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Dionysos in Pergamon. Ein polytheistisches Phänomen Einleitung: Dionysos am Pergamonaltar

https://doi.org/10.1515/9783110222357.433
Dionysos in Pergamon. Ein polytheistisches Phänomen Cornelia Isler-Ker¦nyi Einleitung: Dionysos am Pergamonaltar Dionysos war in Pergamon spätestens seit der zweiten Hälfte des 3. Jahr- hunderts v. Chr. eine der prominentesten Gottheiten, die durch das von weither sichtbare Theater und andere unübersehbare Bauten auch das Stadt- bild prägte.1 Am Pergamonaltar kommt er sowohl in der Gigantomachie, die den Altarsockel schmückt, wie im Telephosfries auf der Rückwand der den eigentlichen Altar umgebenden Säulenhalle vor (Fig. 1). In der Gigantomachie ist ihm der Abschnitt unmittelbar rechts der Monumentaltreppe zugewiesen, die auf der Altar-Westseite zur höher gelegenen Altar-Plattform führt. Seine Erscheinungsform ist hier jene des siegreich Kämpfenden, des Triumphie- renden (Thriambos) (Fig. 2). Verschiedene Indizien – die Komposition der Szene, die Wahl der ihn begleitenden und unterstützenden Figuren, allen voran seiner Mutter Semele, die Plazierung am südlichen Risalit – lassen den Schluß zu, daß es sich bei diesem Dionysos um den für Pergamon besonders wichtigen Mysteriengott Dionysos Kathegemon – den Anführenden – handelt. Auf Semele und auf die Frage, was Mysterien konkret bedeuten konnten,2 werden wir zurückkommen. Im Telephosfries hatte Dionysos anscheinend dieselbe Gestalt des Tri- umphierenden (Fig. 3). Sein Auftreten stellt hier den Höhepunkt im Drama von Telephos’ Lebensgeschichte dar: Er ist es, der Telephos während des Zweikampfes mit Achilleus in der Kaikos-Ebene zum Straucheln bringt, damit zuerst seine Verwundung und später die mit der Aufdeckung seiner wahren Identität verbundene Heilung bewirkt. Im gleichen Moment verwandelt er durch das wundersame Aufsprießen des Rebstocks zwischen den Kämpfenden das Land Mysien vom Barbaren- in ein Kulturland. In keiner anderen Figur außer jener des Herakles kommt am Pergamonaltar die konzeptionelle Ver- bindung zwischen Gigantomachie und Telephie so explizit zum Ausdruck. Ohne Herakles, der neben Hera in der Mitte des Ostfrieses dargestellt war, 1 Ohlemutz (1968) 90 – 122; Radt (1999) 188 – 196; 257 – 262. 2 Jaccottet (2006) 227: „Le problème des mystères dionysiaques n’est pas un problème antique mais bien une problématique engendrée par l’emploi moderne du terme de mystères.“ Vgl. Burkert (2002) 17. 434 Cornelia Isler-Kerényi hätten die olympischen Götter ebensowenig siegen können wie später die Griechen ohne die Hilfe des Herakles-Sohnes Telephos im Kampf gegen die Trojaner.3 Dionysos aber ist nicht nur der einzige Gott, der in beiden Kon- texten aktiv auftritt und an der glücklichen Lösung mitwirkt, sondern auch jener Gott, der am engsten mit pergamenischem Land und Boden verbunden ist.4 Um dies wahrzunehmen, mußte der Betrachter natürlich beide Friese in Augenschein nehmen. Wer von der Gigantomachie zur Telephie die Treppe hochstieg, machte sich bewußt, daß er in eine etwas jüngere Zeit geführt wurde. Wenn die Götter ohne Herakles nicht hätten siegen können, bedeutet das, daß man sich den Gigantenkampf nicht in der grauen Vorzeit der ersten Göttergenerationen vorstellte, sondern relativ spät in der Zeit der Heroen,5 die dem Krieg um Troja vorausgegangen war. Wenig später muß Telephos ge- boren worden sein, dessen Geschichte ein unmittelbares Vorspiel zu jenem Krieg war. Die im Telephos-Südfries postulierte, neugegründete Stadt konnte allerdings noch nicht Pergamon heißen. Der Heros Pergamos, von dem die Stadt den Namen bekam, war ja – allerdings erst durch kaiserzeitliche Quellen belegt – der jüngste Sohn des Achilleus-Sohnes Neoptolemos und der Tro- janerin Andromache.6 Die Benennung muß demnach, in mythischen Kate- gorien gedacht, nach dem Fall von Troja erfolgt sein: Die Figur des Telephos verbindet also die Gigantomachie der Götter mit dem trojanischem Krieg, der für die Griechen am Anfang ihrer Geschichte stand. Der Mythologie ist au- ßerdem entweder eine Gründung Pergamons in zwei Phasen oder die Existenz verschiedener Traditionen über seine Ursprünge zu entnehmen. Auf jeden Fall wird aber eine Relation zwischen der Stadt des Telephos und Troja hergestellt. Der Mythos und die Geschichte Daß in einem polytheistischen Denksystem mehrere mythologische Tradi- tionen nebeneinander bestehen können, ist nicht überraschend. Denn: „Die Hauptfunktion des Mythos ist, wie wir heute alle wissen, ursprünglich die, daß er die Wirklichkeit und die menschlichen Einrichtungen begründen soll.“ Deshalb: „Auch um die Verschiedenheit der bestehenden Dinge zu ,be- gründen‘, muß man sie auf verschiedene Schöpfungs- oder Gründungsakte 3 Bauchhenss-Thüriedl (1971) 9. 4 Detaillierte ikonographische Analyse in Isler-Kerényi (2010). 5 Zum Begriff s. Brelich (1985) 71 f. 6 Vollkommer (1994) 320 f.; Scheer (1993) 124; Pellizer (1998) 46. Dionysos in Pergamon. Ein polytheistisches Phänomen 435 und eventuell auf Handlungen verschiedener Gestalten zurückführen.