemien und Epizootien, weiters hat er bei der Aufstellung von Gemeindeärzten mitzuwirken bzw. die „medizinisch - polizeiliche Wirksamkeit der Gemeinden“ zu überwa- chen. Der Kreisregierung war er verpflichtet periodische Berichte ü- ber die sanitären und gerichtsärztlichen Umstände des übertragenen Bezirks vorzulegen. 191 Bach: „ Zu einem erfolgreichen Sanitätsdienste sind dem Staatsarzte ausser den gewöhnlichen, ärztlichen Kenntnissen noch andere theils ganz speziel- le, gewissen Zweigen der Medizin und Naturwissenschaft Angehörige, theils sogar solche nöthig, die dem ärzlichem Fache mehr oder weniger fremd sind. Die Staatsverwaltung ist daher verpflichtet und berechtigt, bevor sie einem Arzte Sanitätsdienste überträgt, sich die Ueberzeugung zu verschaffen, dass er denselben auch vollkommen gewachsen sei. Aus diesem Grunde halte ich es für nothwendig darauf anzutragen, dass in Zukunft Niemand mehr zu einer Anstellung im Sanitätsdienste des Staates zugelassen werden dürfe, der seine Befähigung dazu nicht durch eine förmliche Prüfung dargethan hat.“ Ebd.
  • 73. 73 Dem Bezirksarzt hierarchisch übergeordnet, eingedenk der funda- mentalen Abhängigkeit von den politischen Behörden, ist der Kreis- Medizinalrat. Er nimmt den Rang eines Kreisrates ein, stellt ein vom Staat bestelltes Organ dar. Analog zum Bezirksarzt hat er überwa- chende und konsultative Funktion, in ‘relevanteren’ Fällen hat der Kreispräsident das Gutachten ärztlicher Kommissionen einzuholen. Weitere Kompetenzen waren die Aufsicht über die Handhabung der Medizinalgesetze, die Tätigkeit des im Kreis angestellten Sanitäts- personals und der Sanitätsinstitutionen; Vorschlagsrecht bzw. -pflicht bei der Ernennung von Bezirksärzten, von Direktoren der Sanitäts- anstalten. Der Kreismediziner hatte Instruktionen für das im Staats- dienste stehende Sanitätspersonal zu konzipieren, jene für die Ge- meinden hatte er zu begutachten. Die Beratung des Kreispräsidenten bei der Leitung der staatlichen Sanitätsanstalten, sowie der Exekution bestehender Medizinalgesetze bzw. die Vorlage von Entwürfen zu Erlässen neuer Gesetze war ihm zur Pflicht erlassen. Als vom Staat eingesetztes Organ kam ihm die Kontrolle aller Sanitätsangelegenhei- ten, die auf Staatskosten verrichtet werden, zu. Die Kronländer, d.h. die Statthaltereien, werden in Medizinalange- legenheiten von einer ständigen Medizinalkommission, die auch be- gutachtender Körper ist, beraten. Die Mitglieder werden vom Mini- sterium, d.h. staatlich, ernannt und rekrutieren sich aus einer dem Kronland angemessenen Zahl von Ärzten, einem Wundarzt, einem Apotheker und einem Tierarzt. In dieser Expertenkommission hatten die nicht dem Stand der Ärzte angehörenden Mitglieder zwar das Recht an den Beratungen teilzunehmen, das Stimmrecht stand ihnen jedoch nur in Angelegenheiten ihres Faches zu. Zum Vorsitzenden dieser Kommission wird der am Sitz der Statthalterei eingesetzte Kreismedizinalrat bestimmt. Der Wirkungskreis und die Art der Ge- schäftsführung wurden durch eine Instruktion geregelt, die 1851 er- lassen wurde. Gegenstände der regelmäßigen Kommissionstagungen waren solche, die die allgemeinen Bereiche des Medizinalwesens im Kronland betrafen, sowie die Beratung der Berichte die aus dem Kronland an das Ministerium des Innern ergingen, zu behandeln wa- ren ferner besorgniserregende Berichte über den Gesundheitszustand von Menschen und Tieren, v.a. bei allfälligen Epidemien und Epi-
  • 74. 74 zootien; letztlich erörterten die Sitzungen Gegenstände von „meritori- scher Wichtigkeit“; so wollte es zumindest die von Schauenstein er- wähnte Instruktion.192 Das leitende und übergeordnete Institut der sanitären Infrastruktur bildet nach dem Provisorium der Sanitätsreferent und eine ständige Medizinalkommission, die beide dem Ministerium des Inneren nach- gereicht, d.h. in Abhängigkeit zu ihm stehen. Der Sanitätsreferent, immer ein Arzt, bekleidet den Rang eines Ministerrates, so wie jeder andere Referent. Die Kommission hat konsultative und begutachtende Funktion in allen Medizinalangelegenheiten, die den gesamten Staat betreffen. Sie setzt sich zusammen aus: dem Referenten für Sanitäts- wesen im Ministerium des Inneren, er ist gleichzeitig Vorsitzender der Kommission, dem Referenten des Quarantänewesens beim Han- delsministerium, dem ärztlichen Referenten beim Un- terrichtsministerium, drei Ärzten, einem Wundarzt, einem Apotheker und einem Tierarzt. Das Stimmrecht war nichtärztlichen Teilnehmern allerdings nur in Fällen ihrer Fachkompetenz zugedacht. Bach äußert, in einem Kommentar zur Zusammensetzung der Kommission, die Unnötigkeit der Einrichtung eines nichtärztliche Referenten, neben dem Sanitätsreferenten, für rein administrative Gegenstände; ein Er- folg im Professionalisierungsstreben der Ärzteschaft.193 Die Gewähr- 192 Vgl. ebd. S.293-294, 193 Bach wörtlich: „ Gerade im Ministerium, von welchem die oberste Leitung der Medizinal-Administration auszugehen hat, wird auf eine möglichst gründliche, aber auch zugleich auf eine, den Anforderungen der Zeit und der Wissenschaft möglichst entsprechende und folgerichtige Behandlung aller wichtigeren Medizinal-Angelegenheiten der sorgfältigste Bedacht ge- nommen werden müssen. Zur Erreichung dieses Zwecks wird aber auch die ständige Medizinal- Kommission aus einer hinreichenden Anzahl ausgezeichneter technischer und wissenschaftlicher Kapazitäten zusammenzusetzen und noch überdiess dafür zu sorgen sein, dass das Ministerium des Unterrichts in steter Evi- denz der wichtigeren Verwaltungsbeschlüsse erhalten und auch das Minis- terium des Handels in die Lage gesetzt werde, an allen Kommissionsbe- rathungen, welche sich auf die in seine Wirksamkeit gehörigen Medizinal- Angelegenheiten beziehen, durch eigene Abgeordnete Theil zu nehmen und ihren besonderen Anforderungen Geltung zu verschaffen.
  • 75. 75 leistung des trotzdem reibungslosen Ablaufs diesbezüglicher Angele- genheiten sichert Bachs persönliche und unmittelbare Einflußnahme; d.h. das beratende und begutachtende Institut wird unmittelbar vom Vertreter der Obrigkeitsstaatlichkeit manipuliert. 4.1.2.2.2 Theorie und Praxis, zur Durchführung und Kritik des Provi- soriums Die Installation des politischen Bezirkes als administrative Einheit hatte statt, allein die Etablierung des Instituts des Bezirksarztes blieb dem Zufall überlassen. „Dort, wo der Zufall oder frühere Organisatio- nen Bezirksärzte geschaffen hatte, blieben sie - wo keine waren - blieb es eben auch beim Alten!“194 Konsequenterweise blieben die in Aussicht gestellten Kommunalärzte Illusion.195 Die einzigen In- novationen die auch tatsächlich realisiert wurden waren die ständigen Medizinalkommissionen in den Kronländern und beim Innenministe- rium. Das Bach’sche Postulat einer speziellen Schulung des Sanitäts- personals war zumindest 1863, so Schauenstein, immer noch Utopie. Die Organisation des Medizinalwesens in den Landesstellen mu- tierte nach der allgemeinen Verwaltungsreform vom 19. Jänner 1853 in einer Art Regression auf den Stand zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Bei einer dergestalt zusammengesetzten Medizinalkommission zerfällt a- ber sodann die Nothwedigkeit, einen Nichtarzt als besonderen Referenten für alle Medizinalangelegenheiten zu bestellen, welche rein administrativer Natur sind. Denn abgesehen davon, dass es ohnehin mit Schwierigkeiten verbunden ist, die reinen Administrationsgeschäfte im Medizinalfache von jenen zu trennen, welche gemischter Natur sind, so werden in Hinkunft auch alle wichtigeren Administrationsgegenstände in der medizinalkommission zu berathen sein und für die gehörige Ausfertigung und Ausführung der ge- fassten Beschlüsse nach Massgabe der der Kommission zu gebenden In- struktion wird der ärztliche Bureauchef [=Sanitätsreferent - T.B.] unter meiner unmittelbaren Leitung und Ueberwachung gewiss eben so gut, als ein Nichtarzt die Fürsorge zu treffen und zugleich die nöthige Evidenz der ganzen Geschäftsgebahrung zu überwachen in der Lage sein.„ Ebd. S.294. 194 Schauenstein (1863), S.610. 195 Vgl. Güntner (1865), S.382.
  • 76. 76 Die ursprüngliche nach dem Entwurf von 1850 konzipierte Medizi- nalkommission unter Vorsitz des lokalen Kreismedizinalrates machte mit dem Erlaß vom 7. Februar 1854 dem Institut eines Sanitätsreferats Platz. Der Protomedikus, jetzt unter dem Titel „Landsmedizinalrat“, wird auf Vorschlag des Statthalters vom Innenminister bestellt; er gilt quasi als Beamter der politischen Behörde, hierarchisch situiert zwi- schen den Räten und den Sekretären der Landesstelle. Die vom Lan- deschef vor Ort bestellte Medizinalkommission amtiert unter seinem Vorsitz; ihre Funktion ist es, der Landestelle Gutachten vorzulegen. Der direkte staatliche Zugriff der 1850 festgeschrieben wurde, d.h. die Bestellung der Kommissionsmitglieder durch das Innenministerium bzw. der Vorsitz durch den ebenfalls staatlich bestimmten Kreismedi- zinalrat, lockerte sich insofern, als die nunmehrige Organisationsform der Landesbehörde weitaus größeren Einfluß auf die Kommission gewährt. Die politische Funktion des Bezirksamtes ist es nach der Bestim- mung vom 13.1.1853, in den ihr im Bezirk untergeordneten Ge- meinden, die öffentliche Gesundheit zu erhalten, wie sanitätspolizei- liche Geschäfte zu erledigen. Das hierfür geeignete Organ des Be- zirksarztes, wie im Entwurf von 1850 gefordert, entbehrt in der be- hördlichen Organisationsnorm von 1853 allerdings der Erwähnung (s.o.). Die von den Ärzten geforderte wissenschaftliche Erledigung ist behördlich noch nicht verankert. Eine legislative Diskrepanz bzw. Indolenz diesem Administrationsbereich gegenüber ist unübersehbar. Erst für die Kreisbehörden ist der Kreisarzt systemisiert.196 Die Gemeinden waren vom Entwurf, d.h. von der aktiven Teilnahme an der öffentlichen Gesundheitspflege ausgenommen; nur bei Aus- bruch einer Choleraepidemie war es der Gemeinde gestattet autonom zu verfahren, allerdings nur in dem Maße als sie erste Instanz bei der Feststellung der sanitätspolizeilichen Anstalten war, das Kreisamt hatte ein Weisungsrecht.197 Erst 1862 initiierte man die Dezentralisa- 196 Vgl. Schauenstein (1863), S.613. 197 Vgl. Erlaß der k.k. n.ö. Landesregierung vom 15. August 1848, zitiert nach Daimer (1898), T. 2, S.186-197.
  • 77. 77 tion, die Länderstellen standen unter geringerer ‘Fürsorge’ der Staats- obrigkeit bei der Führung von Findel-, Gebär- und Krankenanstalten. Die neue Gemeindegesetzgebung198 übertrug wesentliche Teile, der die Salubrität199 betreffenden Agenden an die Gemeindeverwaltung, dem Staat oblag lediglich die Kontrolle der Durchführung der sani- tätspolizeilichen Verordnungen. Allein, so Uffelmann, die detaillierte Spezifizierung dieser Administrationsgeschäfte fehlte und die Ein- sicht der Gemeinden in die neue Verantwortlichkeit fehlte; der begin- nenden Dezentralisierung mangelte es zunächst noch an Effi- zienz.200,201 Einen Vorstoß in Richtung einer kommunalen Verantwortlichkeit in Sanitätsgeschäften unternahm die medizinische Fakultät Prags in ei- ner Eingabe an den Landtag aus dem Jahre 1863. Der Gemeinde bzw. mehreren Gemeinden im Zusammenschluß sollte die Armenkran- kenpflege und der öffentliche Sanitätsdienst übertragen werden. Als ausführende Organe dachte die Fakultät an medizinisches Personal mit mehrjähriger Erfahrung im öffentlichen Spitalsdienst, das jedoch nicht von der Gemeinde beamtet werden sollte, das Dienstverhältnis war vertraglich festzusetzen, hinsichtlich der Pensionierung forderte sie die für Staatsbeamte geltenden Normen ein. Der Aufgabenbereich umfaßt die Kompetenzen analog zu denen des Bezirksarztes. Die Rea- lisierung dieser Petition war bis 1865 noch nicht zu vermerken, einer- 198 Per Reichsgesetz vom 5.3.1862 wurde den Gemeinden ein selbständiger Wirkungskreis übertragen, in dem sie nach freier Selbstbestimmung an- ordnen und verfügen kann, auch hinsichtlich der Lebensmittel-, Gesund- heits- und Sittlichkeitspolizei, des Armenwesens und der Wohltätigkeits- anstalten. Im übertragenen Wirkungskreis unterliegen die Gemeinden den Landes- und Reichsgesetzen. 199 Die Salubrität wird von den Institutionen garantiert, „welche zunächst den Schutz des Lebens und der Gesundheit der Staatsgenossen bezwecken und zwar dadurch, dass sie die sich aus mannigfachen Einwirkungen der Aus- senwelt, wie der socialen Verhältnisse entwickelnden Schädlichkeiten zu verhüten oder zu vermindern suchen.“ Schauenstein (1863), S.10. 200 Vgl. Uffelmann (1878), S.84. 201 Die Abgrenzung des Wirkungskreises von Gemeinde und Staat wird The- ma der Medizinalordnung von 1870 sein.
  • 78. 78 seits fehlten die gesetzlichen Voraussetzungen, andererseits das Problembewußtsein der Gemeinden.202 „Wenn ihnen [den Gemein- den-T.B.] schon die Gesundheitspflege und die öffentliche Sicherheit nicht so sehr am Herzen liegt“203, reklamiert Kraus in seiner Ko- lumne im Zusammenhang mit der Leichenbeschau und den daraus resultierenden Querelen (Kosten). 4.1.3 Aspekte einer existentiellen Krise am Gesundheitsmarkt Im Vorfeld des Reichssanitätsgesetztes von 1870 präsentiert sich ein weitaus differenzierteres Bild. Der akademische Ärztestand, der ei- nerseits durch den internen neuzeitlich-wissenschaftlichen Fortschritt und die Krankenhausmedizin Selbstbewußtsein für sich in Anspruch nahm - die zweite Jahrhunderthälfte erlebt nachgerade eine Imple- mentation der rational-wissenschaftlichen Methode als Erkenntnisin- strument -, andererseits am Gesundheitsmarkt seine noch nahezu marginale Position zu gewärtigen hat, konstituiert sich in dieser Phase als aktiver Teilnehmer an der Vergesellschaftung des industrialisier- ten Staates. Die prekäre finanzielle Situation des niedergelassenen Arztes rückte ihn überdies in die Nähe einer Berufsgruppe, die gerade Ziel der professionalen Aus- und Abgrenzung war. Einem Promemoria des steirischen Ärztevereins204 wurde so ein Re- ferat angeschlossen, welches die Problematik des Zeitungsannon- censchwindels erörtert.205 Inkriminierte Sujets dieser Inserate sind Ankündigungen, wie unheilbare Krankheiten zu heilen, die Durch- führung schwierigster Operationen als problemlos anzupreisen, die Bewerbung von Wunderarzneien („Arcanum“) etc. Der Referent des Vereins hält nichts von einer unmittelbaren ärztli- chen Kampagne; er antizipiert ein öffentliches Bewußtsein, welches nur zu vertraut mit den professionspolitischen Anliegen der Ärzte- schaft ist, „weil ja das Publikum in unseren menschenfreundlichen 202 Vgl. Güntner(1865), S.391. 203 ZGM (1865), Probenummer v. 19.12.65. 204 Macher (1868) 205 Titel: „Vorkehrungen gegen den Zeitungs-Annoncenschwindel“, Macher (1868)
  • 79. 79 Bestrebungen doch nichts als Brotneid erblicken würde“206. Es bleibe Aufgabe des Staates für die Volksaufklärung einzustehen. Die Profession, die diverseste Areale des öffentlichen Lebens zu ih- ren Agenden erklärte und ihrer Ingerenzlust vehement Unterstützung angedeihen ließ, tritt im Moment eines potentiellen öffentlichen Wa- terloo zurück; der indizierte soziale Aufstieg sollte ungebrochen von- statten gehen. Allfällige Vorkehrungen, die durchzuführen den Staatsbehörden obliegt, lägen in der Einhaltung bestehender Gesetze bzw. in der Sanktionierung von Übertretungen - damit sind allerdings nicht viele Lorbeeren in der Öffentlichkeit zu holen. Eine politische Doppelstrategie läßt den Referenten die Laxheit der Behörden anklagen, deren Amtsauffassung sich darauf reduziert, „nach althergebrachter Gewohnheit die nie befolgten Gesetze zu re- publiciren“207. Er moniert die Ahndung von Gesetzwidrigkeiten, „ohne auf die des Arztes unwürdige Denunciation zu warten“208. Die Gefährdung der Standesbildung der Ärzte markiert der Hinweis auf traditionalen, unwissenschaftlichen Umgang mit Therapieformen und Medikation. [...] während jetzt die Geheimnisthuerei in der Medizin das aufgeklärt sein wollende Jahrhundert noch so sehr blendet, dass sogar Männer, welche in abstracten Wissenschaften als Coriphäen glänzen, den simplen Arzneige- heimniskrämer eben so gläubig anstaunen, wie der abergläubische Alpen- bewohner.209 Das öffentliche Vertrauen in eine naturwissenschaftliche Medizin war selbst in ‘großbürgerlicher’ Atmosphäre nicht dazu angetan eine Festigung und Konsolidierung dieser Profession zu fördern. Die Revision der Sanitätsgesetze soll dem Arzt rechtlichen Schutz gewähren, gemeint ist v.a. die materielle Absicherung, die die Not- wendigkeit einer offensichtliche verbreiteten zusätzlichen Einnahme- quelle, nämlich den Annoncenschwindel, aufhebt; galt es doch bisher: 206 Ebd. S.27. 207 Ebd. S.28. 208 Ebd. S.28. 209 Ebd. S.29.
  • 80. 80 „entweder ehrlich zu darben, oder eine vermögender Annoncen- schwindler zu werden.“210 Aus sich heraus fehlte dem Stand die Vita- lität und Überzeugungskraft eine existentielle Absicherung zu garan- tieren. Solange die primären Mittel des Gesundheitsmarktes in einem heterogenen Feld konkurrierten, solange blieb nachgerade die Inan- spruchnahme der sekundären Mittel ebenso dispers. Das Vorgehen gegen brancheninterne Betrüger sollte unter dem As- pekt der Selbstregelung laufen. Argument: gestützt auf den wissen- schaftlichen Exklusivitätsanspruch: „Der Staat kann gegen diese nichts thun, wohl aber ärztliche Körperschaften durch Einsetzung von Ehrengerichten.“211 4.1.4 Strategeme einer Verselbständigung Die Strategeme einer Verselbständigung des Standes begrenzen ihr Argumentationsfeld mit einer bürokratisch-administrativen Rahmen- ziehung. Der Staat sollte profanes Charisma vermitteln. Die Refor- mierung der Medizinalgesetzgebung bot sich als Raum an, in den pro- fessionspolitisches Argumentationsmaterial verfrachtet wurde. Die Allianz von Behörde und Stand hatte ihr Vorbild bei den Juristen. Der Arzt sollte zukünftig Nutznießer staatlichen Machtausflusses werden. Andererseits hatte der Staat Interesse am Einsatz der Ärzte in eigener Sache; eine komplementäre Bedarfsbeziehung entwickelte sich zugunsten beider. Im vorliegenden Kontext betrachten wir das professionspolitische Forum der Ärzteschaft, die Fachpresse. In einer Beilage zur ZGM Nr.50 v. 10.12.67 rezensiert Jaromir Mun- dy den Entwurf des Doktoren-Kollegiums212 vom November d.J.: Zu Recht weist er auf den nicht existierenden Unterschied in der organi- 210 Ebd. S.29. 211 Ebd. S.29. 212 Das Doktorenkollegium ist ein Relikt aus der Zeit der Zunftfakultät, die Fakultät blieb Patronat der Absolventen. 1849 durch das Hochschulorgani- sationsgesetz vom Professorenkollegium abgetrennt, aber noch im Universitätsverband behalten; 1873 endgültig von der Univerität verbannt. Vgl. Lesky (1964), S.128 und 181.
