Dicht gedrängt sitzen die Frauen heute zusammen. Erwartungsvoll. Auf dem Programm des Deutschkurses von Concordia-LenZ, einem Wiener Verein für Sozialprojekte, steht an diesem Vormittag ein Sachreferat. Die syrischen Teilnehmerinnen präsentieren – wenige Tage nach dem Sturz des Assad-Regimes – ihr Heimatland. Sie erzählen von einem Syrien aus der Vergangenheit: von prächtigen Bauwerken, fruchtbaren Landstrichen, von Wirtschaftshochburgen und von Städten, deren durchgängige Besiedelung Tausende Jahre zurückreicht. Der Krieg wird ausgespart. Er ist in einem Deutschkurs für Geflüchtete ohnehin allgegenwärtig. Nur auf einen in dem Zusammenhang besonderen Ort weisen die Frauen hin: auf Dar‘ā, die Stadt gilt als Ausgangspunkt der Revolution.
Über 2000 Geflüchtete befragt
Was 2011 als Revolution gegen das Regime begonnen hatte, entwickelte sich zu einem brutalen Bürgerkrieg mit internationaler Beteiligung. Über sechs Millionen Menschen verließen in den Jahren danach das Land. In Österreich leben 95.000 von ihnen. Lea Müller-Funk vom Zentrum für Migrations- und Globalisierungsforschung der Uni für Weiterbildung Krems beschäftigt sich seit 2017 mit Lebensvorstellungen von syrischen Geflüchteten. Derzeit untersucht die Arabistin und Politikwissenschaftlerin in einem FWF-Projekt („Syreality“) mit einem sechsköpfigen Team, wie sich konkrete Lebenspläne angesichts von Konflikt und Flucht ändern. „Wir wollen wissen, wonach Menschen in ihrem Leben streben und wie sie sich ein gutes und würdevolles Leben vorstellen“, erklärt die Forscherin.
»Rückkehrappelle gefährden das Zugehörigkeitsgefühl von Syrern und ihre Verbundenheit mit ihrer neuen Heimat.«
Lea Müller-Funk,Politikwissenschaftlerin
Nun liegen erste Ergebnisse der Datenerhebung (Februar 2023 bis April 2024) vor. Insgesamt wurden 2000 nach dem Jahr 2011 geflüchtete Syrer und Syrerinnen in Österreich, Deutschland, Griechenland und den Niederlanden befragt sowie hundert mehrstündige lebensgeschichtliche Interviews geführt. „Es handelt sich noch um Rohdaten, die aber ein gutes Stimmungsbild für die Lage vor dem Fall des Regimes geben“, sagt Müller-Funk. 60 Prozent der Umfrageteilnehmer planen demnach, in den nächsten fünf Jahren in ihrer neuen Heimat zu bleiben (19 Prozent: unentschieden). Explizit danach gefragt, ob sie mittelfristig nach Syrien zurückkehren wollen, antworteten 71 Prozent mit Nein (18 Prozent: unentschieden).
Ein zerbrochenes Glas kann man nicht reparieren
Selbst wenn ihr Heimatland sicher sein würde, konnten sich nur 32 Prozent vorstellen, wieder dort zu leben. „Die meisten waren wenig hoffnungsvoll und sehr, sehr pessimistisch eingestellt, was die Zukunft des Landes angeht“, fasst Müller-Funk zusammen. Einer der Befragten habe etwa gemeint, ein zerbrochenes Glas könne man nicht reparieren, dasselbe gelte für Syrien. „Gleichzeitig waren viele hoffnungsvoll über ihre persönliche Zukunft in Europa.“
»Ich glaube nicht, dass viele zurückgehen – die Lage in Syrien ist weiterhin ungewiss.«
Lina Omran,Soziologin
Aktuelle politische Rückkehrappelle gingen an der Lebensrealität der Menschen vorbei, meint die Soziologin Lina Omran von der Universität Bielefeld, eine von Müller-Funks Kooperationspartnerinnen. „Ich glaube nicht, dass viele zurückgehen – die Lage in Syrien ist weiterhin ungewiss, nicht nur in Hinblick darauf, wie sich die Situation entwickeln wird und welches System entstehen könnte, sondern auch angesichts der erheblichen Risiken, die sie bereits eingegangen sind.“ Zudem hätten sie in ihr neues Leben in Europa schon viel investiert. Die Message, die mit den Appellen einhergehe, sei gefährlich, weil sie alle Migrantinnen und Migranten treffen würde und ihnen Zugehörigkeit abspreche – unabhängig davon, wie sehr sie sich darum bemühen.
Die Fähigkeit, sich neu zu erfinden
Was Müller-Funk positiv überrascht hat: „Die Leute sind relativ zufrieden hier. Diese Lebenszufriedenheit ist neben einem sicheren legalen Status einer der Gründe dafür, dass sie bleiben wollen.“ Die Forscherinnen zeigten sich beeindruckt davon, wie ihre Interviewpartner – furchtbaren Erfahrungen zum Trotz – die Fähigkeit beibehalten, sich neu zu erfinden.
Im Kontext von Konflikt und Vertreibung hätten viele die Idee eines würdevollen Lebens für sich neu definiert, politische Vorstellungen hätten sich verändert: „Viele meinten, es sei zu schmerzhaft, die Hoffnung weiterhin aufrechtzuerhalten, Teil eines politischen Wandels in Syrien zu sein.“ Auf sozialer Ebene ist den meisten wichtig, mit der Familie vereint zu sein oder sie zumindest in Sicherheit zu wissen.“ Bemängelt wird mitunter, dass der europäische individualistische Lebensstil wenig Raum für Spontaneität im sozialen Leben lässt.
Ein Leben auf Stand-by
„Eine zentrale Phase im Leben vieler ist geprägt von Warten und Nichtstun, beispielsweise während des Asylverfahrens, was auch anstrengend mit Blick auf die mentale Gesundheit ist“, so Müller-Funk. „Es ist ein Leben auf Stand-by.“ Die rechtliche Anerkennung markiert häufig einen Wendepunkt. „Eine Befragte meinte, dass erst damit ihr Leben begonnen hätte. Vorher habe sie nicht gelebt, sondern nur überlebt.“ In Bezug auf Berufs- und Bildungswünsche haben viele Eltern ihre Ziele für die Zukunft der Kinder aufgegeben. „Die meisten Geflüchteten erleben soziale Herabstufung, aber Jüngere haben mehr Möglichkeiten, sie können die neue Sprache leichter lernen, ihre Ausbildung fortsetzen, sich leichter integrieren“, resümiert Omran. Bildung ist aber für fast alle ein großes Thema: neue Fähigkeiten, neuer Beruf, neue Sprache.
Deutschlernen steht auch weit oben auf der Agenda jener sechs Syrerinnen, die ihre Präsentation im Wiener Sprachkurs schließlich unter Applaus mit kulinarischen Kostproben beenden. Auf die Frage, wie sie die Situation aktuell einschätzen, zucken sie die Schultern: „Abwarten.“ Zu oft wurden Hoffnungen enttäuscht, zu verankert sind sie mit ihren Familien mittlerweile in Österreich. An Rückkehr denkt hier keine. Zumindest nicht heute.