“7 In diesen Worten äußert sich eine Einschätzung der mythologischen Erzählung, die jener im 19. Jahrhundert vorherrschenden und oft heute noch, wenn auch unausgesprochen, mitschwingenden entgegengesetzt ist. Der Mythos behauptet, uraltes Wissen über ursprüngliche Zustände zu vermitteln.8 Dies hat man wörtlich verstanden und in der mythologischen Erzählung die Erinnerung an vorgeschichtliche bzw. vorschriftliche Zeiten gesucht.9 Deshalb sind wir gewohnt, die ältesten schriftlich belegten Über- lieferungen etwa in den homerischen Epen oder bei Hesiod für die am ehesten glaubwürdigen zu halten. Dies gilt im Prinzip auch für die Telephos-Ge- schichten: Daraus, daß er bzw. sein Sohn Eurypylos bei Homer und in den Epen des Kyklos immerhin kurz erwähnt wurden, ergab sich seine Würde als zur ursprünglichen, ,unverfälschten‘ Mythologie der Griechen gehörende Herosfigur.10 Für Brelich besteht hingegen die Rolle der mythologischen Erzählung darin, historisch entstandene Situationen in ein bestehendes men- tales System einzupassen und damit zu legitimieren. Dieses mentale System ist von göttlichen Figuren getragen und gehört demzufolge zur Religion. Da es aber zugleich in den geschichtlichen Prozeß eingebunden ist, entfällt die oben genannte Hierarchie der Mythen von alt – gleich genuin, gleich glaubwürdig – zu historisch jünger – gleich sekundär, gleich willkürlich bzw. propagandis- tisch. Alle Mythen, auch die relativ späteren, sind gleichwertig. Es gilt dem- nach nicht mehr, innerhalb eines mythologischen Ensembles nur nach den ältesten, den postulierten Ursprüngen am nächsten kommenden Überliefe- rungen zu suchen. Es macht vielmehr Sinn, die einzelnen Mythen, soweit sie auf uns gekommen sind, mit ihren Bestandteilen kritisch zu sichten und in eine historisch plausible Abfolge zu stellen. Damit bleiben zwar vor- oder früh- geschichtliche Zustände im Dunkeln, doch ergibt sich dafür ein Einblick in das kulturelle Klima bestimmter historischer Schauplätze und in das Selbstver- ständnis ihrer Akteure. Was die Telephos-Mythologie betrifft, so sind wir in 7 Brelich (1960) 130 f. Ausführlicher und grundlegend zum Phänomen des Polytheis- mus: Brelich (2007). Zum Polytheismus der Griechen siehe auch Vernant (1995) 9 – 14; Detienne (1997); Pironti/Mazzadri (2009) 290 – 296. 8 Scheer (1993) 53 f. 9 Vgl. im Fall des Telephos die Überlegungen zur möglichen Relation mit dem hethitischen Telepinu: Stewart (1996) 112 f. (Telepinu = sowohl Telephos als auch Dionysos) und Tassignon 2001 (Télibinu = Dionysos). Dazu Scheer (1993) 146: „Die Kontinuität eines hethitischen Telipinus am Ort bis in die hellenistische Zeit […] ist denkbar unwahrscheinlich.“ 10 Scheer (1993) 71 – 74. Vgl. etwa Stewart (1996) 114: „nothing incompatible with that myth’s basic meaning and function can be added to it within the context of the culture that created it.“ So bestand für ihn auch beim Telephosmythos ein „original plot“, allerdings mit „extraordinary flexibility“ versehen (ebd. 118). 436 Cornelia Isler-Kerényi der glücklichen Lage, uns auf eine in diesem Sinn durchgeführte Studie stützen zu können.11 Telephos-Mythologie im Wandel Bei Homer und in den Epen des Kyklos werden einerseits die Beteiligung des Telephossohnes Eurypylos am Trojanischen Krieg und sein Tod durch Neoptolemos erwähnt, anderseits der erfolgreiche Kampf des Mysierkönigs Telephos gegen die vor dem Trojanischen Krieg in sein Land eingefallenen Griechen, seine Verwundung und die Reise nach Argos, während die Kindheits- und Jugendabenteuer völlig fehlen.12 Im 5. Jahrhundert zeigt sich in den Werken des Pindar, Akusilaos und Hekataios von Milet die Tendenz zur Systematisierung des Stoffes durch explizite Genealogien und geographi- sche Zuordnung. Nach Pausanias13 wurden in der Geschichte der Auge, der Mutter des Telephos, bereits durch Hekataios die Schauplätze Mysien und Arkadien miteinander verknüpft.14 Telephos gehörte dann, nach der Aussage des Aristoteles, zu den meist- behandelten und auch am besten geeigneten Gegenständen aller dramatischen Gattungen.15 Da aber keines der Telephos-Dramen erhalten geblieben ist, lassen sich jeweils aus Fragmenten bestenfalls die Handlungsschwerpunkte bestimmen. In den Aischylos-Tragödien Mysoi und Telephos ging es um den Kampf des mysischen Königs Telephos gegen die einfallenden Griechen bzw. um seine Reise nach Argos. In den Aleadai behandelte Sophokles die Zeu- gung, Geburt und Jugend des Telephos in Arkadien. Wie sich das Orakel erfüllte, Telephos also zum Mörder seiner Onkel wurde, wissen wir nicht. In den Sophokleischen Mysoi suchte und fand er seine Mutter in Mysien. So- phokles ging in zwei weiteren Stücken, Achaion Syllogos und Eurypylos, auf die Telephie ein. In der Auge des Euripides stand das Schicksal von Telephos’ Mutter im Mittelpunkt. Am besten bekannt ist aber sein im Jahr 438 v.Chr uraufgeführter Telephos, eine Tragödie, die in der Auseinandersetzung um die Heilung der Wunde zu gipfeln scheint.16 Die genauere Betrachtung der auf uns gekommenen Fragmente der frühen literarischen Tradition ergibt zwei ursprünglich voneinander unabhängige Stränge: Im ersten ging es um den 11 Scheer (1993) 71 – 152. Vgl., ähnlich, Stewart (1996) 109 – 112 und, wenig über- zeugend, Zagdoun (2008). 12 Scheer (1993) 74. 13 Paus. 8.4.8 f. 14 Strauss (1990) 90 und 92; Scheer (1993) 77; Stewart (1996) 110; Preiser (2000) 50 und 61. 