  • 81. 81 organischen Struktur des öffentlichen Sanitätsdienstes im Vergleich zum bestehenden System von 1850 hin. Einzig die Systemisierung und Absicherung der finanziellen Forderung wären normiert. Neu ist darüber hinaus die Idee der Sanitätsräte213 nach Pariser Vorbild. Mundy hält hier sein eigenes Memoire vor, welches weniger die Per- sonalfragen eruiert, sondern fundamentale, liberale Vorstellungen skizziert. Ein solches, von einem aus Autoritäten bestehendem Comite verfasste Sta- tut, entsprechend der neueren Wissenschaft, müsste als Grundlage eines anderen Memoires dienen, welches basirt ist auf dem wichtigen Factor des Parlamentarismus, der Oeffentlichkeit, der Volksbildung, der Ausbildung von Wohlthätigkeitsanstalten, an denen wir noch arm sind,214 Mundy legitimiert die ärztliche angestrebte Monopolstellung nicht direkt über konkrete Organisationsmodelle, sondern auf der Folie phi- lanthropischer Phraseologie. Dieses November-Memorandum er- öffnete eine Periode der Rede und Gegenrede, eine Vielzahl an ein- schlägigen Texten rekurrierte auf die Vorschläge des Doktoren-Kol- legiums. 4.1.4.1 Dezentralisierung Eine Antwort stammt aus der Provinz215, der Gerichtsarzt des k.k. Landesgerichts in Krakau Leon Blumenstok moniert zunächst, aus seinem provinziell-peripheren Interesse, den vermeintlichen formellen Mißgriff des Kollegiums, das den Entwurf einem mit unzureichenden Kompetenzen ausgestatteten Abgeordnetenhaus übergab. Das Hohe Haus hätte keine Kompetenz für eine gesamtösterreichische Instituti- on, wie es das Sanitätswesen darstellt, so Blumenstok. Substantiell erscheint ihm die Innovation der Bezirksmedizinalräte akzeptabel, allein die Durchführung müßte genau überdacht werden, denn in Ga- lizien existiert dieses Organ als Provisorium bereits seit 1867; in der 213 Der ständige Rat von etwa 12 Mitgliedern, in der Mehrzahl Ärzte, Fachärz- te, der sowohl dem Statthalterei- als auch dem Reichssanitätsreferenten zugeteilt werde. 214 ZGM (1867, Nr.50), S.591. 215 Abgedruckt in ZGM Nr.1, 7.1.68; Nr.2, 14.1.; Nr.3, 21.1; Nr.4, 28.1.; Nr.6, 11.2.68.
  • 82. 82 durchgesetzten Form erwies es sich als Danaergeschenk. Den Ernen- nungsmodus möchte aus dem zentralistischen Eck rücken, Blu- menstok fordert eine dezentrale Ernennung der Bezirksärzte durch die autonome Bezirksvertretung, nach englischem Vorbild. Wir sehen nicht ein, warum auch die Sanitätsorganisation in starre centra- listische Formen gepresst werden wird, wenn es wahr ist, dass der neue Minister des Inneren [Giskra-T.B.] die Sanitätsreform nach englischem Muster durchzuführen beabsichtigt.216 Als Autoritätsbeweis zieht Blumenstok ein Zitat des englischen Na- tionalökonomen John Stuart Mill heran: „Die Sanitätsvorschriften können, trotzdem sie den ganzen Staat betreffen, den Bedürfnissen der localen Administration entsprechend, nur durch locale Behörden gehandhabt werden.“ Drei Jahre zuvor redet von anderer Seite der Gedanke der Pragmatik der Dezentralisierung das Wort: der provin- zielle Semiotiker rangiert über der zentralistischen, wissenschaftli- chen Theoriebildung. Wir gestehen der Residenzstadt gerne und willig die Suprematie in stren- gen wissenschaftlichen Dingen zu - aber für die Verhältnisse anderer prak- tischer Zustände wird ihr Urtheil keinem Erfahrenen auch nur halbwegs massgebend sein.217 Diese dezentrale, autonome Beschlußfähigkeit allein verbürgt die Verbesserung gegenwärtiger Mißstände. Auch Blumenstok argu- mentiert im Sinne einer Monopolisierung des Ärztestandes - Ärzte ernennen Ärzte, einziges Korrektiv ist die Ärzteschaft, der Einfluß oder sogar die Kontrolle durch Branchenfremde erscheint suspekt, die Monopolisierung wird im Kontext einer Rede der Liberalisierung und Dezentralisierung angestrebt: Die Dezentralisierung fordert die Be- stellung des Landechefs und des Landessanitätsrate durch den Lande- sausschuß mit Bestätigung der Zentralregierung. Erster werde aus der Mitte der Bezirksärzte oder der im Land ansässigen Medicin-Autoritäten gewählt; ... Der Sanitätsrath bestehe je nach Umfange und der Bevölkerung des Landes aus einer grösseren oder geringeren An- zahl von ordentlichen und ausserordentlichen Mitgliedern. Erstere werden 216 ZGM (1868, Nr.3), S.24. 217 MP (1865,Nr.5), Sp.119.
  • 83. 83 aus der Landeshauptstadt, letztere aus den in den Provinzialstädten wohn- haften hervorragenden Aerzten gewählt.218 Ebenso sollt sich der Reichssanitätsrat konstituieren, interessant scheint der Hinweis Blumenstoks auf die effiziente Kontrollfähigkeit seines Vorschlags; die Inspektoren der obersten Sanitätsbehörde wä- ren über das ganze Land verstreut: ein Evaluierungsverfahren ein allgegenwärtiges Phänomen. Die Idee der Kontrollierbarkeit als Zuckerl für einen monarchischen Staat, um den hermetischen Zirkel der Standsabgrenzung mit Pfründen abzusichern. 4.1.4.2 Medizin als Sozialwissenschaft M.Gauster: Titel: „Noch ein Wort über die Reform des öffentlichen Gesundheitswesens in Oesterreich.“219 Das Gesundheitswesen verträgt aber keine Einseitigkeit, keine Exklusivi- tät; mitten aus dem vollen Volksleben heraus wächst es, mit allen Wurzeln ruht es in ihm; Wesen und Begriff sind kein einseitiges Product der medi- cinischen Wissenschaften, nein sie sind den socialen Verhältnissen des Völkerrechts entsprungen; und je klarer uns die sociale Seite des Staatenle- bens wird, je mehr wir analytisch und durch Kenntnis der Theile wieder synthetisch das Volk in allen seinen gegenseitigen Beziehungen die ele- mentaren Verhältnisse des öffentlichen Lebens kennen lernen, desto kräfti- ger, desto entwickelter, desto umfassender wird sich das öffentliche Ge- sundheitswesen zu einem massgebenden Factor des Volkslebens, somit in weiterer Consequenz der staatlichen Verwaltung emporschwingen.220 Das „wir“ des ärztlichen Standes geht die Verbindung mit den So- zialwissenschaften ein, mit der Intention eine maßgebende Rolle in der staatlichen Administration zu spielen; der Arzt komplettiert sein Einflußgebiet, nach dem Exklusivanspruch auf die physisch- existentielle Komponente der Produktivkräfte expandiert der Mo- nopolwillen hin zu sozialen, soziologischen Phänomenen der Gesell- schaft. Die Medizin als Magd der Soziologie, als Hilfswissenschaft am Weg zum Entscheidungsträger im Staat. Die Medizin als „Lehre des öffentlichen Wohlseins“ ist Ziel zuvor angeführter Bemühungen; 218 ZGM (1868, Nr.4), S.33. 219 ZGM Nr.12, 24.3.68; Nr.13, 31.3.68; Nr. 14, 7.4.68; Nr.16, 21.4.68; Nr.17, 28.4.68; Nr.20, 19.5.68; Nr.21, 26.5.68; Nr.22, 2.6.68. 220 ZGM (1868, Nr.12), S.114.
  • 84. 84 die Forderungen und Bedürfnisse des „Volkslebens“ konstituieren das Recht der öffentlichen Gesundheitspflege und die Pflicht des Staates demselben gegenüber. Die Ärzte wären die Mittler zwischen Volk und Staat, autorisierte Organe mit Monopolstellung, mit Kenntnissen von den Bedürfnissen des Volkes, aber auch Registratur im Rahmen einer minutiösen Erfassung des Staatsbürgers. Das rhetorische Mittel des Bescheidenheitstopos, daß die Medizin bloß ein Element der Sozialwissenschaften sei, decouvriert sich dort, wo der Arzt die ‘anderen’ Sozialwissenschaften von der Entschei- dungsgewalt fernhält, z.B. in den Kommissionen. Das Standesinter- esse bzw. das Profilierungsstreben der Ärzte äußert sich zudem in dem von Gauster eingebrachten Zitat, fast Postulat, von der „Identität der Interessen“. Gemeint ist wohl der Konsens der Staatsbürger, die- ser findet, so Gauster, seine höchsten Ausdruck im Ge- sundheitswesen; Verwalter, Organisator dieser Konsensbildung in ihrer ‘erhabensten’ Ausprägung wäre der Arzt. Gauster setzt auf die Fruchtbarmachung der Idee von der Volks- souveränität und den daraus resultierenden Rechten und Pflichten, um eine Reform der Medizinalordnung einzufordern auf Basis eben die- ser Prinzipien. Nicht die absolutistische Sorge um die Produktiv- kräfte, sondern die Masse des namenlosen Volkes, d.h. das mer- kantile-staatspolitische Interesse an diesem Reservoir, soll die gesell- schaftliche Relevanz des Ärztestandes unter Beweis stellen. Der Arzt als Sozialwissenschaftler vollzieht die erkennungsdienstliche Katalo- gisierung der Bevölkerung, die einmal vermessen adäquat operatio- nalisiert werden kann. Pfarrern und Lehrern, ebenso Agenten der Biopolitik221, verbleibt, in diesem Entwurf, nachgeordnet als Stati- stiker und Demographen die Rolle als Vorläufer der modernen Sozi- alwissenschaften. So honoriert Gauster zwar die österreichische Spezialgesetzgebung, die Isolation eben dieser vom Volk, der Schwerpunkt verlagerte sich in die Kanzleien, das Gesundheitswesen erstarrte zur Kanzleiformel, so Gauster, führte jedoch zu einer Individualisierung des Sanitätswe- sens, d.h. die Realisierung gesundheitspolitischer Inhalte war von 221 Begriff nach Foucault.
  • 85. 85 Einzelwesen und deren subjektiven Interessen abhängig. Selbst der Entwurf von 1850 mit den Sanitätskommissionen „erstarrte gar bald unter dem eisigen Hauche einer jeden regen und freien Bewegung ab- holden Verwaltung“222. Gauster strebt in seinem ‘Prolog’ keinen ra- dikalen Umsturz des Systems223 an, er denkt an eine Neuformu- lierung, eine Kompilation und Förderung „[der-T.B.] Keime, die schon lebensfähig in unserem Gesundheitswesen vorhanden sind“224. Eine Formulierung Gausters legt den Verdacht nahe, daß die Beru- fung auf die Interessen des Volkes bzw. die Teilnahme des Volkes am Reformprozeß aus eine Bedachtnahme auf sehr massive Standesinte- ressen zurückgeht. „Weil weiter nur ein Factor bei ihrer Lösung, die Aerzte sie beinahe ausschliesslich ventiliren, wodurch der Regierung die Sorge vor einseitiger Lösung sich aufdrängt.“225 Gauster erkennt sehr luzide Strategien, die oberflächlich erkennbare Monopolambitio- nen im Mantel des staatlich-sozialen Interesses präsentieren. 4.1.4.3 Liberalistische Mahnungen Im Schatten/Licht einer ‘liberalen Ära’226 partizipierte die Ärzte- schaft am politisierenden Jargon. Der Arzt als aufgeklärter Bürger und Professionist erkannte weitere Impulse eines sozialen Aufstiegs. Der Arzt als Mittler, Mulitplikator und Profiteur gesamtgesellschaft- licher Interessen und Tendenzen verschafft sich diesbezüglich Gehör - v.a. in den Ohren der Staatsadministration - , da die „gegenwärtigen liberalen Anschauungen [...] geeignet sind, den im ärztlichen Stande gewiss sehr bedauerlichen Dualismus227 in kurzer Zeit zu beseiti- gen“228. Maskiert erscheint dieses professionspolitische Interesse, als 222 ZGM (1868, Nr.13), S.125. 223 „Der Staat braucht z.B. nicht den grössten Theil des Gesundheitswesens wieder an die Gemeinde zurückzugeben, um später es mit Kämpfen und Ringen wieder in seine Machtsphäre erwerben zu müssen.“ Ebd. 224 Ebd. 225 ZGM (1868, Nr.14), S.132. 226 Vgl. Zöllner (1990), S.413 ff. 227 Mit Dualismus ist die 'Chirurgenfrage' indiziert. 228 Macher (1868), S.12.
  • 86. 86 ein Beispiel von vielen, in der Formulierung, die als Mahnung an die Staatsbehörden gerichtet ist, vom Hemmschuh einer freien Entwick- lung des Sanitätswesens. An anderer Stelle, bei Jaromir Mundy konstatieren wir ähnlich: Nach englischem Vorbild moniert er eine Durchführungsordnung in Sanitätssachen, die dem Parlament (exklusive) legislative Gewalt ein- räumt, den Kommunen die Ausführung zuteilt und ein Kontrollorgan, die Reichs-Sanitäts-Inspektoren, einführt. Der Innenminister habe die Details und Prinzipien des Gesundheitswesen festzusetzen und als Vorlagen dem Parlament zu präsentieren, d.h. keine Dekrete zu erlas- sen, und durch ihm verantwortliche Inspektoren die Durchführung im einzelnen zu überprüfen. Mundy apelliert an politische Ideologeme amalgamiert mit dem bekannten nationalökonomischen Verweis: Würde in solchen Dingen ein Verkennen des Parlamentarismus anhalten, so verfielen wir sehr leicht in einen Schein-Konstitutionalismus und eine maskirte Autokratie und zwar noch dazu bei einem der wichtigsten Zweige der Volksinteressen, nämlich dem Gesundheitswohle des Reiches und sei- ner Bewohner.229 Mundy legt Wert auf die Feststellung, daß nach der gültigen Ver- fassung die Medizinalgesetzgebung in den Wirkungskreis des Reichsrates(?) fällt, d.h. die offensichtlich verbreiteten Befürchtun- gen, daß die Kommunen in jeder Hinsicht autonom verfahren und damit ein sanitätpolitisches Chaos auslösen, jeglicher Grundlage ent- behrt. Der de jure Auftrag des Reichsrates ist es die ungeregelte, indifferente und unkontrollierte Situation in den Kommunen mittels des neuen Sanitätsstatutes in den Griff zu bekommen. Der Dämon Cholera, den sich Mundy dienstbar macht, wird zum Apodiktum des Gesundheitswesen als Reichssache, daß „nicht wieder der chaotische Unverstand bei solchen Weltplagen [der Cholera-T.B.] die Bevölke- rung dezimire“230. der Legislative kritisierend stürzt sich Mundy auf Konkret die Praxis die Reformierung der Medizinalgesetzgebung. Er bedauert 18 Jahre der Versäumnisse, das Provisorium von 1850 wurde tatsächlich in seinen Hauptteilen nie realisiert, die viermal geänderte politische Ver- 229 Mundy (1868), S.92. 230 Ebd. S.94.
  • 87. 87 fassung ist ihm Anlaß das Provisorium dem Genre der Satire zuzu- ordnen. Als Proponent liberaler Ideologeme moniert der den Usus der öffentlichen Enquête in administrationstechnischen Angelegenheiten, wie er ihn in weiten Teilen Europas beobachten kann. Die geheimen Umtriebe der Regierung, das Faktum der seltenen Beiziehung von Experten in den Sitzungen der „Comités“ der beiden Par- lamentshäuser, letztlich die mangelnde Öffentlichkeit von Regie- rungsenquêten indizieren ihm eine Regression in oder vielmehr eine Stagnation präkonstitutioneller Politik; das englische System bildet die Folie einer liberalen u.v.a. in weiterer Folge expertenunterwie- senen Gesundheitspolitik: Gerade das Gegentheil besteht aber jetzt noch im so sonderbar freiheit- lichen Oesterreich. [...] Sollte nun die bevorstehende Enquête darüber wie- der zu einem Venezianischen Kollegium der berüchtigten schweigenden „Dieci“ sich gestalten!!!231 Schon läßt sich die Besorgnis spüren, daß ohne medizinische Ex- perten deren individuelles und kollektives Schicksal beschlossen wird bzw. der ingerenzgierige Arzt die Chance der Etablierung als staats- politischer Einflüsterer den Fluß hinabschwimmen sah. Mundy kon- statiert eine paradoxe Situation, deren kritische Masse zuhauf Signale emittiert, die eine umgehende Neuformulierung der öffentliche Ge- sundheitspflege zum dringensten Postulat verantwortungsbewußter, volkswirtschaftlicher Politik macht. Dem zuvor erwähnten Attribut der Satire gesellt sich das des Kuriosums hinzu, eine aktuelle politi- sche Verfassung degradiert zunächst Verordnungen, die ihre Geburt anderen Konstellationen verdanken; Mundys Pointierung findet ihr zynisches Delta in der Äußerung, daß das Provisorium von 1850 zwar 18 Jahre lang wirksam war, doch ohne je befolgt worden zu sein. Die ultimative Legitimation einer öffentlichen Gesundheitspflege findet auch Mundy, unisono mit anderen Medizinexperten, im „Volks- glück“, d.h. im Feld nationalökonomischen Profits legiert mit libera- len Ideologemen und in der von Ärzten exklusiv diagnostizier- und rubrizier- und sanktionierbaren Vorstellung vom möglichst un- gestörten physischen und psychischen Leben: 231 Ebd. S.57.
  • 88. 88 Oder kann man mit offenem Auge und wahrhaftem Munde vom Volksglü- cke, möglichst freiheitlicher Entwicklung der Autonomie, von volks- wirthschaftlicher Reife, von Förderung des Wohlstandes, vom vernünftigen Erwerben, Besteuern und Sparen, vom Schutze des Handels, der Gewerbe, der Wissenschaften, der Künste, von intelligenter Bildung, vom Werthe al- ler Stände, von gleicher Arbeit, von gleichem Lohne und gleichen Rechten und der liberalsten Rechtspflege und Legislation sprechen, wenn man, un- bekümmert um das Wie und Warum, die Sanitätsnoth herrschen lässt, und nicht nach dem Was sucht, welches dieselbe wenigstens zu vermindern im Stande wäre?!232 232 Ebd. S.59.
  • 89. 89
  • 90. 90 5 Medien und Professionalisierung 5.1 Die Professionalisierung des Ärztestandes Die gegenwärtige Position der Medizin als Monopolträgerin233 am Gesundheitsmarkt währt seit etwa einem Jahrhundert. Das Prestige im öffentlichen Bewußtsein, die Expertenautorität, bildete sich eben erst im späten 19. Jahrhundert heraus. Die Bedingungen dieser Entwick- lung, die von heute zu unterscheidende Professionscharakteristik, das heterogene Nebeneinander von Dienstleistungen im Ge- sundheitsbereich234, der sukzessive Aufstieg der Naturwissenschaft und insbesondere der Medizin an die Stelle der Staatsreligionen be- schreiben den Kontext dieser Diplomarbeit. Die Wandlung von der gelehrten zur beratenden und praktizierenden Medizin erfolgte erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Zuvor war die ‘offizielle’ Medizin nur lose mit den tradierten Kulturemen der Bevölkerung verknüpft. Die Konsultationen von nicht akademisch gebildeten Heilpersonen durch die Bevölkerung unterlagen keiner Kontrolle durch einen or- ganisierten Berufsstand. Noch im späten 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert vertrauten v.a. die Landbevölkerung und die städti- schen Unterschichten nicht-approbierten Heilern; die sogenannte ‘Volksmedizin’ als magisch-mythischer Konnex zu traditionalen Ver- gesellschaftungsformen widerstand als spätere „Parallelmedizin“235 der vordrängenden wissenschaftlichen Heilkunst. Für die ersten De- kaden des 19. Jahrhunderts läßt sich eine derartige Parallelmedizin zu 233 Es existiert und existierte niemals ein vollständiges Monopol; Ausnahmen wären z.B. aktuellerweise die Psychotherapie, Physikotherapien, Alterna- tivtherapien etc. und natürlich die selbst oder von nahestehenden Personen durchgeführte Therapie. Dann quasi institutionalisiert, etwa die Zeugen Je- hovas, die jede ärztliche Kompetenz abstreiten, die katholische Kirche, die im Falle dämonischer Obsessionen ärztliche Kompetenz negiert. 234 Unter dieser Heterogenität ist einerseits die unterschiedliche Provenienz des Heilpersonals zu verstehen als auch die dieser Provenienz zugehörige Klientengruppe: akademisch gebildete, approbierte Ärzte der großbürgerli- chen Klientel, Barbiere und andere Laienheiler der Mehrheit der Bevölke- rung, den städtischen Unterschichten und der ländlichen Bevölkerung. 235 Vgl. Ginzburg (1988): das Indizienparadigma als historischer Gegentrend.
