Texte aus dem SF-Genre als Beiträge zur Entwicklung kritischer Gesellschaftstheorie zu lesen-diesen Anspruch formuliert Donna Haraway, wenn sie entsprechende Romane als wichtige Inspirationsquelle für das Cyborg-Manifest benennt und sie...
moreTexte aus dem SF-Genre als Beiträge zur Entwicklung kritischer Gesellschaftstheorie zu lesen-diesen Anspruch formuliert Donna Haraway, wenn sie entsprechende Romane als wichtige Inspirationsquelle für das Cyborg-Manifest benennt und sie gleichberechtigt mit anderen diskursiven Bezügen aus feministischen, postkolonialen und technowissenschaftlichen Diskussionen behandelt wissen will. Was dies aber im Konkreten heißen könnte, bleibt unausgeführt-das folgende Kapitel soll diese Spur aufnehmen und tatsächlich verfolgen. Ich werde im Folgenden zeigen, dass und warum eine eindeutige Antwort auf die Frage, was SF ist, nicht ohne weiteres zu geben ist. Die Auseinandersetzung mit den zahlreichen Definitionsversuchen ist aber auch dann gewinnbringend, wenn sie nicht darauf zielt, zu einer abschließenden Festlegung zu kommen: Sie gibt Aufschluss über Akteure, Institutionen und Konf likte in diesem speziellen kulturellen Feld und bietet einen komprimierten Überblick über seine historische Entwicklung (3.1.1. bis 3.1.3). Avanciertere Betrachtungen von SF versuchen ihren Gegenstand vorrangig über einen spezifischen Modus des Lesens und Schreibens zu fassen. Die »Poetik des Buchstäblichen« ist demnach entscheidend für den besonderen Reiz, den SF-Romane auf ihre Fans ausüben, und als phantasieanregendes Mittel zugleich entscheidend für die produktive Reibung an der wirklichen Welt (3.1.4). Vor diesem Hintergrund lässt sich schließlich über das gesellschaftskritische Potential von SF sprechen (3.1.5). Die zweite Hälfte dieses Kapitels spezifiziert dieses gesellschaftskritische Potential entlang der Frage nach den besonderen Herausforderungen und der besonderen Produktivität von (Queer-) Feminismen in der SF. Dabei wird zugleich das Geschichtsbild aus Teil 3.1 um die Dimension der geschlechtsbezogenen Deutungskämpfe und Machtverhältnisse erweitert. Vermittels eines Exkurses zu zwei Romanen stelle ich da, wie das Resonanzverhältnis von feministischer Theorie und SF-Feminismen ausgestaltet sein kann. Feministische Kritik bleibt niemals unwidersprochen-durch die Brille der Entwicklung der SF-Feminismen betrachtet, lässt sich das SF-Subgenre des Cyberpunk als Abwehrreaktion gegen die feministische Raumnahme dechiffrieren (3.2.5)-eine Reaktion allerdings, die die Weiterentwicklung der SF-Feminismen nicht beeinträchtigen konnte, wie der abschließende Abschnitt zu »Cyberpunk versus Cyborg Writing« darlegt (3.1.6). CYBORG WERDEN 132 3.1 Was ist SF? Was SF ist, was sie ausmacht-und wofür die Abkürzung überhaupt steht: Science Fiction, Speculative Fiction, Speculative Fabulation, Structural Fabulation und einige andere Möglichkeiten mehr-ist eine unabgeschlossene Diskussion. In der der Encyclopedia of Science Fiction erwähnen Brian Stableford, John Clute und Peter Nicholls mehr als ein Dutzend verschiedener Definitionen (vgl. Stableford, Clute und Nichols 2017), der Wikipedia-Eintrag zu »Definitions of Science Fictions« führt sogar fast vierzig 1 an. Dabei beziehen sich diese Definitionen lediglich auf die englischsprachige US-amerikanische und-wenn auch nicht in gleichem Maße-britische SF. Texte kanadischer und australischer Autor*innen in englischer Sprache werden eher selten besprochen-ganz zu schweigen von den Autori*nnen, die im indischen Subkontinent oder in Afrika beheimatet sind. Nicht-englischsprachige SF findet allenfalls in Übersetzung Eingang in die Diskussion und dies auch nur in geografisch begrenztem Ausmaß: Texte und Autori*nnen aus (vor allem Nord-, Ost-und Mittel-)Europa, Kanada, Russland und Japan. Begründet wird dies, wenn überhaupt, damit, dass die englischsprachige Entwicklung die SF in den letzten hundert Jahren dominiert habe (vgl. beispielsweise Mendelsohn 2003, 1). Paul Kincaíd weist in seiner Besprechung des Oxford Handbook of Science Fiction darauf hin, dass in einer Reihe der Beiträge des Handbooks implizit das Argument steckt, »that SF is intimately American in nature, and just as the 20th century is often termed the American Century, so science fiction is the literature of the 20th century« (Kincaid 2014, o. S.). Diese Behauptung setzt selbstredend bereits ein bestimmtes Verständnis von SF voraus. Andere machen zumindest darauf aufmerksam, dass es hier eine Lücke zu füllen gibt-so beispielsweise die Herausgeber*innen des Routledge Companion to Science Fiction (2009): »One of the slowly emerging trends in sf scholarship is a sense of the genre as a global phenomenon, not merely in terms of the consumption of texts and practices produced in or by the First World, but also the ability to express the experience of modernity among peoples excluded from the economic and geopolitical core« (xxi). Ebenso steht zur Debatte, ob SF ein (literarisches) Genre darstellt beziehungsweise darstellen sollte oder nicht. Und selbstredend auch, wie sein Beginn datiert wird. Geht SF auf die Groschenhefte der 1920er Jahre, die sogenannten Pulp-Magazine zurück, in denen in den USA vor allem Kurzgeschichten und serialisierte Romane veröffentlicht wurden, oder wird die Bezeichnung auch rückwirkend auf Werke vor dieser Zeit angewandt? While some contend it [sf, D. F.] was inaugurated by US pulp magazine editor Hugo Gernsback in 1926 (e.g., Westfahl 1998), others trace it back to writers from classical antiquity or the first century ad, such as Euripides, Cicero, Plutarch, Diogenes, and Lucian (e.g., Roberts 2006). Brian Aldiss inf luentially suggested Mary Shelley's (1973) Frankenstein, or, the Modern Prometheus (1818) as the first ever sf text, while others have championed the fiction of Edgar Allan Poe in the 1830s and 1840s, Jules Verne from the 1860s onwards, and H. G. Wells from the 1890s onwards. (Bould et al. 2006, xix) Wie die SF historisch bestimmt wird, hängt unter anderem damit zusammen, ob sie als literarisches Genre, als eine Form des Lesens und Schreibens oder als kulturelles Feld verstanden wird. Die Frage nach der Definition von SF ist nicht einfach literatur