15 Scheer (1993) 78; Stewart (1996) 111. 16 Scheer (1993) 82. So auch Preiser (2000) 71 – 97 und Jouan/van Looy (2002) 96 – 111. Dionysos in Pergamon. Ein polytheistisches Phänomen 437 Kampf des mysischen Königs Telephos, der im 5. Jahrhundert zum Hera- klessohn wurde, gegen die einfallenden Griechen. Im zweiten war die arka- dische Prinzessin Auge die Protagonistin. Die Verknüpfung beider Stränge findet sich erstmals bei Sophokles, der sie möglicherweise älteren genealogi- schen Vorlagen entnommen hatte.17 Die Akzentsetzungen der athenischen Dramatiker haben jedenfalls den weiteren Verlauf der Telephos-Mythologie geprägt.18 Dafür spricht auch der Verlauf der Telephos-Bildgeschichte. Da der mittelkorinthische Aryballos mit der nachträglich eingeritzten Namensbei- schrift entfällt,19 die Schale in London völlig isoliert und fragwürdig20 wie auch der Phintias-Krater in St. Petersburg problematisch21 bleibt, setzt sie in der Vasenmalerei mit Sicherheit erst im zweiten Viertel des 5. Jahrhunderts mit der Schale in Boston22 und der Pelike in London23 ein. Daß beide Vasen in die Zeit der Aischylos-Tragödien gehören, ist wohl kein Zufall: Dabei ist be- merkenswert, daß der an seinem Bein leidende Schutzflehende auf dem Altar sitzt, aber ohne das Kind Orestes. Außerhalb Athens zirkulierten bereits im 5. Jahrhundert ostionische Gemmen mit dem wohl als Glücksbringer einge- setzten Bild des von der Hindin genährten Telephoskindes.24 Zu den frühesten Zeugnissen und in den oben erwähnten Auge-Strang der mythologischen Überlieferung gehört auch das argivisch-korinthische Bronzeblech der Jahre 470 – 460 mit der Darstellung des Herakles zwischen Auge mit dem Kind Telephos und Athena, das einen politischen Sinn haben könnte.25 Erst von 400 v. Chr. an wird unter dem Einfluß der Euripideischen Tragödie der auf dem Altar kniende Telephos mit dem Kind Orestes sowohl in der attischen wie vor allem in der unteritalischen Vasenmalerei zu einer populären Figur.26 17 Scheer (1993) 86. 18 Scheer (1993) 78. 19 Scheer (1993) 87 f. 20 Strauss (1994) Telephos 45. 21 Strauss (1994) Telephos 48. Siehe unten Anm. 49. 22 Strauss (1994) Telephos 51. Hier kommt die Deutung auf Telephos aber nur der auf dem Altar sitzenden Figur der Seite A zu, jedoch nicht dem Reisenden im Innenbild, wie auch Scheer (1993) 88 f. zu Recht meint. 23 Strauss (1994) Telephos 52. 24 Strauss (1994) Telephos 6, 7 und 11. 25 Strauss (1994) Telephos 2; Strauss (1990). Eine Aktualisierung des Mythos anläßlich der Kontroversen um Demaratos, den spartanischen Führer, der sich nach 479 v. Chr. im persisch dominierten Mysien festsetzte, ist plausibel: Strauss (1990) 98 f.; so auch Preiser (2000) 48 mit Anm. 24. Vgl. Stewart (1996) 111. 26 Strauss (1994) 866 Telephos 52 – 66; so auch Scheer (1993) 89 f. Vgl. Lesky (1957/58) 403: „Besonderes Aufsehen hat […] der Telephos erregt.“ 438 Cornelia Isler-Kerényi Sonst hat die Telephos-Mythologie nach dem 5. Jahrhundert in Grie- chenland kaum ikonographische Spuren hinterlassen.27 Daß sie im Bewußtsein geblieben ist und in Arkadien durchaus eine begründende Funktion ausübte, beweisen Münzen von Tegea des 4. Jahrhunderts mit dem ausgesetzten Kind Telephos28 und dann vor allem die durch den berühmten Künstler Skopas realisierte Skulpturendekoration im Westgiebel des Athena-Alea-Tempels mit der ersten gesicherten Darstellung des Kampfes am Kaikos:29 Darauf werden wir zurückkommen. Was die Zeit danach betrifft, so ist sicher, „daß sich die kleinasiatischen Teile der Telephossage an Teuthrania und nicht an Pergamon knüpfen“.30 Verschiedene Indizien lassen jedenfalls den Schluß zu, daß Te- lephos erst unter Attalos I., also in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts, vielleicht anläßlich der Annahme des Königstitels, zum Dynastiegründer der pergamenischen Monarchie gemacht worden ist.31 Dieser Anspruch ist vom Nachfolger Eumenes II. (197 – 159 v. Chr.) gerade auch am Pergamonaltar unterstrichen worden. Telephos und Pergamos Daß die Wahl auf Telephos fiel, hat mehrere Gründe. Er galt seit dem Epos und dann bei Pindar und den attischen Tragikern als mit dem Land Mysien eng verbundener Heros. Als Sohn des Herakles hatte er den Vorzug, ein echter Grieche zu sein. Die wichtige Rolle seines Vaters im Gigantenkampf machte es zudem möglich, den Telephos mit einer Grundvoraussetzung der Jetzt-Welt zu verknüpfen. Als Herrscher über das Land Mysien wurde er anderseits seit alters her auch mit Priamos, dem trojanischen König, verbunden.32 Als diese Wahl vollzogen wurde, bestand die Stadt Pergamon samt ihrem Namen bereits seit langem.33 Ob der eponyme Heros Pergamos schon vor Attalos I. zum Eponymos Pergamons gemacht oder gleichzeitig mit der Ad- option des Telephos zum Dynastievorvater eingeführt wurde,34 ist weniger wichtig als der Umstand, daß auch ihm, wie dem Telephossohn Eurypylos, eine Trojanerin, nämlich Hektors Witwe Andromache, zur Mutter gegeben 27 Sie war aber in Italien offenbar beliebt, wie vor allem die etruskischen Spiegel und die Volterraner Urnen bezeugen: Domenici (2009). 28 Strauss (1994) Telephos 8. 29 Delivorrias (1973); Strauss (1994) 866 Telephos 49; Stewart (1996) 111. 