  • 91. 91 einem offiziellen, wissenschaftlichen Medikalsystem nicht behaupten: Da die nicht expertenorientierte, magische Volksmedizin die mehr- heitlich einzige Form erfahrener Heilkunst war.236 Die Basis des Ex- klusivitätsanspruches der Expertenmedizin wurde indessen im 19. Jahrhundert geschaffen. Wenn der Klerus seine Stabilisierung dadurch garantiert wähnte, daß der Staat des Klerus Dogma stützt, der Jurist durch die Kontrolle des Zugangs zu den Gerichten, bei denen die Steuerung der politi- schen Macht lag, über hatte, so kümmerte sich die Medizin um das Spektrum der gesamten Öffentlichkeit, um ihre Profession zu legi- timieren und abzusichern; die wissenschaftlich verbindliche, inter- subjektiv nachvollziehbare Fundierung der naturwissenschaftlichen Medizin im späten 19. Jahrhundert bot die Chance der Etablierung eines Professionsmonopols.237 Erst die eigenständige Konzeptualisierung von Medizin als abgegrenzter kultureller Bereich ermöglichte die Entstehung und das Wirken solcher Praktiker, die unseren heutigen Ärzten vergleichbar sind.238 5.1.1 Der Begriff der Professionalisierung Reinhard Spree239 begreift die historische Entwicklung des Ärzte- standes als Paradigma für die Darstellung eines generellen Profes- sionalisierungsbegriffs. Wichtigste Merkmale sind: Erlangung berufsgruppenspezifischer Autonomie hinsichtlich des Arbeits- inhalts und der Formen der Berufsausübung; Kontrolle des Zugangs zum Beruf sowie der Ausbildungsinhalte und Formen; Dominanz der im Berufs- feld stattfindenden Arbeitsteilung; Erlangung politisch-gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit durch verbandsmäßigen Zusammenschluß; Etablierung eines Expertenstatus; Propagierung einer besonderen Berufsethik.240 Als einzig trennscharfes Professionskriterium gilt ihm die gesell- schaftlich legitimierte, autonome Kontrolle des Berufsgegenstandes 236 Vgl. Huerkamp (1985), S.36. 237 Vgl. Freidson (1979), S.16. 238 Unschuld (1978), S.521. 239 Spree (1981). 240 Ebd. S.138.
  • 92. 92 bzw. - inhalts. Das Professionalisierungspotential einer Berufsgruppe läßt sich an ihre Fähigkeit, einen Absatzmarkt für ihre Leistungen zu schaffen und an die Macht der monopolistischen Kontrolle der Pro- fession koppeln. Der von mir verwendete Begriff der Homogenisie- rung erstreckt sich auf eine Vereinheitlichung der Leistungen, sodaß das Ausschlußprinzip gegenüber Konkurrenten durchsetzbar wird. Entscheidende Erfolgsbedingungen sind weiters die Durchsetzung der Vorstellung von ärztlicher Exklusivität im Bereich der Diagnose und Therapie und daran anknüpfend die Überwachung des Marktes, d.h. der Ausschluß anderer Anbieter oder zumindest die Unterwerfung unter die Kontrolle durch die Berufsgruppe des Arztes. Zum Charakter einer Profession241 gehört der Anspruch, „sie sei die zuverlässigste Autorität hinsichtlich des Wesens der Realität, mit der sie es zu tun hat.“242 In dem Moment, in dem eine „professionelle“ Methode entwickelt wird, entzieht sie dem Laien die Kompetenz, schafft gleichsam eine neue soziale Realität. Die diesbezügliche Welt des Laien wird neu geschaffen. Die einmal erlangte Autoritätsstellung dieser Profession in der Gesellschaft ermöglicht es ihr, den Gegens- tand ihrer Arbeit zu verändern bzw. neue Bereiche zu integrieren oder zu schaffen.243 Ein weiteres Motiv eines Standesethos war die Vorstellung vom selbstlosen Dienst an ihrer Klientel, also nicht nur die fachliche Kom- petenz, auch der Anspruch der ‘Ehrenhaftigkeit’ des gesamten Stan- des fungierte als integrierendes Merkmal. Zum Zweck der Sanktionie- rung wurden Verhaltensregeln aufgestellt. Die zentralen Inhalte des 241 Nach Freidson (1979) ist das distinktive Merkmal einer Profession die ge- sellschaftlich und staatlich sanktionierte, v.a. fachliche Autonomie im Ge- gensatz zu Beruf. Also, d.h. die Bewertung von außen ist illegitim, diese Stellung hat Rechtscharakter. „Eine Profession erhält und behält ihre Stel- lung durch die Protektion einer Eliteschicht der Gesellschaft, die davon überzeugt wurde, daß die Arbeit der Profession einen speziellen Wert hat. Ihre Stellung wird also durch den politischen und wirtschaftlichen Einfluß der sie protegierenden Elite gesichert ...“(63) 242 Ebd. S.1. 243 Vgl. ebd. S.3.
  • 93. 93 Begriffs sind „das Streben nach selbstloser Dienstleistung“ und „die Unabhängigkeit in der Ausübung der Berufstätigkeit“.244 5.1.2 Heterogenes Nebeneinander versus Autonomie Ein zweites Standbein, neben der Anerkennung wissenschaftlicher Leistungen durch die Öffentlichkeit, bildet die Entwicklung einer soziologisch relevanten Grundlage für das Entstehen einer Berufs- gruppe, die dann über die Kriterien zu bestimmen hatte, die einen Menschen zur Heiltätigkeit befähigten, die über die alleinige Kompetenz verfügte, den richtigen Inhalt und die wirksame Methode der Ausführung medizinischer Aufgaben zu bestimmen, und die schließlich von denen, die ihre Hilfe nö- tig zu haben glaubten, freiwillig konsultiert wurde.245 Das heterogene Nebeneinander der am Gesundheitsmarkt konkur- rierenden Anbieter von Dienstleistungen verhinderte zunächst den Aufstieg irgendeiner Gruppe. Eine erste stabile Unterscheidungsvor- aussetzung bildete der von der Universität verliehene Titel eines „Doktors“. Die mittelalterliche Universität schuf erste administrative Distinktionskriterien für die Etablierung einer spezifischen Dienst- leistungsgruppe. Die Bedeutung der höheren Bildung in den damali- gen Eliten führte zur Unterstützung der akademischen Ärzte durch die Obrigkeit, die den Weg in Richtung Autonomie förderte und der Me- dizin eine offizielle Kontrolle über ihre Arbeit avisierte246. Die Ent- stehung der Gilden unterstützte zwar die Abgrenzung zu anderen Heilberufen, allein ein breitgestreutes Vertrauen der Bevölkerung in die sogeartete Ärzteschaft war nicht etabliert. Nicht einmal die obers- ten Schichten der Gesellschaft, Adel und Bürgerliche, überant- worteten den Ärzten die alleinige Obhut über ihre physische Verwal- tung. Die Gründung nationaler medizinischer Berufsverbände im spä- ten 19. Jahrhundert gab einen weiteren Impuls in Richtung eines pro- fessionellen Monopols. 244 Unschuld (1978), S.520. 245 Freidson (1979), S.17. 246 Vgl. ebd. S.23.
  • 94. 94 Die Autonomie präsentiert sich als konstitutiv für die Profession. Die Berechtigung leitet sich nach Freidson von drei Behauptungen ab: erstens der esoterische und komplizierte Charakter des fachlichen Wissens schließt den Laien konsequenterweise aus; zweitens garantiert das Berufsethos (Dienst am Volkskörper) ein ho- hes Verantwortungsbewußtsein der Professionisten; drittens durch den Mechanismus der Selbstregelung, d.h. die Pro- fession überwacht die dem Ethos adäquate Berufsausübung und ahn- det Verfehlungen. Das System der Selbstregelung z. B., das häufig als eines der Kriterien für eine Profession bezeichnet wird, soll die Kompetenz der Mitglieder garan- tieren ...247 Die Profession erscheint als einzige Quelle der Kompetenz, ihr E- thos rechtfertigt den Anspruch auf Selbstbestimmung. Das Be- rufsethos, als zentrales Moment der Arbeitsbedingungen, begründet das Vertrauen in die altruistische Haltung des Arztes, der die vorge- fundenen Arbeitsbedingungen nicht zum eigenen Vorteil ausnutzt: ein so qualifiziertes Ethos befördert eine Monopolstellung. Das Fachwis- sen als primäres Element garantiert andererseits den Arbeitsinhalt.248 Die notwendige Hilfe des Staates als Grundlage für die Kontrolle der Medizin über ihre Arbeit affirmiert den politischen Charakter die- ses Unternehmens. Das Interesse der Standesvertreter versucht, die Unternehmungen des Staates für sich nutzbar zu machen. Die Koope- ration zwischen Staat und Profession gilt als Folie einer zu entwi- ckelnden Autonomie, d.h. aber auch, daß der souveräne Staat als Ab- hängigkeit stiftendes Element fungiert. Freidson erklärt, daß der Staat zwar die Kontrolle über die fachliche Seite der Arbeit dem Berufs- stand überläßt, die Kontrolle über die soziale und wirtschaftliche Or- ganisation sich aber vorbehält (gilt fürs 19. Jahrhundert, allerdings hier: liberale Tendenzen, die den Arzt als freien Unternehmer sehen, der sich niederlassen und arbeiten kann, wo es ihm beliebt). Der Ver- lust dieses Kontrollbereichs ist nicht konstitutiv für professionelle 247 Einleitung des Hg. Robert Bierstedt, in ebd. S.III. 248 Vgl. ebd. S.297.
  • 95. 95 Autonomie.249 Der esoterische Anspruch allein gewährt autonomie- stiftende Dynamik. Nicht einmal die Beurteilung der Berufsausübung stehe einem Laien zu. Diese Ausschließungsstrategie impliziert die Aufweichung eines allfälligen staatlich verordneten Rahmens. 5.1.2.1 Strategeme einer Homogenisierung 5.1.2.1.1 Illegalisierung der Konkurrenz In der ZGM-Probenummer vom 26.12.65 ortet Kraus bedenkliche Lücken in der Medizinalordnung, eine in der damaligen Ärzteschaft durchaus gängige Diagnose. Seine Phraseologie bemäntelt das Stan- desinteresse mit der Sorge um das Wohl der Bürger: das Überhand- nehmen der Kurpfuscherei vor allem auf dem ‘flachen Lande’, die den Ärzten tatsächlich den Rang streitig machte, quasi die Bedrohung der erst zu bildenden Monopolstellung des akademisch gebildeten Arztes, sei zu verhindern. Die bis dato geltenden Bestimmungen250 erwiesen sich, so Kraus, als insuffizient; neue müssen her: Hier tritt es wieder klar zu Tage, wie nachtheilig es ist, wenn solche Nor- men ohne den Beirath Sachverständiger statuiert werden, gewiss würde keine ärztliche Corporation der berührten Textirung das Wort geredet ha- ben, weil sie die Folgen vorhergesehen hätte, die eingetreten sind.251 Das „wuchernde Unkraut der Curpfuscherei“ wird zum Attentäter an Wissenschaft, Leben und Volksgesundheit stigmatisiert. Nicht zuletzt die offenbar beträchtlichen Erträge nähren die Schärfe der Polemik. Die Kurpfuscher können „Tausende von Gulden als Geschenk oder Douceure von ähnlichem Werthe annehmen, (...) ohne befürchten zu müssen, von dem Arme der Justiz gefasst und der verdienten Strafe zu verfallen“252. Eine ganz anderen Ton schlägt die Darstellung Carl Müllers, Ge- richts- und Stadtarzt in Brüx, an.253 Mit einer nonchalenten Geste 249 Vgl. ebd. S.23-24. 250 § 343 des damals geltenden Strafgesetzbuches. 251 ZGM (1865, Probenummer), S.55. 252 Ebd. 253 ZGM (1868, Nr.7).
  • 96. 96 nennt er den Anlaßgrund für die Reformbestrebungen innerhalb der Ärzteschaft - Klagen über die unsichere Stellung des Arztes als Heilkünstler im Staate und dem Publicum gegenüber - Klagen über die Beeinträchtigung des Standes in seinem Erwerbe, besonders die Klagen über die riesig emporwu- chernde Curpfuscherei254.255 Angelpunkt auch seiner Kritik ist der § 343 des Strafgesetzbuches, der zwar die Kurpfuscherei strafbar macht, doch mit der Formulierung „gewerbmässig“ eine Hintertür offen läßt, „durch die [das] in der Re- gel jeder Beanzeigte entschlüpft“256. Müller denkt nun, daß der Ent- wurf der medizinischen Fakultät zur Organisation des Medizinal- wesens wenig an den unbefriedigenden Verhältnissen ändern werde, da der Stand der Ärzte, die einzelnen Grundrechte nicht be- rücksichtigt wurden. Einzig probates Mittel ist ihm die Aufklärung des Volkes in medizinischen Angelegenheiten - Information bewahrt vor Täuschung. Der Zirkelschluß präsentiert sich als Aufklärung durch Ärzte, daraus resultiert ein Professionsvorsprung (Vertrauens- vorsprung, Manipulation) der Ärzte. Dieser Public-Relations- Intervention folgt der Aufruf nach staatlicher Sanktionierung, „soll es besser werden, so müssen die Aerzte ebenso mitwirken, wie der Staat, in dem sie wirken“257. Eine andere Invektive zielt auf die Wundärzte ab, die angeblich nach einer simplen Prüfung die Rechte und den Titel eines Doktors der Medizin erhalten, diese Vorgangsweise stört eben den Aufbau ei- 254 Ebd. S.65. 255 Kraus beklagt in seiner Kolumne, Nr.7, (1866): „Fürwahr, dieser einge- schleppte Krebsschaden [die Curpfuscherei-T.B.] bläht sich auch bei uns in einer Weise auf, dass es nunmehr hoch an der Zeit ist, die Behörden zum nachsichtslosesten Einschreiten aufzufordern, soll die Bevölkerung al- ler Gauen des Kaiserstaates an Gesundheit und Vermögen nicht grossen Schaden erleiden und die verbrieften Rechte der Aerzte und Apotheker in der unverantwortlichsten Weise mit Füssen getreten werden.“(86) Hier ein unverblümter Hinweis auf Standesinteresse, abgesichert mit Volkswohl- fahrt und Staatsvermögen. 256 ZGM (1868, Nr.7), S.65. 257 Ebd. S.66.
  • 97. 97 nes homogenen Standes. Müller führt letztlich ins Treffen, daß die Reformideen auf eine Modifikation des Sanitätswesens aus sind, die Unterstützung des ärztlichen Standes jedoch, im Interesse der Be- rufsausübung, d.h. auch die erfolgreiche Verdrängung der ‘Curpfu- scherei’ aus ihrem Tätigkeitsbereich, nicht zu kurz kommen dürfe. Dem Arzte muss in seinem Erwerbe gesetzlicher Schutz durch Landes- und Reichsgesetze gewährt sein [...] Darin liegt das beste Mittel gegen die lei- dige Curpfuscherei, die bereits Alles überwuchert. Endlich müssen die Be- soldungen der im Staatsdienste verwendeten Aerzte, entsprechend denen anderer Staatsdiener, geregelt werden.258 Aus dem Promemoria Machers 1868: Ein, dem Promemoria zuge- fügtes Referat thematisiert einen Bereich, der nochmals dieses exi- stentielles Fragezeichen zeichnet. Der Vortragende alteriert sich über die Kurpfuscherei und formuliert thesenartig Sanktionen zur Abwehr ebendieser. Die Kurpfuscherei, die exuberante Blüten trieb vermittels des Engagements vonseiten der Hebammen, Apotheker, Medizi- nalwarenhändler etc., gefährde den Staat und die Gesellschaft; die Gefahr für den Ärztestand benennt er nicht. Verantwortlich für diese Übelstände war ihm die ungebildete, abergläubische Bevölkerung, die Laxheit der politischen Behörden und Justizbehörden u.v.a. der Dua- lismus innerhalb des medizinischen Personals, der sämtliche Mecha- nismen einer hermetischen Profession (s. Freidson) verhindert.259 Als Maßnahme zur Abwendung der ‘Gefahr’ für Staat und Gesell- schaft empfiehlt er eine verstärkte Förderung des naturwissenschaft- lichen Unterrichts beim Volk: der propagierte Einzug rational-wis- senschaftlicher Episteme in die Alltagsmentalität. Eine Abänderung der Rigorosenordnung bzw. die Einebnung der disparaten, heteroge- nen medizinischen Ausbildungsvarianten. Den Einfluß ärztlicher Standesvertreter auf die Strafprozeßordnung.260 Reinhard Spree bezweifelt die tatsächliche finanzielle Konkurrenz durch die Laienmedizin. Ein Aspekt der Illegalisierung scheint ihm bis ins 20 Jahrhundert hinaus die eminente Schwierigkeit „am Markt 258 Ebd. S.74. 259 Vgl. Macher (1868), S.30. 260 Vgl. ebd. S.31.
  • 98. 98 für gesundheitliche Dienstleistungen ein ärztliches Monopol zu er- richten“261. Zudem ist die Illegalisierung eine polemischen Strategie zur Verdrängung traditionaler Therapieformen zugunsten des wis- senschaftlichen Paradigmas der Schulmedizin. Der interne wissen- schaftliche Fortschritt hatte nur bescheidene erfolgreiche Therapiein- novationen anzubieten, möglicherweise eine Konsequenz des thera- peutischen Nihilismus v.a. der Zweiten Wiener Schule um Rokitansky und Skoda. Als eine weitere Folge ist wahrscheinlich eine Verschlechterung der Gesundheitsverhältnisse zu bemerken. Die Verdrängung der traditionalen Heilberufe bekam v.a. die Landbevölkerung und die städtischen Unterschichten zu spüren, wenngleich die Effizienz der Sanktionierung der Verbote gerade in diesem sozialen Bereich schwer kontrollierbar bleibt. 5.1.2.1.2 Exkurs: Ausbildung und Prüfungen des heilärztlichen Per- sonals Ein Hofdekret vom 28. Juni 1786 organisiert die Ausbildung des geprüften Heilpersonals. Die dualistische Systemisierung umfaßte einen großen fünfjährigen Kurs für Ärzte und höhere Wundärzte und einen kleineren zweijährigen Kurs für Zivil- und Landwundärzte. Die Gruppe der Wundärzte unterschied sich somit in zwei Klassen, die Magister und Doktoren der Chirurgie und die Land- und Zivilwund- ärzte. Das fünfjährige medizinisch-chirugische Studium schließt eine dreijährigen Kurs ein, der Theorie und Hilfswissenschaften vermittelt und einen zweijährigen Kurs zur speciellen Therapie und Klinik.262 Der og. zweijährige Studien-Kurs für Zivil- und Landwundärzte ist denjenigen vorbehalten, die bei einem Meister eine Lehre abgeschlos- sen haben. Die ohne Freibrief müssen Zeugnisse von der Normal- Schule vorlegen und einen dreijährigen Kurs absolvieren.263Lehrlin- 261 Spree (1981), S.152. 262 Vgl. Bernt (1819), S.83-84. 263 Vgl. ebd., S.87.