30 Scheer (1993) 100. 31 Scheer (1993) 123 und 128. 32 Bauchhenss-Thüriedl (1971) 11 und 99 Anm. 115; Scheer (1993) 73. 33 Der Stadtname bedeutet in der vorgriechischen Ortssprache „Burg“: Scheer (1993) 100; Radt (1999) 23. 34 Da der Mythos von Pausanias (1.11.2) referiert wird, darf man ihn wohl spätestens der hellenistischen, nicht erst der kaiserzeitlichen Tradition zuschreiben. Dionysos in Pergamon. Ein polytheistisches Phänomen 439 wurde. Den Attaliden lag offenbar viel daran, Pergamons Beziehung zu Troja, die durch die geographische Nähe vorgegeben war, explizit zu machen; zumal auch die zur Großmacht aufsteigende Verbündete Rom genealogische Ver- bindungen zu Troja und zu Telephos reklamierte.35 Die Figur des Pergamos hatte noch weitere Vorteile. Als Sohn des Pyrrhos-Neoptolemos und Enkel des Achilleus ergab sich durch ihn eine verwandtschaftliche Verbindung zum molossischen Königshaus und damit zu Olympias, der Mutter des Alexander.36 Eine konkrete Verbindung der Polis Pergamon zu Alexander war bereits dadurch entstanden, daß dieser seine Geliebte Barsine, eine persische Prin- zessin, mit dem 327 v. Chr. geborenen gemeinsamen Sohn Herakles in der dortigen Burg in Sicherheit brachte und das Kind dort aufwachsen ließ.37 Alexander hielt sich bekanntlich ebenfalls – wie die Attaliden über Telephos – für einen Nachfahren des Herakles.38 Die mythologische Doppelkonstruktion – Telephos als Vorvater der At- taliden, Pergamos als Eponymos von Pergamon – machte es jedenfalls mög- lich, die eigentümliche Doppelheit Pergamons, das eine Polis und zugleich eine Monarchie war,39 mythologisch zu begründen. Die Abstammung der beiden Gründerheroen von Herakles bzw. von Achilleus verankerte die Stadt fest in der Heroen-Vorzeit. Diese Konstruktion sollte sich längerfristig als nützlich erweisen, als vor allem unter Eumenes II. der Anspruch immer deutlicher wurde, Pergamon zum neuen Athen zu machen.40 Athen galt ja als Vorbild aller demokratischer Poleis. So präsentierte sich Philetairos anläßlich seiner Weihungen in den großen Heiligtümern Griechenlands noch als erster Bürger Pergamons.41 Die Abstammung von einem Heraklessohn kam der Legitimierung der Königswürde gleich und verdrängte jede Assoziation mit der Tyrannis. Uns fehlen allerdings die genealogischen Zwischenglieder zwischen Philetairos und den Nachkommen des Telephos, von dessen Sohn Eurypylos Grynos, der König von Gryneion in der Kaikos-Ebene, abstamm- te.42 Auf diesen wurde später zurückgeführt, daß Pergamos der Stadt den 35 Scheer (1993) 148 mit Anm. 453; Pellizer (1998) 46 mit Anm. 13. Zur Rezeption des Telephosmythos in Etrurien seit der Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr.: Domenici (2009). 36 Paus. 1.11.1; Scheer (1993) 124. 37 Scheer (1993) 111; Radt (1999) 25. Der junge Herakles wurde 309 v. Chr. während den Auseinandersetzungen um Alexanders Nachfolge umgebracht: Badian (1998) 394. 38 Darauf spielen Münzen Pergamons der zwanziger Jahre des 4. Jahrhunderts wohl an: Scheer (1993) 111. 39 Allen (1983) 159; Massa-Pairault (2007) 1. 40 Virgilio (1993) 40 – 42; Scheer (1993) 128 f.; Radt (1999) 159 f. und 277. 41 Scheer (1993) 117. 42 Kein Stammvater der Attaliden war hingegen Dionysos: Scheer (1993) 131 mit Anm. 359. Die Bezeichnung von Attalos I. als Sohn des göttlichen Stieres, vgl. Musti 440 Cornelia Isler-Kerényi Namen geben durfte, obwohl es sein Vater Neoptolemos gewesen war, der Eurypylos auf dem trojanischen Schlachtfeld getötet hatte.43 Dionysos Den Dionysos in die Telephosgeschichte einwirken sehen wir erstmals am Pergamonaltar. Es ist jedoch anzunehmen, daß er auch in der vorattalidischen mythologischen Tradition zumindest verdeckt anwesend war. Bereits für Pindar ist der Schauplatz des Zweikampfes zwischen Telephos und Achilleus die rebenreiche (ampeloen) Ebene Mysiens.44 Die Aussage des Sophokles, wonach Herakles Auge im Rausch vergewaltigt habe,45 könnte ebenfalls ein Fingerzeig sein auf die entscheidende Rolle, die Dionysos im Leben des Te- lephos gespielt hatte. Daß Astyoche, die trojanische Gattin des Telephos, ausgerechnet mit einem goldenen Weinstock bestochen worden war, damit sie den eigenen Sohn in die Schlacht und in den Tod schicken sollte, ist auch anderen aufgefallen.46 In der Perspektive Pergamons kann diese Begebenheit übrigens die Strafe dafür gewesen sein, daß Eurypylos vor Troja den Machaon, den Sohn des Asklepios, getötet hatte: Angeblich deshalb durfte sein Name im dortigen Asklepieion nicht fallen, während alle Hymnen mit dem Lob des Telephos begannen.47 Die Indizien für die Anwesenheit des Dionysos in der Telephos-Mytho- logie sind in der bildenden Kunst vor dem Telephosfries noch schwächer. Ein immer wieder zitiertes Beispiel sind die Fragmente eines frührotfigurigen, dem Phintias zugeschriebenen Kraters in St. Petersburg:48 Dort war bei einer Kampfszene mit den inschriftlich genannten Patroklos und Diomedes ur- sprünglich auch der Name Dionysos gelesen und diese deshalb als die sonst nirgends in der Vasenmalerei bezeugte Episode von Telephos’ Verwundung interpretiert worden.49 Auf dieses doch sehr schwache Zeugnis stützt sich im (1986) 110 f., ist im Kontext der Mysterien metaphorisch zu verstehen, vgl. Vernant (1988a) 358 f. 43 Scheer (1993) 124; Virgilio (1993) 22 Anm. 35; Pellizer (1998) 46. 44 Pindar, Isthm. 8.54: Bauchhenss-Thüriedl (1971) 3; Scheer (1993) 75 Anm. 16; Ste- wart (1996) 111. Ein Archilochos-Fragment erwähnt wohl im selben Zusammenhang das kornreiche Mysien: Obbink (2006) 8. 45 Scheer (1993) 79. 46 Scheer (1993) 132. 47 Paus. 3.26.9: Scheer (1993) 135; Virgilio (1993) 22 Anm. 35; Zagdoun (2008) 199. 48 S. oben Anm. 21. Beazley (1963) 23.5: Bauchhenss-Thüriedl (1971) 17 f.; Scheer (1993) 87 Anm. 79; Preiser (2000) 49; Stewart (1996) 110. 49 Peredolskaja (1967) 31 – 33 mit den Tafeln 159.1 und 168.2 – 4 (Marek Palaczyk, Archäologisches Institut der Universität Zürich, sei für die Hilfe bei der Lektüre des russischen Textes herzlich gedankt). In dieser maßgeblichen Publikation wird allerdings Dionysos in Pergamon. Ein polytheistisches Phänomen 441 Westgiebel des Athenatempels in Tegea die Rekonstruktion des Kampfes zwischen Achilleus und Telephos in Gegenwart unter anderen des Dionysos.50 Daß es für das Auftreten des Dionysos im Telephosfries des Pergamonaltars beim verhängnisvollen Duell gar keine Tradition gegeben hat, ist trotzdem wenig wahrscheinlich: Für eine Dramenhandlung, wie etwa jene der Ais- chyleischen Mysoi, scheint es ja geradezu wie geschaffen.51 Wahrscheinlicher ist, daß die Rolle des in Pergamon so populären Gottes in der Geschichte des Telephos für Attalos ein weiterer Grund war, im arkadischen Heros den Dynastiegründer zu erkennen. Die ikonographische Gestalt des Dionysos am Pergamonaltar war durch die Gigantomachie-Metope am Parthenon vorgegeben: Er trägt wie dort den kurzen Chiton und darüber das Tierfell und wird vom Panther, dem asiati- schen Raubtier, begleitet und unterstützt.52 So wird der Gott im 4. Jahrhun- dert vielfach in Bildern des Gigantenkampfes,53 aber auch auf Weihreliefs dargestellt, die möglicherweise eine Kultstatue in Athen wiedergeben.54 Ge- meint ist, wie Cain gezeigt hat, der siegreiche, der triumphierende Dionysos Thriambos, der vom gezähmten Panther begleitet auch auf einigen kaiser- zeitlichen Münzprägungen Pergamons wiederkehrt.55 Das Bild, das man sich im 4. Jahrhundert von Dionysos machte, war al- lerdings nicht nur von den Parthenonskulpturen und von seinen Kultstatuen bestimmt, sondern mindestens ebensostark von seinem Auftreten in den frü- hestens 405 v. Chr. erstmals aufgeführten Bakchen des Euripides. Fragt man sich, wie Dionysos dort in Erscheinung getreten war, so muß die Wahl wohl auf diesen schönen, kämpferischen, exotisch auftretenden Jüngling fallen: Die beiden anderen Erscheinungsformen des stehenden Dionysos im 4. Jahrhun- dert, der fast oder ganz nackte Praxitelische Ephebe und der würdige, bärtige sogenannte Sardanapal, kommen ja nicht in Frage.56 Die starken Verbindun- weder der Name Dionysos noch der angebliche Thyrsosumriß im oberen Ornament- rahmen erwähnt, ebensowenig ist die fragliche Inschrift reproduziert. Ohne persön- lichen Augenschein läßt sich also nicht entscheiden, wie es sich nach den letzten Restaurierungen mit der Dionysos-Inschrift verhält. Deshalb entfällt vorläufig diese Vase auch als Beleg für die frühe Rezeption des Telephosmythos in Etrurien: Do- menici (2009) 159. 50 Delivorrias (1973) 112 Anm. 4, 115 f. und 119; Heres (1996) 96. 51 Die erhaltenen Fragmente geben keinen Aufschluß, vgl. Brizi (1928) 95 – 100. 52 Isler-Kerényi (2009a) 113 f. Zum Panther in der dionysischen Ikonographie: Isler- Kerényi (2009b). 53 Korinthische Klappspiegel: Gasparri (1986) Dionysos 633; Vian (1988) Gigantes 76; Apulische Vasenbilder: Gasparri (1986) Dionysos 641; Berlin, Antikensammlung Staatliche Museen Inv. 1984.44: Isler-Kerényi (2010) Taf. 13.1. 54 Cain (1997a) 30. 55 Ohlemutz (1968) 119 f. Siehe besonders Fritze (1910) Taf. IV.22; V.3 und 6. 56 Cain (1997); Gasparri (1986) 511. Ebensowenig in Frage kommt der Dionysos Musagetes vom Westgiebel des Apollontempels in Delphi: Croissant (2003). 442 Cornelia Isler-Kerényi gen zwischen dem Euripideischen und dem pergamenischen Dionysos hat Musti überzeugend herausgearbeitet:57 Sie passen zur oben bereits angespro- chenen Ausrichtung der Attaliden nach dem klassischen Athen. Die Ähn- lichkeit des Dionysos am Pergamonaltar zu jenem der Euripideischen Bakchen wird auch dadurch plausibel, daß beide Mysteriengötter sind. In der genannten Tragödie tritt der Gott als Eingeweihter, eigentlich als Einweihender auf; vom pergamenischen Dionysos Kathegemon ist bekannt, daß er auch in Form von Mysterien verehrt wurde.58 Der Mysteriengott Dionysos in Pergamon An dieser Stelle muß man sich allerdings bewußt machen, was man sich heute unter Dionysos-Mysterien vorzustellen hat. Die von Jaccottet anhand der epigraphischen Zeugnisse vorgelegte Argumentation führt zum Schluß, daß die dionysischen Mysterien an jedem Ort in anderen rituellen Formen be- gangen wurden: Unterschiedlich waren der bauliche Rahmen, die Titulatur der Teilnehmer, die Art des Anlasses (z. B. Nachspiel der Kindheit des Dio- nysos, prunkvolle Prozession, usw.).59 Diese Diversität ist verständlich, wenn man bedenkt, daß die Dionysos-Mysterien im Unterschied etwa zu jenen der Demeter und Kore in Eleusis über