  • 99. 99 ge, die lediglich Vorlesungen besuchen, werden nach der Freispre- chung nicht als ordentliche Schüler der Wundarzneykunst in die Ver- zeichnisse eingetragen264, sondern mit dem Zusatz ‘Lehrling’ stigma- tisiert - Versatzstücke einer umfassenderen distinktiven Dichotomie von gelernt vs. ungelernt. Daneben bestand noch die Einrichtung der k.k. Lyceen, dabei han- delte es sich um eine abgesonderte klinische Schule mit zwölf Betten für die medizinischen und zwölf Betten für die chirurgische Klinik. Die Finanzierung erfolgt über den Studien-Fond. Der Studienplan ist ident mit dem universitären Kurs für Land- und Zivilwundärzte.265 Parallel wurde 1807 ein k.k. Privat-Institut für chirurgische Operateure an der Wiener Universität gegründet: sechs Personen, die den 2-jährigen Unterricht in Wundarzneykunst absolviert haben. Die Ausbildungsdauer betrug zwei Jahre durch den Professor für praktische Wundarzneykunst.2661843 wurde das Institut erweitert, ein zweites wurde an der 2. chirurgischen Klinik eingerichtet. Da diese Ausbildung hinsichtlich der Besetzung einschlägiger Dienststellen Bevorzugung erfuhr, drängte man darauf, daß nur promovierte Ärzte mit Stipendien für diesen Kurs versorgt werden267. Mit einem Hofkanzleidekret vom 17. Februar 1804 wurde eine lan- desweit gültige Regelung des Studienwesens etabliert, die den Zulauf zu den medizinisch-chirurgischen Studien an den Universitäten der Monarchie steuert. Das Studien-Hofcommissions-Decret vom 20. Ap- ril 1833 spezifiziert die Organisierung der Studien; bis 1872 erhielt sich ein Dualismus in der Ausbildung. Die zwei Kategorien teilten sich in Ärzte, Doktoren der Medizin, und Wundärzte, das sind Dokto- ren, Magister und Patrone der Chirurgie. Die Prüfung und Diplomie- rung der sogenannten „Bruchärzte“ wurde 1810 eingestellt. Das me- dizinische Studium wurde ausschließlich an den Universitäten betrie- ben; das chirurgische Studium zerfiel in zwei Klassen: 264 Vgl. Frank (1817), Bd.6 2.Teil, 362. 265 Vgl. Bernt (1819), S.91-92. 266 Vgl. Bernt (1819), S.90 und Frank (1817), S.355. 267 Vgl. Schauenstein (1863), S.315.
  • 100. 100 1. das höhere Studium an den Universitäten approbierte die Dokto- ren und Magister der Chirurgie aus. Voraussetzung für den Ma- gister war die erfolgreiche Absolvierung der 6. Gymnasialklasse und ein dreijähriges Fachstudium für Patrone, nicht zwingend an einer Universität, und ein viertes an der Universität. Nach der Pat- ronatsprüfung war eine praktische Prüfung vorgesehen: einen anatomische Sektion und einen Operation an einer Leiche. 2. das niedere chirurgische Studium an den Lyceen bzw. medizi- nisch-chirurgische Lehranstalten - zuvor gab es noch vereinzelt Kurse an den Universitäten bildete die Patrone der Chirurgie aus. Das Patronat war niemals ein akademischer Titel. Voraussetzung war der Abschluß der 4. Gymnasialklasse oder ein vorgelegter Lehrbrief (zur Lehre s.u.). Das Fachstudium über drei Jahre hatte nach jedem Jahrgang eine Prüfung, deren positiver Ausgang für den Aufstieg in den nächsten Jahrgang zwingend war. Ehemalige Lehrlinge mußten einen zweimonatigen Spitalsdienst (medizini- sche/chirurgische Abteilung) absolvieren. Absolventen die direkt aus dem Gymnasium in das Fachstudium eintraten mußten einen dreimonatigen unentgeltlichen Praktikantendienst im Spital ab- solvieren. Dazu kam ein zweimonatiger praktischer Unterricht in Geburtshilfe (die Prüfung bestand aus einer Entbindung am Phan- tom oder an der Leiche) und eine sechswöchige Praxis an einer Findelanstalt zwecks Impfunterricht. Die Prüfung für das Patronat der Chirurgie umfaßte Anatomie, theoretische und praktische Medizin und Chirurgie sowie Staatsarzneikunde. Das Diplom wurde in deutscher Sprache ausgestellt; approbiert als Wund- und Geburtsärzte. Die Lehrzeit und Vorbildung war nach dem Muster für Gewerbe ge- ordnet. Die Aufnahme erfolgte über das chirurgische Gremium, das den Kandidaten einem Lehrherren (=Wundarzt) zuwies. Nach dreijäh- riger Lehrzeit erfolgte die Freisprechung nach einer Prüfung vor den chirurgischen Gremium zum chirurgischen Gehilfen (Subjekt), bestä- tigt durch ein Lehrzeugnis. 1786 gründete Joseph II. zur Heranbildung von Militärärzten die medizinisch-chirurgische Josephsakademie. Hierorts unterrichtete man sowohl das höhere als auch das niedere medizinisch-chirurgische
  • 101. 101 Studium. Die Diplome der Universitäten und der Josephsakademie waren gleichwertig. Die Problematik dieser Institution spiegelt sich in der relativ kurzen Lebensdauer wider; 1848 eingestellt, 1854 wieder errichtet und 1873 endgültig aufgelassen. Für das Doktorat der Medizin war ein fünfjähriges Universitätsstu- dium vorgeschrieben, welches 2 Rigorosen umfaßte. Das Doktorat der Medizin war bis zum Erlaß des Studien-Hofcommissions-Decretes vom 8. Oktober 1843 unbeschränkt zugänglich, danach konnten nur noch graduierte Doktoren der Medizin dieses Doktorat nach zweijäh- riger Studienzeit erwerben, eine massive Einschränkung und symboli- sche Degradierung der Chirurgie. Eine Besonderheit war das Magisterium der Geburtshilfe, das vor al- lem für die Anstellung im öffentlichen Sanitätsdienst erforderlich war. Lediglich Absolventen der höheren medizinisch-chirurgischen Studien konnten dieses postgraduate erwerben. Der Wundarzt, dem es nicht gestattet war den Titel ‘Arzt’ zutragen, da er v.a., so eine Erlaß vom 14. März 1882, die Ausbildungsunter- schiede und Kompetenzen bezeichnen sollte, als Ausbildung und letzthin als Profession mußte sich ab der Mitte der 1840er Jahre ver- gegenwärtigen, daß er das vorläufige Ende einer Geschichte miterlebt. Mit einem Erlaß des Unterrichtsministeriums vom 13. August 1848 wurde das niedrige chirurgische Studium an Universitäten sowie die Ausbildung zum Magister der Chirurgie aufgehoben. Der Dualismus in der Ausbildung wurde mit einer Verordnung des Ministers für Cultus und Unterricht vom 15. April 1872 abgelöst von einer einheitlichen Ausbildung, die die Eigenart und Genealogie des Wundarztes in eine professionelle Vorgeschichte verdrängte. Bereits ein Erlaß des Unterrichts- und Cultusministeriums vom 16. August 1849 deutet in Richtung einer Vereinheitlichung der Ausbildung bzw. nur einer Kategorie von Ärzten. Sowohl Patrone als auch Magister der Chirurgie konnten entweder den medizinischen oder den chirurgi- sche Doktorgrad in relativ kurzer Zeit erwerben. Allerdings auch nur bis in das Jahr 1853; ab dann war per Erlaß des Unterrichtsministeri- ums einerseits eine absolvierte Matura erforderlich, andererseits wur- de das Fakultätsstudium für approbierte Wundärzte (Patrone) auf zehn, für Magister auf sechs Jahre festgelegt.
  • 102. 102 Für das zahnärztliche Studium war mindestens das Diplom des Pat- rons der Chirurgie unerläßlich.268 5.1.2.1.3 Integration und Einebnung der Vielfalt Der schon erwähnte vielgestaltige Gesundheitsmarkt erfuhr eine Einengung einerseits durch die Illegalisierung einer oder mehrerer Anbietergruppen, andererseits durch eine Erweiterung des Macht- einflusses einer Gruppe, nämlich der akademischen Ärzte, zuungun- sten einer schwächer legitimierten Gruppe von ‘Heilern’. Die dispa- rate Segmentierung des Gesundheitsmarktes wurde von den mono- polistischen Taktiken der Ärzteschaft zunächst überwunden, zunächst deswegen, da in den folgenden Jahrzehnten erneut eine Aufsplitterung zu beobachten ist. Jetzt allerdings unter Standeskontrolle. Die Spezia- lisierung erfolgte in den Grenzen einer m.E. definierten Autonomie. Die Vereinheitlichung des Gesundheitsmarktes ist Resultat einer komplexen Dynamik, Aspekte dieser Bewegung versucht diese Erör- terung zu eruieren, ein Aspekt im konkreten Kontext ist die Manipu- lation von Wissen269, das meint v.a. die Strategie den Wert des von Konkurrenten gehaltenen Wissens herabzusetzen. Hinter einer Po- lemik, die scheinbare Objektivität einsetzt, agieren politische Interes- sen. „Es besteht keine andere objektive Notwendigkeit für derartige Auseinan- dersetzungen als das Bemühen um erweiterte Kontrolle über die in Frage kommenden primären und dann vor allem sekundären Mittel.270 Die späten 60er Jahre des 19. Jahrhunderts in Österreich wiesen eine signifikante Beachtung der Chirurgenfrage auf. Stolperstein für die ‘mindergebildeten’ Wundärzte sollte eben auch ein Wissensmonopol im Bereich des öffentlichen Sanitätsdienstes sein. Die Physikats- 268 Vgl. Daimer (1896), Bd.1, S.349-365. 269 Vgl. Unschuld (1978), S.152. 270 Ebd. S.533.
  • 103. 103 prüfung271 sollte nur dem gewährt werden, der das kanonisierte Wis- sen eines akademische instruierten Arztes nachweisen konnte. Jeder andere, d.h. ein Wundarzt, würde infolge seines defizitären Wissens die Wohlfahrt des gesamten Staates gefährden, so die Stan- despolemik. Diese öffentliche Tätigkeit stand deswegen im Brenn- punkt, da die Ärzteschaft davon einen Standesbonus ableitete - ein Wundarzt an dieser Position wäre der unüberwindliche Spaltpilz einer Professionalisierungsbewegung. Die Inkorporation dieser Heilergruppe stand so im Dienste einer Expansion. Das Korsett einer gemeinsamen, verbindlichen Ausbil- dung wird zum Element einer fortschreitenden Verselbständigung. Ein[-T.B.] formelles Studium vermittelt nicht allein Fähigkeiten und dient auch nicht nur der Auslese, es ist darüber hinaus ein wichtiges Element der Integration von Neumitgliedern in die Denk- und Handlungsart der Gruppe und trägt so zur Kontinuität der Wahrung spezifischer Interessen bei.272 Aus einem Memorandum des Doktorenkollegiums der Uni Wien 1867 in ZGM Nr.49: Revisionsbedürftig erscheint der Fakultätsvertretung die diskontinu- ierliche Qualifizierung, das heterogene Feld der Doktoren der Me- dizin, der Doktoren, Magister und Patrone der Chirurgie. Die Nachtei- le und Gefahren, so der Entwurf, dieser Disparität äußern sich nir- gends drastischer, als in den Fällen, wo die Behörden sich in Sanitäts- angelegenheiten und besonders in gerichtsärzlichen Fällen „des Ra- thes und Gutachtens halbgebildeter Heilindividuen aus den unteren Kategorien des ärztlichen Standes bedienen, oder bedienen müs- sen“273. Ihr Vorschlag geht dahin alle niederen chirurgischen Schulen aufzulassen und „in Hinkunft an allen medicinisch-chirurgischen Lehranstalten nur mehr Heilärzte von gleicher Qualifikation und mit gleicher Berechtigung“274 auszubilden. Wieder eine Schritt zur Ver- 271 Per Verordnung wurde am 21. März 1873 die Physikatsprüfung eingeführt, die unerläßlich für eine Anstellung im öffentlichen Sanitätsdienst war. Die erste Prüfung sollte im Oktober 1873 abgenommen werden. 272 Unschuld (1978), S.535. 273 ZGM (1867, Nr.51), S.598. 274 Ebd. S.599.
  • 104. 104 einheitlichung im Monopolinteresse eines Standes unter Hinweis auf die Gefahr für das Allgemeinwohl. Letztendlich bietet das Instrument der Physikatsprüfung ein weiteres Mittel zur Spezifizierung und Kontrolle des eigenen Standes, ein straff organisiertes Spezialistentum garantiert ein solides Gerüst beim Aufbau eines Monopols. Daher deponiert das Kollegium die Idee der Physikatsprüfung für Kandidaten des öffentlichen Sanitätsdienstes. Demnach würden in Hinkunft nur solche Aerzte zu öffentlichen Anstellun- gen gelangen können, welche als Doctoren der gesamten Heilkunde und nach zurückgelegter vorgeschriebener Spitalspraxis auch noch das Physi- catsexamen mit gutem Erfolge abgelegt hätten.275 In gleicher Weise argumentiert Mathias Macher in einer Anmerkung zu einer Vorlage der Vereins der Ärzte der Steiermark, er fordert eine strenge Prüfung aus der Staatsarzneikunde als conditio sine qua non einer Anstellung im öffentlichen Sanitätsdienst. Gleichzeitig eröffnet die Idee der Realisierung einer Ärztekammer die Chance zur Revision des Sanitätswesens, so Macher, „die Emancipation desselben von dem allzugrossen nachtheiligen Einflusse fachunkundiger Laien“276. Der Gerichtsarzt Leon Blumenstok aus Krakau: Die Problematik der Gerichtsärzte will Blumenstok mittels eines nachvollziehbaren Aus- bildungsweges in den Griff bekommen, der Nachweis einer ge- richtsärztlichen Praxis in Form einer Aspirantentätigkeit an einer Ge- richtsbehörde. Im Sinne der Konsolidierung eines homogenen Be- rufstandes fordert er den Ausschluß der Wundärzte von solchen Stel- len; dieser Forderung schickt er eine Desavouierung hinterdrein, so gibt es „unter den Gerichtsärzten nicht nur Wund-, sondern auch gra- duierte Aerzte [gibt], freilich solche, die aus alten Chirurgen junge Doctoren der Medicin geworden, die des Schreibens nicht vollkom- men kundig sind“277. In diesem Sinne unterstützt er die Forderung nach Auflösung der Chirurgenschulen . 275 Ebd. S.615. 276 ZGM (1868, Nr.5), S.45. 277 ZGM (1868, Nr.6), S.54.
  • 105. 105 Die Hauptversammlung des Vereins der Ärzte der Steiermark be- auftragte am 16. Juli 1868 Dr. Macher mit der Anfertigung eines Pro- memoria auf Basis der gefaßten Beschlüsse. Das „I. Comité“ für wis- senschaftliche Interessen war mit der Ausarbeitung eines Vorschlags zur Medizinalreform betraut. Im Vorwort verzeichnet Macher eine totale Vernachlässigung des Sanitätswesens bis „an die Grenze der Verkommenheit“278 nach der politischen Reorganisation von 1853. Der Referent des I. Comités Dr. Blodig beantragt im Zusammenhang der Frage nach einer Reforms des Studiums der Heilkunde, daß aus- nahmslos nur eine Kategorie von Ärzten herangebildet werde. Im Sinne einer Homogenisierung des Berufstandes sollte eine Speziali- sierung erst nach Absolvierung des Studiums der gesamten Medizin ermöglicht werden; Ärzte, die eine öffentliche Anstellung anstreben, müßten sich einer speziellen Prüfung unterziehen (der Physikatsprü- fung). Eine der essentiellsten Voraussetzungen erschien der steirischen (und nicht nur dieser) Interessenvertetung die Lösung der „Chirurgen- frage“, das meint die Auflösung der Studien für Patrone und Magister der Chirurgie.279 Das Referat des Comités für Standesinteressen emp- fiehlt eben die Aufhebung des sogenannten niederen medizinisch- chirurgischen Lehrkurses. Die Tatsache, daß der frühere Mangel an Ärzten es notwendig machte quasi halbgebildeten Wundärzten Kom- petenzen hinsichtlich einer innerlichen Therapie einzuräumen, sieht der Referent Dr. Schwarzl keineswegs mehr gegeben; die aktuelle po- litische Verfassungs- und Verwaltungsrealität begünstigt seiner An- sicht nach die Ansiedlung von Ärzten, da die Landesvertretungen und die autonomen Gemeinden die materielle Existenz der anzustellenden Ärzte sichern sollten. Hier dürfte der Wunsch Vater des Gedankens gewesen sein, fehlt doch in jeder Hinsicht der plausible Nachweis der Umsetzung der Verordnungen in die Realität, ich verweise auf dies- bezügliche Anmerkungen der Quellen280. Vielmehr geht die Forde- 278 Macher (1868), S.4. 279 Vgl. ebd. S.8. 280 Vgl. Uffelmann (1878), S.84 und ZGM (1866,Nr.14), S.170.
  • 106. 106 rung nach Sistierung des ‘halbärztlichen’ Heilpersonals in Richtung einer Vereinheitlichung und Einebnung einer noch disparaten Profes- sion. Unisono mit anderen Medizinern verlangt Macher im Promemoria des steirischen Ärztevereins die Installation einer Überprüfung der Fähigkeiten einer Mediziners, der um Anstellung im Sanitätswesen ansucht. Nach Mundy sollte dies dergestalt verbürgt werden, indem eine Lehrstuhl für „öffentliches Gesundheitswohl“ geschaffen wird, thematische Schwerpunkte wären im theoretischen Kursus das Sani- tätswesen im Allgemeinen, im praktischen Gerichtsmedizin mit Se- zierübungen, forensische Chemie, Toxikologie, Histologie und Ve- terinärkunde.281 Die Denunzierung der Wundarztausbildung als unvollständig schloß die Chirurgen konsequenterweise von der Physikatsprüfung aus, die ein Spezialwissen vermitteln sollte, welches allerdings auf dem aka- demischen Titel eines ‘Doktors’ gründe: er allein garantiere ein ad- äquates Maß an Allgemein- und Fachwissen, so Gauster.282 Den Chi- rurgen wurde per Antrag der Enquête-Commission das theoretische Recht auf Zulassung zur Physikatsprüfung vorerst gewährt; die For- mulierung des Wirkungs- und Aufgabenbereichs des Physikats, das primär prophylaktische und hygienische Medizin und nicht thera- peutische zu exekutieren hatte, rekurrierte auf die Denunzierung des Ausbildungsmangel der Chirurgen und damit verbunden auf einen Wissensmangel im nicht heilkundlichen Bereich. Der Wundarzt wur- de vom Physikatsdienst ausgeschlossen.283 Den erhobenen Vorwurf der Einschränkung ärztlicher Anstellungen für Chirurgen begegnet Gauster mit dem Hinweis auf die gleiche Pra- xisberechtigung, die ihnen vielfältige Betätigungsmöglichkeiten in den Gemeinden einräumt. 281 Vgl. Mundy (1868), S.89. 282 Vgl. Gauster (1869 c), S.5. 283 Vgl.ebd. S.6.
  • 107. 107 Die Kommission hat bei Besprechung der Besorgung der öffentlichen Krankenpflege durch die Gemeinde selbst die beiden Kategorien von Aerz- ten gleichgestellt.284 Die Kommission entschied in ihren Anträgen, so Gauster, auf Aus- schließung der Wundärzte von der Wahl zu den Landessanitätsräten mit der Begründung, daß diese Kollegien nicht die Interessen des ärztlichen Standes und Berufes, sondern blos die der medizinischen Wissenschaften und insbesondere das Hygienische zu vertreten haben.285 Das passive Wahlrecht war ihnen gewährt. Die Gleichstellung in der Behandlung im öffentlichen Dienst mit Ärzten im Bereich der Pensio- nierung bzw. der Versorgung von Witwen und Waisen postulierte die Kommission. In Anbetracht der Kommisionsbeschlüsse moniert Gau- ster Zufriedenheit auf seiten der Chirurgen: die Gleichstellung in der Praxis wäre eine bereits erstaunliche Konzession; Gauster betreibt die fachliche Diskriminierung soweit, daß die Gesundheit der Bevölke- rung durch die hohe Zahl an minder ausgebildeten Wundärzten auf dem Spiel steht, v.a. gibt er zu Bedenken, daß „gleiche Praxisrechte durch ein kürzeres, billigeres und minder allseitiges, so wie minder eingehendes Studium erworben werden können“286. Die Versorgung der Staatsbürger mit minder qualifiziertem Personal wird zum Menetekel und lanciert so die Einforderung und Affir- mation einer universalen, vereinheitlichten Ausbildung unter dem Pat- ronat der akademischen Ärzteschaft. Der Ausschluß von wissen- schaftlich „Höherwertigem“ gründet im Ausbildungsdefizit der Wun- därzte, das Gegenteil wäre Hybris. Die Konzessionen erhalten ihre Berechtigung vor dem Hintergrund der Schließung der Chirurgen- schulen (bzw. Umwandlung in universitäre Einrichtungen) und einer Einebnung der Ausbildungsformen, d.h. einer Inkorporation der Wun- därzte in die Ausbildungsschemata der universitären, universalen Medizin.287 Wenn Gauster die Einheit wissenschaftlicher Erkenntnis 284 Ebd. S.7. 285 Ebd. S.7. 286 Ebd. S.8. 287 Vgl. ebd. S.8.