kein Zentrum und keine institutionalisierte Priesterschaft verfügten, ja sogar im häuslichen Rahmen oder in freier Natur begangen werden konnten.60 Im Fall von Pergamon, wo mehrere, allerdings fast ausschließlich kaiserzeitliche Inschriften zu den Mysterien für Dionysos Kathegemon gefunden worden sind, trugen die Teilnehmer den Titel „Rinderhirten“ (boukoloi) und scheinen vor allem im Vortrag von pantomi- mischen Tänzen spezialisiert gewesen zu sein.61 Jaccottet nimmt an, daß es bei diesen Vorstellungen um die Evokation eines goldenen Zeitalters in einer bukolischen Welt ging.62 In der Blütezeit Pergamons war offenbar jeweils auch der König aktiv involviert, wie die einzige Inschrift hellenistischer Zeit, eine Ehrung von Eumenes II., vermuten läßt.63 Schauplatz des alle zwei Jahre begangenen Festes war das Theater mit den unmittelbar benachbarten Kult- bauten: dem Dionysostempel am Nordende der Theaterterrasse und dem Attaleion an der Südseite der Theatermuschel, dem Vereinslokal der für die 57 Musti (1986). Der Dionysos der Bakchen als Vorbote des Hellenismus: Versnel (1990) 189 – 205. 58 Müller (1989) 545 f.; vgl. auch Radt (1999) 196. 59 Jaccottet (2006) 225 f. 60 Schlesier (1997) 656; Seaford (2006a) 50; Isler-Kerényi (2009c) 78 f. 61 Jaccottet (2003a) I.171 – 192 Nr. 91 – 102; II.108 – 110. 62 Jaccottet (2003a) I.107. 63 Jaccottet (2003a) II.171 f. Dionysos in Pergamon. Ein polytheistisches Phänomen 443 Organisation des Anlasses zuständigen Spezialisten.64 Ein Versammlungsort der Boukoloi war wohl der sogenannte Podiensaal in der am Südhang unterhalb der Akropolis gelegenen Wohnstadt.65 Wenn dionysische Mysterien auch in unterschiedlichen lokalen Formen begangen wurden und die Boukoloi-Feste für Pergamon typisch waren,66 so stellt sich angesichts der oben festgestellten ikonographischen Verbindung des triumphierenden Dionysos am Pergamonaltar zum Dionysos der Euripide- ischen Bakchen trotzdem die Frage, welche die übergreifenden Gemeinsam- keiten waren. Diese müssen auf einer tieferen psychischen Ebene liegen, die von Schrift- und Bildzeugnissen bestenfalls angedeutet, kaum aber explizit beschrieben werden konnten oder durften. Für Mysterien allgemein, nicht nur jene des Dionysos, gilt, daß sie, mit Burkerts Worten, eine „verwandelnde Erfahrung“ darstellten, nämlich die zugleich traumatisierende und erlösende Erfahrung von Tod und Wiedergeburt vermittelten.67 Bei den dionysischen oder bakchischen Mysterien ging es wohl außerdem um individuelle oder auch gesellschaftliche Identität: Die jeweils eigene Identität gewinnt man, indem man aufhört, etwas zu sein (zum Beispiel ein Kind) – also metaphorisch stirbt – und dann als etwas Neues (zum Beispiel ein Ephebe) wiederersteht.68 Symbol dieser zu jedem Menschenleben gehörenden Erfahrung war in der Antike der Wein, der aus dem Tod der Traube hervorgeht und der selber Verwandlungen verursachen kann.69 Identität ist bekanntlich auch das Grundthema der antiken Tragödie, der dionysischen Gattung par excellence (weshalb sich übrigens Telephos’ Geschichte besonders gut dafür eignete). Im Theater von Pergamon sollte wohl durch den Wechsel in die Hirtenrolle die Erfahrung einer längst vergangenen oder auch ersehnten utopischen Welt vermittelt werden. Analog dazu präsentiert sich der Dionysos der Bakchen als siegreicher Rückkehrer aus dem in Frieden, Harmonie und Prosperität le- benden Orient.70 Gerade die pergamenischen Mysterien zeigen also, daß solche antiken Anlässe in der Regel nicht den exklusiven Geheimriten für 64 Radt (1999) 188 – 196. 65 Radt (1999) 196 – 199. Siehe auch den Beitrag von Jaccottet in diesem Band. 66 Sie sind allerdings auch in einem weiten Umkreis bezeugt: Jaccottet (2003a) I.110 – 112. 67 Burkert (1990) 83. Für die bakchischen Mysterien: Schlesier (1997) 656; Versnel (1990) 150 – 155. 68 Vgl. Seaford (2006a) 74: „the bodily fragmentation of Dionysos (and his restoration to wholeness) was a model for the psychic fragmentation (and restoration to wholeness) of the initiand.“ 69 Isler-Kerényi (2007) 233; Isler-Kerényi (2009c) 79. 70 Eur. Bacch. 13 – 19. 444 Cornelia Isler-Kerényi Auserwählte von modernen Sekten glichen, sondern durchaus auch im Rahmen offizieller und öffentlicher Feste begangen wurden.71 Zurück zu Dionysos am Pergamonaltar. Im Telephosfries ist er jener, der die Verwundung des Telephos provoziert und ihn dadurch zwingt, nach Griechenland zurückzukehren und dort seine wahre Identität als Sohn des Herakles und als Grieche aufzudecken. Vergleichbar könnte der Sinn von Dionysos’ Auftreten am Westgiebel von Tegea gewesen sein.72 In der Gi- gantomachie kämpft er – was bezeichnenderweise nur hier vorkommt – zu- sammen mit seiner Mutter Semele. Semele, die vom Blitz des Zeus getroffen und im Tod zur Mutter geworden war, diente als mythisches Vorbild für alle, die sich in Mysterien einweihen ließen und dadurch den Tod und dann die Wiedergeburt in einer neuen Identität erfuhren.73 Semeles Statuswechsel drückte sich auch darin aus, daß sie einen neuen Namen, Thyone, erhielt: Als Sohn der Thyone, also als Gott der Mysterien, ist Dionysos auf einer der wichtigsten pergamenischen Inschriften angerufen worden.74 Daraus hat sich die gut