  • 108. 108 und öffentlichen Wohls proklamiert, dann um die Einheit und Unteil- barkeit des menschlichen Körpers zu propagieren und sich gegen eine pragmatischen Fragmentarisierung des Leibes auszusprechen: ledig- lich ein Maß, d.h. eine Ausbildung und eine Profession ist legitim.288 Professionspolitisch interessant bleibt die Diskussion über die Ü- bergangsperiode bzw. über die von Gauster erwartete Ablöse der Wundärzte durch ‘universal’ gebildete Allgemeinmediziner. Den Verweis auf durchwegs erträgliche ökonomische Verhältnisse der Ärzte quittiert er mit dem Begriff von der Transformation der prie- sterartigen Stellung zur gewerblich-geschäftlichen Position des Arztes und damit einhergehendem ökonomischen Avancement.289 Zielsetzung dieser Vereinheitlichung ist die künftige Verbindung von Wundärzte und Ärzten in freien Assoziationen.290 Hoffmanns, eine zusätzliche Quelle, Sorge um die Substituierung des 1850er Provisoriums durch definitiv gesetzliche Regelungen be- zieht sich v.a. auf die Organisation des Dienstverhältnisses bzw. auf die Neuformulierung der Ausbildungsideen. Um eine hinreichend große Anzahl entsprechend ausgebildeter Ärzte für die öffentliche Gesundheitspflege zu garantieren, fordert er ein Examen aus dem Fach der Staatsarzneikunde. Die Funktion der Selbstkontrolle im Rahmen der professionspolitischen Abschottungsinteressen wäre da- mit gestützt. Der Ausschluß anderer Berufsgruppen erneut bekräf- tigt.291 5.1.3 Autonomiebestrebungen und staatlicher Interventionismus Fehlendes Expertenwissen im frühen 19. Jahrhundert, verhinderte noch die Autonomie einer Berufsgruppe im Rahmen einer angestreb- ten Monopolbildung; ein übriges tat das unstrukturierte Nebeneinan- der heterogener Gruppen, die therapeutische Dienstleistungen anboten - den akademischen Ärzten, einer kleinen Teilgruppe, war es noch 288 Vgl. d. S.9. 289 Vgl. mit den Motiven der Illegalisierung der 'Kurpfuscher'. 290 Vgl. Gauster (1869 c), S.10. 291 Vgl. Hofffmann, (1867), S.7.
  • 109. 109 nicht möglich ihren Exklusivitätsanspruch anzumelden. Es lassen sich allerdings schon für diese Periode Vereinheitlichungstendenzen beo- bachten. Der staatliche Proto-Interventionismus, das staatliche Inte- resse an einer medizinischen Inventarisierung, d.h. Kontrolle der psy- cho-physischen Befindlichkeiten seiner Bevölkerung, an einer kon- trollierenden medizinischen Infrastruktur im Sinne einer ‘medicini- schen Polizey’, bildete das ausgeprägteste Movens. Das ärztliche Heilpersonal hatte die Stellung von öffentlichen Ge- sundheitsbeamten292, auch der nicht öffentlich angestellte Arzt war in disziplinarrechtlicher Hinsicht den staatlichen Beamten gleichgestellt. Von daher erklärt sich ein Abhängigkeitsverhältnis, das nicht zuletzt in dem Hofkanzleidekret vom 3. November 1808 verschriftet ist. Der Arzt, der seine Ausbildung ausschließlich an eine österreichischen Hochschule bzw. an der Josephsakademie erhalten konnte, bleibt in- nerhalb einer Provinz dem Gubernium bzw. dem Kreisamt des Dist- rikts untergeordnet.293 Die nicht gesetzlich geregelte Honorarfrage widerfährt Schauenstein als Beeinträchtigung der ärztlichen Tätigkeit, ist der Arzt doch „dadurch der Willkür des Einzelnen preisgege- ben“294. Ein Blick auf diese in aller Kürze entworfene Skizze offen- bart eine nachgerade aporetische Konzeption: Einerseits der noch verhüllte Appell an eine generell staatlich geregelte Dotation ärztli- cher Tätigkeit, andererseits die als Suppression erfahrene Abhängig- keit von staatlichen Behörden. Schauenstein polarisiert in der patheti- schen Begriffsfindung von Rechten und Pflichten.295 Ein Arztstand, der durch sein wissenschaftliches Selbstverständnis gestärkt, durch seine Strategien dem Staat nahezu unentbehrlich erschien, der Nutz- nießer, Instrument und Effekt einer Vergesellschaftung der wissen- schaftlichen Expertise war, wird späterhin einflußreicher punkten in der Rechte/Pflichten-Diskussion. Die Gestaltung des Gesundheitswe- 292 Ein Hinweis auf diese Position ist Befreiung von der Erwerbssteuer per 31. Dezember 1812, da das Heilpersonal „ in gewisser Beziehung als Staats- diener anzusehen [ist-T.B.].“ Zit. nach Schauenstein, S.370. 293 Vgl. ebd. S.331-334. 294 Ebd. S.367. 295 Vgl. ebd. S.328-331.
  • 110. 110 sens, mithin der ärztlichen Arbeits- und Lebenswelt wird zumindest bis ans Ende des 20. Jahrhunderts ein zentrales soziales Integrations- programm darstellen. Die gesamtgesellschaftliche Legitimation der akademischen Ärzte- schaft mußte allerdings noch bis ins frühe 20. Jahrhundert ausbleiben; der nur sporadische Kontakt, v.a. mit der armen und der Land- bevölkerung verhinderte jede essentielle Vertrauensbildung. Die gelehrten Ärzte besaßen nur ausgesprochen partikularistische Absatz- chancen auf dem Markt für medizinische Dienstleistungen, der als einheit- licher gar nicht existierte, sondern in eine Reihe relativ unverbundener Teilmärkte zerfiel.296 Da der expertenorientierte, auf akademische Bildung aufbauende, öffentlich anerkannte Diskurs zwecks Monopolisierung nicht durch- setzbar war, entwickelte sich die Strategie einer Standardisierung der Ausbildung, d.h. auch eine Integration vermeintlich ‘niedriger’ Hei- ler. Die Erweiterung der so instruierten Berufsgruppe ermöglichte ei- ne Dominanz über die verblieben, also ausgeschlossenen, diagno- stischen und therapeutischen Dienstleistungen. Der Begriff der Ho- mogenisierung beinhaltet so eine zahlenmäßige Verringerung und Hierarchisierung der Heilberufe. Das staatliche Engagement, das einer Verringerung diverser Subgruppen im Bereich der Heilberufe Vor- schub leistete, war begünstigt durch den Umstand, daß die Ausbil- dung von staatlich kontrollierten und finanzierten Institutionen vor- genommen wurde. Ab der Jahrhundertmitte beschleunigte sich der Homogenisierungs- prozeß, eine zunehmende Differenzierung der Gesellschaft vor der Folie der Szientifizierung der Lebenspraxis begünstigte das Exper- tentum. Durch die Integration von Innerer Medizin, Chirurgie und Geburtshilfe hat- te sich die Gruppe der akademisch gebildeten Ärzte nach Sozialisation und sozialem Status homogenisiert. Sie erfuhr insgesamt eine Status- Anhebung, so daß die Vereinheitlichung auf diesem Gebiet als ein Schritt kollektiver sozialer Mobilität nach oben interpretiert werden kann [...] Die- ser Vorgang könnte deshalb erstaunlich erscheinen, weil er keineswegs 296 Huerkamp (1985), S.42.
  • 111. 111 durch popularisierte Fortschritte der medizinischen Wissenschaft oder gar durch gesellschaftlich anerkannte Verbesserungen ärztlicher Diagnose und Therapie legitimierbar war.297 In Österreich erfolgte die Integration der Chirurgen erst nach dem Reichssanitätsgesetz von 1870, durch die Rigorosenordnung vom 15. April 1872, die nur mehr einen Doktor der gesamten Heilkunde promovierte. Noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts trotzte ein traditionales Weltverständnis der elitären und esoterischen Wissenschaft. Das Ver- trauen der Bevölkerung in sozial näherstehende, traditionale Heilbe- rufe war dominant; auch die sozialen Eliten hatten, ob der medizini- schen Praxis, wenig Vertrauen in den akademisch gebildeten Ärzte- stand. Die Privilegierung dieser Berufsgruppe bzw. die Förderung ihrer Autonomie- bzw. Monopolbestrebungen ist dann nur noch im Rahmen staatlich-bürokratischen Interesses zu begreifen298. Neben der gesellschaftlichen Aufwertung einer Teilgruppe des Bildungsbür- gertums erkennt Spree als weitaus plausibleren Anlaß die im Kontext der Medizinalreformen erweiterten „infrastrukturellen Regulierungs- und Kontrollmöglichkeiten im gesundheitspolizeilichen Sinne“299. Das monarchistische System benötigte für stabilisierende Funktionen keine medizinischen Experten und Therapeuten, sondern Charismati- ker, eine hoheitlich begründete Autorität, in zahlen- und ausbil- dungsmäßig überschau- und kontrollierbarer Menge. Beispielhaft koppelt sich an dieses Staatsinteresse die Diskussion um die Reorganisation des öffentlichen Gesundheitswesens in Öster- reich. Das standespolitische Interesse fügt sich nahtlos ein in die Am- bitionen der Behörde. Die provisorische Organisation von 1850 er- füllte in der Durchführungspraxis weder die Absichten des Staates noch die der Profession. Der Laie stellt sich Hoffmann als potentieller Verhinderer dar. Die Nutzbarmachung für die Volkswirtschaft hängt vom Ausschluß der Laien bzw. von einer starken Reduktion ihrer e- ventualen Einflußnahme ab. 297 Spree (1981), 142-143. 298 Vgl. ebd. S.143. 299 Ebd. S.144.
  • 112. 112 Denn was könnten die besten, vernünftigsten und wohlmeinendsten Rathschläge wohl nützen, wenn sie entweder ganz unausgeführt blieben, oder wenn sie von Laien ohne Verständnis der Sache, willkürlich modifi- ciert und verkümmert zur Ausführung gelangen.300 Mehr Einfluß der Expertokratie, allein der ungebildete Laie wird zum Dämon der Verhinderung des Fortschritts, mithin der staatlichen Wohlfahrt - eine Phraseologie, die mit Drohgebärden um Aner- kennung buhlt. Folie dieses erweiterten Manipulationspotentials wä- re: autonome und selbständige Leitung der Sanitätsangelegenheiten, welche in oberster Instanz durch ein selbständiges Sanitätsdepar- tement, Leitung: Reichs- oder Staatsmedizinalrat, repräsentiert wird. Dieses sollte dem Staatsministerium, dem Innenministerium oder dem Ministerium für Cultus und Unterricht inkorporiert sein301. Ergän- zend sollte den Sanitätsreferenten (Medizinalräten) bei den Statthalte- rien bzw. beim Ministerium „Concepts- und Kanzleipersonal“ zur Bewältigung ihrer „Bureau-Geschäfte“ ein ständiger Sanitätsrat zur Verfügung gestellt werden. Die Sanitätsräte hätten die Vollmacht: • Personalentscheidungen zu treffen • wissenschaftliche Fragen zu behandeln • die Abgabe supraarbitreller Gutachten • deren Mitglieder wären ideale Prüfer des Examens aus Staatsarz- neikunde. Die Dotation der bei Beratungen der Sanitätsräte betei- ligten Mediziner sei sicherzustellen nach dem Motto: „Time is monney and study wants time.“302 Ein bedeutsames Element stellt die Kriminalisierung von Teilen des Heilpersonals dar, v.a. der Kurpfuscher bzw. des durch sie reprä- sentierten, traditionellen laienmedizinische Verfahrens. Die Medizi- nalreformen förderten in diesem Sinne die Aufwertung einer Teil- gruppe zuungunsten einer anderen, d.h. Illegalisierung der sogenann- ten laikalen Medizin; „Enteignung der Gesundheit“ würde man heute sagen. 300 Hoffmann, S.14 301 Vgl. ebd. S.14 302 Hoffmann, S.15.
  • 113. 113 5.1.3.1 Ärztekammern: Institute der Autonomie Die Vereinsbildung stellt im Rahmen der Professionalisierung einen Schritt aus der staatlichen Kontrolle dar. „Ein Aerztetag in Oester- reich!“303 Die Vereine waren wichtiges Sprachrohr für die Propa- gierung ärztlicher Standesinteressen. Noch bevor es zu Konstitution von Standesordnungen kam, war die Funktion der Ärztevereine we- sentlich der Austausch von wissenschaftlicher Information und ge- selliges Beisammensein. Die Formulierung standespolitischer Be- lange gegenüber den Medizinalbehörden304, d.h. die Politisierung des Vereinswesens, der Widerstand gegen staatliche Regelungs- und Kon- trollmechanismen verfestigte sich im Zuge der Reformdebatten zum Gesundheitswesen. Die Zwitterstellung des Arztes, einerseits Beamter andererseits Gewerbetreibender305, präsentiert sich als essentieller Impuls ärztlicher Professionalisierung. Die Ärzteschaft erfaßte auch die Chance, durch aktive Teilnahme am öffentlichen Ge- sundheitswesen, ihre Standesinteressen zu befördern. Eine freie As- soziierung erwuchs so zum ersehnten Organ der Interessen v.a. dem Staat gegenüber. Aus einem Beitrag Gausters in ZGM: Titel: „Noch ein Wort über die Reform des öffentlichen Gesundheitswesens in Oesterreich.“306 Ein organisatorisches Konzept bildet den Rahmen bzw. notwendi- gen Anlaß eine ärztliche Assoziierung zu beschwören: Die Bestellung der Gremiumsmitglieder307 erfolge durch Staat, Land und durch freie Wahl aus den ärztlichen Korporationen, die so gewährleistete admini- strative Heterogenität sollte sie zum ausgleichenden Element der öf- fentlichen Verwaltung machen, und zwar überall dort wo Kompetenz- schwierigkeiten auftauchen. Die Furcht vor einem Überhandnehmen der Fachwissenschaften im Verwaltungsbereich entkräftet Gauster un- 303 Gauster (1868 b), S.5. 304 Vgl. Spree (1981), S.148. 305 Vgl. Schauenstein (1863), S.330. 306 Als Fortsetzungsserie erschienen in ZGM: Nr.12, 1868 - Nr.22, 1868. 307 Es handelt sich um den Prototyp eines „hygienischen Fach-Kollegiums“, das der behördlichen Landesstelle als wissenschaftliche Quelle dienen soll.
  • 114. 114 ter Hinweis auf die Suprematie der staatlichen Administrativbehörden insgesamt; Aufgabe der Experten sei der Kampf gegen inkompetente, ingerenzhabende Laienorgane der Gesundheitsverwaltung. Den kor- porativen Zusammenhalt, der den Erfolg verspricht, präzisiert Gauster in Schlagworten: „Wahrung und Förderung der wissenschaftlichen Forderungen einander gegenüber und nach aussen, corporative Ver- tretung der vitalen Interessen des Berufstandes.“308 Als Modell dient ihm das sächsische Vorbild, das von der Vorstellung ausgeht, daß der ärztliche Berufsstand mit den hygienischen Interessen des Staates, respektive der Bevölkerung ident ist. Für Österreich sieht er noch eine weiten Weg zu diesem Ideal professionspolitischer Bestrebungen; er- klärtes Ziel ist die Identifizierung, allerdings erst nach dem dahinter verborgenen Existenzkampf einer Berufsgruppe, die in einem noch heterogenen Berufs- und Bedürfnisfeld um ihre Vormachtstellung kämpft. Diese Identificierung ist ein Ideal, welchem wir noch sehr fernestehen und dem ärztlichen Berufstande gelten im grossen Ganzen seine engeren Be- rufsinteressen mindestens eben so viel, um nicht zu sagen mehr, als die all- gemeinen hygienischen; und daraus kann man ihm keinen Vorwurf ma- chen, denn er ist in einem harten und zwar immer härteren materiellen Kampfe begriffen um Sicherung der Einzelexistenz, er ist in den Ueber- gangszustand von gelehrter Kunstausübung in das gesellschaftliche Leben der Neuzeit gelangt, wo es erst gesicherte Stellung zu erringen gilt.309 Die Idee einer Ärztekammer310, analog zur bestehenden Handels- oder Ackerbaukammer, gründet sich in einer Situation, die die ma- terielle Existenz der akademischen Ärzteschaft als noch nicht gesi- chert vorfindet. Gauster erinnert, an anderer Stelle, an die Kundgebungen der En- quête-Kommission, die, im Sinne einer konstruktiven Standespolitik, künftig vereinheitlichte Ausbildung der Ärzte zu garantieren und die Chirurgenfrage einer Lösung zuzuführen vorschlägt: die Ausbil- dungsgleichheit der Zukunft beseitigt ein elementares Hemmnis ärzt- licher Assoziationen. Der Enquête war es hingegen nicht möglich eine 308 ZGM (1868, Nr.17), S.166. 309 Ebd. S.166. 310 Realisiert 1891.
  • 115. 115 juristische Regelung des ärztlichen Assoziationswesens zu erarbeiten. Gauster moniert die Selbstverständlichkeit, die breit verankert ist, die die Relevanz eines solchen Vereines für die Wissenschaft, private und öffentliche Hygiene und nicht zuletzt für den Stand unzweifelhaft an- erkennt.311 Die Vereinsbildung der Ärzte oszillierte zwischen den Po- len: freie Assoziation und staatlich beeinflußter Korporation, wobei Gauster unter korporativ die zwangsweise Mitgliedschaft versteht. Die Entscheidung fiel zugunsten jener aus, da, so Gauster, grundsätz- liche Unvereinbarkeiten zwischen ‘hygienischer’ Sorgfaltspflicht und ärztlichen Sonderinteressen herrschen: „In kräftiger, freier Assoziie- rung werden sie ihre Interessen viel energischer betonen und zur Gel- tung bringen können.“312 Trotz der in Aussicht gestellten vereinheitlichten Ausbildung der Ärzte fürchtet Gauster eine Meinungspluralität, im Kontext des öf- fentlich tätigen Arztes, die professionspolitisch negative Folgen zei- tigt. Freien Assoziationen käme hierbei eine Filterfunktion zu, diese Konsensualisierung vermittelt ein geschlossenes Auftreten in der Öf- fentlichkeit - eine Art PR-Effekt der Standespolitik.313 Schrec- kensbild bleibt ihm eine staatlich vermittelte Vereinigung, die einem liberalen Zeitgeist widerspricht. Die corporate identity, der PR-Effekt solcher freier Vereine wird zu unabdingbaren Folie ärztlicher Profes- sionspolitik. Ein Kommentar der MP (1865, Nr.25) erweitert die Wirkung einer Vereinigung aus föderalistischer Perspektive. Die Hypostasierung am Nullpunkt der öffentlichen Sanitätspflege soll nun nicht durch die In- itiative einzelner Individuen bzw. Gremien reorganisiert werden. Al- lein eine Art Ärzteverein konzipiert als ständige Interessenvertretung, „nicht eine Association von vorübergehender Natur“, zwecks Pression auf die Durchführung einer Reorganisation der Medizinalverfassung, die staatlich legitimiert ist, in die öffentliche Gesundheitspflege in- 311 Vgl. Gauster (1869 b), S.2. 312 Ebd. S.2. 313 Metalegitimation ist wieder die damit verbundene Förderung des öffentli- chen Gesundheitswesens; vgl. Gauster ebd. S.3.
  • 116. 116 volviert ist und ihre Interna autonom verwaltet und regelt, kann diese Reform gewährleisten.314 Der anonyme Autor sieht v.a. die Funktion dieses Vereins in der Einebnung der Kluft zwischen Residenzstadt und Provinz. Als Mittel gegen die Privilegierung einzelner Körperschaften (bspw. Doktoren- Kollegium) im Rahmen der Neufassung der Medizinalgesetzge- bung.315 Es läßt sich ein Anstieg der Autorität der wissenschaftlichen Medi- zin konstatieren, doch keineswegs eine unangefochtene Monopolstel- lung. Einerseits zollten nicht alle gesellschaftlichen Gruppen und Subgruppen der naturwissenschaftlichen Medizin Vertrauen; die Ab- satzmöglichkeiten der Ärzte am Gesundheitsmarkt verbesserten sich nicht generell. Darüber hinaus verbesserten sich zwar die Diagnose- verfahren der Schulmediziner (Röntgenologie, Bakteriologie), bloß in den Bereichen der Therapie hatten die akademische gebildeten Ärzte kaum der Laienmedizin überlegene Leistungen anzubieten.316 Aller- dings stützt sich der professionale Anspruch auf Autonomie v.a. nicht auf die Überlegenheit seines Wissen über andere Formen von Erfah- rung und Erkenntnis, sondern auf die Autorität oder Fähigkeit der Be- rufsgruppe ebendiese Überlegenheit gesellschaftlich glaubhaft zu ma- chen und staatliche Unterstützung für die Vertreibung, Illegalisierung etc. der Konkurrenz zu reklamieren.317 5.1.3.2 Staat und Arzt: Aspekte einer Wechselwirkung Gesundheit ist kein Ziel an sich, sondern Metapher der modernen Disziplinierung des Lebens.318 Von Interesse ist die Offenlegung und Strategie der Metaphernkonstitution; hier unter dem Aspekt berufs- politischer Standesinteressen. Der Ärztestand als ein Mediator, Nutz- nießer und Beschleuniger der zivilisatorischen Disziplinierung. 314 Vgl. MP (1865)Nr.25, Sp.611. 315 Vgl. ebd. Sp.613. 316 Vgl. Spree (1981), S.153. 317 Vgl. Huerkamp (1985), S.57, 318 Vgl. Barthel (1989), S.8.
  • 117. 117 Gesundheit als distinkter, öffentlich-politischer Diskurs, d.h. öf- fentliche Gesundheit gilt nicht als humanitärer Wert an sich, sondern als operationalisierte Funktion; mithin stellt sich die Frage nach Ak- teuren und Institutionen, politischen Strategien und Techniken, die im Diskurs über öffentliche Gesundheit konvergieren. Zwei Prot- agonisten dieses Diskurses treten hervor, der Staat und der Ärzte- stand, ihre Interessen an einer kollektiven, expertenunterwiesenen Gesundheitsfürsorge verdichten sich unter dem Deckmantel des Telos einer säkularen Herstellbarkeit und Machbarkeit von Gesundheit (=Glück) zur Vorstellung einerseits der Ausbildung einer homogenen Berufsgruppe mit Monopolanspruch, als Verwalter der Physis, ande- rerseits als Mittel zur Inventarisierung und positiv-optimistischen Kontrolle und Lenkung der Bevölkerung eines Staates mit dem Ziel der gesundheitlichen Optimierung des Reservoirs an Produktivkräften und Soldaten. Krankheit und Gesundheit werden hier erstmals aus der lebensweltlichen Kompetenz des Laien herausgerissen und zum systematischen Objekt ge- samtgesellschaftlicher Steuerungsmaßnahmen und expertenangeleiteter Sozialisierungsbemühungen gemacht.319 Der vorliegende Text versucht diese These Barthels, die er für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts aufstellt, für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts im Kontext der Reform der Sanitätsgesetzgebung aufzunehmen und ihren Anspruch auf Gültigkeit im Rahmen eines noch nicht abgeschlossenen Prozesses zu analysieren. Immerhin ver- meint Göckenjan zwischen 1800 und 1850 keine wesentliche Ver- änderung der ärztlichen Praxis zu erkennen.320 Der angesprochene Prozeß meint die Ausbildung eines homogenen Berufsstandes mit Monopolambitionen und die Exekution und Förderung der staatlichen Kontrolle einer Gesellschaft, die am Wendepunkt (bzw. bereits nach der Wende) von feudaler Ordnung zu absolutistischen bzw. konstitu- tionellen Strukturen, Industrialisierung etc., der Ausbildung bzw. Bes- tätigung nationalstaatlicher Ideen steht. 319 Ebd. S.9. 320 Vgl. Göckenjan (1985), S.238.
  • 118. 118 Als Quellen unserer Analyse dienen uns selbständig erschienene professionspolitische Schriften oder Artikel bzw. Artikelserien in Fachzeitschriften, siehe Vorwort (Fraktur). Das Standesinteresse manifestiert sich etwa bei Dr. L. Gottlieb Kraus, Arzt und Herausgeber der ZGM321, in der Feststellung, daß der naturwissenschaftlich gebildete Sanitätsbeamte die einzige Ga- rantie für die staatliche Ressource bietet, nämlich für die Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Bürgers, der allein den Wert eines Staates rep- räsentiert. Wenn die maßgebenden Stellen, so Kraus, das erkannt ha- ben, wird auch die Monopolstellung des Sanitätsbeamten gebührend honoriert werden.322 Zunächst noch differenziert verweist er auf den Arzt als Sanitätsbeamten, letztlich profitiert der gesamte Stand von der Konnexion mit der staatlichen Obrigkeit. Die Allianz der beiden Proponenten erscheint besonders von medizinischer Seite inauguriert: das noch unvollkommen konturierte Professionsprofil benötigt einen staatlichen Begründungszusammenhang. Andererseits wissen wir vom staatlichen Interesse an der administrativen Durchdringung der Bevölkerung auf möglichst unverdächtige Weise, der medizinische Charismatiker biete sich hier geradezu an. In ähnlicher Manier erinnert eine Teilorganisation der medizini- schen Fakultät den Staat, wenn auch selbstbewußter, d.h. an den Ehr- 321 Die ZGM erschien erstmals im Dezember 1865. Motiviert durch die ' Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen' konstituierte sich ein Periodikum. Die programmatische Präambel der Redaktion beruft sich auf Fortschritte in den Teilbereichen der medizinischen Wissenschaft, Stichwort: Zweite Wiener Schule. Allein die Staats-Arzneikunde führt ein stiefmütterliches Dasein. Der besondere Verdienst, der den wissenschaftlichen Fortschritt ermöglichte, kam den wissenschaftlichen Periodika zu. Analog formiert sich der Bergründungszusammenhang für die Publikation eines Fachblatts für die Bereiche der Staats-Arzneikunde. Um die Jahreswende 1865/66 war die ZGM diesbezüglich das einzige Organ in Österreich. Die letzte Ausgabe erschien am 25. August 1868. Die Redaktion votierte für eine Fu- sion mit den „ Blättern für Staatsarzneikunde „, herausgegeben von der „ Allgemeinen Wiener medicinischen Zeitung „. Die ZGM wurde von der AMZ absorbiert. 322 Vgl. ZGM (1866, Nr.46), S.539.
  • 119. 119 geiz und das Über-Ich der Verwaltung appellierend, an seine Aufga- be. Der Abdruck eines Memorandums des Doktorenkollegiums vom 18. November 1867 der Wiener medizinischen Fakultät an das Hohe Haus bezüglich der Organisation des öffentlichen Sanitätsdienstes erhellt die rhetorische Strategie.323 Die Denkschrift legitimiert ihre diesbezügliche Autorität mit der Wohlfahrt des Staates, die den Nati- onalreichtum konstituiert. Einziges kompetentes Organ ist der ärzt- liche Stand, ist doch die Sorge für das Gesundheitswohl der Bevölkerung in der That eine der ersten Aufgaben der Administration in jedem wohlverwalteten Staate [sei], so dass überhaupt weder eine geregelte politische Verwaltung, noch eine generelle Justizpflege ohne ständigen Beirath tüchtiger ärztlicher Sachver- ständiger bestehen kann.324 Der Arzt hat damit die exklusive Autorität zu Sicherung der staatli- chen Produktions- und Wehrkraft bei der Administration hinterlegt. Um diesen Aspekt in der Professionsideologie quasi flächendeckend plausibel einzusetzen und damit Druck auf die politischen Behörden auszuüben, erschien die Mobilisierung der Bevölkerung günstig. Der Arzt und engagierte Professionspolitiker Moriz Gauster verknüpft Verwaltung und Standesinteresse kontextuell. In der ZGM 1868 fordert er ein festgeschriebenes Statut der Ge- sundheitsverwaltung ein, damit öffentliches Recht sichergestellt sei, damit man aus dem Provisorium von 1850 herauskomme, damit das öffentliche Gesundheitswesen ins Bewußtsein der Bevölkerung rücke, so Gauster. Das lokale bzw. kommunale Recht und die dar- ausfolgende Pflicht in sanitätspolizeilicher Hinsicht muß installiert werden, eine Normierung der kommunalen Verwaltungsexekutive vorgenommen werden. Der Landesgesetzgebung muß die Möglichkeit eingeräumt werden, der länderspezifischen Situation adäquate Sankti- onen bereitstellen zu können. Zur Verbreitung dieser Reformen, zur Verbreitung des verdeckten professionspolitischen Interesses muß die Öffentlichkeit gewonnen werden; 323 Abgedruckt in ZGM Nr.48, 26.11.67; Nr.48, 3.12.67; Nr.51,17.12.67. 324 ZGM (1867, Nr.48), S.560.
  • 120. 120 durch Popularisierung der Wissenschaft, durch nimmer müde Besprechung der einschlägigen Fragen für den in volkswirthschaftlicher Hinsicht vitalen Einfluß des öffentlichen Gesundheitswesens.325 Hoffmann ein Mitstreiter Gausters affirmiert dieses Strategem. Die Sorge um die öffentliche Gesundheit ist eine der wichtigsten Aufga- ben der Administration, die „doch nur durch Aerzte besorgt werden kann“326. Hoffmann variiert den Appell an die Schutzfunktion des Staates. Im Sinne einer Marktbereinigung sollte der Status des Arztes als alleini- ger Therapeut gesetzlich garantiert werden. Die Auseinandersetzung mit „Curpfuschern“ und Vertretern außerhalb einer sich konzeptua- lisierenden Heilkunde, die die Ärzte wohl nicht für sich entscheiden konnten, sollte vom Staat geregelt werden. Argument: Das Interesse des Staates, die Wohlfahrt ist ident mit dem Interesse der Staatsbür- ger. Um diesen Plan durchzusetzen, d.h. die Eliminierung der „Curpfuscherei“, müßte der Staat zunächst für eine ausreichende Menge an ausgebildeten Medizinern sorgen: eine Delegationsgeste an die oberste Administrationsinstanz zur Förderung berufspolitischer Homogenisierungambitionen. „Diese Sorge wird unter allen Umstän- den immer das Augenmerk einer weisen Regierung bleiben.“327 Der Dämon Cholera, den Mundy, ein prominenter Professionspoli- tiker, sich dienstbar macht, wird zum Apodiktum des Gesundheits- wesens als Reichssache, „daß nicht wieder der chaotische Unverstand bei solchen Weltplagen [der Cholera-T.B.] die Bevölkerung dezimi- re.“328 Die ultimative Legitimation einer öffentlichen Gesundheitspflege findet auch Mundy, unisono mit anderen Medizinexperten, im „Volksglück“, d.h. im Feld nationalökonomischen Profits legiert mit liberalen Ideologemen und in der von Ärzten exklusiv diagnostizier- 325 ZGM (1868, Nr.21), S.209. 326 Hoffmann (1867), S.3 327 Ebd. S.4. 328 Mundy (1868), S.94
  • 121. 121 und rubrizier- und sanktionierbaren Vorstellung vom möglichst un- gestörten physischen und psychischen Leben: Oder kann man mit offenem Auge und wahrhaftem Munde vom Volksglü- cke, möglichst freiheitlicher Entwicklung der Autonomie, von volks- wirthschaftlicher Reife, von Förderung des Wohlstandes, vom vernünftigen Erwerben, Besteuern und Sparen, vom Schutze des Handels, der Gewerbe, der Wissenschaften, der Künste, von intelligenter Bildung, vom Werthe al- ler Stände, von gleicher Arbeit, von gleichem Lohne und gleichen Rechten und der liberalsten Rechtspflege und Legislation sprechen, wenn man, un- bekümmert um das Wie und Warum, die Sanitätsnoth herrschen lässt, und nicht nach dem Was sucht, welches dieselbe wenigstens zu vermindern im Stande wäre?!329 Das Schreckgespenst des Pauperismus, die hohe Mortalitätsrate und die Krankenstandquote in den Wiener Spitälern mutieren zumindest in zweiter Linie zum potentiellen Demonstrationsfeld ärztlicher Kompetenz. Die Evaporationen der Kloaken, beschworene Vorboten der Cholera, die ungeklärte „Wasserfrage“, die Ermangelung einer „Unrath-Wegschaffungsakte“, also Staub, Unrat und „entfesseltes Leuchtgas“ formiert Mundy zu einer diabolischen Allianz, deren He- gemonie Anlaß genug für entsprechende Reformen sein müßte. Ist nur das winzigste Anzeichen vorhanden, welches uns zu der Hoffnung berechtigt, dass wir ein gegliedertes Sanitäts-Statut für das Reich und sepa- rirte Akte für die Stände und das Land bald erhalten werden, und zwar sol- che, die den P o s t u l a t e n der heutigen Wissenschaft entsprechen! Lei- der nicht die geringste. Der Pauperismus wächst in bedeutenden Dimensio- nen sichtlich und mit demselbem das Bettelwesen und durch beide natür- lich wieder die Infektions-Krankheiten.330 Der Arzt schlüpft in die Rolle des Anwalts der Armen: zur Verhin- derung des Übergreifens in diesem Areal entstandener Krankheiten auf die bürgerliche Gesellschaft. Der Topos der Angst vor Anstec- kung nährt die Initiation oder Bestätigung des Arztes als Wahrer der Volksgesundheit zum nationalökonomischen Wohle des Staates. Der Notstand ärztlicher Public Relations Tätigkeit läßt sich an der Feststellung Mundys ablesen, wenn er beklagt, daß zwar die Fach- presse ein höchst aktives und resolutes Forum der Standesinteressen 329 Ebd. S.59. 330 Ebd. S.88.
  • 122. 122 abgibt, die politische Presse, das Parlament und der Rest der Öffent- lichkeit nur wenig bis überhaupt nicht Notiz von der aktuellen Dis- kussion nehmen.331 Es liegt nun nahe, wenn die Faktizität der Aus- sage zu verifizieren ist, die Andienerei der Ärzte an die staatliche Administration als einzig mögliche PR-Tätigkeit zu deuten, der Druck einer öffentlichen Meinungsbildung war doch nicht zu erreichen. Die Funktion des Arztes als Opinion-Leader war um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht essentiell ausgeprägt. Die Kluft zwischen ärztlichem Selbstverständnis und öffentlichem Feedback ist ein Fin- gerzeig für die militante, energische Argumentation eines Be- rufstandes, der Höhenluft wittert. Stringent dann auch das Unternehmen des öffentlichen Gesund- heitswesens zur Reichssache zu erheben bzw. erstmalig vor Augen zu führen. Die Folie England dient ihm als Erkenntnismodell „[wie-T.B.] wir Oesterreicher, bis jetzt noch parlamentarische Wickelkinder, uns belehren können, in welches Ressort die öffentliche Ge- sundheitspflege gehört“332. Die Vernachlässigung der Dringlichkeit einer Sanitätsreform ahndet Mundy mit einem beinah kriminellem Verdikt: „wenn nicht die Be- schädigung des Gesundheitswohles der Völker im Kaiserstaate in Per- manenz, d.h. in saecula saeculorum erklärt werden soll.“333 In der Nr.34 der MH von 1862 erscheint im Feuilleton ein Text un- ter dem Titel: „Das öffentliche Sanitätswesen in Oesterreich. Briefe aus der Unterwelt, von einem verstorbenem Medizinalbeamten.“ Die rhetorische Figur der Prosopopöie einsetzend, prätendiert der Brief- schreiber eine suprazeitliche Perspektive der unbefangenen Objektivi- tät. Die kulturkritische Maskerade liefert von ihrer zynisch-koketten Ruhestatt eine Einschätzung der Lage des öffentlichen Ge- sundheitswesens. Allein die Gelassenheit eines Toten, meint der Au- tor, gestattet es unter Verzicht persönlicher Interessen die Sache der Profession zu vertreten. Die Briefe: posthume Professionsliteratur. 331 Vgl. ebd. S.90 332 Ebd. S.91. 333 Ebd. S.94.
  • 123. 123 Die öffentliche Gesundheitspflege in Österreich: ein Stück kahles Land, eine Wüstenei; der Sanitätsbeamte eine schlecht bestallter Gärt- ner auf infertilem Boden. Ein Wust wirkungsloser Verordnungen: Ausfluß einer hilflosen, konzeptlosen Bürokratie. Die nötige Plattform erfolgreicher Pflege der öffentlichen Gesund- heit, die Information und Überzeugung der Massen fehlt in weiten Bereichen. Die persuasive Rhetorik sollte bis in den intimen Raum der Familie vordringen. Die Winkel und Nischen der Behausungen gelten ihm als Widerstandsnester bornierter Bürger: die Erschließung des einzigartigen Körpers als ultimatives Ziel des Interesses. Die Ad- ministration hat es bisher verabsäumt, ihre Überwachungs- und Kon- trollinstanzen hier erfolgreich einzunisten. Die Sorglosigkeit in dieser elementaren Zelle des Staates hat zur Folge, dass der Tod täglich eine grosse Zahl von Menschen fortreisst, deren grös- sere Mehrzahl nicht gestorben sein würde, wenn die durch menschliche Kraft abweislichen Schädlichkeiten von ihnen abgewehrt worden wären. Wie viele aber siechen dahin, als Opfer einer vernachlässigten allgemeinen Gesundheitspflege.334 Der Gärtner-Arzt wächst angesichts dieses Mißstandes zur tragen- den Figur, zum Atlas des Nationalvermögens. Die Wertschöpfung der Produktivkräfte, die Wartung ihrer Lebensdauer, d.h. Leistungs- fähigkeit, wird zum erklärten profanen Ziel des jenseitigen Brief- schreibers. In einer rhetorischen Wendung exkludiert er altruistische Motive in einer Zeit des rationalen Fortschritts; Momente der Kul- turkritik erinnern an die Schmerzen des Kranken und die Tränen der Zurückgebliebenen, die vom Rattern der Eisenbahnschwellen und dem Surren der Telegrafendrähte übertönt werden.335 An den zeitgenössischen Utilitarismus appelierend wird der volks- wirtschaftliche Nutzen einer funktionierenden öffentlichen Gesund- heitspflege ex negativo proklamiert: die nationalökonomischen Ver- luste monieren geradezu ein verstärktes Augenmerk v.a. des Staates auf das Sanitätswesen. Besonders dann, wenn angrenzende westliche und nördliche Nachbarstaaten diesen Garten zum Blühen bringen. Pa- 334 MH (1862, Nr.34), S.325. 335 Vgl. ebd. S.325.
  • 124. 124 radigma seiner Argumentation ist die Quantifizierung des Subjekts bzw. des aggregierten Subjekts, der Bevölkerung. Der Staatsbürger wird monetarisiert: von der Windel bis zum Leichentuch und Sarg verursacht er (Un-) Kosten. Die Rückzahlung dieser Spesen hat wäh- rend seiner aktiven Produktionszeit statt. Des Jenseitigen Logik schreibt einer verkürzten Lebenszeit nicht nur eine Minderung der positiven Leistung zu; im Krankheitsfall kippt der ehemals Produk- tive und wird zur Last des Bruttosozialproduktes. Hier ist der An- gelpunkt des Arztes im Dienste der öffentliche Gesundheitspflege: So wird der Einfluss begreiflich der eine Vergrösserung des Menschenkapitals, welches im Stande wäre, nicht nur jene kontrahirten Schulden zu tilgen, sondern auch frisches Vermögen zu erwerben, auf unsere im Allgemeinen nichts weniger als erfreulichen volkswirthschaftlichen Zustände üben müsste.336 Der Österreicher hat durchschnittlich 12 Jahre Zeit seine ‘Schulden’ zurück zu erstatten, nicht nur um die Kosten [seiner- T.B.] eigenen erwerblosen Jugend, son- dern auch die der noch im erwerbsunfähigen Alter Verstorbenen zurückzu- bezahlen, und gewissermassen die der lebenden unproduktiven Generation vorzustrecken.337 Und: Jedes Jahr, welches bei uns den feindlichen Gewalten zu Gunsten einer Verlängerung der mittleren Lebensdauer abgezwungen wird, kann in Geld- werth berechnet einer Summe von beiläufig 3 Milliarden Gulden gleich geachtet werden; und wenn es ein Mittel gibt, jenen Zweck zu erreichen, so liegt dieses nur in einer vernünftigen, gehörig geleiteten Gesundheitspflege, deren Kosten gar nicht im Vergleiche zu den resultirenden Segnungen ste- hen, welche in erster Linie das Individuum, in letzter aber den Staat treffen, dessen politisches Ansehen mit einer kräftigen und vermögenden Bevölke- rung wächst.338 Volksgesundheit resultiert somit „nicht als schlichte Befindlichkeit, als Wert an sich oder unambitioniertes Gewahrnehmen eines leibli- 336 MH (1862,Nr.34), S.325. 337 Ebd. S.325. 338 Ebd. S.325.