begründete Hypothese ergeben, daß „Hadesfahrt und Vergottung der Mutter seit früher Zeit (also nicht erst in der Kaiserzeit) zu den konstitutiven Wesensmerkmalen des Dionysos Kathegemon in seiner pergamenischen Heimat gehörten“.75 In dieser Perspektive der besonderen Stellung von Dionysos’ Mutter in Pergamon bekommt die immer wieder beobachtete spezielle Verehrung einer Mutter – zuerst der Apollonis, Gattin des Attalos I. sowie Mutter von Eu- menes II. und Attalos II., in der nächsten Generation der Stratonike, Gattin des Eumenes II. und Mutter von Attalos III. – durch die pergamenischen Könige einen tieferen Sinn. Dies gilt auch für Boa, die Mutter des Dynas- tiegründers Philetairos, der zu Ehren ihre Söhne Philetairos und Eumenes ein in monumentalen Formen renoviertes Demeter-Heiligtum auf der Akropolis gestiftet haben.76 Die herausgehobene Stellung der Mutterfiguren erstreckt sich für die Pergamener auf die Welt der Götter: Erinnert sei nur daran, daß in der Mitte 71 Jaccottet (2003a) II.186. Vgl. Seaford (2006a) 71: „A feature of Dionysiac cult […] is the celebration of secret cult within a public festival of the whole community“. 72 Delivorrias (1973) 117: „le thème de la blessure […] devient l’élément qui permet l’apparition divine“. 73 Darauf spielt bereits die Dekoration einer einmalig kostbaren attischen Schale der Jahre um 540 v. Chr. an, die aus einem Grab bei Capua stammt: Isler-Kerényi (2007) 165 – 161. 74 Müller (1989) 505 und 543 – 546; Kerkhecker (1991) 27. 75 Müller (1989) 547. 76 Hepding (1910) 437 f.; Radt (1999) 181: Die Figur der Boa geriet im späteren 2. Jahrhundert v. Chr. in tendenziöser Weise ins Zwielicht: Virgilio (1993) 13 f. und 45. Dionysos in Pergamon. Ein polytheistisches Phänomen 445 des Gigantomachie-Ostfrieses nicht Zeus, sondern Hera stand, und die Zeus- Mutter Meter-Rhea, die berühmte kleinasiatische Mysteriengöttin, als Lö- wenreiterin neben Dionysos und Semele breiten Raum am Altar-Südrisalit bekommen hat. Sie repräsentiert an dieser Stelle das Land, den Boden Kleinasiens, auf dem Pergamon steht (parallel zum Nordrisalit, der die Ägäis evoziert). Auch im Telephosfries beherrscht eine in der Landschaft sitzende mütterliche Göttin das Umfeld des von der Löwin ernährten kleinen Tele- phos.77 Dies führt uns zurück zur Gattin des Telephos und Mutter des Eury- pylos – Astyoche, Tochter oder Schwester des Priamos78 – und zur Mutter des Pergamos, der Trojanerin Andromache. Offenbar sollten durch die einhei- mischen Mütter beide griechische Gründerheroen im anatolischen Land verwurzelt werden. Daraus ergab sich die Botschaft, die Eumenes II. mit seinem Altar ver- künden wollte. Nicht nur sollte das Monument ihn als Sieger über die bar- barischen Galater und Begründer einer neuen Ära der Zeus-Herrschaft ver- ewigen, sondern auch als König einer Polis Pergamon, die in Asien zwar in die Nachfolge Trojas trat, aber anstelle eines Gegensatzes den neuen Frieden zwischen West und Ost verkörperte.79 In diesem Sinn sollten seine Könige in die Nachfolge vordergründig des Alexander, in Wirklichkeit des Euripide- ischen Dionysos treten; ihnen folgten in dieser Rolle manche hellenistische Führerfiguren bis hin zu Marcus Antonius und zu römischen Kaisern.80 Pergamon stellt sich als wichtigste Station in jenem Prozeß heraus, der Dionysos vom Polisgott81 in jenen Gott verwandelt, mit dem sich von da an und bis in die späte Kaiserzeit die Herrscher identifizieren konnten:82 in un- seren Augen vielleicht eine Paradoxie, die bei oberflächlicher Betrachtung als Propaganda erscheinen kann.83 Die Paradoxie löst sich auf, wenn man Dio- nysos in seinen wechselnden Erscheinungsformen zum konkreten, sich stetig 77 Queyrel (2004) 97 und 107. 78 Bauchhenss-Thüriedl (1971) 11 und 99 Anm. 115; Scheer (1993) 148; Zagdoun (1988) 109. 79 Die Utopie einer Befriedung und Versöhnung zwischen Griechenland und Asien war im 4. Jahrhundert bereits im Umlauf: Pouzadoux/Prioux (2008) 482 – 484. Stewarts mit ganz anderen Argumenten ermittelter Schluß (1996) 118, daß die Intervention des Dionysos während der Schlacht am Kaikos der Erfüllung von Achilleus’ Schicksal gedient hatte, steht dazu nicht im Widerspruch. 80 Jaccottet (2008) 202. 81 Polisgott in einem besonderen Sinn: Versnel (1990) 150; Vernant (1995) 86 – 93; Seaford (2006a) 27 – 36; Isler-Kerényi (2007) 88. 82 Musti (1986) 116 – 118. Dazu Seaford (2006a) 38: „The attraction of Dionysos to these monarchs consisted not just in the revelry […] associated with the god, but primarily in the idea of Dionysos as the victor […] who unites the whole community under the rule of the monarch.“ 83 Vgl. Pellizer (1998) 52 ff.; Zagdoun (2008) passim. 446 Cornelia Isler-Kerényi wandelnden historischen Rahmen in Beziehung setzt und ihn als das versteht, was er, wie auch die anderen Götter, war: eine lebendige Manifestation des antiken Polytheismus, jener Denkform, die bis zum Ende der Antike imstande war, sowohl in den Künstlern als auch in den politischen Führern jene kreativen Kräfte zu wecken, die zur überzeugenden Umgestaltung des Mythos und damit zur Bewältigung der sich immer neu und verschieden präsentie- renden Realität benötigt wurden.84 84 Brelich (2007) 108 – 110.