  • 125. 125 chen Glücks“339, sondern als Ertrag einer expertengesteuerten Ver- waltung des menschlichen Körpers. Der Profit dient fortan als mate- rialisiertes Produkt des souveränen Staates, als ökonomische Res- source und wehrfähige Agressions- oder Defensivmaschine. Die Ü- berwachung der Staatsbürger unter diesem Aspekt garantiert darüber hinaus die verhüllte Installation eines Machtanspruches, der sich suk- zessive von traditionalen Legitimationsmotiven (Gott, Geburt ...) hin zur Idee des Gesellschaftsvertrags zwecks allgemeiner Wohlfahrt auf Basis von Vernunft und Fortschritt emanzipiert. Die Entdeckung der Gesundheit des einzelnen so wie die aggregier- ter Körper-Massen avanciert im Österreich des 19. Jahrhunderts zum gesellschaftlich relevanten Gegenstandsbereich. Die Konsolidierung einer „Biomacht“, die Entwicklung historisch neuartiger Machttech- niken; die Gesundheit wird zum Gegenstand der Herrschaftsausübung dann und dort, wo der Körper zur ökonomischen, militärischen und sozialen Ressource wird. Das feudale Zwangssystem operierte ineffektiv, unrational; ein Ver- schleißmechanismus ohne Kalkül und systematischen Zugriff. Die neue kapitalistische Ökonomie seit 1800, gleichsam Transforma- tionsprodukt einer Abschöpfungsideologie, die sich subtiler als per- manenter Renditenbezieher begreift, beschränkt sich nicht auf die Ausbeutung der Produktivkräfte sondern [die Ausbeutung ist -T.B.] nur noch ein Element unter anderen E- lementen, die an der Anreizung, Verstärkung, Kontrolle, Überwachung, Steigerung und Organisation der unterworfenen Kräfte arbeiten: diese Macht ist dazu bestimmt, Kräfte hervorzubringen, wachsen zu lassen und zu ordnen, anstatt sie zu hemmen, zu beugen oder zu vernichten.340 Mit dem Foucaultschen Begriff der „Biomacht“, ein Bündel ver- schiedenster Techniken zur Unterwerfung der Körper und zur Kon- trolle der Bevölkerung mit dem Ziel einer subtilen Verwaltung des Körpers und des Lebens erfassen wir eine komplementäre Korre- spondenz zwischen kapitalistischer Produktionsweise und der techni- 339 Barthel (1989), S.10. 340 Foucault (1983), S.163.
  • 126. 126 schen Infrastruktur des neuen Vergesellschaftungstypus, der Bio- macht. Die Abstimmung der Menschenakkumulation mit der Kapital- akkumulation, die Anpassung des Bevölkerungswachstums an die Expan- sion der Produktivkräfte und die Verteilung des Profits wurden durch die Ausübung der Bio-Macht in ihren vielfältigen Formen und Verfahren er- möglicht.341 Einen Gegenstandsbereich dieser „Biomacht“ nimmt die „Biopoli- tik“ ein: im 18. Jahrhundert entdeckt sie die Bevölkerung als aggre- gierten Massenkörper; die Bevölkerung präsentiert sich als Reichtum, als Kapital. Aus dem feudal domestizierten Volk wird d i e kapitalis- tische Bevölkerung, ein Apparat mit vielerlei Variablen - Sterblich- keit, Geburtenrate, Ernährungsweise, Morbidität, Krankheiten u.s.f. Der Mensch reflektiert sich in einem Raum, der dem Körper günstige und weniger günstige Lebensbedingungen zur Verfügung stellt. Die ehemalige Kontingenz des Lebens, die Schicksalhaftigkeit des Todes mutiert zum „Macht-Wissen“; das politische Kalkül erkennt und er- faßt das Leben; die Verantwortung für das Leben verschafft der Macht Zugang zum Körper - das biologische Leben tritt in die Sphäre der politisch-bürokratischen Administration ein.342 Das 19. Jahrhun- dert ist mit dieser Erkenntnis vertraut, allein der Verweis auf die Be- völkerung als Ressource sowie deren Wartung geriert sich als Topos bzw. Leitmotiv medizinischer Standesinteressen. Die Bevölkerung als Objekt politischer Strategien, in unserem Fall gesundheitspolitischer Strategien, ist nach den Köpfen der Mediziner nur marginal eingenis- tet in der Verwaltungssystematik der österreichischen Regierung. Die Bevölkerung als kolossales Investitionsobjekt; um sie operationali- sierbar, d.h. beherrschbar zu machen, entstanden die „technischen So- zialwissenschaften - Menschenwissenschaften.“343 Die Verstaatli- chung der Biopolitik ist im 19. Jahrhundert Ergebnis der Förderung obiger Tendenzen durch die Obrigkeiten (Ausgehend von Maria The- resia und Joseph II., s. Kapitel Reformen). Der Staat des 19. Jahrhun- 341 Ebd. S.168. 342 Vgl. ebd. S.170. 343 Barthel (1989), S.19.
  • 127. 127 derts etabliert sich als technischer Leiter der „Monokulturpflanzung“ Mensch; strategisch, im Sinne der Foucaultschen Analytik der Macht. Der zentralistische Staat ist an der präzisen Erfassung, Förderung und Verwaltung seiner Ressourcen interessiert. Ein mediko-administra- tiver Apparat exekutiert die umfassende Wartung der vitalen Interes- sen der Bevölkerung. Neben der staatlichen Intervention in die Intim- sphäre des Menschen, neben dem laizistischen Zugriff auf den Kör- per, versucht sich im späten 18. und im 19. Jahrhundert e i n e noch undifferenzierte, heterogene Berufsgruppe im Kontext der Biopolitik als unumgänglicher Garant und Experte optimaler Wertschöpfung der menschlichen Ressource eines zentralistischen Staates zu etablieren, die Ärzte. Tatsächlich gehe ich von der leitenden Voraussetzung aus, daß die Ärzte, der ärztliche Stand, nicht als erste Beweger und Initiatoren, vielmehr als Mittler, Mediatoren und normenverkündende Anwälte der modernen Ge- sundheitsobsession zu begreifen sind. Sie können sich nur - in allerdings dramatisch inszenierter Weise - zu Gehör bringen, wo sie an die gesell- schaftlichen Strukturbedingungen und die eben nicht-medizinischen, d.h. übergeordneten sozialen Zwecksetzungen anknüpfen; erst die im Prozeß der Zivilisation ausdifferenzierten biopolitischen/staatlichen Kontrollme- chanismen und die spezifischen Problemlagen/Erfordernisse der bürgerli- chen Disziplinar-Gesellschaft als sozialem System ermöglichen es den Ärzten, sich als gesamtgesellschaftlich relevante Profession in Szene zu setzen.344 Noch nach der Mitte des 19. Jahrhunderts scheint der professions- politische Notstand der Ärzte zu bestehen. Bestechend bleibt jedoch das Selbstvertrauen als Folie ihrer Forderungen und Drohungen. Die Idee des Fortschritts und die positivistische Wissenschaftsgläubigkeit kreisen als Trabanten um das ärztliche Unternehmen einer Etablie- rung als Treuhänder der menschlichen Physis. Als Quellen fungieren die in Fachzeitschriften formulierten Argu- mente im Vorfeld der Reform der Sanitätsgesetzgebung. Auch au- ßerhalb des hermetischen Diskurses der Medizinwissenschaft wird die 344 Ebd. S.22.
  • 128. 128 naturwissenschaftliche Autorität als profundes Argument der Ver- selbständigung eines Standes eingesetzt. In der Probenummer der ZGM v. 5.12.1865 moniert der Heraus- geber Gottlieb Kraus in der für die Medizinalgesetzgebung eingerich- teten Kolumne mit dem Titel „Medicinalgesetzgebung“ die naturwis- senschaftlichen Fortschritte, die der Sanitätsgesetzgebung als ratio- nelle und solide Folie dienen; er honoriert den Einsatz der öffentli- chen Gesundheitspflege im Dienste der Volkswirtschaft; die Büros der Medizinalverwaltung in Europa substituieren obsolete Hypothe- sen durch wissenschaftliche Faktizität, allein in Österreich ist man „im Departement für Medicinalangelegenheiten einer behäbigen Ruhe hingegeben“345. Kraus erwartet mit dem neuen Sanitätsreferenten im Innenministerium eine effizientere Rolle des Sanitätswesens in der Staatsverwaltung, legitimiert er das ärztliche Professionsinteresse doch zweckgebunden mit der Förderung der Volkswirtschaft. Im Rahmen seine Entwurfs zur Neuorganisation des öffentlichen Gesundheitswesens346 räumt Gauster den ‘hygienischen Fach-Kolle- gien’347 einen fachlich selbständigen, umfassenden und initiativen Wirkungsbereich ein; dieses Expertengremium garantiert im profes- sionspolitischen Interesse die flächendeckende Hegemonie des ärzt- lichen Standes in wissenschaftlichen und sogar administrativen Fra- gen, es trägt bei zur Ausschließung einer etwaigen Laienkritik. In diesen Fachcollegien fänden Staat und Land und in strittigen Fällen auch die Gemeinde die wissenschaftliche und theilweise administrative Autori- tät, deren Discussionen, Beschlüsse und Rathschläge erst der Verwaltung des öffentlichen Gesundheitswesens so recht den Geist der Wissen- schaftlichkeit, des Fortschritts, der consequenten wissenschaftlichen Kritik erhalten, und sie einerseits gegen bureaukratische Einseitigkeit und an- dererseits gegen Gleichgültigkeit der Selbstverwaltungskörper und der Aerzte schirmen würde.348 345 Probenummer ZGM vom 5.12.1865, S.8. 346 „Noch ein Wort über die Reform des öffentlichen Gesundheitswesens in Oesterreich.“ In: ZGM 1868 Nr.12- Nr.22. 347 Informationsinstitut bei den Länderstellen 348 ZGM (1868) Nr.16, S.154
  • 129. 129 Das Goldene Kalb des Fortschritts, der positivistischen Wissen- schaftsgläubigkeit weiht dieses Instrument ärztlicher Einflußnahme für staatstragende Funktionen. Die Ärzte als die Agitatoren eines ra- dikalen Fortschrittglaubens verkünden als einzig befugte Ingenieure der Wissenschaftlichkeit die Wahrheit des Universums, zumindest des irdischen. Für das 18. Jahrhundert kann Barthel noch diagnostizieren: Gerade die mangelnde soziale Reputation und Autorität ist das verhohlene Antriebsmoment der von ihnen so fanatisch betriebenen Gesundheitspropa- ganda, die schließlich zur allein medizinisch-ärztlichen Mission stilisiert wird.349 Die Situation der österreichischen Ärzteschaft nach der Mitte des 19. Jahrhunderts unterscheidet sich im Vergleich nur geringfügig. 5.1.3.2.1 Staatsdienst als Prestigegewinn Als Quelle dient wieder die Fachpresse, erstes Beispiel ist ein Bei- trag zum Gemeindearztsystem in Österreich. Präambel dieser Studie ist eine grundsätzlich positive Haltung in dieser Sache: eine erfolgreiche öffentliche Gesundheitspflege beruht auf einer adäquaten Menge von Exekutivorganen bis in die Kommu- nen, die kleinsten Verwaltungseinheiten, hinein. Legitimation seines Postulats - letztlich ein pium desiderium - ist eine dreihundertjährige Spur: „das Streben den Arzt zu einem bleibendem Domizil mittelst festgestellter Honorarien zu binden350„, ortet er bereits in einer Poli- zeiordnung vom 8. Oktober 1552. Dr. Linzbauer, der Verfasser des Artikels, konstruiert so eine Genealogie des Gemeindearztes; eines „Localarztes „, der, zumeist von der Grundherrschaft finanziert, ku- rativ und therapeutisch tätig war. Wobei einzuschränken bleibt, daß Dienstleistungen im Sinne einer öffentlichen Gesundheitspflege nicht oder nur rudimentär vorhanden waren. Der Autor moniert in diesem Kontext, daß es allein Aufgabe der Regierung sei den Arzt im öf- 349 Barthel (1989), S.22. 350 AMZ (1857, Nr.13), S.66.
  • 130. 130 fentliche Dienst zu finanzieren.351 Die Kategorisierung der Honorar- leistung auf Basis der unterschiedlichen Verwendung wird zu pro- fessionspolitischen Forderung der Ärzteschaft an den Staat. In den folgenden Jahrhunderten, so gestaltet es Linzbauer, wurden Gemeinden, die unter akuten v.a. epidemischen Plagen litten (etwa die ‘orientalische Pest’ in Ungarn 1705-1713) mit Landschaftsärzten versorgt. In der Regierungszeit Maria Theresias wurde dieses Institut, das in zunehmendem Maß sanitätspolizeiliche Agenden (Vorläufer der späteren öffentlichen Gesundheitspflege) übernahm, zum Verwal- tungsprinzip. 1852 erging ein Gemeindegesetz, das die systematische Einsetzung der Kommunalärzte festschrieb: eine genealogische Bürg- schaft für die Notwendigkeit des Gemeindearztes, insistiert Linzbau- er. Das professionspolitische Interesse drängt auf eine gleichmäßige Verteilung auf dem ‘flachen Land’, gestützt durch das bereits geläu- fige Motiv der Sicherung der nationalökonomischen Belange. Hier konvergieren in der Feder des Standespolitikers die komplementären Interessen zweier Protagonisten des Diskurses der öffentlichen Ge- sundheit. Aber gleichwie es die bisher mitgetheilten Einwürfe nicht vermochten, e- bensowenig werden auch die übrigen hier übergangenen Einwendungen die höheren Ansichten der Regierung zu schwächen im Stande sein, welche sie bestimmten, zum Wohl der Bevölkerung, wie auch zur Sicherung des ärzt- lichen Standes die in Rede stehende höchst wohlthätige und den Bedürf- nissen der Jetztzeit ganz entsprechende Institution ins Leben rufen.352 Einem ebenfalls professionspolitischen Einwand eines Gegners, der durch die Einführung dieses Medizinalsystems einen Pauperismus erwartet - ein ärztliches Proletariat, begegnet Linzbauer mit dem as- ketischen Zynismus einer Besoldung, die dem bescheidenen Gemein- dearzt die ‘entbehrlichen Bedürfnisse’ deckt. Nebenbei, so Linzbauer, spricht doch niemand analog vom geistlichen Proletariat in den Ge- 351 AMZ (1857, Nr.14), S.68. 352 Ebd. S.74
  • 131. 131 meinden.353 Die Verknüpfung mit dem öffentlichem Apparat ver- spräche hingegen einen unschätzbaren Statuszuwachs. So lange der Arzt nur als „frei ausübender Heilkünstler“ in der großen so- zialen Gemeinschaft dasteht, und dieser seiner Stellung zufolge haupt- sächlich nur darauf bedacht sein muss, auf leichtere und ergiebigere Weise, mehr zu erwerben; so lange wird auch der „ärztliche Stand“ seine verdiente ganze Würdigung im geselligen Leben sich nie zu erringen vermögen.354 Linzbauer arrangiert einen professionspolitischen Vergleich zwi- schen Juristen und Ärzten, um substantielle Differenzen deutlich zu machen. Strategisches Ziel der Professionen ist ihm, gründend auf der Gemeinsamkeit beider: Verlorenes wieder zu erringen, Wiedergut- machung für geschehenes Unrecht. Dem Arzt komme dabei die weit- aus diffizilere und veranwortungsvollere Aufgabe zu; problema- tischer, da er sich als Sachwalter und Wartungsbetrieb des höchsten Guts der bürgerlichen Gesellschaft arrivierte: Das höchste Gut, die Gesundheit, dessen Träger der unversehrte Körper ist. Die Thematisierung der Unersetzlichkeit, des Irreversiblen - das Empfinden einer beschädigten körperlichen Subjektivität, der Verlust der Integrität - soll die Problematik des ärztlichen Berufes enthül- len.355 Zusätzlich übernimmt ein etabliertes, juristisches Gefüge anfallende Restrisiken: ein differenziertes Institut delegiert Veranwortlichkeiten und schützt den einzelnen Professionisten vor der Lynche erbitterter Klienten (nicht immer erfolgreich). Die Organisationsstruktur der Juristen, ihre Verankerung in der öf- fentlichen Verwaltung, konvergiert in diesem Vergleich zum mate- rialen Postulat einer zukünftigen assoziierten Ärzteschaft im Rahmen einer öffentlichen Gesundheitspflege: der exoterische Ort, dessen Ab- glanz den ehemals marginalen Arzt zum leuchtenden Apostel eines bürgerliche-säkularen Chiliasmus’ erhebt und nicht zuletzt dessen profane Begehrlichkeiten entsprechend abdeckt. Eine exekutive, teils 353 Vgl. AMZ (1857,Nr.15). 354 Ebd. S.75. 355 Vgl. ebd. S.85.
  • 132. 132 legislative Tätigkeit garantiert darüber hinaus wachsenden Einfluß in obersten staatlichen Gremien, transformiert ärztliche Autorität auf staatspolitisches Niveau: professionspolitische Legitimation von höchster Stelle. Mit der Neugestaltung des österreichischen Kaiserstaates, wo das bürger- lich soziale Leben einen so mächtigen Aufschwung erhielt, einer so tief- greifenden Regelung zugeführt wird, seit das Ruder der obersten politi- schen Verwaltung mit Weisheit und Umsicht eine kräftige und überall hin wohlthuend wirkende Hand lenkt, ist auch der Medizin eine weiteres Feld der Anwendung, und ihrem jünger, dem Arzte selbst, ein thatenreicheres Wirken eingeräumt worden. - Der Arzt soll ferner nicht nur allein als „Pri- vatheilkünstler“ dem leidenen (Einzelnen) Privaten dienen müssen, - er soll mit seiner Wissenschaft ausgerüstet in den innigsten Verband mit der bür- gerlichen sozialen Gemeinschaft treten, und in der Sphäre des „öffentlichen Gesundheitswohl“ für die Gesammtbevölkerung auch für jene, die nicht sein Patient sind, schaffen und wirken.356 Linzbauer resümiert in der bekannten professionspolitischen Phra- seologie, die nicht zuletzt die Utopie des Wunsches birgt. Je diffe- renzierter, strukturierter, qualifizierter und kultivierter ein Staat, umso ausgeprägter und nuancierter sind Normen und Einrichtungen der öf- fentlichen Gesundheitspflege. Die Gemeinde als autonomes Verwaltungsorgan wird zum Ge- währsmann, Bewahrer und Mäzen des höchsten Gutes bürgerlichen Selbstverständnisses: der Gesundheit. Diese zu erhalten, zu bewahren, muss demnach eine der ernstesten Sorgen sein, und der betraute verlässliche Wächter dieses so wünschenswerthen Gemeingutes, der Arzt, ist eines der nöthigsten Organe bei der Neugestal- tung der freien, inneren Verwaltung einer Gemeinde.357 Die komplementäre Funktion des Arztes äußert sich in seiner Ope- rationalisierung. Im Sinne Foucaultscher Diversifizierung der Macht eröffnet der Arzt den intimen Raum des subjektiven Körpers einer ihm äußerlich bleibenden Logik der Vermessung, Sanktionierung und Verwaltung. Der Arzt als unbewußter Agent einer gesellschaftlichen Transformation installiert die neuartigen Techniken der Macht, um im 356 Ebd. S.75. 357 AMZ (1857, Nr.16), S.76.
  • 133. 133 gleichen Atemzug sein diesbezügliches Primat anzumelden: Mediator und Nutznießer; Effekt und Instrument in Personalunion. Reinlichkeits-, Gesundheits-, Armen-, Sittlichkeits-, Bau-, Feuer- und Gemeindepolizei: Ressorts der Gemeinde nach § 119 des Ge- meindegesetzes von 1849 im ‘natürlichen’ Wirkungskreis. Linzbauer läßt keinen Zweifel aufkommen, daß „zur vollkommenen Durchfüh- rung dieser Geschäfte ein besonders fachkundiges Organ bei der Ge- meinde unumgänglich nothwendig sei, und wer, ausser dem Arzte, könnte wohl dieses Organ sein?“358, lautet seine rhetorische Frage. Die österreichische Regierung leitet somit den Arzt ( dessen heilkünstleri- scher Beruf, die Fälle der öffentlichen Armenkrankenpflege ausgenommen, an sich nur immer ein Privat - Wirken genannt werden kann ) durch die, den freien Gemeinden anvertraute Pflicht der unmittelbaren Ueberwachung und Handhabung des öffentlichen Gesundheitswohls, als das fachkundige Organ, auf die Bahn des öffentlichen Dienstes in der Sphäre der politischen Verwaltung, und würdigt dadurch den ärztlichen Stand in einer Weise, wie derselbe nie mehr gewürdigt werden kann, und hebt die Medizin auf die höchste Stufe ihrer Anwendbarkeit und Bestimmung.359 Der Status der medizinischen Experten in der obersten Medizinal- kommission ist ein Dorn im Auge des Standespolitikers Mundy, ihre Statistenexistenz gegenüber den minsteriellen Referenten. Als Ziel einer innovativen Organisation des Gesundheitswesens dämmert ihm eine Kommission, die mit ständigen charismatischen Expertenautori- täten aus naturwissenschaftlichem und ökonomischem Bereich besetzt ist. „Wo bleiben die in England, Frankreich, Preussen etc. solchen Kommissionen permanent angehörigen Autoritäten in Sanitäts- sachen?!“360, tönt sein zorniger Hilfeschrei. Der Mediziner im Staatsdienst, ein bereits existierendes Instrument, war nun freilich adäquat zu systemisieren. Die Klage über Dotation und Positionierung in der behördlichen Hierarchie findet sich leitmo- tivisch in den Texten zur Reform des Gesundheitswesens. 358 AMZ (1857, Nr.15), S.75. 359 AMZ (1857, Nr.17), S.87. 360 Mundy (1868), S.61.