References (37)

  1. Strauss (1994) Telephos 8.
  2. Delivorrias (1973);
  3. Strauss (1994) 866 Telephos 49; Stewart (1996) 111.
  4. Scheer (1993) 100.
  5. Scheer (1993) 123 und 128.
  6. Bauchhenss-Thüriedl (1971) 11 und 99 Anm. 115; Scheer (1993) 73.
  7. Der Stadtname bedeutet in der vorgriechischen Ortssprache "Burg": Scheer (1993) 100; Radt (1999) 23.
  8. Da der Mythos von Pausanias (1.11.2) referiert wird, darf man ihn wohl spätestens der hellenistischen, nicht erst der kaiserzeitlichen Tradition zuschreiben. Cornelia Isler-Kerényi
  9. 110 f., ist im Kontext der Mysterien metaphorisch zu verstehen, vgl. Vernant (1988a) 358 f.
  10. Scheer (1993) 124; Virgilio (1993) 22 Anm. 35; Pellizer (1998) 46.
  11. Pindar, Isthm. 8.54: Bauchhenss-Thüriedl (1971) 3; Scheer (1993) 75 Anm. 16; Ste- wart (1996) 111. Ein Archilochos-Fragment erwähnt wohl im selben Zusammenhang das kornreiche Mysien: Obbink (2006) 8.
  12. Scheer (1993) 79.
  13. Scheer (1993) 132.
  14. Paus. 3.26.9: Scheer (1993) 135; Virgilio (1993) 22 Anm. 35; Zagdoun (2008) 199.
  15. S. oben Anm. 21. Beazley (1963) 23.5: Bauchhenss-Thüriedl (1971) 17 f.; Scheer (1993) 87 Anm. 79; Preiser (2000) 49; Stewart (1996) 110.
  16. Peredolskaja (1967) 31 -33 mit den Tafeln 159.1 und 168.2 -4 (Marek Palaczyk, Archäologisches Institut der Universität Zürich, sei für die Hilfe bei der Lektüre des russischen Textes herzlich gedankt). In dieser maßgeblichen Publikation wird allerdings Cornelia Isler-Kerényi weder der Name Dionysos noch der angebliche Thyrsosumriß im oberen Ornament- rahmen erwähnt, ebensowenig ist die fragliche Inschrift reproduziert. Ohne persön- lichen Augenschein läßt sich also nicht entscheiden, wie es sich nach den letzten Restaurierungen mit der Dionysos-Inschrift verhält. Deshalb entfällt vorläufig diese Vase auch als Beleg für die frühe Rezeption des Telephosmythos in Etrurien: Do- menici (2009) 159.
  17. Delivorrias (1973) 112 Anm. 4, 115 f. und 119; Heres (1996) 96.
  18. Die erhaltenen Fragmente geben keinen Aufschluß, vgl. Brizi (1928) 95 -100.
  19. Isler-Kerényi (2009a) 113 f. Zum Panther in der dionysischen Ikonographie: Isler- Kerényi (2009b).
  20. Korinthische Klappspiegel: Gasparri (1986) Dionysos 633; Vian (1988) Gigantes 76; Apulische Vasenbilder: Gasparri (1986) Dionysos 641; Berlin, Antikensammlung Staatliche Museen Inv. 1984.44: Isler-Kerényi (2010) Taf. 13.1.
  21. Cain (1997a) 30.
  22. Ohlemutz (1968) 119 f. Siehe besonders Fritze (1910) Taf. IV.22; V.3 und 6.
  23. Cain (1997);
  24. Gasparri (1986) 511. Ebensowenig in Frage kommt der Dionysos Musagetes vom Westgiebel des Apollontempels in Delphi: Croissant (2003). Dionysos in Pergamon. Ein polytheistisches Phänomen
  25. Musti (1986). Der Dionysos der Bakchen als Vorbote des Hellenismus: Versnel (1990) 189 -205.
  26. Müller (1989) 545 f.; vgl. auch Radt (1999) 196.
  27. Jaccottet (2006) 225 f.
  28. Schlesier (1997) 656; Seaford (2006a) 50; Isler-Kerényi (2009c) 78 f.
  29. Jaccottet (2003a) I.171 -192 Nr. 91 -102; II.108 -110.
  30. Jaccottet (2003a) I.107.
  31. Jaccottet (2003a) II.171 f. Cornelia Isler-Kerényi
  32. Jaccottet (2003a) II.186. Vgl. Seaford (2006a) 71: "A feature of Dionysiac cult […] is the celebration of secret cult within a public festival of the whole community".
  33. Delivorrias (1973) 117: "le thème de la blessure […] devient l'élément qui permet l'apparition divine".
  34. Darauf spielt bereits die Dekoration einer einmalig kostbaren attischen Schale der Jahre um 540 v. Chr. an, die aus einem Grab bei Capua stammt: Isler-Kerényi (2007) 165 - 161.
  35. Müller (1989) 505 und 543 -546; Kerkhecker (1991) 27.
  36. Müller (1989) 547.
  37. Hepding (1910) 437 f.; Radt (1999) 181: Die Figur der Boa geriet im späteren 2. Jahrhundert v. Chr. in tendenziöser Weise ins Zwielicht: Virgilio (1993) 13 f. und 45. Cornelia Isler-Kerényi