  • 134. 134 15 Jahre Stagnation. Das Provisorium von 1850 blieb provisorisch. Der absolute Stillstand im Sanitätswesen sowohl in formaler als auch in substantieller Umsetzung. Ansatzpunkte der Kritik (wie gehabt) im Rekurs auf Äußerungen Dr. Hoffmanns in einer Sitzung der k.k. Ge- sellschaft der Ärzte 1864: • die niedrige Besoldung der provisorischen Sanitätsbeamten • die inferiore Stellung der Bezirksärzte, die den jüngsten Kreis- kommissären gleichgestellt sind, und zwar rechtlich, nicht jedoch finanziell.361 Soll es den ärztlichen Mitgliedern der Beamtenhierarchie niemals gegönnt werden, innerhalb eines festbegrenzten Wirkungskreises, unbeirrt durch die Connivenz eines jüngsten Kreiskommissärs, im kühlen Schatten einer zu hoffenden anständigen Pension ihr Doctorsdiplom durch das Leben zu tra- gen?362 Mittels einer rhetorischen Engführung konvergieren nun Standes- und Staats-(Volks-) Interessen. Eine Medizinalgesetzgebung, deren Wurzeln hundert Jahre alt sind indiziert einen Fäulnisprozeß, der die- se öffentliche Sorgfaltspflicht bald zur transitorischen Anekdote transformiert: „die Impfung [wird- T.B.] zum seltenen pathologischen Versuch und die Massregeln gegen Epidemien [werden -T.B.] zu lo- benswerthen humanitären Einzelbestrebungen herabsinken! 363 Parallel dazu scheint Hoffmann eine präzise Formulierung zur fi- nanziellen Absicherung angebracht, denn ein im Staatsdienst be- schäftigter Mediziner, d.h. einer, der die ökonomischen und militäri- schen Ressourcen inventarisiert und betreut, hat ein Recht auf eine ausreichende Dotation. Es geht nicht an „den ärztlichen Stand gleich- sam als ex offo Wohltäter aller Welt“364 zu stigmatisieren. Was die Gleichstellung mit den übrigen Staatsbeamten anlangt meint Hoffmann, daß der Arzt im öffentlichen Dienst n i c h t w i r k l i c h den Beamtenstatus anstrebt. Vor allem, da der meist be- 361 Vgl. MP (1865, Nr.25), Sp.610. 362 Ebd. Sp.611. 363 Ebd. Sp.611. 364 Hoffmann (1867), S.8.
  • 135. 135 scheidene Dienstrang des im öffentlichen Gesundheitswesen ange- stellten Arztes „auf die Vermehrung der allgemeinen Achtung und Werthschätzung derselben nur einen sehr untergeordneten und gerin- gen Einfluss geübt [hat -T.B.]“365. Es handelt sich hierbei wohl um eine Verweigerung rhetorischer Art, die Betonung liegt auf dem hie- rarchisch bescheidenen Titel. Die angestrebte Reform sollte daher die Dotation der unterschiedli- chen Sanitätsposten systemisieren. Der öffentlich bedienstete Arzt sollte nicht auf die Privatpraxis als Neben- bzw. Haupterwerbsquelle angewiesen sein, gestattet bleibe sie jedoch allemal. Eine Harmoni- sierung und Anhebung der Gehälter im Bereich des Sanitätspersonals skizziert er so: Das öffentliche Sanitätspersonal bildet einen einzigen „Concretalstatus“, der von Wirkungskreis und Leistung die Dotation ableitet, sowie die vertikale Mobilität regelt.366 Das Dienstverhältnis des Arztes zur politischen Behörde wird zwar als Subordinationsver- hältnis verstanden, jedoch ob seiner fachlichen Autorität ist die Ab- hängigkeit lediglich eine formelle, sieht sich der Mediziner doch als Repräsentant der von ihm vertretenen höheren Sanitätsbehörde, also eigentlich nur ihr gegenüber weisungsgebunden. „Das liegt eben in der unabhängigen Macht der ärztlichen Fachwissenschaft, in welcher der Arzt der Behörde gegenüber immer nur als Rathgeber erscheinen kann.“367 In seinem Wirkungskreis sei er autonom, kein behördlicher Befehl kann sein fachliches Urteil modifizieren, so die Hoffmannsche Autonomievorstellung hinsichtlich des Berufstandes. Daraus resultiert der Gedanke die substantielle Autonomie in den formellen Bereich der amtlichen Rhetorik zu transponieren, d.h. „nicht der Decret-, son- dern der Notenstyl [sollte -T.B.] Anwendung finden, weil es ja allge- mein Brauch ist, dass man um Rath ersucht und nicht befiehlt“368. Auch diese Momente lassen den Drang nach Unabhängigkeit von staatlicher Einflußnahme erkennen: Mechanismen der Selbstregulati- on - Impulse, die im besonderen die Assoziationsfrage nähren. 365 Ebd. S.9. 366 Vgl. ebd. S.11. 367 Ebd. S.12. 368 Ebd. S.12.
  • 136. 136 Das Provisorium interpretierte das Dienstverhältnis noch abhängig von der individuellen Anschauung des jeweiligen Amtsvorstandes, ein reformbedürftiges Übel, so Hoffmann: Selbstverständlich erscheint es, dass eigentlich nur die gemeinschaftliche höhere Behörde (Oberbehörde), welcher die obere Leitung des Sani- tätswesens obliegt (wie ehedem die Kreisämter und nach deren Aufhebung die Statthaltereien), die naturgemässe vorgesetzte Behörde für die im öf- fentlichen Sanitätsdienste angestellten Aerzte sein kann [...] indem, strenge genommen, die den Unterbehörden zur Besorgung des öffentlichen Sani- tätsdienstes beigegebene Aerzte nur als exponierte Dienstesorgane jener oberen Sanitätsbehörde erscheinen.369 Die Distribution der akademischen Experten zum Vorteil des Staates könne ebenfalls nur von Experten (=Medizinern) vorgenommen wer- den. Die Sanitätsreferenten der Behörden allein seien dazu befugt. Demnach erscheint es also unbedingt wünschenswerth und nothwendig [notwendig, da die Entscheidung eines Laien gefährlich (sic!) sei -T.B.], dass alle ärztlichen Dienstes- und Personalangelegenheiten von den betrof- fenen Behörden nur in Uebereinstimmung mit den diesfälligen Anträgen competenter Fachreferate erledigt werden.370 Das Provisorium von 1850 und die Durchführungspraxis verlief wohl anders. Der Laie stellt sich Hoffmann als potentieller Verhin- derer dar. Mehr Einfluß der Expertokratie, allein der ungebildete Laie wird zum Dämon der Verhinderung des Fortschritts, mithin der staat- lichen Wohlfahrt - eine Phraseologie, die mit Drohgebärden um An- erkennung buhlt. Nicht anders tönt Krausens Lamento in der ZGM 1866 über die ju- ristische Stellung des Medizinalbeamten, der der politischen Behörde subordiniert ist. „Es kommt leider zu häufig vor, dass die Physiker den widerwärtigen Chicanen von dem Augenblicke an ausgesetzt sind, wo sie bei Commissionen einer anderen Meinung zu sein wagen, als der regierende - Pascha.“371 Weiterer Kritikpunkt ist das Besol- dungschema, das den Medizinalbeamten eine Privatpraxis als Neben- erwerb aufzwängt. 369 Ebd. S.12. 370 Ebd. S.13. 371 ZGM (1866, Nr.46), S.539.
  • 137. 137 Die Edierung eines ‘Medicinalcodex’ erscheint ihm unumgänglich für eine effiziente Sanitätspflege. Kraus referiert eine Vorschlag der „Presse“, die nach preußischem Muster den Referenten in Sanitäts- sachen durch ein Medicinalcollegium substituiern wollte. Allein der entscheidende Moment, so Kraus, sei nicht die Organisation der lei- tenden Stelle, sondern deren Befugnisse, d.h. die Möglichkeit des unmittelbaren Einflusses auf die Regierung bzw. die Unterstützung dieser bei den Beschlüssen der Sanitätsstelle.372 Den Abschluß der Denkschrift des Doktorenkollegiums von 1867 bildet der Vorschlag einer Systemisierung des im öffentlichen Dienst stehenden ärztlichen Personals, das Standesinteresse und das Profes- sionalisierungsstreben wünschen eine Gleichbehandlung, was Dotie- rung, Rang und Aufstiegsmuster angeht, mit den Staatsbeamten, also eine staatlich garantierte Relevanz des ärztlichen Standes im Dienste der Volkswirtschaft. Letztlich verbleibt dem Kollegium noch die Ein- mahnung der Aufwendung von finanziellen Mitteln für den öf- fentlichen Sanitätsdienst: Das Sanitätswesen kann da nicht floriren, wo die eigentlichen Träger des- selben, die im öffentlichen Dienste wirkenden Aerzte, meist ein sorgenvol- les Dasein fristen, und die Mehrzahl derselben die besten Kräfte dem tägli- chen Broterwerbe, d.i. der Privatpraxis, anstatt dem öffentlichen Dienstin- teresse - zu widmen gezwungen ist.373 Eine zugegeben sanfte Warnung, daß die Monopolisten zur Wah- rung der staatlichen Produktivkraft ihrer Bedeutung gemäß entlohnt werden. 372 Vgl. ZGM (1867, Nr.43), S.504. 373 ZGM (1867, Nr.51), S.630.
  • 138. 138 6 Fazit Barthels wohl entscheidene Feststellung beruht auf der methodi- schen Differenzierung vom gesellschaftspolitischen Diskurs der Ge- sundheit und seiner fanatisch betriebenen Verkündigung durch die Ärzte; d.h. er distanziert sich von einer Medizinkritik, die der Ärz- teschaft bzw. der naturwissenschaftlichen Medizin Omnipotenz zu- schreibt; eine Kritik, die fälschlich davon ausgeht, so Barthel, daß ei- ne Berufsgruppe „die Funktionsbedingungen ihrer Definitionspotenz und Machtausübung selbst herstellen und gesamtgesellschaftlich auf- zwingen [kann -T.B.]“.374 Der etablierte Arzt gilt ihm vielmehr als funktionalisierte und ope- rationalisierte Antwort auf die herrschenden gesellschaftlichen Macht- und Interessenskonstellationen. Dazu gehört auch die These von der Untermauerung der bürgerlichen Herrschaft mit einer ratio- nal-wissenschaftlichen Anthropologie.375 Beobachtungsareal dieser Arbeit, vor dem Hintergrund dieses networks, ist die ‘Verkündi- gungsliteratur’; d.h. es wird versucht Strategeme einer internen Soli- darisierungkampagne zu eruieren. Noch um 1850 bot der sozio-kul- turelle Kontext nicht die abgesicherten und legitimierten Existenz- konditionen der Gegenwart für den Ärztestand. Die Abgrenzung von den nicht akademischen „Curpfuschern“ und den „halbgebildeten“ Chirurgen gehörte genauso dazu, wie der Kampf um adäquate Besol- dung und einen cursus honorum, v.a. im Staatsdienst. Die Durchset- zungsfähigkeit ist folglich in Korrelation zu den augenblicklichen ge- samtgesellschaftlichen Strukturbedingungen zu sehen. Der Arzt greift vehement in den gesundheitspolitischen Diskurs ein, er erkennt das Profilierungspotential dieser öffentlichen Angele- genheit. Dieser Bereich wird „zu einem Forum, wo sie [die Ärzte- schaft -T.B.] sich als ergebene Staatsdiener, als berufene Bevölke- rungspolitiker und Strategen der kollektiven Gesundheit, sowie als 374 Barthel (1989), S.23. 375 Vgl. Labisch (1992), S.107.
  • 139. 139 auserwählte gesellschaftsförderliche Profession zu Gehör bringen können.“376 Einer Staatsorganisation, die interessiert ist, aus feuda- listischen Bahnen auszubrechen, oder die zentralistisch-kapitalistische Systeme affirmieren möchte, reden sie von der Medikalisierung der Gesellschaft als unausweichliches Patentrezept der effizienten Aus- bildung moderner Lebensformen. Die öffentliche Gesundheit (natur- gemäß, geradezu als conditio sine qua non, ebenso die individuelle Gesundheit), die Wohlfahrt konsolidiert sich in diesem Kursus als zentraler Parameter ‘zivilisierter’ Staatenbildung; letztlich ein Pa- rameter effizienter „Massenmenschenhaltung“ für den Dienst einer fortschrittsgläubigen Gesellschaft am Projekt der Moderne, für unse- ren Fall adaptiert, als teleologische Glücksverheißung des produzier- ten Mehrwerts. Das überbordende Geltungsstreben der Ärzte kumuliert in einer Hybris: den Göttern gleich eröffnet die Realität vor ihrem naturwis- senschaftlichen Blick ihre Strukturen und Chiffren, der Arzt analy- siert ein Segment der Wirklichkeit, generalisiert dieses und negiert in extremis die Existenz eines anderen Blicks respektive einer anderen, als der ihm bekannten Tatsächlichkeit: Der Arzt als „Weltspezialist“: das bedeutet nicht, daß sie [die Ärzte -T.B.] die ganze Welt kennen oder al- les über sie wissen, sondern daß sie nicht anstehen, den absoluten Sinn des- sen, was jedermann weiß und tut, können und wissen zu wollen. Sie bean- spruchen die Expertenherrschaft für die absoluten Bestimmungen dieser ganzen Wirklichkeit selbst.377 Mit diesem Anspruch formierte sich die Ärzteschaft zum obersten Interpreten und Polizisten des menschlichen Intimraumes, wie der interpersonalen Interaktionsareale. Die Instrumentalisierung und Me- chanisierung des Körpers, auch der aggregierter Körper-Massen als bürgerlich, aufgeklärte Naturbeherrschung bereitete das Feld des ärzt- lichen Prestigegewinns. Selbstverständlich nahmen die Ärzte an die- sem Prozeß teil, zunächst einmal als aufgeklärte Bürger, gleichzeitig weit massiver als verborgene, vermittelnde Instanz bürgerlicher Rati- onalisierung der Lebenspraxis. Barthel negiert die Vorstellung, der 376 Barthel (1989), S.24. 377 Berger/Luckmann (1969), S.125.
  • 140. 140 Arzt, die Medizin sei autonomes Movens der Totalmedika- lisierungsidee.378 Die sozialstrukturellen Voraussetzungen bilden das populationisti- sche Kalkül des Staates und das bürgerliche Distinktionsmerkmal „Gesundheit“ als Stabilisations- und Abgrenzungsmoment v.a. ge- genüber dem Adel, administrativ-technisch subsumierbar unter dem Begriff „Biomacht“. Der Arzt wird so zum Multiplikator einer ge- sellschaftlichen Dynamik, zum Nutznießer einer Entwicklung im Sin- ne seiner standespolitischen Interessen. Auch wenn Bleker meint, vornehmlich der Staat funktionalisiert Mensch und Medizin379. Als Verwalter der Physis (s.o.), versehen mit einem Anspruch von Omni- potenz, v.a. in den Bereichen der individuellen und kollektiven Lebensführung, der Staat als zentrale Appellationsinstanz ist grundsätzlich in die Argumentationsstrategie der Ärzteschaft invol- viert. Das medizinische Hegemonie- bzw. Monopolstreben konvergiert mit weit umfassenderen Vergesellschaftungsvorgängen; die Ärzte „schlüpfen in die Rolle des Vermittlers ge- sellschaftspolitischer Zwecksetzungen - die Verbesserung, Qualifizierung, Disziplinierung von Populationen und Individuen über das Ziel der Gesundheit.“380 Das Einlösen solcher Bedingungen steht noch im Kampf mit einer traditionalen Gesellschaft. Kondensat: Zwei maßgebende Faktoren begründen den eminenten Geltungsdrang der Ärzte. Erstens die problematische soziale Lage, zweitens die Schwierigkeiten bei der Durchsetzung ihres Autoritäts- anspruches gegenüber traditionellen Therapieformen; der demos war zunächst noch zu überzeugen. 378 Vgl. Barthel (1989), S.26. 379 Vgl. Bleker (1983), S.230-231. 380 Barthel (1989), S.41.
  • 141. 141
  • 142. 142 7 Abkürzungen RGBl = Allgemeines Reichs-Gesetz- und Regierungsblatt für das Kaiserthum Österreich ZGM = Zeitschrift für gerichtliche Medicin, öffentliche Ge- sundheitspflege und Medicinalgesetzgebung AMZ = Allgemeine Wiener medizinische Zeitung MH = Wiener Medizinal-Halle. Zeitschrift für praktische Ärzte MP = Wiener Medizinische Presse (Fortsetzung der Wiener Medi- zinal-Halle) WIZ = Waldheim’s Illustrierte Zeitung
  • 143. 143
  • 144. 144 8 Bibliographie Allgemeine Wiener medizinische Zeitung, Nr.13-Nr.17 (1857) und Nr.35 (1858) Allgemeines Reichs-Gesetz- und Regierungsblatt für das Kaiserthum Österreich, Jg. 1850, 2. Jahreshälfte, Wien (1850); Beila- genheft zum allgemeinen Reichs-Gesetz-und Regierungs- blatte für das Kaiserthum Österreich, Jg. 1850. Anonym, Der gegenwärtige Zustand der öffentlichen Gesundheits- pflege in Österreich mit besonderer Berücksichtigung des localen Sanitätsdienstes bei contagiösen Krankheiten im Kronlande Nieder-Oestereich, Besprechung der neueren diesbezüglichen Sanitätsverordnungen von einem Sanitäts- beamten, Wien (1880) [=Separatdruck aus dem „Med. Chir. Centralblatt“ Nr.13 etc., J.1879 u. 1880] Anz, Thomas, Gesund oder krank? Medizin, Moral und Ästhetik in der deutschen Gegenwartsliteratur, Stuttgart (1989) [=Metzler Studienausgabe]. Baltl, Hermann, Österreichische Rechtsgeschichte unter Einfluß so- zial- und wirtschaftsgeschichtlicher Grundzüge. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Graz (61986). Barthel, Christian, Medizinische Polizey und Aufklärung. Aspekte des öffentlichen Gesundheitsdiskurses im 18. Jahrhundert Frankfurt/Main u.a. (1989) [=Campus, Forschung; Bd.603]. Berger, Peter/Luckmann, Thomas, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Stuttgart (1969). Berghoff, Emanuel, Entwicklungsgeschichte des Krankheitsbegriffs: In seinen Hauptzügen dargestellt, Wien (1947). Bernt, Joseph, Systematisches Handbuch des Medicinal-Wesens, nach den k.k. Österreichischen Medicinalgesetzen, zum Gebrau- che für Ärzte, Wundärzte, Apotheker, Polizeybeamte, und zum Behufe öffentlicher Vorlesungen, Wien (1819).
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  • 148. 148 der Brechdurchfalls-Epidemie in der k.k. Haupt- und Resi- denzstadt Wien, wie auch auf dem flachen Lande in Nieder- Österreich in den Jahren 1832 und 1832, Wien (1834). kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie nr.29 märz (1994). Labisch, Alfons, »Hygiene ist Moral - Moral ist Hygiene« - Soziale Disziplinierung durch Ärzte und Medizin, in: Sach- ße/Tennstedt (1986), S.265-284. Labisch, Alfons, Homo hygienicus. Gesundheit und Medizin in der Neuzeit, Frankfurt/Main (1992). Laqueur, Thomas, Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt/Main (1992). Lepenies, Wolf, Gefährliche Wahlverwandtschaften, Stuttgart (1992). Lesky, Erna, Die Wiener medizinische Schule im 19. Jahrhundert, Graz (1965) [=Studien zur Geschichte der Universität Wien, Bd.VI]. Macher, Mathias, Handbuch der kaiserlich-österreichischen Sanitäts- Gesetze und Verordnungen für die k.k. Bezirks- und Krei- sämter, besonders für Sanitätsbeamte, Aerzte, Chirurgen, Apotheker und Alle, deren Berufsgeschäfte zum öffentli- chen Sanitätswesen in naher Beziehung stehen. Bd.1-8, Graz (1853). Macher, Mathias, Zur Medicinal-Reform in Oesterreich. Ansichten und Wünsche ausgesprochen durch der Verein Aerzte in Steiermark, redigiert von M. Macher, Graz (1868). Martin, Anselm, Die Kranken- und Versorgungsanstalten zu Wien, Baden, Linz und Salzburg in medicinisch-administrativer Hinsicht betrachtet, München (1847). McKeown, Thomas, Die Bedeutung der Medizin. Traum, Trugbild oder Nemesis? Frankfurt/Main (1982) [=edition suhrkamp 1109 N.F. Bd.109].
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